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Ein Kater für zwei Herzen

Lina und ihr Nachbar Lukas könnten unterschiedlicher nicht sein. Der zugeknöpfte Ingenieur liebt Recht und Ordnung, während die schusslige Lina das Chaos nur so anzieht. Am liebsten würden sie sich aus dem Weg gehen, doch es gibt ein Problem: Beide sind davon überzeugt, rechtmäßige Besitzer von Kater Karlo zu sein, der zwischen ihren Grundstücken hin und her stromert. Ein geteiltes Sorgerecht kommt auf keinen Fall infrage! Ein wilder Kampf um das Haustier entbrennt - bis Lina und Lukas erkennen, dass sie womöglich mehr gemeinsam haben als nur ihre Tierliebe …


  • Erscheinungstag: 19.08.2019
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750218
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Winterkälte

Ich gebe es zu: Ich bin ein Kater mit Identitätsproblemen. Das ist aber nicht meine Schuld, sondern die der verrückten Menschen. Als ich noch klein war, hieß ich noch »Oh, wie süß« oder »Bist du niedlich«. Später dann »Hau ab«, »Katzenvieh« oder »Wo ist meine Wurst?« Letzteres wurde ich sehr oft genannt, da ich mich auf das Plündern von Frühstückstischen spezialisiert hatte. Mäuse aß ich eher ungern. Erstens waren sie schnell und zweitens roh. Ich mochte lieber geräuchertes Fleisch.

Je älter ich wurde, desto deutlicher erkannte ich: Auf Dauer würde ich mit meiner Methode auf der Straße draufgehen. Es war also Zeit, sich ein Zuhause zu suchen. Es musste jedoch eins sein, wo ich stets mein Fressen und ein paar Streicheleinheiten bekam, ansonsten aber frei ein und aus gehen und mein eigener Kater bleiben konnte.

Ich probierte es zunächst mit einer Familie mit Kindern, aber die kleinen Quälgeister zogen mir am Schwanz oder fassten mir in die Augen. Also suchte ich weiter. Bei einem älteren Mann hätte es mir gut gefallen, doch der faselte was von »Kastration« und bedauerte mich dabei. Ich weiß bis heute nicht, was das ist, aber ich ging auf Nummer sicher und verließ ihn.

Ein Schneesturm führte mich schließlich zu Charlottes Haus. Es sprach mich sofort an: ein verwilderter Garten mit Maulwürfen, Mäusen und Vögeln als Zwischensnack, dazu ein etwas windschiefes Gebäude plus knarzender Veranda, Schiebefenstern und löchrigen Gardinen. Besonders letztere gefielen mir, denn Charlotte fand es nicht schlimm, wenn ich mich daran hochhangelte, um von der Gardinenstange auf sie hinunter zu maunzen.

Ein Paradies!

Die Schindeln hingen genauso schief auf dem Dach wie das Gebiss im Mund von Charlotte. Das machte beide irgendwie sympathisch. Da mein neues Frauchen eine Künstlerin war, roch es stets nach Farben, Ton und wilden Ideen. Absolut mein Ding.

Ich hatte mir Charlotte also selbst ausgesucht. Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, war nicht weiter schwer. Ich musste nur ins Haus eindringen, ein paar ihrer Farbeimer umschmeißen und dann als arme verfärbte Katze mittendrin hocken. Charlotte fotografierte mich zunächst als Kunstwerk, machte mich dann zu ihrer Muse und adoptierte mich schließlich. Seitdem heiße ich Pablo Picasso, Rufname Picasso oder schlicht »Schätzchen«.

Das Leben hätte so einfach sein können, allerdings vergaß Charlotte ständig, mich zu füttern. Theoretisch hätte ich mich ja selbst aus dem Kühlschrank bedient (ich war ja schließlich groß und erwachsen), doch dummerweise war meine süße alte Künstlerin Vegetarierin.

Ich musste schon sehr lange und sehr laut maunzen, bis sie eine Dose für mich öffnete. Der Inhalt war dann leider … nicht immer mein Geschmack. Meist billiges Zeug aus dem Discounter. Daher stand ich bald vor dem Problem meines Lebens: verhungern, das Zeug runterwürgen oder mir eine neue Bleibe suchen.

Da ich Charlotte wahrhaftig in mein steinhartes Katerherz geschlossen hatte, fiel mir die Entscheidung überraschend schwer. Zum Glück schlug das Schicksal zu.

Auf einem meiner zahlreichen Streifzüge nach einem Alternativzuhause entdeckte ich eine Villa, die im deutlichen Kontrast zu Charlottes Hutzelhäuschen stand. Die Schindeln lagen streng aufgereiht wie Zinnsoldaten, Maulwürfe wagten sich nicht hinter den militärisch anmutenden Riesenzaun, und alles schrie nach Geld, Luxus – und gutem Essen.

Normalerweise mied ich solche Anwesen, weil hier häufig eines dieser versnobten Schoßhündchen wohnte. Die kläfften zwar nur und machten einen auf Larry, waren aber ansonsten total einfach zu vertreiben. Trotzdem war es nervig, vor allem, weil die Frauchen immer so taten, als wollte ich ihren süßen Knuddelhunden ans Leder. Nichts lag mir ferner! Ich hatte nur vor, in den Fressnapf zu gucken und diesen gegebenenfalls zu plündern.

Dass ich trotzdem das Grundstück betrat, zeigte meine Verzweiflung. Ich hatte heute Morgen lediglich ein ausgetrocknetes Stück Tofu als Frühstück erhalten. Charlotte meinte das keineswegs böse. Sie war dürr und klapprig. Für sie reichte solch ein Fressen. Für mich nicht.

Ich stromerte also Richtung Haupthaus und entdeckte in einem Gebäude direkt neben der Haustür mehrere Kartons. Im Kartonöffnen war ich mittlerweile großartig. Augenblicklich huschte ich dorthin. Kein Mensch weit und breit.

Allerdings hatte ich die Rechnung ohne das automatische Rolltor gemacht. Bevor ich es hinausschaffte, fiel es ins Schloss, und ich war gefangen. Zunächst lenkte ich mich ab, indem ich sämtliche Kartons durchstöberte. Kleidung. Fotos. Computerzubehör. Mist. Schließlich sah ich ein, dass ich hier nichts Essbares finden würde, und suchte intensiver nach einem Ausgang. Ohne Erfolg. Erst jetzt begriff ich, dass ich mich in einer Garage befand. Das Auto fehlte, stattdessen stapelten sich Gepäck und anderes Zeug. Ein Umzug, schlussfolgerte ich. Danach geschah erst einmal sehr, sehr lange Zeit nichts, und ich wurde immer nervöser, hungriger und letztlich panisch.

In einer Garage zu sterben war einfach nur peinlich!

Als ich draußen Schritte hörte, warf ich meinen Stolz über Bord und miaute schrecklich weinerlich. Ich war am Ende meiner Kräfte und meiner Nerven, da war solch ein erniedrigendes Verhalten auch schon egal. Und tatsächlich: Meine Aktion hatte Erfolg. Das Rolltor ging auf – und da stand er. Ein Bild von einem Menschenmann. Groß, kräftig und gut im Futter. Die äußere Erscheinung war in puncto Fressen wichtig, wie mir meine Erfahrung mit Charlotte gezeigt hatte.

Der Menschenmann riss entsetzt die Augen auf, hob mich entkräftetes Bündel sanft hoch und strich mir über den Kopf. »Oh, du armes Ding«, murmelte er.

Danach wurde es einfach großartig. Er brachte mich in ein schrecklich stylisches Haus ohne Charme, aber dafür mit jeder Menge technischem Schnickschnack. Mich interessierte dabei lediglich der gut gefüllte Kühlschrank mit den herrlichsten Dingen, die ein Katerherz höherschlagen ließ. Dankenswerterweise hatte der Typ keine Ahnung von Katzen und fütterte mich mit allem möglichen Krams: Geräucherter Schinken, Speck, Schlagsahne, Salami, noch mal Speck, etwas Crème fraîche und Tatar verschwanden in meinem ausgehungerten Bäuchlein. Ein wenig erbrach ich danach in seinem superstylischen riesigen Bad, aber bis er das herausfand und sich ärgerte, würde ich längst schon über alle Berge sein. So war zumindest mein Plan.

