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Ein Sommerhaus auf Santorin

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Santorin – die Insel der Liebe

Auf der kleinen griechischen Insel Santorin, wo das türkisfarbene Wasser der Ägäis in sanften Wellen an den Sandstrand schwappt, hat Anna von ihrem Vater ein Sommerhaus geerbt, das leider alles andere als einladend ist. Während der Renovierungsarbeiten beginnt sie, auch ihr Leben neu zu ordnen. Und ohne es zu wollen, verliebt Anna sich in dieses kleine Stück vom Paradies und in den wundervollen Nikos, der immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist ...

»Der perfekte Sommerroman zum Abschalten.« Merkur.de


  • Erscheinungstag: 22.03.2022
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950065
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Averi und Shauna, meine wunderschönen, starken, ehrgeizigen Schwestern. Ich hoffe, dass ihr euch auch bei schwierigen Entscheidungen immer selbst treu bleibt.

Prolog

Vor fast viertausend Jahren, noch bevor Troja fiel, in der Blüte der Bronzezeit, brach in der Ägäis ein Vulkan aus, dessen Kraft bis heute unerreicht bleibt. Die winzige Insel Thera wurde zerstört, auseinandergerissen. Legenden über versunkene Städte und Schätze entstanden, die sich noch Jahrhunderte halten sollten. Wieder und wieder brach der Vulkan aus, seine Magmakammer füllte sich immer von Neuem, bis das gesamte Gebiet bis zur Unkenntlichkeit verwüstet wurde.

Doch Thera starb nicht. Aus Thera wurde Santorin, oder Thira, ein kleiner Archipel bestehend aus einer großen Insel in Form eines umgedrehten »C« sowie ein paar kleineren Inseln – ein durch den Vulkan geprägtes Ökosystem. Der aschige Boden erwies sich als unglaublich fruchtbar, was besonders den Weinreben zugutekam. Die Krater, die vom Zerstörungswerk des Vulkans übrig blieben, formten wunderschöne Landschaften, weshalb schließlich auch viele Touristen den Weg nach Santorin fanden.

Mittig auf Santorin liegt eine kleine Stadt mit dem Namen Exo Gonia. Von manchen Stellen aus ist hier zu allen Seiten das Meer zu sehen. Die Straßen, die in die Stadt führen, sind schmal und kurvig, mit weißen Wänden zu beiden Seiten, hinter denen sich Häuser und Gärten verbergen, die weiter in die Berge reichen, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Am Ende einer dieser Straßen – die den Berg zur Agios Charalambos hinaufführt, einer wunderschönen gelben Kirche mit drei abgerundeten Türmen, auf denen Kreuze prangen – stand ein kleines weißes Haus mit drei Torbögen davor, von wo aus man über Kamari und die Ägäis blickte.

Das Haus hatte ursprünglich nur ein Schlafzimmer, das Himmelbett darin verziert mit Schnitzereien von dem Mann, der das Haus errichtet hatte. Auch den Küchentisch hatte er selbst gebaut, ein langer rechteckiger Tisch mit Verschnörkelungen an den Seiten, dessen Oberfläche von den vielen Jahren voller Essen, Wein, Liebe und Gelächter glänzte. Aus dem gleichen Holz hatte der Mann auch die Eingangstür gefertigt und stolz in den Rahmen gehängt.

Die Familie, die in dem Haus lebte, war eine bescheidene. Der Mann war Handwerker, die Frau arbeitete als Näherin. Sein ganzes Leben hatte der Mann in dem Haus verbracht, das sich schon seit zweihundert Jahren im Besitz seiner Familie befand. Erbaut wurde es von den ersten Vorfahren, die sich auf Santorin niederließen und denen Generationen an Handwerkern folgten, die das Haus weiter bewohnten, ohne etwas daran zu verändern.

Bis dieser Mann einen Sohn bekam. Auch der Sohn wurde Handwerker, aber er wollte das Haus ausbauen, vergrößern. Sein Vater ließ es nicht zu, daher fing der junge Mann an, im Garten ein Häuschen zu bauen. Er träumte von Gästen aus aller Welt. Von Fremden, aus denen Freunde wurden, wenn sie sich an dem alten Tisch gegenübersaßen und ein selbst zubereitetes Essen mit Früchten aus dem Garten aßen, bevor sie sich umgeben von Bergen der schönsten Insel der Welt schlafen legten. »Das Sommerhaus« nannte er es, und es sollte neue Leute und Abenteuer in ihre kleine Ecke von Exo Gonia auf Santorin bringen. Er strich das Häuschen gelb und hoffte auf ein aufregenderes Leben.

Nur eine einzige Person wohnte im Sommerhaus, solange der Sohn lebte, aber sie sollte seine Welt für immer verändern.

1. Kapitel

Für Anna bedeutete ein Sommer in Manhattan schon immer die Hölle auf Erden, jedenfalls was die Temperaturen anging. Als sie allerdings in Thira aus dem Flugzeug stieg, wurde ihr klar, dass es noch ganz andere Hitzegrade gab. Und zwar in Griechenland. Auf Santorin, genau genommen.

Die Sonne tauchte alles in ein blendend weißes Licht. Anna kramte ihre Sonnenbrille aus ihrer Tasche hervor und setzte sie auf. Nun wurde sie nicht mehr geblendet und konnte den strahlend blauen Himmel sehen, in dem sie nicht eine Wolke entdeckte. Rechts von ihr, in der Ferne, verschmolzen Himmel und Meer miteinander.

Der Flughafen selbst machte allerdings nicht viel her. Womit hatte sie denn auch gerechnet, einem weißen Steinbau mit blauem Dach und einem Kreuz über dem Eingang? Jedenfalls hatte sie etwas Schöneres erwartet als den Anblick des Terminals. Weiß war das Gebäude zwar schon, aber das blieb auch das Einzige, was von ihrer Vorstellung zutraf.

