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Ein unbesiegbarer Sommer

hier erhältlich:

Als das Auto der Familie Archer in Kanada durchs Eis eines gefrorenen Sees bricht, kann Robert einzig seine Tochter retten. Während sie heranwächst, kümmert sich Rebecca allein um den Haushalt und die Farm, der Vater kapselt sich ab. Doch so überwältigend wie die Trauer ist auch ihre Wut auf den Vater, dem nicht zu helfen ist und der nach und nach alle Erinnerungsstücke an die Mutter verschwinden lässt. Trost findet Rebecca in der Freundschaft mit Chuck, einem empfindsamen, von seinem Vater tyrannisierten Jungen, und mit Lissie, die von einer perfektionistischen Adoptivmutter gegängelt wird. – Ein eindringliches Debüt, das Trauer und Komik, Melancholie und unbändigen Lebenswillen perfekt verbindet.
  • Erscheinungstag: 25.07.2016
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010097
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

REBECCA

1   Meine Mutter sitzt mit angezogenen Knien in dem Sessel am Morgenfenster. Morgenfenster, so nennt sie es, und dort sitzt sie, um zu vergessen, dass sie in einer Gegend lebt, wo der Winter kommt und viel zu lange dauert. Gottverlassen, sagt sie manchmal, wenn sie glaubt, den Winter im nördlichen Ontario nicht eine Minute länger ertragen zu können.

Hier, sagte sie und zeigte mit wütend ausgestrecktem Finger auf den Fußboden, hier haben die Gletscher angehalten und aufgestoßen und am Rainy River einen Streifen Ackerland zwischen den Felsen und den Seen übrig gelassen, bevor sie weiterzogen, die Erde aufrissen und bis auf das nackte Felsgestein abtrugen und den Kanadischen Schild freilegten. Ihr ist kalt, sie zieht die Schultern hoch und schließt die Augen, versucht wohl, sich vorzustellen, dass der Winter vorüber, der Himmel blau und warm und ruhig ist.

«Als ob es in England besser wäre», sagt mein Vater mit vorwurfsvoller Stimme und schimpft weiter. Meine Mutter lässt sich nichts anmerken, schüttelt nur den Kopf und schließt die Augen.

Die aufgehende Sonne scheint durch das Fenster und taucht meine Mutter in Licht, die vielen Gelbtöne verweben sich mit ihrem Haar, das zu einem Zopf zurückgebunden ist. Fast immer bindet sie ihr Haar nach hinten, mit Zauberfingern, die allein zurechtkommen, ohne die Augen, ohne Spiegel. Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie das Haar jemals offen getragen hat. Sie hält einen weißen Porzellanbecher an die Lippen, der aufsteigende Kaffeedampf umhüllt sie. Sie atmet ein, als würde allein schon der Geruch jede Faser ihres Körpers erwärmen. Es sieht aus, als träume sie.

Ich möchte vor ihr stehen und mir alle Einzelheiten genau einprägen, die leicht geröteten Wangen, die dicken, aber perfekt geformten Augenbrauen, die langen, weichen Wimpern, die Farbe ihrer Augen, tiefblau, irgendwo zwischen blau und grün, das Grübchen auf der linken Seite, ein Spiegelbild meines Grübchens, eine tiefe Kuhle, in die ich den Finger legen und die ich erkunden möchte, um zu sehen, wie tief sie ist. Ich möchte mir einprägen, wie sie mit den Fingern über das Kinn streicht und wie sie die Lider senkt, wenn sie müde ist, als hätte ihre Mutter das schon getan, als meine Mutter klein war, eine genetische Veranlagung. Ich möchte mir einprägen, wie sie dasteht, groß, den Rücken gebogen, die Hand auf der Stirn, die Zähne zusammen, ein Blick, der sagt, Mir reicht es, eine Warnung für alle, außer für mich.

Jake ist mein kleiner Bruder. Er ist elf Monate alt, nicht einmal real genug, nach Jahren bemessen zu werden, als wäre er noch ein Versuchsmodell, das darauf wartet, ein realer Junge zu werden. Er trommelt mit den Fäusten auf die Abstellfläche seines Babystuhls und schreit, will sich losmachen. Er schreit um des Schreiens willen. Ich schaue ihn verächtlich an, ihn und die Toastreste in seinem Haar. Die Toastscheibe ist in mundgerechte Häppchen zerteilt, doch er stopft sich mehrere Stücke auf einmal hinein.