Dann aber bemerkte ich dieses Glänzen in seinen Augen. Der freute sich wirklich, mich in seiner Wohnung zu haben! Etwas, das ich bei seiner sterilen Lebensart ganz gewiss nicht erwartet hatte. So kam es, dass ich in den nächsten Tagen immer wieder bei ihm vorbeischaute, das beste Essen und die tollsten Leckereien abstaubte und schon bald den Garten als mein Eigentum markierte. Das hier war mein Schnellrestaurant! Da mussten sich andere Katzen fernhalten.

Ich fand schnell heraus, dass mein neuer Freund Lukas hieß, Single war und nur für seine Arbeit lebte. Tagsüber war er nie da, aber abends öffnete er mir grundsätzlich die Tür und ließ mich in sein Schlemmerparadies. Auf diese Weise schlich sich ganz unbemerkt eine Art Routine ein: Den Tag über verbrachte ich in Charlottes gemütlicher Bude, bei Sonnenuntergang lief ich zu Lukas und schlug mir dort den Bauch voll. Er baute mir netterweise eine Katzenklappe ein, besorgte mir den größten, ausgefallensten und grandiosesten Kratzbaum der Welt und taufte mich auf den Namen »Kater Karlo«, Rufname »Karlo« oder einfach »Da bist du ja«.

Hach. Es hätte Ewigkeiten so weitergehen können. Doch dann schlug das Schicksal erneut zu. Meine süße, tattrige Charlotte starb, und ich wollte gerade schweren Herzens komplett zu Lukas umziehen, da tauchte Lina in meinem Leben auf. Sie ist Charlottes Nichte, und ich kannte sie recht gut. Ein lustiges, sehr (und damit meine ich SEHR) verwirrtes Wesen. Sie zog in Charlottes Haus ein, und ich begriff: Dieses Menschlein konnte ich unmöglich allein lassen. Sie brauchte meine Unterstützung. Lukas ganz aufzugeben, kam aber nicht infrage.

Also zog ich weiter mein Ding durch und behielt den Rhythmus bei. Allerdings war mir klar, dass Lina zwar genauso verträumt wie ihre Tante war, jedoch weniger senil. Ihre grauen Zellen waren noch völlig intakt. Und so kam es, wie es kommen musste. Sie erwischte mich – und mein Zweitwohnsitzsystem drohte zu einem Rosenkrieg auszuarten. Denn wer hätte das gedacht? Keiner der beiden war bereit, mich herzugeben. Auf diese Weise wurde aus einem alten Straßenkater die umkämpfteste Katze der Welt.

Mein Frauchen nennt mich Picasso. Mein Herrchen Karlo. Und dies ist meine Geschichte.

1

Das geheime Doppelleben von Kater P./K.

Lina.jpg

Lina

Lina war müde und erschöpft, freute sich aber auf zu Hause. Augenblicklich trat sie fester in die Pedale ihres altersschwachen Fahrrads. Drei Gänge hatte es, wobei nur der schwerste funktionierte. Das brachte Lina trotz der Kälte ins Schwitzen. Wenigstens konnte sie sich gleich ausruhen und den anstrengenden Arbeitstag hinter sich lassen.

Sobald sie ihr Heim vor sich auftauchen sah, radelte sie etwas langsamer. Das lag zum einen natürlich an der Steigung der schmalen Straße, zum anderen an dem Anblick, den sie genießen wollte. Sie liebte das windschiefe Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert, das sich zwischen modernere Bauten duckte und dabei klein und gleichzeitig einzigartig aussah. Die dunklen Holzstreben bildeten einen scharfen Kontrast zu den weißen Außenwänden. Dazu noch Fensterläden zum Ausklappen und geheimnisvolle Inschriften auf den Balken.

Lina übersah gerne, dass das Weiß des Putzes eher grau, die Fensterläden nicht mehr rot und die Inschriften kaum noch leserlich waren. Es war ihr Haus. Eine rustikale Lady, die mit Stil gealtert war. Der Schnee überdeckte dabei gnädig die vielen Unzulänglichkeiten wie die fehlenden Schindeln auf dem Dach oder das Chaos im Garten. Alles wirkte friedlich. Gemütlich.

Es begann abermals zu schneien. Dicke runde Flocken, die sich auf ihre Haare und ihre Jacke legten und die Welt verstummen ließen. Unter normalen Umständen mochte Lina diese Atmosphäre. Heute jedoch hatte der viele Schnee den Tag zu einer echten Herausforderung werden lassen. Es war Anfang Dezember, und der Weihnachtsstress hatte Lina voll im Griff. Das hieß für sie als Briefträgerin: Überstunden und hysterische Leute, die verzweifelt auf ihre Weihnachtspost warteten.

Wenigstens wurde nicht wieder gestreikt. Das hatte ihr vor einem Jahr das Leben zur Hölle gemacht. Lina schauderte, als sie an diese Zeit dachte. Nein. Es war besser, wenn sie die Erinnerungen verdrängte, sie so gut fortschloss wie ihre Tante ihr Testament.

Sie schmunzelte bei dem Gedanken und passte einen Moment nicht auf. Das Fahrrad geriet auf dem rutschigen Untergrund ins Schlingern, sodass sie hastig stoppte und abstieg. Gerade noch rechtzeitig.

Von oben kam die gefürchtetste Fahrradfahrerin von ganz Rurberg herangesaust. Alle nannten sie nur ›die rasende Radlerin‹. Niemand wusste, wer sie war, aber jeder hatte Angst vor ihr. Sie war überdurchschnittlich schnell und dabei unterirdisch rücksichtsvoll.

»Aus dem Weg«, schnauzte sie, dann war sie auch bereits vorbei.

»Ihnen auch eine schöne Weihnachtszeit«, schrie Lina hinterher. Wie immer trug ›die rasende Radlerin‹ eine komplett schwarze Fahrradkluft und einen Helm so tief ins Gesicht gezogen, dass niemand sie identifizieren konnte.

Eines Tages, schwor sich Lina, eines Tages finde ich heraus, wer du bist! Und dann lass ich dir die Luft aus den Reifen!

Den Rest des Weges schob sie ihr Rad. Dadurch hatte sie auch genug Zeit, um ihr Haus im fallenden Schnee zu mustern. Ihr Haus. Das war noch immer unfassbar. Früher hatte es Tante Charlotte, liebevoll Charly genannt, gehört. Vor ihrem Tod.

Die Schwester ihres Vaters hatte ihr Leben genauso verlassen, wie sie es gelebt hatte: absolut chaotisch. Da ihr Bruder der einzige direkte Erbe war, hatte man ihm das Haus und das Grundstück vermacht. Zumindest zunächst. Auf Tante Charlys völlig überfüllter Pinnwand für kreative Ideen hatte die Familie jedoch einen Zettel entdeckt, auf dem stand: Lina erbt alles. Theobald hat doofe Ohren.

Theobald war Charlottes Bruder. Linas Vater.

Das Papier hatte für ordentlich Wirbel gesorgt. Der Notar war sich unsicher gewesen, wie der Schnipsel gerichtlich zu bewerten war. Eine Unterschrift fehlte, und ein Testament sah definitiv anders aus. Zum Glück hatte Linas Vater überhaupt kein Interesse an der alten Bruchbude und sie nur zu gerne Lina überlassen.