In Gedanken ging Anna bereits durch, wie sie sich ihren Großeltern vorstellen sollte. »Hi, Mr. und Mrs. Xenakis. Wir kennen uns nicht, aber ich bin eure Enkelin und will euer Sommerhaus an Fremde verkaufen. Klingt doch gut, oder?«

Daran sollte sie wohl noch etwas arbeiten. Vielleicht würde ja ein Drink helfen.

Laut einer kurzen Google-Suche (ihre Handyrechnung dürfte gigantisch werden, aber das würde sie dann schon hinkriegen), lag die Adresse, die sie von ihrer Schwester Lizzy hatte, nur etwa zweieinhalb Kilometer entfernt. Die Busfahrt würde zwar eine halbe Stunde dauern, aber mit ihren drei Taschen konnte sie unmöglich zu Fuß gehen. Also hielt sie nach der sehr entspannten Passkontrolle Ausschau nach Wegweisern zu irgendeiner Bushaltestelle. Oder sollte sie nach einem Esel-Taxi suchen? Sie erinnerte sich jedenfalls noch an einen Film, in dem Touristen auf Eseln die steilen Stufen runter- und hochstiegen, und überlegte, ob sie genug Bargeld für ein Esel-Taxi und Mittagessen dabeihatte. Wie viel die Strecke auf einem Esel wohl kostete? Fünf Euro? Fünfzig? Sie hatte nur fünfzig dabei, also hoffentlich weniger. Der Gedanke, auf einem Esel zu reiten, schien … na ja, nicht direkt verlockend, aber irgendwie passend.

Beim Gang durch die Ankunftshalle überflog sie die ganzen Namensschilder, die von diversen Fahrern hochgehalten wurden. An einem der Schilder blieb ihr Blick jedoch hängen. Auf einem Stück Pappe stand in Großbuchstaben »LINTON«.

Der Mann stach auch sonst etwas aus der Masse heraus. Nicht, weil er ihr bekannt vorgekommen wäre, sondern, weil er einen Kopf größer war als alle um ihn herum. Sein dichtes dunkles Haar reichte fast bis zu den Schultern, wobei er den oberen Teil nach hinten gebunden hatte. Seine Arme sahen definiert und gleichzeitig kräftig aus und durch das weiße T-Shirt zeichnete sich seine muskulöse Brust ab. Er trug eine khakifarbene Hose, die voller Farbflecken war. Kein typisches Chauffeur-Outfit, aber Anna musste an die Handwerkerfirma ihres Großvaters denken und fragte sich, ob der Mann wirklich ihretwegen dort wartete. Aber es wusste eigentlich niemand, dass sie kommen wollte, oder?

Anna ging ein paar Schritte weiter und der Mann winkte ihr zu. Vielleicht suchte er also doch nach ihr, oder wollte er nur flirten? Anna war nicht einmal sicher, was ihr lieber gewesen wäre.

»Bist du Anna?«, fragte er sofort, als sie nah genug war. Er kannte ihren Namen. Verdammt, also kein Flirten. Aber immerhin wurde sie abgeholt.

»Ja, die bin ich«, antwortete sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. Seine langen Finger legten sich fest um ihre Hand und Anna musste sich aktiv daran erinnern, wie man jemandem die Hand schüttelte. »Ich wusste nicht, dass ich abgeholt werde.«

Keine Antwort. Der Mann steckte sich das Schild unter den Arm und ging los, sodass Anna ihm hinterherlaufen musste.

»Du siehst nicht halb griechisch aus«, kommentierte er, ohne sich dabei umzudrehen.

»Bin ich aber«, meinte sie nur und verdrehte die Augen. Was war daran so wichtig? Die Hälfte der Menschen am Flughafen war hellhäutig und blond. »Wer hat dir gesagt, dass du mich abholen sollst?«

»Ich arbeite für deinen Großvater«, meinte er und stopfte das Schild in einen Mülleimer auf dem Weg.

Das sollte wohl als Erklärung ausreichen, jedenfalls erläuterte er nicht weiter, woher anscheinend alle wussten, dass Anna heute ankam. Als sie nach draußen gingen, setzte Anna sofort wieder ihre Sonnenbrille auf. Diesmal war sie auf die blendende Sonne vorbereitet, nur die Hitze traf sie erneut überraschend stark.

»Dein Englisch ist sehr gut«, sagte sie, während sie sich alle Mühe gab, nicht weiter zurückzufallen.

»Ich habe in London studiert«, antwortete er, wieder ohne sich umzudrehen.

Er ging an den Autos auf dem Parkplatz vorbei und Anna dachte sich, seins müsste dann wohl weiter hinten stehen. Sie musste sich anstrengen, um mit ihm mitzuhalten. Ihren Duffelbag schlug ihr immer wieder hinten gegen die Beine, der Riemen ihrer Handtasche schnitt ihr in die Schulter und mit den Absätzen blieb sie ständig an ihrem kleinen Rollkoffer hängen, während sie kläglich versuchte, halb gehend, halb rennend hinter ihm herzukommen.

Nachdem sie ein paar Minuten schweigend weitergegangen waren – er immer ein paar Schritte weiter vorn und sie strampelnd hinter ihm –, wurde Anna langsam misstrauisch. Inzwischen waren sie an der Einfahrt zum Parkplatz vorbeigegangen, vorausgesetzt, das große Schild mit dem »P« hatte hier die gleiche Bedeutung. Sie schienen das Flughafengelände bald komplett zu verlassen.

»Ähm, Entschuldigung, aber wo gehen wir hin?«

Jetzt schaute er sie über seine Schulter hinweg an, die Augenbrauen fest zusammengezogen und halb lächelnd. Er schien es lustig zu finden. »Zu deinen Großeltern natürlich.«

»Ja, aber wo ist dein Auto?«

Er lachte. »Tut mir leid, Prinzessin, ich bin nicht dein Fahrservice.«

Anna verzog das Gesicht und der Mann zeigte auf eine Bushaltestelle vorn, an der schon Dutzende Menschen warteten.

»Den Bus hätte ich auch allein nehmen können«, sagte sie und zog ihren Duffelbag wieder hoch, der ständig über ihre Schulter rutschte.

Er zuckte nur die Achseln.