«Ekelhaft», sage ich und schließe die Augen, damit ich das Chaos nicht mit ansehen muss. Jake wirft oft mit Essen um sich und fährt sich mit klebrigen Händen durchs Haar, was ihm etwas Verwegenes gibt. Er hat ein Lätzchen um, das von seinem Sabber feucht und schmuddelig ist.

«Er zahnt», sagt meine Mutter. Er zahnt ständig, er zahnt seit seinem ersten Atemzug. Seine Wangen sind gerötet und entzündet, die Haut rissig. Meine Mutter gibt ihm zum Draufbeißen einen Eiswürfel, den sie in einen kleinen Waschlappen eingewickelt hat. Jake verzieht das Gesicht und saugt dann so heftig daran, als wäre er plötzlich ganz verrückt nach Eis, die Brauen zucken in die Höhe, in seinen Augen ist ein irrer Ausdruck. Er ist meistens vergnügt, aber auch anstrengend und nervig. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie mein Leben war, bevor er auftauchte und alles durcheinanderbrachte. Als meine Eltern mich hochhoben, ich an ihren Händen hing und in der Luft ging. Es war wunderbar. Doch nun beansprucht Jake ihre Arme, seine Hände schließen sich um ihre Daumen, sein schwerer Kopf fällt an ihren Schultern in Schlaf, der Daumen wie ein Stöpsel im Mund. Die übrige Zeit ist er laut und lacht, und alle lachen mit ihm. Außer mir. Ich finde ihn nicht lustig. Kein bisschen.

Mein Vater geht wie eine Cartoon-Figur auf Zehenspitzen durch die Küche, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, als habe er ein Geheimnis, das er keine Sekunde mehr für sich behalten könne. Jake kreischt. Mein Vater schlägt mit der flachen Hand auf den Küchentisch, dass das Essbesteck hochfliegt.

«Heute ist es so weit», schreit er wie ein Prediger, der von Erlösung spricht. Wir hatten mal so einen in unserer Kirche, aber die Gemeinde wollte sich nicht anschreien lassen, sagte meine Mutter. Mein Vater rutschte unruhig hin und her und sagte, meine Güte, als ob klar sei, dass er keine Lust habe, in die Kirche zu gehen, und er meine Mutter daran erinnern wollte.

«Wir haben etwas zu essen eingepackt, heute fahren wir hinaus an den See, um die Hütte für die neuen Besitzer herzurichten.»

Mein Vater wirft die Arme in die Luft und kehrt meiner Mutter den Rücken zu. «Wir verkaufen die Hütte, und von dem Geld werden wir die Farm ausbauen, damit Jake sie einmal übernehmen kann. Stimmt’s, Jake?», sagt mein Vater und beugt sich dicht über ihn.

Jake schlägt mit seinem Löffel auf die Nase meines Vaters und lacht laut mit seiner verrückten Stimme. Er kann nicht einmal sprechen, sagt nur Mom-mom-mom, presst dabei die Lippen aufeinander, die Grübchen links und rechts neben dem Mund wie tiefe Löcher. Er hat zwei Grübchen, als wäre er ausgewogener als ich. Ich bin wie Mommy, möchte ich ihm sagen, ihm ins Gesicht schreien. So fühle ich mich besser.

«Ich möchte Farmer werden», sage ich, mein Hals ist plötzlich trocken und tut weh, als hätte ich etwas zu Großes verschluckt.

Meine Mutter breitet die Arme aus, ich laufe los und vergrabe mein Gesicht in ihrer Schürze. Ihre Finger fangen sofort an, meine Haare zu flechten, reflexartig, als könne sie nicht anders. Am liebsten hätte ich mein Gesicht für immer dort gelassen, mit all den Kümmernissen, die eine Sechsjährige haben mochte.

«Robert», ihre Stimme klingt ernst, mit einem warnenden Unterton. Ich schaue hoch zu ihr. Die Zähne sind zusammengebissen, die Lippen gespannt, als habe sie etwas gestochen, aber mein Vater bemerkt nichts, schaut weiter in die andere Richtung.

«Ja, ja», sagt er. «Wir sind alle Farmer.»