Wobei sie ihr momentan graue Haare bescherte. Lina musterte die wilde Brombeerhecke, die das gesamte Grundstück inklusive Eingang umgab. Tante Charly hatte ihr immer erzählt, es sei ein Ableger jener Hecke aus dem Märchen Dornröschen. Eine Hecke, so unzähmbar und frei und unstutzbar, dass ihre Tante stets einen guten Grund gehabt hatte, es niemals zu versuchen. Entsprechend sah sie auch aus.

Müde wollte Lina das nur noch in einer Angel hängende Gartentörchen öffnen, als sie die Post im Briefkasten entdeckte. Ihr Kollege hatte den Brief wie immer nur halb reingeschoben, um sie zu ärgern. Damit sie auch definitiv sofort den Absender und den typischen Amtsumschlag in braunem Gewand erkannte.

Post von ihrer alten Gemeinde. Vom Bürgeramt.

Sie zog ihn hervor und warf einen kurzen Blick auf den Adressaten. Natürlich. Der Ortsvorsteher von Goldenheim hatte ihr geschrieben. Schon wieder. Dahinter klemmte ein weiterer, etwas weniger amtlich wirkender Brief vom Förderverein des Goldenheim-Weihers und ein wie eine Rechnung aussehender Brief eines Anwalts.

Aufgewühlt zerknüllte sie die Post und steckte sie achtlos in ihre Jackentasche. Sie würde sie später feierlich verbrennen und sich vor der Zukunft gruseln. Zunächst wollte sie aber nur auf ihre Couch.

Eine Bewegung riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Kater sprang behände von Nachbars Zaun auf die Straße und stolzierte in seiner typisch leichtfüßigen Art davon. Dabei wippte sein rot-weiß karierter buschiger Schwanz bei jedem Schritt.

»Picasso«, rief Lina ihm hinterher. Garantiert war das Tier ungeduldig geworden. Der Kater wusste genau, wann sie nach Hause kam, und wartete normalerweise brav auf seine Streicheleinheiten. Heute hatte sie sich allerdings verspätet. Das Ergebnis sah sie davonspazieren: Picasso war tödlich beleidigt. Na toll.

Seufzend ließ Lina das Fahrrad in die Dornenhecke plumpsen und folgte ihrem Haustier. Sie kannte Picasso. Wenn er beleidigt war, dann richtig. Er war schon mal mehrere Tage nicht nach Hause gekommen, nachdem sie ihn im Regen hatte stehen lassen. Sie hatte schreckliche Angst um ihn gehabt und war bei seinem Auftauchen so erleichtert gewesen, dass sie sogar aufs Schimpfen verzichtet hatte. Der Kater wusste, wie er sie manipulieren konnte. Momentan fehlte ihr aber die Kraft, ihn zu erziehen. Falls das überhaupt noch möglich war.

»Picasso«, rief sie abermals, diesmal lauter. Es schneite jetzt stärker, sodass sie kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Weiße Weihnachten standen vor der Tür. Was die meisten freute, machte Lina nervös. Früher hatte sie Schnee geliebt, aber seit ihrem Postwagenunfall sah sie das anders. Schnee bedeutete Unglück. Gefahr. Davon gingen Postwagen und Lebensentwürfe kaputt.

Unter ihren Schuhen knirschte das Salz. Ihr Nachbar hatte den Bereich vor seinem Haus ordnungsgemäß geräumt und bis auf den Millimeter mit Salz bestreut. Sie selbst vertraute noch auf Tante Charlys windschiefes Schild, das seit Linas Kindheit an der Dornenhecke hing: Schnee ist unser Freund. Hier darf er bleiben. Hier darf er euch nerven. Sollte jemals irgendwer vor ihrem Haus ausrutschen, bezweifelte Lina jedoch, dass sie sich mit dem Hinweisschild herausreden konnte.

Wo wollte ihr Kater nur hin? Mittlerweile war Lina genervt. Sie war durchgefroren, müde und traurig. Das Letzte, worauf sie Lust hatte, war eine Verfolgungsjagd. Sie wusste aber auch, dass sie sich hinterher ärgern würde, sollte der Kater für mehrere Tage verschwunden sein. Wohin er in solchen Fällen floh, war ihr ein Rätsel.

Sie folgte der schmalen Straße Richtung Tal. Wenn sie sich etwas reckte, konnte sie vor sich den glitzernden Rursee sehen. Durch die anhaltende Kälte war er stellenweise gefroren. Die Dächer der meisten Häuser waren schneebedeckt, die Bäume auf den Anhöhen weiß gezuckert.

Fast hätte Lina verpasst, dass Picasso in die Querstraße zu den Neubaugebieten abgebogen war. Hier fanden sich keine windschiefen Fachwerkhäuser, die Rurberg ausmachten. Hier waren die Häuser moderner und die Gärten aufgeräumter.

Der Gedanke zerfaserte, als Lina Picasso wie selbstverständlich zwischen den Gitterstäben eines gewaltigen metallischen Zaunes durchhuschen sah. Es gehörte zu jenem Grundstück, das ihre Tante immer nur als »Bonzenbunker« bezeichnet hatte. Wobei »Bunker« nicht so ganz passte. Es war ein hochmoderner durchgeplanter Wohnkomplex mit einer Garage, von der man direkt ins Haus gelangen konnte, Außenleuchten zum An- und Ausklatschen und einem Pool, der von der Größe her jedes Fünfsternehotel-Schwimmbad wie einen Tümpel erscheinen ließ. Selbstverständlich war der Blick auf den Rursee vollkommen unverbaut.

Neugierig trat Lina näher an den Zaun und spähte durch die Gitterstäbe. Dabei war ihr die Videokamera nur allzu bewusst, die vermutlich in diesem Moment jede Pore ihres Gesichts scannte. Sie streckte der Kamera aufmüpfig die Zunge heraus und konzentrierte sich dann auf ihre abtrünnige Katze.

Picasso huschte über den mit schneeweißem Marmor ausgelegten Gehweg. Hier lag nicht mal eine einzige Flocke. Sobald eine den Stein berührte, schmolz sie. Gab es auch Fußbodenheizung für Außenfliesen? Lina hielt mittlerweile alles für möglich.

Dann jedoch vergaß sie ihre wilden Spekulationen. Nein! Das konnte doch nicht wahr sein! Picasso hielt zielstrebig auf eine Katzenklappe zu, die in die doppelflüglige Eingangstür eingelassen war. Ein leises Piepen ertönte, dann glitt das Törchen auf – und ihr Kater verschwand.

Was …?

Einen langen Moment starrte Lina die Katzenklappe an, die ihren Kater verschlungen hatte. Das musste ein Missverständnis sein! Vielleicht lebte hier eine andere Katze. Ein Freund von Picasso. Ja, so war das garantiert! Doch die Klappe sah aus wie eine von den Dingern, die Lina mal in einem Katalog gesehen hatte. Sie war darauf programmiert, nur eine bestimmte Katze durchzulassen. Aber das würde ja bedeuten, dass … nein!

Picasso hatte ihrer Tante gehört. Schon seit Jahren. Lina hatte ihn geerbt, und er war damit in ihren Besitz übergegangen. Das hier musste ein Missverständnis sein. Sie schwor sich, der Sache auf den Grund zu gehen, und atmete tief ein. Dann drückte sie auf die Klingel und wartete. Nichts passierte. Schließlich klingelte sie sogar Sturm, doch auch da fehlte jede Reaktion.

Komm du mir mal nach Hause, dachte Lina finster und gab letzten Endes ihren Beobachtungsposten auf. Langsam ging sie das kurze Stück zu ihrem Haus zurück, drehte sich dabei aber immer wieder um. Kein Picasso. Ihr Kater blieb verschwunden. Sehr mysteriös.

Den Rest des Tages wartete Lina nervös auf die Rückkehr ihres Haustieres. Normalerweise verließ ihr Kater das Haus gegen neunzehn Uhr und brach zu seinen Streifzügen auf. Erst am nächsten Morgen saß er wieder vor der Veranda und maunzte, bis sie ihn hereinließ. Eine Katzenklappe fehlte. Sie war noch nicht dazu gekommen, eine einzubauen.