Genau in dem Moment kam ein Bus um die Ecke, aber sie waren noch ein paar Hundert Meter von der Haltestelle entfernt.

»Gib mir deine Tasche«, meinte er schnell. »Wir müssen rennen.«

Anna spürte, wie ihr ein Schweißtropfen über den Rücken lief, und schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall, nicht in dieser Hitze.« Aber sie gab ihm trotzdem dankbar ihre Tasche, wenn auch etwas gekränkt, dass er sie ihr nicht früher abgenommen hatte.

Er nahm die Tasche und wurde schneller. »Ernsthaft, wir müssen rennen, sonst verpassen wir den Bus!«

»Dann nehmen wir den nächsten!«

»Sicherlich nicht«, entgegnete er hartnäckig. »Der kommt erst in über einer Stunde und so lange stehe ich hier nicht rum.« Der Bus hielt an und der Mann rannte los, ließ Anna einfach stehen.

Sie hob ihren kleinen Koffer am Griff hoch und fing auch an zu laufen. Sie wollte definitiv nicht allein in der Hitze zum Haus gehen oder auf den nächsten Bus warten.

Unglaublich schnell quetschten sich die Menschen alle in den Bus und Anna wünschte, sie würden langsamer einsteigen, um ihr etwas mehr Zeit zu verschaffen. Der Mann, der sie abgeholt hatte, war bereits zwischen den anderen verschwunden, aber Anna war noch zu weit weg. Sie lief so schnell ihre Beine wollten, wobei der Koffer bei jedem Schritt gegen sie knallte, aber das ignorierte sie und zwang sich, weiterzulaufen. Sie musste es zum Bus schaffen.

So viel Glück hatte sie allerdings nicht. Als sie noch mindestens fünfzig Meter entfernt war, fuhr der Bus los und hinterließ nur noch eine Staubwolke.

Anna blieb stehen und beugte sich vor, stützte sich auf ihre Knie, halb aus Verzweiflung, halb aus Erschöpfung. Dass dieser Kerl sie einfach stehen ließ, nachdem er sie extra abgeholt hatte, konnte Anna nicht fassen. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wo sie lang musste, und er hatte sogar einen Teil ihres Gepäcks. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und prüfte, ob sie Internet hatte. Am Flughafen hatte sie noch volle Balken gehabt, aber hier draußen war schon praktisch gar nichts mehr. Auf keinen Fall genug, um den Weg zum Haus nachzusehen. Sie war also offiziell gestrandet.

Als sich vor ihr die Staubwolke vom Bus langsam auflöste, erkannte sie jedoch an der Bushaltestelle eine Gestalt mit einem pinken Duffelbag. Ihr Begleiter.

»Du hast doch gewartet!«, rief sie ihm zu. Sie war überrascht und lächelte, bis sie seinen genervten Blick bemerkte.

»Deinetwegen haben wir den Bus verpasst.« Seine Augenbrauen waren jetzt so fest zusammengezogen, dass Anna sich keinen anderen Gesichtsausdruck bei ihm mehr vorstellen konnte.

Sie öffnete schon den Mund, um sich zu entschuldigen, aber er marschierte an ihr vorbei und machte sich auf den Weg die Straße runter, ihre Tasche ließ er auf dem Boden liegen. Anna nahm sich ihren Duffelbag und fing wieder an, hastig hinter ihm her zu stolpern.

Nach fast einem Kilometer begriff sie allmählich, dass er den gesamten Weg zum Haus laufen wollte. Ein paarmal rief sie ihm etwas zu, bat ihn, ihr wenigstens eine der Taschen abzunehmen, aber er ignorierte sie nur und blieb ihr konsequent etwa zwanzig Meter voraus, selbst wenn sie versuchte, aufzuholen. Anna blieb nichts anderes übrig, als ihm weiter hinterherzustapfen.

Fast eine Stunde später kamen sie bei einem großen Hotel an. Anna war immer noch genervt und ihr Begleiter hatte noch kein Wort dazu gesagt, wo sie überhaupt waren. Er schlenderte einfach durch die automatischen Glastüren über den Marmorboden zur Rezeption und flüsterte dem jungen Mann hinter dem Tresen etwas zu, bevor er in einem Flur verschwand. Das Ganze kam ihr seltsam vor.

Der Mann an der Rezeption sah Anna erwartungsvoll an. Sie ging zu dem großen Empfangstresen, der wie aus Treibholz gefertigt aussah, stellte ihre Handtasche darauf ab und legte ihre andere Tasche und den Koffer auf den Boden.

»Möchten Sie einchecken?«, fragte der Mann sie.

»Nein, ich will zu meinem Großvater, Christos Xenakis. Ist er …« Sie schaute sich unsicher um, die Frage kam ihr dumm vor. »Wohnt er hier?«

Der Mann rümpfte die Nase. »Christos arbeitet hier, er ist Handwerker. Im Moment müsste er Pause haben und im Personalraum sein. Den Gang da runter und dann die letzte Tür auf der rechten Seite.« Er zeigte auf eine offene Tür links von ihm, wohinter der lange Flur lag, in dem auch ihr Begleiter verschwunden war.

»Kann ich mein Gepäck hierlassen?«

»Tut mir leid«, antwortete er, »das dürfen nur Gäste.« Dann nahm er sich ein Walkie-Talkie vom Tisch und ging weg.

Wieso wollte ihr heute eigentlich niemand helfen? fragte Anna sich. Sie legte sich ihre Handtasche wieder um, nahm ihren Koffer und den Duffelbag und machte sich auf den Weg zur Tür. Gerade als sie um den Tresen herumgegangen war, kam ein kleiner Grieche aus dem Flur und strahlte sie an. Er hatte buschige Augenbrauen, ledrige Haut und einen imposanten Schnurrbart mitsamt gezwirbelter Spitzen. Er hätte fast wie ein Bösewicht aus einem Comic ausgesehen, wäre sein Grinsen nicht so breit gewesen, während er näher kam.

»Anna!«, rief er so laut, dass sich ein paar Leute in der Lobby zu ihnen umdrehten. Er schloss sie in seine Arme, sie hielt immer noch all ihre Taschen in den Händen. Das musste also ihr Großvater sein. Wieder fragte sie sich, woher eigentlich alle wussten, dass sie kam.