Wir sind aber keine richtigen Farmer. Noch nicht. Wir haben keine riesigen Hausschweine wie die Mennoniten in der Nähe, Hausschweine, die wie Bulldozer die Erde aufwühlen. Die Schweine gehen in die Knie, stecken die Schnauze in den Dreck, ziehen Wurzeln und Zweige heraus und wackeln dabei mit dem Ringelschwänzchen, es sieht nach purer Freude aus.

«Glücklich wie ein Schwein in der Scheiße», sagt Mr. Katz, unser Nachbar. Er ist unverheiratet und weiß nicht, dass man in Gegenwart von Kindern solche Ausdrücke nicht verwenden sollte, aber ich wiederhole sie in Gedanken und muss lachen. Glücklich wie ein Schwein in der Scheiße. Glücklich wie ein Schwein in der Scheiße, singe ich, während ich mit meinem Springseil auf der harten Erde der Zufahrt hüpfe.

Wir haben keine schönen schwarzweißgefleckten Kühe wie Mr. Krueger, Kühe, die ganz allein von der Weide zum Melken kommen, nur begleitet von zwei Border Collies, Nip und Nancy. Es sind sehr kluge Kühe, die unter einem Baum stehen, wenn sie sich den Bauch mit Gras vollgeschlagen haben und wiederkäuen und Milch produzieren, Kühe, die nicht herumlaufen und herumspringen, während sie aufs Neue die großen Euter füllen. Sie sehen benommen aus mit den prallen Milchbeuteln, die sie mit sich herumschleppen, und ich frage mich, ob sie die Euter gern abschnallen und am Weiderand liegen lassen würden, um herumzulaufen und Haschen zu spielen.

Die Kälber sind auf einem anderen Feld, dürfen nicht bei ihren Müttern sein. Sie trinken stattdessen aus großen Glasflaschen oder Eimern, sobald sie das gelernt haben, aber sie wollen saugen, sie wollen es so sehr, dass sie einander an den Ohren lutschen, obwohl dort keine Milch herauskommt, es ist ihnen egal, sie wollen nuckeln, sie haben Sehnsucht nach ihrer Mutter, sie blöken den Zaun an, der sie trennt, protestieren gegen die Trennung, die sie nicht verstehen. Die Mütter haben sie vergessen, sie konzentrieren sich darauf, Milch zu produzieren, Gras zu fressen und Milch zu produzieren.

«Warum können sie denn nicht bei ihren Müttern sein?», frage ich Mr. Krueger, der mich verständnislos ansieht.

«Die Milch ist nicht für sie», sagt er.

Die Kälber würden mir die Finger richtig wegsaugen, wenn ich es zuließe. Sie machen meine Finger schleimig und feucht, kitzeln mit ihrer rauhen Zunge meine Hand.

«Alle Babys wollen saugen», sagt meine Mutter. «Das ist ganz natürlich.»

Wir kamen ein paarmal vorbei, um Milch für eines unserer verwaisten Kälber zu kaufen, und ich wollte mit den Hunden spielen, aber Mr. Krueger fuhr mich an.

«Es sind Arbeitshunde», sagte er und scheuchte mich weg wie eine Stechmücke.

«Warum haben sie dann freundliche Namen?», wollte ich von meiner Mutter wissen.

«Gute Frage», sagte sie, die Finger in meinen Haaren.

Im Grunde sind wir keine Farmer wie so viele andere hier in der Gegend, wie die Corkums, die ein Feld voller kleiner schwarzer Kühe haben, deren Kälber wie knuddelige Teddybären aussehen. Die Black Angus tollen herum und spielen, kämpfen und streiten mit gesenkten Köpfen, laufen mit zurückgeworfenem Schwanz herum, als hätten sie sich erschrocken, oder rennen aus Spaß vor einer imaginären Gefahr davon.

«Diese beschissenen Viecher bleiben einfach nicht da», sagt Mr. Corkum. Mir gefällt das Wort, ich übe es in Gedanken, wohl wissend, dass ich es in einem normalen Satz nicht verwenden darf. Einmal habe ich es probiert.

«Jake ist ein beschissener Schreihals», habe ich gesagt, woraufhin meine Mutter die Schürze vor den Mund hielt und ernst den Kopf schüttelte und ihre Augenbrauen versuchten, zornig zu sein.