Eine Gänsehaut bildete sich auf Linas Körper. Hoffentlich kam er zurück zu ihr. Lina hasste sich dafür, wie sehr sie an dem Kater hing. Im letzten Sommer hatte sie den Eindruck gehabt, dass er das einzige Geschöpf auf Erden war, das noch hinter ihr stand. Das sie lieb hatte – ganz ohne Wenn und Aber. Ganz ohne Bedingungen. Ihre Eltern hatten auf den Postwagenunfall extrem verärgert reagiert. Enttäuscht. Schlimm genug, dass sie nur eine einfache Postbotin war, anstatt wie sie in den höchsten mathematischen Sphären von Einstein und Co. zu schwelgen – doch nicht mal das bekam sie auf die Kette.

In dieser Sekunde vermisste sie den Rückhalt ihrer Tante mehr als jemals zuvor. Die hätte herzhaft über den Unfall gelacht und ihr geholfen, wieder Fuß zu fassen. Doch ihre Tante war zwei Monate vor dem Vorfall gestorben und hatte ein Loch hinterlassen so tief wie ein Krater.

Lina bemühte sich sehr, nicht in ihrer Trauer zu versinken. Sie hatte sich vor dem Kochofen, der Küchenherd und Kamin zugleich war, auf der Couch zusammengerollt und starrte ins Feuer. Im Haus gab es erst seit Linas Einzug wieder Strom. Ihre Tante hatte eines Tages vergessen, die Rechnung zu bezahlen. Da sie Kerzenschein und Kaminfeuer ohnehin viel gemütlicher fand, hatte sie das niemals nachgeholt. Mit dem alten Ofen aus der Vorkriegszeit bekam sie das bisschen Essen, das sie zu sich nahm, genauso gut erhitzt. Wozu dann Elektrizität?

Lina fiel es hingegen deutlich schwerer, ohne Strom auszukommen. Im Sommer hatte sie die Annehmlichkeiten eher weniger vermisst. Sobald es jedoch kühler geworden war, hatte sie die uralte Rechnung bezahlt, es dann aber bereut. Die alten Nachtspeicheröfen funktionierten nicht, und sämtliche Glühbirnen im Haus waren durchgebrannt. Lina hätte erst viel Geld in die Hand nehmen müssen, um alles wieder in Gang zu bekommen. Geld, das ihr fehlte. Tante Charly war so arm wie eine Kirchenmaus gewesen. Ein so großes Haus vom Gehalt einer Postbotin zu sanieren, war aber fast unmöglich.

Aus diesem Grund hatte sie ihre Habseligkeiten in die Küche geschleppt und lebte seitdem im einzigen warmen Raum des gesamten Hauses. Zum Duschen fuhr sie ins Schwimmbad, und die Katzenwäsche erledigte sie am alten Waschtisch. Das war natürlich wenig ideal, aber Lina brauchte keinen Luxus. Sie war hauptsächlich glücklich darüber, einen Rückzugsort zu haben. Vor allem, nachdem sie ihr altes Dorf Hals über Kopf hatte verlassen müssen.

Ein Geräusch schreckte sie auf. War das ein Miauen? Augenblicklich war sie auf den Beinen, hastete durch den eiskalten Flur und riss die Haustür auf. Picasso saß davor, den Schwanz akkurat um die Vorderbeine geschlungen, den Kopf schiefgelegt und mit einem eindeutig vorwurfsvollen Ausdruck in den Augen.

»Du bist beleidigt?«, fragte sie ihn. »Was soll ich denn sagen? Wo bist du gewesen?«

Der Kater gähnte betont desinteressiert, stand auf und stolzierte mit erhobenem Schwanz an ihr vorüber. Dass er ihr nicht an den Beinen vorüberstrich, zeigte deutlich, wie verstimmt er noch immer war. Grummelnd schloss Lina hinter ihm die Tür und folgte ihm in die Küche. Dort öffnete sie ihm erst einmal eine Dose Katzenfutter, die er betont lässig ignorierte. Stattdessen saß er wie der König von Frankreich vor dem Kamin und leckte sich ausgiebig in Regionen, die der König hoffentlich nicht vor Publikum gesäubert hatte.

Picasso wollte kein Fressen. Normalerweise war Lina das egal, doch heute machte es sie misstrauisch. Sie erinnerte sich an weitere vergangene Auffälligkeiten.

Ein Geruch seines Fells. Flüchtig, aber seltsam. Irgendwie männlich. Dazu auf zauberhafte Weise verschwundene Zecken und eine winzige Stelle am Hals, wo die Haare kürzer waren als das restliche Fell. War da eine Schere am Werk gewesen? Das alles waren lediglich Indizien. Nichts Greifbares. Bis jetzt.

Multiplizierte sie diese Begebenheiten jedoch mit Picassos Verschwinden in der fremden Katzenklappe und seinem fehlenden Hunger, gab es nur eine einzige Schlussfolgerung: Picasso hatte sich ein neues Zuhause gesucht. Im Bonzenbunker.

Linas Herz sackte ab. Ihr wurde schlecht. Nicht auch noch Picasso! Ihre Eltern hatten sich von ihr abgewandt, nachdem die Sache in ihrem Heimatdorf passiert war. Okay. Wenn sie ehrlich war, hatten sie sich schon lange zuvor von ihr abgekapselt. Sie waren entsetzt darüber, dass ihre Tochter so wenig Sinn für Mathematik hatte. Anstatt studieren zu gehen und einer glorreichen Professoren-Zukunft an einer renommierten Uni entgegenzusehen, hatte sie lediglich eine Ausbildung als Postbotin begonnen. Jetzt war sie also »Fachkraft für Postdienstleistungen«, was zwar besser klang, es aber auch nicht besser machte. Ihre Berufswahl hatte den ersten Bruch zwischen ihnen verursacht. Der zweite kam, als ihre Eltern realisierten, dass Lina nach ihrer Tante Charly kam: chaotisch, realitätsfremd, verträumt.

Zum Glück für Lina lebten ihre Eltern im fernen Bayern. Sie war vor Jahren ihrem strengen Elternhaus entkommen, um in Nordrhein-Westfalen die Ausbildung als Postbotin zu beginnen. Da ihre Tante in der Eifel lebte, hatte sie sich um eine Stelle in ihrer Nähe bemüht. Doch sie wollte erst einmal ihr eigener Herr sein und hatte die Einladung von Tante Charly ausgeschlagen und sich eine eigene Wohnung gesucht. In Goldenheim, etwa zwanzig Minuten Fahrzeit von Rurberg entfernt. Dort war dann auch das Drama geschehen, was ihre Eltern dazu veranlasst hatte, den Kontakt zu ihrer Tochter noch weiter einschlafen zu lassen.

Selbst ein Jahr danach telefonierten sie höchstens sporadisch, was Lina nur recht war. Telefonate mit ihrer Mama machten sie grundsätzlich traurig. Sie fühlte sich dann noch mehr wie das schwarze Schaf der Familie.

Sah Picasso das genauso? War er es leid, ständig auf sie zu warten? Aber sie war unschuldig an ihren längeren Arbeitszeiten! In der Weihnachtszeit war das nun einmal so.

»Du darfst mich nicht verlassen«, sagte sie zu ihm. Endlich sah er auf und musterte sie. Ein wenig bildete sie sich ein, dass er plötzlich besorgt wirkte. Sie straffte sich.

Schluss mit den trüben Gedanken! Sie würde nicht einfach darauf warten, dass Picasso fortging. Sie würde um ihn kämpfen. Und wer immer ihn ihr wegnehmen wollte, würde es bitter bereuen!

Zum ersten Mal seit ihrem Postwagenunfall fühlte sie eine Welle von Elan durch ihren Körper fluten. Es tat überraschend gut und erinnerte sie daran, dass sie sich die letzten Monate wirklich hatte gehen lassen. Sie hatte sich in ihrer Einsamkeit, in ihrem Selbstmitleid gesuhlt. Doch damit war jetzt Schluss!