»Hallo, Christos«, sagte sie, ließ ihre Taschen los und klopfte ihm sanft auf den Rücken.

Nach ein paar Sekunden, zu viel, wenn es nach Anna ging, ließ er sie schließlich los. Er runzelte die Stirn und starrte sie an. Verunsichert strich sie sich durch das Gesicht, um zu prüfen, ob irgendetwas nicht stimmte, oder weshalb er sie so besorgt ansah.

»Du …«, fing er an und schloss seine Augen, um sich besser zu konzentrieren. Da wurde ihr klar, dass er nur Probleme hatte, die richtigen Worte auf Englisch zu finden. »Du hast Essen?«, brachte er heraus und klopfte sich dabei auf den Bauch, um es noch deutlicher zu machen.

»Nein, habe ich nicht«, antwortete Anna und schüttelte sicherheitshalber den Kopf.

Er lächelte sie an und griff nach ihren Taschen, bevor er ihr mit einem Nicken zu bedeuten gab, dass sie ihm den Flur runter folgen sollte.

Nach ein paar Schritten fiel Anna erst auf, dass sie wirklich Hunger hatte. Etwas Gyros oder Hummus – oder was auch immer Griechen so zum Mittag aßen – konnte sie schon vertragen. Es roch auch schon lecker hier. Der Geruch kam ihr bekannt vor, sie wusste nur nicht ganz, woher. Vielleicht etwas aus ihrer Kindheit?

Als sie durch die Tür gingen, warf jemand Christos ein kleines weißes Päckchen zu, das er auffing und dabei eine von Annas Taschen fallen ließ. Anna sah sich um und entdeckte einen jungen Mann, der Sachen aus einer braunen Papiertüte durch den ganzen Raum warf.

Auf der braunen Tüte leuchtete ein großes gelbes »M«.

Natürlich. Da reiste sie um die halbe Welt und McDonald’s entkam sie dennoch nicht. Die Männer im Raum – es waren ausnahmslos Männer – aßen jetzt ihre Burger oder Pommes aus den typischen roten Boxen. Nicht ganz, was sie sich vorgestellt hatte, aber immerhin erklärte das den gewohnten Geruch, der sich inzwischen mit dem von Schweiß und Farbe vermischte.

Alle Männer trugen die gleichen Klamotten und sahen sich auch sonst ähnlich: fast schwarze Haare, olivfarbener Teint, dunkle Augen mit langen, dichten Wimpern. Ein paar von ihnen waren schon etwas älter, wie ihr Großvater, aber die meisten waren junge, muskulöse Männer, die alle auch als olympische Götter durchgehen würden. Sie kam sich vor wie die einzige Frau in einem Raum voller Adonisse – das sollte keine Beschwerde sein. Als die anderen sie langsam bemerkten, fiel ihr allerdings auf, dass die Männer sie weniger flirtend ansahen, sondern viel eher genervt. Etwa so wie sie selbst die Touristen anschaute, die in Manhattan die Gehwege blockierten.

Am anderen Ende des Raumes entdeckte Anna ihren Begleiter zwischen den ganzen Männern mit weißen T-Shirts. Er lehnte an der Wand und lachte gerade über irgendetwas, was ein anderer zu ihm gesagt hatte. Er hatte einen Burger in der Hand und als er einen riesigen Bissen nahm, sah er plötzlich zu ihr und zwinkerte ihr zu. Sofort wurde sie nervös und spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Sie versuchte, an die Tortur zu denken, die sie seinetwegen auf dem Weg hierher hatte durchmachen müssen, aber dennoch lächelte sie, als er durch den Raum auf sie zukam.

»Hunger?«, fragte er sie, griff nach einem übrig gebliebenen Burger, den der Lieferant auf dem Tisch liegen gelassen hatte, und hielt ihn ihr hin.

Schon seit ihrer Kindheit hatte sie nichts mehr von McDonald’s gegessen. Ein paarmal war sie früher mit ihrem Vater dort gewesen, aber seit er weg war, hatte ihre Mutter es ihr verboten, und das hatte sich ihr irgendwie auch so eingeprägt, dass sie, selbst als sie nach Manhattan gezogen war, nicht mehr hingegangen war. Außerdem, wer brauchte schon Fast-Food-Ketten, wenn der Falafelstand um die Ecke vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet hatte? Allerdings hatte Anna jetzt wirklich Hunger, daher nahm sie den Burger an, packte ihn aus und genoss erst mal kurz den Geruch, der ihr in die Nase stieg.

»Das ist auch das Mindeste, was du tun kannst«, meinte sie noch, bevor sie ihre Zähne in dem Burger vergrub.

»Was meinst du?«

»Ich musste meine Taschen allein über die ganze Insel schleppen, während du mich den ganzen Weg lang ignoriert hast«, antwortete sie mit vollem Mund. »Du hättest mich beinahe abgehängt, dann wäre ich irgendwo da draußen verloren gewesen.«

Er rollte mit den Augen. »Also erstens ist der Flughafen nicht auf der anderen Seite der Insel. Und zweitens hast du es doch hergeschafft, oder?«

»Und du warst keine große Hilfe dabei«, entgegnete sie, aber lächelte dennoch. »Ich bin Anna«, sagte sie, nahm ihren Burger in die linke Hand und streckte ihm ihre rechte Hand hin.

»Ich weiß, ich habe dich vom Flughafen abgeholt«, sagte er daraufhin und schüttelte den Kopf.

Anna zog ihre Hand wieder zurück. »Ich erinnere mich, aber ich wollte dir die Chance geben, dich noch mal richtig vorzustellen.«

»Okay.« Er wischte seine Hand noch kurz an seiner Hose ab, bevor er sie ihr hinhielt. So wie seine Hose aussah, brachte das aber vermutlich nicht viel. »Nikolas Doukas.«

Anna schüttelte ihm die Hand. Ihr fiel die gleiche Anspannung in seinem Griff auf wie am Flughafen, nur dass sie diesmal ein einigermaßen normales Händeschütteln hinkriegte. »Freut mich, dich kennenzulernen, Nikolas«, sagte sie und versuchte dabei die Aussprache seines Namens nachzuahmen.