Mr. Corkum repariert ständig seine Zäune und rennt seinen Kälbern hinterher. Die Corkums haben acht Kinder, die das Einfangen übernehmen, acht Kinder, die herumwuseln wie Ameisen, lachen und miteinander balgen und nie bemerken, wenn ich ihnen zusehe und überlege, ob ich mitmachen soll. Ich wippe vor und zurück, von den Fersen zu den Zehenspitzen, als wollte ich in ein viel zu schnelles Springseil hineinhüpfen. Ich glaube, Mr. Corkum ist überhaupt nicht klar, wie viel Zeit er für seine Kühe aufwenden muss.

Wir sind nicht einmal Bauern wie Harold Prescott, der in seiner baufälligen Scheune Kühe hält, ein paar Jerseys und Braune Schweizer und Holsteiner, und den Nachbarn Sahne verkauft. Die Prescotts haben auch Schweine und Hühner, und Mr. Prescott arbeitet hart, aber ohne Verstand, sagt mein Vater. Wir kaufen Sahne bei ihnen. Mr. Prescott ist immer schlecht gelaunt. Meine Mutter kann ihn nicht leiden, sie sagt, sie hat ihn noch nie freundlich mit seinen Kindern erlebt. Das macht die Landarbeit, sagt mein Vater, aber meine Mutter schüttelt den Kopf. Es ist nicht richtig, sagt sie.

Meine Mutter ist bei uns der wahre Farmer, jedenfalls mehr als die übrige Familie. Sie hat einen riesigen Garten, um den sie sich kümmert, als ob die Setzlinge, das bisschen Grün, das sich durch den Boden arbeitet, ihr eigenes Fleisch und Blut wären. Sie kniet sich hin und zupft Unkraut, die Eindringlinge, die ihr Gemüse verdrängen wollen. Sie setzt eine dichte Reihe Ringelblumen am Rand des Gartens und legt zerstampfte Eierschalen um die Tomatenpflanzen, die sie mit alten Nylonstrümpfen an Holzstäben befestigt hat. Die Karotten dünnt sie mit einer Pinzette aus, damit sie einander nicht behindern, und jedes Mal erklärt sie, was sie macht, und summt dabei, eine weiße Bandana im Haar. Sie sieht bodenständig und zugleich exotisch aus.

Auf der hinteren Veranda hat sie einen Stapel ausrangierte Bettwäsche deponiert, und wenn Nachtfrost droht, deckt sie die Pflanzen mit Laken ab und beschwert sie mit Ziegelsteinen, damit sie nicht weggeweht werden. In diesem Teil von Ontario drohen das ganze Jahr über Nachtfröste. Die Farmer müssen schlauer sein, sagt mein Vater. Das Zeitfenster ist kleiner, nicht so viele Tage für das Wachstum, nicht so viel Wärme für das Heranreifen. Landwirtschaft im Norden ist nichts für Schwächlinge, sagt er. Es ist das größte Glücksspiel der Welt.

Mir ist nicht klar, was Glücksspiel mit Landwirtschaft zu tun haben soll, aber ich stelle mir meinen Vater an einem Kartentisch mit anderen Bauern vor, alle mit einer Zigarre im Mund.

«Ich erhöhe um eine zweite Fuhre Heu», sagt ein Bauer.

«Ich gehe mit und erhöhe um eine Fuhre Maissilage», sagt ein anderer, doch bevor sie die Karten auf den Tisch werfen können, stößt Mutter Natur den Tisch um, und die Karten fliegen davon.

Der Garten meiner Mutter verändert und verwandelt sich. Was anfängt als winzige Saatkörner in ihrer Hand, entfaltet seinen eigenen Zauber. Im Herbst, wenn die letzte Kartoffel und die letzte Karotte aus der Erde gezogen und das viele Kraut zusammengehäuft ist, um zu verrotten und dann wieder in den Garten geschafft zu werden, steht meine Mutter am Rand ihres Gartens und weint leise. Es ist vorbei, sagt sie, als würde sie nie wieder gärtnern können.

Im Sommer nach Jakes Geburt verwaiste der kostbare Garten meiner Mutter, Unkraut wucherte überall, Kaninchen und Rehe fraßen die Blüten, bis mein Vater mit dem Rasenmäher kreuz und quer darüberfuhr und alles eingeebnet war.