Sie stand auf, kramte in den Schubladen des alten Küchenschranks in der Ecke herum und fand ein altes Katzenhalsband. Picasso hatte es nie leiden können, und weder Tante Charly noch Lina wollten ihn zwingen, es zu tragen. Momentan war ihr sein Seelenheil jedoch egal.

Der Kater merkte, dass sie etwas mit ihm plante. Er stand zur Sicherheit auf und machte sich groß. Lina ignorierte die Drohung. Zunächst schrieb sie einen Zettel, befestigte ihn sorgsam am Halsband und schnappte sich dann Picasso, bevor der die Gardinen hochturnen konnte.

»Das hast du dir selbst eingebrockt«, knurrte sie, während sie mit dem sich windenden Kater kämpfte. »Wenn du treu gewesen wärst, wäre das hier nicht nötig.« Geschafft. Sie ließ den fauchenden Kater los und beobachtete amüsiert, wie er wie der Blitz die Gardine hochsauste und sie von oben böse anfauchte.

Sie erwiderte seinen wilden Blick und genoss das Gefühl, wieder ein Ziel zu haben. Ein Projekt zu verfolgen. »Du gehörst zu mir«, schwor sie ihm.

Mit diesem neu gewonnenen Elan zog sie die Briefe aus ihrer Jackentasche hervor, um sie zu öffnen und zu lesen. Dann verharrte sie. Stopp. Ein Problem nach dem anderen. Sie ignorierte die Post vom Dorf seit gut einem Jahr, genau wie die unheimlich aussehenden Briefe des ominösen Anwalts. Da machte eine Woche mehr oder weniger auch nichts aus.

Sie drehte sich um, warf die Briefe theatralisch ins Feuer und sah zufrieden zu, wie die Flammen sie verzehrten. Danach nahm sie sich einen weißen Zettel vom Schreibtisch, auf den sie schrieb: Briefe beim nächsten Mal öffnen. Auf ein weiteres größeres Papier notierte sie: Katzenklauer fertigmachen. Das umkringelte sie noch einmal und heftete anschließend beide Zettel an die völlig überfüllte Pinnwand. Ihr Sammelsurium unerledigter dringender Aufgaben wie Heizung in Gang setzen, Blumen gießen oder Mama anrufen. Dabei wusste sie nur allzu gut, dass es den Zettel Briefe öffnen nun schon an die fünfundneunzig Mal gab. Ein Zeugnis dafür, dass es langsam Zeit wurde.

Eines Tages würde sie sich dem Dorf stellen. Irgendwann. Aber zunächst musste sie ihre Katze verteidigen.

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Lukas

Die vollautomatische Kaffeemaschine piepte parallel mit seiner Mikrowelle und zeigte damit an, dass sie ihr Werk getan hatte. Perfekt. Es waren diese Kleinigkeiten in Lukas’ Leben, die ihm gute Laune bescherten.

Ein Zettel lag auf seiner Küchentheke. Da dieser eigentlich nur von seiner Haushälterin sein konnte, hatte er ihn bislang ignoriert. Frau Adamski schrieb ihm regelmäßig und wies ihn auf verschiedene Dinge hin.

Jetzt zog er den Zettel zu sich und schmunzelte, als er ihre Zeilen las.

Essen Sie nicht wieder Fertiglasagne. Ich habe Ihnen eine Portion Bigos in den Kühlschrank gestellt.

Herzliche Grüße, Agnes Adamski

Die Gute. Lukas wusste genau, was er an ihr hatte. Sie mischte sich erst seit etwa zwei Jahren ein klein wenig in sein Leben ein. Vermutlich war sie es leid, die vielen Verpackungen von Fertiggerichten zu entsorgen.

Normalerweise hasste er es, wenn man sich ungefragt in seine Angelegenheiten drängelte. Da er aber wusste, dass sich Frau Adamski nur um ihn sorgte, akzeptierte er die Einmischung seiner Haushälterin. Wenigstens gab es noch einen Menschen, dem er wichtig war.

Wobei das unkorrekt war. Seine Familie hatte häufig nachgefragt, wie es ihm ging. Vor sieben Jahren war er allerdings nicht in der Lage gewesen, ihre Bemühungen zu honorieren. Er hatte sich belästigt gefühlt und war auf Abstand gegangen. Bis heute.

Lukas seufzte leise. Da war es wieder. Das schlechte Gewissen. Es quälte ihn schon seit ein paar Jahren. Dass er sich von seiner Familie entfernt hatte, tat ihm leid. Doch wann immer er sich vornahm, es zu ändern, kam etwas dazwischen. Und er wusste, dass er dieses »Dazwischenkommen« nur allzu gerne zuließ.

Für das polnische Nationalgericht war es jetzt zu spät. Die Lasagne war schon fertig. Egal. Morgen war ja auch noch ein Tag. Lukas hatte es nicht so mit dem Kochen. Entweder benutzte er seine Mikrowelle, aß im Restaurant oder bestellte sich was beim Lieferservice. Für ihn war das völlig in Ordnung. Für Frau Adamski grenzte seine Art der Ernährung offenbar an Körperverletzung.

Lukas zog die Fertiglasagne aus der Mikro, angelte sich mit der freien Hand seine volle Kaffeetasse und kehrte an den Schreibtisch zurück. Dort wartete bereits sein aufgeklappter Laptop. Abends um 21 Uhr ging er grundsätzlich noch mal den Arbeitsplan für den nächsten Tag durch, bevor er sich ein wenig Zerstreuung gönnte und die Aktienkurse überprüfte.

Dass das für andere Leute seltsam erschien, störte ihn schon lange nicht mehr. Die Zeiten, in denen er sich eine eigene Familie gewünscht hatte, waren vorbei. Vor sieben Jahren waren seine Träume in Rauch aufgegangen. An jenem schrecklichen Tag, als er nach Hause gekommen war und Nicole …

Lukas schüttelte energisch den Kopf, um den Gedankengang zu verdrängen. Selbst nach so langer Zeit tat es noch unendlich weh. So weh, dass er sich seinen Erinnerungen einfach nicht stellen konnte. Das hätte bedeutet, sich auch mit dem Verlust, dem Schmerz und seinem aktuellen Leben auseinandersetzen zu müssen. Sein altes Ich wäre entsetzt darüber, wenn es ihn an einem Freitagabend mit fettiger Fertiglasagne allein am Esstisch in einem viel zu klinischen Haus gesehen hätte.

Sein altes Ich hätte dieses Gebäude gehasst. Den Außenpool hätte es vielleicht noch ganz cool gefunden, allerdings nicht den Innenpool mit Gegenschwimmanlage. Lukas’ heutiges Ich fand die Technik in erster Linie praktisch, um sich fit zu halten. Gegen den Strom schwimmen war genau sein Ding.

Spätestens beim gut ausgestatteten Fitnessraum, der Videoüberwachungsanlage draußen am vollautomatischen Tor und dem riesigen, aus der Decke fahrbaren Flachbildschirm hätte sich sein altes Ich totgelacht. Früher hatten er und Nicole gerne auf einem Röhrenfernseher Schwarz-Weiß-Filme angesehen. Das hatte auch gereicht. Genau wie die Klappcouch und der Campingkocher zum Aufwärmen von Dosenessen.

Vielleicht vermisste Lukas doch nicht alles aus seinem alten Leben. Er mochte den Komfort, benutzte allerdings weder den Flachbildschirm noch den Beamer im Kinozimmer. Diese Dinge hatte Lukas beim Kauf des Hauses einfach übernommen. Der Vorbesitzer war von einem Tag auf den anderen zu einer Weltreise aufgebrochen, um den Sinn des Lebens zu suchen. Er hatte sich dabei von allen weltlichen Gütern trennen wollen und daher das komplette Haus inklusive Ausstattung verkauft.