Er lachte nur leise.

»Was?«

»Für eine Frau, die zur Hälfte Griechin ist, ist dein Akzent aber schrecklich«, erklärte er.

»Okay, und was hilft mir das jetzt?«

»Du kannst mich Nikos nennen. Das machen sowieso alle.«

»Nikos«, wiederholte sie. Das ging einfacher. »So?«

»Viel besser.« Er hielt immer noch ihre Hand und schüttelte sie direkt noch mal. »Also, sorry, dass ich dir nicht mit den Taschen geholfen habe. Hier in Griechenland können die Frauen ihr Gepäck eigentlich selbst tragen.«

»Stimmt, wenn Griechenland für etwas bekannt ist, dann für den fortschrittlichen Feminismus«, entgegnete Anna leicht genervt.

»Ja, na ja, wir haben noch ein bisschen was nachzuholen«, antwortete Nikos und legte dann seinen Kopf schräg. »Du bist wegen des Sommerhauses hier, oder?«

»Genau, nur um es auf mich zu überschreiben und vielleicht schon zum Verkauf anzubieten.«

Wieder musste Nikos lachen. »Verkaufen? In einer Woche? Na, dann hast du einiges vor dir.«

»Was meinst du damit?«

»Wirst du schon sehen«, sagte er mit einer abwehrenden Handbewegung. »Morgen habe ich frei, ich kann vorbeikommen und dir helfen.«

Anna nickte. »Ich weiß noch nicht, ob ich Hilfe brauche, aber klar. Dann kannst du das von heute wiedergutmachen.«

Er lachte noch mal kurz und nickte. »Ich muss gleich wieder arbeiten, aber nimm dir ruhig noch was von dem Essen. Kostas hat mehr als genug mitgebracht.« Damit berührte er sie noch leicht an der Schulter und verschwand.

Nachdem Nikos gegangen war, schaute Anna sich erst mal um. Viele Blicke huschten immer wieder in ihre Richtung, aber es kam niemand zu ihr rüber. Sie lehnte sich an die Wand und aß ihren Burger weiter. Es wirkte sogar fast so, als würden die anderen bewusst einen Bogen um sie machen.

Dann kam eine Frau in einer weißer Bluse, High Heels und mit einem strengen Bob rein. Ein paar der Männer begrüßte sie, als ihr Blick durch den Raum wanderte, bis sie Anna entdeckte.

»Hallo«, sagte sie und kam mit ausgestrecktem Arm auf Anna zu. Anna legte ihren Burger zur Seite und schüttelte ihr die Hand. »Ich bin Xenia.«

»Anna Linton.«

»Schön, dich kennenzulernen, Anna. Was machst du im Personalraum?«

Anna schaute sich um. »Ich bin mit meinem Großvater hier«, erklärte sie, »Christos Xenakis. Nikos hat mich hergebracht.«

»Oh, du bist Giorgos’ Tochter!«, sagte Xenia daraufhin lächelnd. »Ich habe schon gehört, dass du kommst. Willkommen auf Santorin und im Kamari Sands Resort.«

»Danke, ich bin das erste Mal hier«, sagte Anna. »Bist du die Managerin?«

»Die Eigentümerin, genau genommen. Ein Familienunternehmen. Ich würde es gern ins einundzwanzigste Jahrhundert bringen, deswegen sind auch die Jungs hier.« Sie zeigte grob in Richtung der Arbeiter im Raum.

»Das ist beeindruckend.«

»Also, was bringt dich überhaupt jetzt auf die Insel?«

»Na ja …«, fing Anna an und rieb sich ihre Hände, »wie viel weißt du über meine Eltern?«

»Nicht viel«, antwortete Xenia und schüttelte den Kopf. »Ich meine, ich kannte deinen Vater, aber nur flüchtig.«

»Meine Eltern haben sich kennengelernt, als meine Mutter im Urlaub hier war, dann ist sie schwanger geworden und sie sind nach Connecticut gezogen, wo meine Mutter her ist. Da haben sie dann erst meine Schwester bekommen und dann mich. Giorgos hatte diverse Affären, deswegen hat meine Mutter ihn schließlich rausgeschmissen und er hat seine Greencard verloren. Als er dann vor ein paar Monaten gestorben ist, hat er meiner Schwester und mir anscheinend ein Haus hier überlassen. Deswegen bin ich gekommen, um es zu verkaufen.«

Xenia nickte und holte tief Luft. Anna hatte definitiv zu viele Informationen preisgegeben, allerdings wusste sie auch nicht, wann sie überhaupt noch mal die Chance bekommen würde, mit jemandem hier zu sprechen, der nicht schon längst auf Giorgos’ Seite war.

»Eine Frage«, fing Anna an, sie wollte das Thema wechseln. »Sprechen hier alle so gut Englisch? Nikos spricht auch fließend, nur mein Großvater nicht.«

Xenia zuckte mit den Schultern. »Unterschiedlich. Nikos und ich haben beide woanders studiert. Ich war in Dartmouth in New Hampshire und er war, glaube ich, irgendwo in England.«

Anna nickte und unterdrückte ein Gähnen – am liebsten hätte sie irgendwo ein Nickerchen gemacht.

»Das wird schon«, sagte Xenia lächelnd. »Außerdem spricht deine Großmutter hervorragend Englisch. Und jetzt will ich dich auch nicht länger vom Mittagessen abhalten. Bis später.«

»Danke, bis später«, meinte Anna noch, als Xenia verschwand. Auch die anderen Männer machten sich langsam wieder zu ihren Baustellen auf, also setzte sich Anna an den Tisch und aß endlich ihren Burger auf. Es stand auch noch eine Tüte Pommes auf dem Tisch, die sie sich gleich danach nahm. Dann saß sie noch etwa eine Viertelstunde allein rum, bis ihr Großvater wieder ins Zimmer kam.