Es hatte null Charme. Das musste Lukas zugeben. Er hatte aber damals einfach keine Lust gehabt, sich großartig mit Inneneinrichtung auseinanderzusetzen.

Das Scheppern der Katzenklappe zeigte ihm an, dass sein Kater soeben zurückgekommen war. Lukas war erleichtert. Eine willkommene Ablenkung und der Ausweg aus seiner Einsamkeit. Karlos Pfoten auf dem frisch gebohnerten Eichenparkett machten kaum einen Laut. Sekunden später tauchte er in der Wohnzimmertür auf und miaute ihn an.

»Da bist du ja«, rief Lukas erfreut. Er gab es nicht gerne vor sich selbst zu, aber der Abend war erst rund, wenn der Kater zu Hause war. Sofort stand Lukas auf, um Karlo sein Futter zuzubereiten. Dass seine Lasagne kalt wurde, war ihm egal. Dem Kater war Essen wichtiger als ihm, also ging er vor.

»Pfoten weg von meiner Lasagne«, rief Lukas über seine Schulter hinweg. Er hatte ganz genau gehört, wie Karlo auf einen der Edelstahlstühle gesprungen war, um einen Blick auf Herrchens Futter zu werfen. »Du bekommst deins jetzt!«

Lukas war am Morgen noch mal extra beim Feinkostladen vorbeigefahren, um seine Bestellung für den Kater abzuholen. Edles Rotwild mit Kartoffeln, Pastinaken und Waldbeeren. Das würde ihm schmecken.

Erst als er mit dem Futternapf zurück ins Wohnzimmer kam, registrierte er das seltsame Band um Karlos Hals. Was war das? Der Kater bemerkte natürlich seinen starren Blick und bewegte sich unruhig, ließ den Futtertopf dabei aber nicht aus den Augen.

Bevor Karlo fliehen konnte, hatte Lukas ihn einhändig gepackt und das Futter achtlos auf dem Tisch abgestellt. Tatsache. Ein Halsband. Aber wer sollte seinem Kater solch ein hässliches Teil umschnallen? Es war recht zierlich und verschwand im dicken Fell des rot-weiß getigerten Tieres. Allerdings war vorne eine Art Fliege befestigt, sodass es aussah, als würde Karlo auf einen Ball gehen wollen. Gruselig. Und sehr merkwürdig. Erst jetzt bemerkte er den aufgestickten Schriftzug.

»Für Schnurrgeräusche bitte streicheln«, las er laut. Was für ein idiotischer Spruch. Lukas schnaubte verärgert, hielt mit einem Arm den störrischen Kater fest und öffnete mit der anderen den Verschluss. In der gleichen Sekunde wand sich Karlo aus seinem Griff, sprang auf den Boden und flitzte auf den höchsten Kratzbaum.

Lukas beachtete ihn nicht, denn sein Blick klebte an dem kleinen rosafarbenen Post-it, das beim Lösen des Halsbandes auf den Tisch gefallen war. Er hob es auf und wunderte sich über sich selbst: Sein Herz schlug mit einem Mal viel schneller als zuvor, und ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus.

Er hasste Unvorhergesehenes. Sein Leben war durchgeplant bis ins kleinste Detail. Selbst spontane Entwicklungen hatte er meist bereits einkalkuliert und konnte entsprechend schnell reagieren. Das hier jedoch kam unerwartet.

Er faltete das Post-it auseinander und las mit gerunzelter Stirn.

Dieser Kater gehört Ihnen nicht. Sollte er sich in Ihr Heim verirren, schicken Sie ihn wieder weg. Finger weg von Picasso! Er braucht weder eine Maniküre, Pediküre noch Futter. Das bekommt er alles von mir. Gruß, L.

Lukas spürte augenblicklich, wie ihm heiß wurde. Zorn wallte in ihm auf. Was für eine Unverschämtheit! Er versorgte den Kater schon seit fast sieben Jahren, und nie hatte sich jemand darüber beschwert. Das Tier war ein Streuner, den Lukas am Tag seines Umzugs bei sich aufgenommen hatte. Damals hatte er völlig verängstigt in der Garage gesessen: abgemagert, struppig und verlassen.

Um ehrlich zu sein, hatte Lukas sofort eine Verbindung zu ihm gespürt. So wie der Kater aussah, hatte er sich gefühlt. Man hatte ihn durch die Mangel genommen, verraten, vernichtet und dann einfach sich selbst überlassen. Kein Wunder, dass er das Tier augenblicklich ins Herz geschlossen hatte.

Lukas hatte zunächst abgewartet, ob sich doch noch ein Besitzer meldete. Da der Kater aber immer wieder zu ihm kam, hatte er ihn schließlich adoptiert und chippen, kastrieren und impfen lassen. Das war sieben lange Jahre her!

Karlo war ganz klar sein Tier. Und überhaupt! Was war Picasso denn bitte für ein dämlicher Name?

Er zögerte keine Sekunde. Per Online-Expressversand orderte er das männlichste Katzenhalsband, das er finden konnte. Dann schnappte er sich ein einfaches Blatt Papier und schrieb mit dem Zorn der Gerechtigkeit eine Antwort.

Der würde er es zeigen! Dass es sich um eine Frau handeln musste, war unzweifelhaft. Kein Mann hätte rosafarbenes Papier verwendet. Und erst diese alberne, rundlich geschwungene Handschrift. Fehlten nur noch die Herzchen über jedem i. Vom Aussehen des Halsbands ganz zu schweigen.

Einer Eingebung folgend stand er auf, fachte das Feuer in seinem Kamin an und warf das Teil samt dem Post-it der fremden Frau mit Schwung hinein. Es knackte und knallte, als es in Flammen aufging.

Lukas sah schweigend dabei zu und spürte, wie er ruhiger wurde. Und entschlossener. Karlo war seine Katze. Das konnte er auch dank des Chips beweisen. Und wer immer ihm diesen Brief geschrieben hatte: Die Person würde es bitter bereuen, sich mit ihm angelegt zu haben.

2

Der Zettelkrieg im Schlafanzug

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Lina

Vor ihr lag eine Kriegserklärung in akkurat geschriebener, nahezu militärisch anmutender Schreibschrift. Jeder Buchstabe war perfekt geschwungen. Fast ekelhaft exakt. Und eindeutig ein fieser, gemeiner und ziemlich hinterhältiger Angriff auf sie und ihren Kater. Der im Übrigen ein Verräter war, das war jetzt amtlich.

Fassungslos starrte Lina den Zettel an, den sie am Halsband ihres Tieres entdeckt hatte. Es war ein anderes Band als das, was sie ihm umgelegt hatte. Das war verschwunden und ersetzt worden. Doch viel schlimmer waren die Zeilen, die sie gerade las.

Träum weiter. Der Kater gehört mir. Ebenfalls L.

Mehr stand da nicht. Das reichte jedoch, um Linas Magen zum Brodeln zu bringen. Unfassbar! Ihr Morgenkaffee wartete vergeblich auf dem kleinen Esstisch in der Ecke des Wohnzimmers und wurde kalt. Auch der Toast auf ihrem Pappteller weichte auf. Lina hatte mit einem Schlag keinen Hunger mehr. Wut und Angst wechselten sich ab.

Pablo Picasso gehörte ihr. Sie hatte ihn ebenso wie die altersschwache Villa geerbt.

Mit zitternden Fingern fummelte Lina das schlichte braune Halsband ab, das mit drei silbernen Schnallen um Picassos Hals gesichert war. Als wäre der Kater Fort Knox. Ein Eigentum, kein lebendes Wesen.

Wer tat so was? Niemand hatte das Recht, ihrem Tier etwas derart Hässliches umzuschnallen und es dann noch mit einem lieblosen Schnipsel Papier zu garnieren.