»Anna!«, rief er, genau wie vorher schon, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Daran sollte sie sich wohl gewöhnen. »Du hast Essen?«

Anna nickte. »Ja, ja, ich habe gegessen«, antwortete sie, stand auf und ging zu ihm. »Also, wo wohnst du?«, fragte sie, wobei sie versuchte, mit ihren Armen ein Dach über ihrem Kopf zu formen, um zu verdeutlichen, was sie meinte. Er sah sie erst eine Weile verwirrt an, bis er es auf einmal verstand.

»Zu Hause!«, sagte er genauso enthusiastisch, wie er ihren Namen gesagt hatte. »Warte«, schob er noch hinterher und hielt beide Hände hoch, bevor er wieder wegging.

So langsam gewöhnte sie sich an das plötzliche Verschwinden und Wiederauftauchen ihres Großvaters, also beschloss Anna, einfach abzuwarten, bis er zurückkam. Und als sie nun ganz allein im Raum saß, legte sie den Kopf auf den Tisch und schloss nur für einen Moment die Augen.

Auf einmal schüttelte eine Hand Anna wach. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war.

»Was ist los?«, fragte sie, öffnete die Augen und spürte erst mal einen stechenden Schmerz im Nacken. Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Als sie sich umdrehte, sah sie eine Frau, etwa um die sechzig oder siebzig, die hinter ihr stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Die Frau trug ein geblümtes blaues Kleid mit einem breiten Ausschnitt und darüber eine weiße Schürze, die sie um ihre etwas füllige Taille gebunden hatte. Ihre gräulichen Haare hatte sie zu einem strengen Dutt hochgesteckt, befestigt mit einem Stift. Sie sah aus wie jede Großmutter aus jedem alten Kinderbuch. Das passte auch ganz gut, denn Anna erkannte die Frau von Lizzys Fotos – es war tatsächlich ihre Großmutter.

»Hallo, Eirini«, begrüßte Anna sie, nicht ganz sicher, wie viel sie verstehen würde. »Gehen wir zum Haus?«

»Ja, wir warten schon seit zwanzig Minuten«, antwortete sie und überraschte Anna mit ihrem perfekten Englisch. »Christos hat mehr Geduld als ich. Wenn du mitkommen willst, dann bitte jetzt.«

Anna nickte. Sie stand auf, nahm ihre Taschen und folgte Eirini zurück den Flur entlang und nach draußen. Inzwischen stand die Sonne tiefer, Anna musste Stunden geschlafen haben. Kein Wunder, dass ihr Nacken wehtat. Draußen parkte ein weißer Pick-up mit Christos auf dem Fahrersitz. Eirini zeigte auf die Ladefläche, auf der sich diverses Werkzeug und Baumaterial stapelte.

»Da soll ich sitzen?«, fragte Anna und suchte schon nach einem leeren Fleck, groß genug zum Sitzen.

»Natürlich nicht. Wirf deine Taschen rein, du sitzt zwischen Christos und mir.« Eirini seufzte und lehnte sich wartend an die offene Tür.

Anna lächelte zurückhaltend und nickte, stellte ihren Duffelbag und den Koffer vorsichtig auf der Ladefläche ab, wobei trotzdem Werkzeug umfiel und laut klapperte. Kurz schaute sie Eirini an, die augenrollend zu Christos sah, dann Anna in den Truck scheuchte und sich anschließend neben sie quetschte. Direkt an Christos gepresst saß Anna da. Er lächelte sie an, beide Hände schon am Lenkrad.

Als sie sich langsam vom Resort entfernten, hatte Anna zum ersten Mal einen Blick über die Insel. Sie konnte die Straßen von Kamari, durch die sie vorher geirrt war, nun deutlich erkennen. Alle führten zum strahlend blauen Meer hinunter. Es war nicht exakt so, wie sie sich Santorin vorgestellt hatte – mit verwinkelten Straßen zwischen weißen steinernen Häusern mit gewölbten blauen Dächern, die mit dem Himmel verschmolzen –, aber als sie zwischen den Feldern und Weinbergen entlangfuhren, erkannte sie dennoch, wie wunderschön alles war. Sie fragte sich, wie wohl der Ausblick vom Sommerhaus sein würde. Als sie dann einen Berg hinauffuhren und man den Flughafen sehen konnte, musste Anna daran denken, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass sie sich auf die Reise nach Santorin gemacht hatte.

2. Kapitel

Manhattan, vier Tage zuvor

Bis zu diesem Tag war der schlimmste Moment in Annas Leben noch jener Abend kurz nach Neujahr gewesen, an dem sie erfuhr, dass ihr Vater gestorben war. Nur beiläufig hatte ihre Mutter es erzählt, eingeschoben zwischen einem Bericht über ihr letztes Yoga-Wochenende und unzähligen Fragen zu Annas Liebesleben. Anscheinend war die Nachricht, dass ihr Vater plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war, in etwa genauso wichtig wie die Feststellung, dass die anderen Möchtegern-Yoga-Gurus mittleren Alters besonders lange den nach unten schauenden Hund halten konnten.

Nicht, dass Anna und ihr Vater sich besonders nahegestanden hätten. Jedenfalls die letzten Jahre nicht. Er war abgehauen, als sie sechs Jahre alt war. In einem Taxi davongefahren, während Annas Mutter in ihrem weißen Satin-Morgenmantel, der sich im Wind aufblähte, ihm diverse Schimpfwörter über die Straße hinterherbrüllte. Lizzy, Annas Schwester, war zu der Zeit acht gewesen und hatte Anna fest an sich gedrückt, während sie das Ganze durch das Fenster beobachtet hatten. Immer wieder hatte Lizzy etwas zu ihrer Mutter hinuntergerufen. Anna dachte lange Zeit, ihre Schwester habe damit Angst oder Traurigkeit ausdrücken wollen, aber in Wirklichkeit wollte Lizzy ihrer Mutter nur sagen, dass ihr Morgenmantel offen stand und auch die Nachbarn inzwischen aus ihren Fenstern guckten, um nachzusehen, was denn eigentlich los war. Zwanzig Jahre lang hatte Anna sich gefragt, wie eine Frau gleichzeitig so wütend, beschämt und verletzt sein konnte, dass sie überhaupt nicht mitbekam, wie sie mitten auf der Straße stand und eine Brust raushing.