Sie hob die Notiz höher, um sie eingehender zu studieren, und schnupperte daran. Tatsache. Der Zettel roch genauso wie das Fell ihres Katers. Nach einem Hauch von Aftershave. Der Schreiberling war also wirklich ein Mann. Addierte sie die zackig geschwungenen, definitiv mit männlicher Hand geschriebenen Buchstaben und die kurze, knackige Botschaft hinzu, war er auch noch ein Ekel. Na prima!

Aber wie kam er auf die Idee, dass Picasso ihm gehörte?

Lina sah ihren Kater kritisch an, der vollkommen entspannt auf ihrem Schoß lag. Sein rot-weißes Fell glänzte feucht von den Schneeflocken, die dort geschmolzen waren. Konnte es sein? War es möglich? Nein! Hier musste es sich um einen Irrtum handeln. Ihre Tante hatte damals nichts davon gesagt, dass ihr der Kater zugelaufen war. Er hatte schon immer hier gelebt. Seit … seit …

Lina war sich nicht ganz sicher, wie lange Picasso hier zu Hause war. Das mulmige Gefühl in ihrem Magen verstärkte sich. Hatte sie etwa die größte Dummheit ihres Lebens begangen und mit ihrem Brief Geister erweckt, die sie nicht beherrschen konnte? Wobei … die größte Dummheit hatte sie ja schon begangen. Viel schlimmer als das konnte es eigentlich nicht werden.

Für einen winzigen Moment stellte sie sich vor, wie der Eigentümer des Bonzenbunkers ihr Leben auseinandernahm. Wie er ihr erst die Katze, dann ihr Haus wegnahm. Einfach, weil er es konnte. Und für einen Moment fühlte sie, wie sie ins Bodenlose stürzte und die Panik ihr die Luft zum Atmen nahm. Dann bemerkte sie, wie albern sie sich benahm.

Entschlossen stand sie auf. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen. Sie wollte dem Kerl zeigen, wozu sie fähig war. Jawohl! Sie musste zu ihm gehen, ihn in die Schranken weisen und ihm klarmachen, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Allerdings erst nach ihrer Schicht. Falls sie die überlebte.

Als Lina nach draußen trat, fröstelte sie. Es schneite schon wieder. Dicke weiße Flocken, die den verwilderten Garten in ein märchenhaftes Weiß hüllten und verbargen, wie chaotisch es hier aussah. Das verrostete Fahrrad, das wohl mal ein Kunstwerk ihrer Tante gewesen war, sah unter der dicken Schneeschicht richtig hübsch aus. Genau wie die Schubkarre und das vergammelte kleine Ruderboot, die vergessen mitten auf dem Rasen lagen.

Es roch nach Kälte und Frost. Lina atmete tief durch und verdrängte den Gedanken an rutschige Straßen, hypernervöse Autofahrer und schlecht gestreute Gehwege. Sie hatte sich geschworen, ihr Leben wieder positiver zu sehen. Es gab immer einen Ausweg. Man musste ihn nur finden!

Zwei Stunden später betete sie sich diesen Satz wie ein Mantra vor. Die Winterreifen ihres Postautos rutschten auf den glitschigen Straßen herum, ihre Finger spürte sie kaum noch in den dicken Handschuhen, und ihre Nase hatte Ähnlichkeit mit einer roten Tomate. Ihr Zustellbezirk lag in der Gemeinde Simmerath, etwa eine Viertelstunde Fahrzeit von Rurberg entfernt. Hier könne sie weniger Schaden als in Goldenheim anrichten, hatte ihr Boss ihr damals zugeraunt und damit gemeint: Hier gab es keinen Weiher.

Lina sehnte sich dem Ende ihrer Schicht entgegen und hatte gleichzeitig Angst davor. Das hieß nämlich auch, dass sie sich dem geheimnisvollen Bonzenbunkerbesitzer stellen musste. Es brachte ja nichts, einen Zettelkrieg zu beginnen. Oder?

Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr erwärmte sie sich für den Gedanken. Vielleicht war es besser, sich ihm zunächst nicht zu offenbaren.

Ihr war klar, dass sie gerade ihre berühmte Vermeidungsstrategie benutzte. Problemen ging sie gerne aus dem Weg. Darin war sie wirklich großartig. Andererseits musste sie sich ja niemandem gegenüber rechtfertigen als sich selbst.

Kaum war sie also zu Hause angekommen, schrieb sie den nächsten Zettel.

Sehr geehrter Herr Katzenklauer. Ich gehe einfach davon aus, dass Sie männlich sind, den unhöflichen Worten und der grobschlächtigen Schreibschrift nach zu urteilen. Ich fordere Sie abermals auf, Ihre diebischen Klauen von Sir Pablo Picasso zu lassen. Er ist seit zwei Generationen im Besitz meiner Familie. Ihn als Ihr Eigentum zu bezeichnen, grenzt an eine Unverschämtheit. Gruß, L.

Sie holte ein weiteres Halsband aus der Schublade und stattete Picasso damit aus. Der wirkte eher unglücklich.

Die Antwort erhielt sie bereits einen Morgen später.

An die hysterische Katzendiebin Frau L. Sie haben den Kater ernsthaft Sir Pablo Picasso genannt? DAS grenzt meiner Meinung nach an Tierquälerei. Von diesem gruseligen Halsband ganz zu schweigen. Ich habe gewiss nicht viel Ahnung von Farblehre, aber etwas Rosafarbenes (allein das gehört verboten) an einem rot-weiß gestreiften Fell zu befestigen, zeugt von so viel Geschmacksverirrung, dass mir die Worte fehlen. Der Kater ist seit sieben Jahren in meinem Besitz. Das kann Ihnen mein Tierarzt gerne bestätigen. Er ist in meinem Auftrag gechippt, geimpft und kastriert worden. Es ist MEIN Kater. Suchen Sie sich einen eigenen und lassen Sie mich und Karlo in Ruhe!

Lina musste sich die unfreundlichen Worte einige Male durchlesen, bis sie eine Antwort zu Papier bringen konnte.

An den Tierentführer Herrn L. Sie machen sich über den Namen Sir Pablo Picasso lustig? Wenigstens zeugt er von Kreativität. Den Kater einfach stumpf »Kater Karlo« zu nennen, ist ja wohl so was von trivial, dass wiederum mir die Worte fehlen. Es zeigt auch, dass Sie die Seele des Tieres nicht erkannt haben. Meine Tante gab ihm den Namen, weil er ein künstlerisches Herz hat und Farben liebt. Er hat es nicht verdient, nach einer Figur aus einem Comic benannt zu werden – und dann auch noch nach einem Bösewicht. L.

Diesmal wählte sie ein schlichtes dunkelgrünes Halsband aus, das perfekt mit Picassos Fell harmonierte. Da ihr das aber nicht weiblich genug war, steckte sie das Papier in einen winzigen Briefumschlag und streute etwas Glitzer hinein. Theoretisch hätte sie dem Kater jetzt auch erst einmal für eine Weile Hausarrest verpassen können, aber dazu war sie zu stolz. Sie wollte, dass Picasso freiwillig bei ihr blieb, ganz ohne Zwang. Außerdem wäre das die Lösung eines Feiglings gewesen. Und das wollte Lina nicht mehr sein.

Sie gab es ungern zu, aber die Antwort vom Bonzenbunkerbesitzer erwartete sie mit gespannter Vorfreude. Es beschäftigte sie den gesamten folgenden Arbeitstag, beherrschte ihre Gedanken und Gefühle. In der Nacht schlief sie schlecht und horchte immer auf ihre Katze, die womöglich einen Zettel mit dabei hatte. Und tatsächlich. Am nächsten Morgen saß Picasso auf der Veranda, allerdings trug er dasselbe grüne Halsband, das sie ihm umgeschnallt hatte. Hatte ihr Gegner etwa schon klein beigegeben?

Ein wenig enttäuscht ließ sie den Kater herein und untersuchte dann seinen Halsbereich. Ein paar Glitzerflitter hatten sich in seinem Fell verfangen. Der Beweis, dass er ihre Nachricht überbracht hatte. Und tatsächlich! Sie fand einen neuen Brief.