Und dann stand Anna in der Fifth Avenue und schaute hoch zu dem Fenster im dritten Stock. Das Fenster ihres Bosses und gleichzeitig Liebhabers, gegen das gerade eine andere Frau gepresst wurde. Er hinter ihr, beide nackt, die Gesichter voller Leidenschaft, Schmerz und Genuss. Da verstand Anna es. Sie hätte genauso gut nur einen Morgenmantel tragen können, der sich im Wind löste, ganz Manhattan könnte sie anstarren und sie würde dennoch nur den einen Gedanken haben: »Du Idiotin. Idiotin, Idiotin, Idiotin! Du Riesenidiotin.« Wie ein Mantra wiederholte sich der gleiche Gedanke immer wieder in ihrem Kopf.

Sie war am Boden zerstört, aber nicht bloß aus dem offensichtlichen Grund: Marcus, der Mann, mit dem sie sich nun schon über ein Jahr lang traf, fickte direkt vor ihren Augen eine andere Frau. Natürlich wusste er nicht, dass sie da war, aber das machte es auch nicht besser. Die beiden anzustarren, ihre an die Scheibe gepressten Körper, die Schweißabdrücke, die sie hinterließen – Anna fühlte sich besiegt. Sie hatte sich nie irgendwelche romantischen Hoffnungen gemacht, aber erst in diesem Moment wurde ihr klar, was sie wirklich für ihn war: austauschbar.

Mit fünf Jahren wurde Anna in ihrer Vorschulgruppe zur Musterschülerin für den Mai gewählt. Das hieß, dass sie nett zu den anderen war, ihre Aufgaben immer gut erledigte und sich oft als Erste freiwillig meldete. Dabei war sie nie besonders offen gewesen, selbst als Kind war sie eher ruhig und schüchtern. Aber jeden Monat wurde ein neuer Musterschüler gewählt und es gab nur zwölf Kinder in ihrer Gruppe. Wenn man also diejenigen ausnahm, die viel Ärger machten, dann war nur logisch, dass Anna irgendwann den Titel bekommen musste, egal wie sozial sie sich in Wirklichkeit verhielt.

Aber die fünfjährige Anna interessierte das nicht. Stolz trug sie ihre leuchtend gelbe Schleife und präsentierte sie ihren Eltern, als sie aus der Vorschule nach Hause kam. Ihr Vater Giorgos – die beiden Mädchen nannten ihn nur Baba, aber ihre Mutter stellte ihn immer als George vor – hob sie hoch, umarmte sie und drehte sich jubelnd mit ihr im Kreis. Von Grace, Annas Mutter, kam nur ein »Gut gemacht«, während sie sich noch ein Glas Wein einschenkte.

Anna hatte gefragt, ob sie die Schleife an den Kühlschrank kleben durfte, woraufhin ihre Mutter ihr nur geantwortet hatte, dass der Platz am Kühlschrank für wichtigere Erinnerungen vorgesehen war. Giorgos hatte seine Frau kühl angesehen und dann Annas Kopf geküsst und gelächelt. »Deine Mutter meint, dass der Kühlschrank für langweilige Sachen ist, und deine Schleife ist alles andere als langweilig, mein Schatz. Wollen wir sie in deinem Zimmer aufhängen?«

Am nächsten Morgen war Annas Mutter zur Arbeit abgehauen, ohne ein Wort zu irgendjemandem zu sagen. Giorgos hatte Anna, Lizzy und die Schulsachen der beiden wie immer in seinen Maler-Lieferwagen gepackt, um sie zur Schule zu bringen. Als sie vor der Schule standen, ließ er aber nur Lizzy aussteigen. Anna sollte im Auto sitzen bleiben, er wollte noch mit ihr reden.

»Baba, wieso? Kriege ich Ärger?«, fragte Anna und sah zu, wie ihre Schwester im Schulgebäude verschwand.

Sobald Lizzy drinnen war, fuhr Giorgos mit Anna in ein Diner und sie durfte so viele Schokoladen-Pancakes essen, wie sie wollte. »Musterschüler verdienen ein ordentliches Frühstück zur Feier des Tages«, erklärte er und nahm einen Bissen von seinem eigenen Berg Pancakes, bevor er einen Arm um Anna legte, die neben ihm saß und kaum über den Tisch schauen konnte. Beim Kauen lief ihm ein Tropfen Ahornsirup über das Kinn. Sofort zeigte Anna auf ihn und fing an, laut zu lachen. Giorgos tat, als wüsste er nicht, was sie meinte, und beugte sich dann zu ihr herunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben und den Sirup über ihr Gesicht zu schmieren. Sie erinnerte sich noch an das Kitzeln seines Bartes.

Als sie aufgegessen hatten, fuhr er Anna wieder zur Schule und gab ihr eine Entschuldigung mit, auf der stand, dass sie einen Termin beim Zahnarzt hatte. Anna wollte schon fragen, wieso er log, wenn doch alle Musterschüler so ein Frühstück bekamen, aber als sie seinen traurigen Blick sah, gab sie ihm nur eine Umarmung und einen Kuss, bevor sie in den Kindergarten ging.

Ein paar Wochen später, kurz nach Annas sechstem Geburtstag, wurde Giorgos aus dem Haus geworfen und Lizzy musste Anna festhalten, während sie alles vom Fenster aus beobachteten. Das Schuleschwänzen, ein paar Wutausbrüche und die Affären hatte Annas Mutter vor Gericht genutzt, um eine Scheidung und das alleinige Sorgerecht zu bekommen, was dann dazu geführt hatte, dass Giorgos zurück nach Griechenland geschickt wurde. Grace hatte den Nachnamen Xenakis nie angenommen und sobald die Scheidung durch war, hatte sie auch die Nachnamen ihrer Töchter zu Linton ändern lassen. Anna und Lizzy sollten ihren Vater nie wiedersehen.

Anfangs hatte Anna große Schwierigkeiten, die Untreue ihres Vaters als Tatsache anzunehmen. Es ergab einfach keinen Sinn für sie. »Baba liebt uns«, meinte sie zu ihrer Mutter. »Er würde so was nie tun, er würde uns nie verletzen.«

»Du bist noch ein Kind«, hatte Grace geantwortet. »Eines Tages wirst du sehen, was Männer alles Schreckliches tun, und dann wird dich gar nichts mehr überraschen. Bis dahin musst du mir einfach vertrauen.«

Auf dem Gehweg vor Marcus’ Wohnung, das Mantra immer noch in ihrem Kopf, verstand Anna schließlich, was ihre Mutter gemeint hatte. Sie liebte diesen Mann nicht. Hatte keine Familie mit ihm. Und dennoch, als sie ihn durch das Fenster beobachtete, brach ihre gesamte Welt zusammen und zum ersten Mal fühlte sie sich so, wie ihre Mutter sich damals gefühlt haben musste: aussortiert.

Eine halbe Stunde später knallte Anna ihre Zimmertür zu und lehnte sich dagegen, als die Tränen kamen. Wahrscheinlich hatte sie auch ihre Mitbewohnerin aufgeweckt, aber das war ihr egal. Den ganzen Heimweg über hatte sie ihre Tränen zurückgehalten und sie konnte einfach nicht mehr. Kläglich versuchte sie, die Bilder aus ihrem Kopf zu schieben, aber sie konnte an nichts anderes mehr denken und weinte.

Es ging ihr nicht einmal darum, dass Marcus mit einer anderen schlief; Anna hatte von Anfang an gewusst, dass es nichts Exklusives zwischen ihnen war. Das Ganze hatte sogar durch und durch klischeehaft angefangen. Etwas über ein Jahr zuvor hatten sie sich bei einer Ausstellung in einer Galerie kennengelernt. Sie hatte schon ein paar Monate in der Galerie gearbeitet, aber das war das erste Mal, dass sie mit Marcus gesprochen hatte – dem berühmten Fotografen, dem die Galerie gehörte. Na ja, berühmt unter anderen Fotografen jedenfalls. Für Anna, die Fotografie studiert hatte und schon seit Jahren einen Job in seiner Galerie haben wollte, hätte es genauso gut Chris Hemsworth sein können. Sie wäre beinahe gestorben, als er bei der Ausstellung auf sie zugekommen war. Nur ein paar Stunden später landeten sie auch schon zusammen im Hotelzimmer.

Nein, das eigentlich Schlimme war, dass Anna ihre Zukunft mit jedem Stoß weiter zerbröckeln sah. Sie arbeitete nur als Assistentin in der Galerie mit dem Ziel, selbst Fotografin zu werden. Frauen wie sie gab es unzählige für Marcus. Auch wenn sie hart dafür gearbeitet hatte, den Job bei MarMac zu bekommen, wusste sie genau, dass er sie sofort rauswerfen und die nächste aus der langen Reihe an Bewerberinnen nehmen würde, sobald er keine Verwendung mehr für sie hatte. Jedenfalls war das ihre große Sorge. Nach ein paar Minuten kletterte Anna auf ihr Bett, legte sich einfach auf den Stapel frisch gewaschener Wäsche und ließ die Tränen weiter über ihre Wangen laufen. Mit den Bildern von den Brüsten der Frau, wie sie fest ans Fenster gepresst wurden, im Kopf weinte sie sich in den Schlaf.

3. Kapitel

Gefühlt nur wenige Sekunden später wachte Anna davon auf, dass ihr Ellenbogen vibrierte. Als sie die Augen öffnete, war sie erst mal verwirrt von dem Sonnenlicht, das grell durch das Fenster schien. Schnell kniff sie die Augen wieder zu. Das Vibrieren hörte auf, fing aber gleich darauf wieder an. Mit einer Hand tastete Anna nach ihrem Handy. Sie durchwühlte den Berg an Klamotten und zog es heraus, um dann den Anruf ihrer Schwester entgegenzunehmen.

»Es ist so früh«, nahm sie krächzend ab. »Was willst du?«

»Immer schön, mit dir zu reden, liebste Schwester«, kam von Lizzy zurück. Im Hintergrund hörte man Leute reden und Geschirr klirren. Anna musste an die Kantine zurückdenken, als sie das eine Mal im Betrieb gewesen war – gut besucht und karg eingerichtet, aber jede Menge verdächtig glücklicher Menschen. »Es ist fast neun, Banana. Nicht wirklich unmenschlich früh.«

Anna schrak auf, doch dann kamen die Bilder von letzter Nacht zu ihr zurück und sie verlor sofort wieder jegliche Motivation, zur Arbeit zu gehen.

»Für manche ist das früh. Also, was ist?«

»Wieso so gereizt?« Im Hintergrund wurde es ruhiger, als Lizzy anscheinend die Kantine verließ. »Alles in Ordnung, Anna? Du klingst, als hättest du die ganze Nacht geheult.«

Anna wusste genau, dass es sinnlos wäre, ihrer Schwester etwas vorzumachen, aber ihr war eigentlich nicht danach, ins Detail zu gehen. Irgendwie hatte sie es geschafft, Lizzy zu verheimlichen, dass sie sich seit achtzehn Monaten mit ihrem Chef traf. »Nicht die ganze Nacht«, antwortete sie. »Aber ich will nicht darüber reden. Also, was ist los?«

»Na gut, wahrscheinlich ist es besser, wenn du nicht bei der Arbeit bist«, fing sie an. »Ich muss dir was sagen.«

Anna richtete sich auf und schwang ihre Beine aus dem Bett, wurde nervös. Das waren die fünf schlimmsten Wörter, die aus dem Mund ihrer Schwester nur kommen konnten. »Was ist passiert?«

»Also«, begann Lizzy, »ich hatte einen Anruf von einer Anwältin aus Griechenland.«

»Griechenland?«, fragte Anna nach. »Santorin?«

»Die Kanzlei sitzt in Athen. Aber ja, es geht um Dad.«

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