Liebe 12-jährige Lilly. Ab sofort duze ich dich, denn solch eine hinterhältige Glitzerattacke kann nur von einem kleinen Mädchen kommen. Das passt auch besser zu deiner Handschrift und der Art, sich auszudrücken. Da deine Tante meiner Katze den Namen Picasso verpasst hat, scheint sie ihn als ihr Haustier auserkoren zu haben. Sie soll sich bitte mit mir in Verbindung setzen. Wir finden bestimmt eine Lösung. Als Erwachsener sehen wir viele Dinge weit weniger dramatisch als mit Kinderaugen. Auf ein Halsband haben wir uns ja schon mal geeinigt. Das Grün gefällt mir. Mit freundlichen Grüßen, L.

Lina musste zunächst tief durchatmen, um nicht sofort auszurasten. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein? Gut, die Glitzerattacke war wirklich wenig erwachsen gewesen. Sie aber gleich als Kind abzustempeln, war eine Unverschämtheit.

Mit vor Zorn zitternden Händen schrieb sie ihre Antwort auf besonders intensiv duftendem Rosenpapier ihrer Tante.

Lieber Opa Ludwig-Leopold, ausgehend von deinen altbackenen Ansichten nenne ich dich jetzt so. Und wer mich duzt, wird zurückgeduzt. So einfach ist das. Gerne kannst du dich mit meiner Tante in Verbindung setzen. Du findest sie in der Friedhofstraße, dritte Reihe, fünftes Grab von rechts. Nimm aber besser einen Geisterbeschwörer mit. Sonst wird das mit dem Diskutieren sehr einseitig. Und wenn du schon mal mit ihr sprichst, frag sie gleich, wo ihre Heckenschere abgeblieben ist. Die wird dringend benötigt.

Diesmal dauerte es ungewöhnlich lange, bis sie eine Antwort erhielt. Picasso kam am nächsten Morgen ohne Nachricht zurück, was an Linas Nerven zerrte. In der folgenden Nacht machte sie kaum ein Auge zu und bewegte sich unruhig hin und her. Sie ahnte, dass sie allmählich um eine Begegnung mit Lukas Dennhorst nicht mehr herumkam.

Ja, sie kannte mittlerweile seinen Namen. Sie war unauffällig am Bonzenbunker vorbeigelaufen und hatte einen Blick auf das Türschild geworfen. Dr. Lukas Dennhorst. Brrruah. Sie hasste Leute, die auf ihren Doktortitel bestanden und ihn überall wie Leuchtreklameschilder zur Schau stellten.

Schließlich hielt sie es in ihrem Bett nicht mehr aus und stand auf. Picasso wartete wie gewohnt auf der Veranda und maunzte leise. Als er um ihre Beine strich, entdeckte sie den Zettel.

Liebe Lilly, das mit deiner Tante tut mir ehrlich leid. Dann hätte ich gerne einen anderen Erziehungsberechtigten von dir gesprochen. Deine Eltern zum Beispiel. Gruß, L.

Wie kam er nur auf den Namen Lilly? Fand er ihn etwa kindisch? Lina mochte den Klang und konnte sich nicht erklären, warum Lukas sie so nannte. Das war aber nicht das Schlimmste. Die Sache mit ihren Eltern beunruhigte sie. Kurz überlegte sie, ob sie ihm wirklich die Telefonnummer geben sollte. Der würde sich wundern. Ihr Vater verstand bei solchen Sachen keinen Spaß und würde Lukas Dennhorst zur Schnecke machen. Oder gemeinsam mit ihm über seine sich kindisch benehmende Tochter lästern.

Lina schauderte. Die Möglichkeit bestand tatsächlich. Ihr Vater war ein verbohrter, verbitterter Mann, der nicht besonders stolz auf seine Tochter war. Das ließ er sie auch regelmäßig spüren. Lukas und er wären garantiert ein gutes Gespann. Schaurig.

Die Vorstellung, wie sich Lukas und ihr Vater gegen sie verbündeten, beflügelte sie. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, hatte sie bereits ihre alten Sneaker übergestreift, sich ihren Mantel geschnappt und war auf dem Weg zu Lukas. Picasso folgte ihr, wie er es jeden Morgen tat. Er begleitete sie meist bis zur ersten Kreuzung, ehe er umdrehte, ein wenig umherstreifte und darauf wartete, dass sie von der Arbeit zurückkehrte.

Lina hätte schwören können, dass er einen Moment stutzte. Statt nach rechts bog sie diesmal nach links ab und stapfte geradewegs hinüber zur Luxusvilla. Die Eiseskälte spürte sie nicht einmal, da der Zorn der Gerechtigkeit in ihr loderte.

Sie klingelte. Erst dann wurde ihr bewusst, wie sie aussah. Ungeschminkt, ungekämmt, im Schlafanzug. Keine guten Voraussetzungen, um Eindruck zu schinden. Egal, dachte sie. Sie war ja auch nicht hier, um ihn für sich zu gewinnen, sondern um ihn ein für alle Mal aus ihrem Leben zu verbannen.

Da sich zunächst nichts rührte, klingelte sie Sturm. Picasso lehnte mittlerweile an ihrem Bein und bewegte nervös seinen Schwanz von rechts nach links.

»Genau, du Verräter«, sagte sie zu ihm. »Das ist jetzt der Moment, um Muffensausen zu bekommen. Wir beenden dein Doppelleben und deine Karriere als Doppelagent!«

»Diskutieren Sie immer mit der Katze? Kein Wunder, dass Karlo eine Persönlichkeitsspaltung hat.«

Lina quiekte erschrocken, machte einen Satz zurück und sah sich hektisch um. Wer sprach da mit ihr? Sie bemerkte die Gegensprechanlage an der Mauer neben sich und erinnerte sich an die Überwachungskamera. Offenbar nahm diese auch Ton auf.

»Machen Sie auf! Wir müssen reden«, forderte sie möglichst würdevoll.

»Schon mal auf die Uhr gesehen? Es ist sieben Uhr morgens!«

Das war Lina tatsächlich nicht bewusst gewesen. Als Postbotin stand sie grundsätzlich früh auf. Heute war allerdings ihr freier Tag. Sie hatte eine ganz normale Fünftagewoche, musste aber immer wieder mal samstags austragen. Dafür bekam sie dann in der darauffolgenden Woche einen Tag frei. In letzter Zeit war das etwas schwierig geworden, weil so viele Postboten erkältet waren und die Weihnachtspost sich stapelte. Ihr Chef hatte aber letztlich Mitleid mit ihr gehabt.

Sie hatte frei. Warum stand sie dann in dieser Eiseskälte am frühen Morgen vor dem Haus eines Wildfremden?

Der Summer ertönte, und das Tor sprang wie von Geisterhand auf. Zum Fliehen war es daher zu spät. Also stapfte sie mit großen Schritten hinüber zur Eingangstür. Das Haus selbst sah aus, als hätte ein Riese mehrere Glaswürfel übereinandergestapelt. Der Bunker wirkte edel und modern, musste Lina zugeben. Da es draußen noch stockdunkel war, waren sämtliche Außenlampen angeschaltet und tauchten das Gebäude in ein sanftes Gelb. Der Schnee glitzerte dabei wie goldene Diamanten. Es wirkte einschüchternd und gleichzeitig hübsch – und teuer. Die Stromrechnung wollte Lina nicht bezahlen.

Ihr Traumhaus sah definitiv anders aus, aber sie musste zugeben, dass das Haus Stil hatte. Klare Strukturen, ein überstehendes Flachdach und große Fensterfronten.

Picasso huschte an ihr vorüber die schneeweißen Steinstufen hoch und verschwand durch die Katzenklappe. Musste er das ausgerechnet jetzt vorführen? Das demotivierte sie total.

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