Im Grunde sind wir keine richtigen Farmer. Mein Vater arbeitet drei, vier Tage die Woche im Sägewerk in der Stadt. Wir haben vier Hereford-Kühe und die acht Hühner meiner Mutter mit üppigem, kupferfarbenem Gefieder. Gwen, die größte Henne, lässt sich von mir wie eine Puppe herumtragen, und wenn ich auf der Veranda vor der hinteren Tür kräftig aufstampfe, kommt sie sofort angelaufen. Mein Vater sagt, Hühner sind dumm, aber ich finde, Gwen ist phantastisch, um einen Ausdruck meiner Mutter zu verwenden. Sie gebraucht dieses Wort nur, wenn etwas sehr gut ist. Gwen ist genau das, etwas sehr Gutes.

 

«Kommt, wir fahren raus an den See und machen ein Picknick», sage ich, klatsche in die Hände und stelle mich auf die Zehenspitzen, um mich größer zu machen.

«Es ist zu kalt», sagt mein Vater sachlich, als ob jeder das wissen müsste, also auch ich.

«Wir picknicken in der Hütte, Rebecca, auf dem Fußboden, auf einer Decke, und tun so, als wäre Sommer», sagt meine Mutter.

Das klingt gut. Mein Vater schnalzt mit der Zunge. «Wir müssen hinfahren und wieder zurückfahren. Die Tage sind noch zu kurz für solchen Unsinn.»

«Robert», sagt meine Mutter, woraufhin mein Vater die Luft leise einzieht, sich aber nicht zu ihr umdreht. Sie sagt seinen Namen, als könne sie ihn auf diese Weise dazu bringen, nach links oder rechts zu schauen oder innezuhalten, als könne sie diese Instruktionen in seinen Namen und den Klang stecken, den sie ihm gibt. Mr. Lowe erreicht das mit seiner Stimme bei seinen großen schwarzen Pferden. So wie er ihren Namen sagt, wissen sie, dass sie nach rechts oder links oder einfach losgehen sollen. Er pfeift dann noch, nachdem er ihre Namen gerufen hat, aber sie haben sich schon in Bewegung gesetzt.

«Wir könnten Jake bei Mrs. Klein lassen, dann müssen wir nicht so viel schleppen», flüstere ich meiner Mutter zu und tue so, als wäre das eine gute Idee. Meine Mutter schüttelt den Kopf, lächelt aber, ein wissendes Lächeln, als wäre ihr klar, dass es eine Bürde ist, Jake zu lieben.

Ich glaube, ich liebe Jake. Er ist mehr ein Baby als ein Junge, ist also zu nicht viel zu gebrauchen und nimmt die ganze Zeit meiner Mutter in Anspruch. Er holt Töpfe und Pfannen aus dem Küchenschrank und schlägt wie verrückt darauf herum. Er zieht alles in seiner Reichweite aus dem Regal oder vom Couchtisch und sorgt für ein fürchterliches Chaos. Meine Mutter kommt herbeigelaufen und ruft Ach, Jake, wenn er die Lampe von dem niedrigen Tischchen zieht und einen Aschenbecher durchs Zimmer wirft und überhaupt gefährlich lebt, indem er alle möglichen Gegenstände in die Steckdosen steckt.

Meine Mutter badet ihn im Spülbecken und gießt Seifenwasser über seinen Kopf, und beide lachen, während ich von meinem Stuhl aus zusehe. Sie massiert ihm Shampoo in den Kopf, was ich nicht ganz verstehe, weil er kaum Haare hat. Sein Kopf ist eher eine gelblich schimmernde Glatze, obwohl ihm langsam Löckchen wachsen. Meine Mutter hat den elektrischen Heizofen auf dem Küchenschrank in Jakes Richtung gestellt, die Drähte glühend rot. Meine Mutter streckt den Arm aus. «Gib acht», sagt sie. Sie nimmt Jake aus dem Spülbecken, legt ihn auf ein großes flauschiges Handtuch und lässt das Wasser an ihm abtropfen. Er hebt die Beine hoch, und ich betrachte den kleinen Sack, der zwischen seinen Beinen hängt.

«Ich hätte gern einen Penis», sage ich.

Meine Mutter lächelt und packt Jake in das Handtuch ein. Er jault. Er hasst dieses Gefangensein, strampelt mit Armen und Beinen und macht so viel Lärm, dass ich mir die Ohren zuhalte. Meine Mutter hält ihn fest in ihren Armen.

«Schsch», sagt sie, und schließlich beruhigt er sich. Ich möchte ihn in die Scheune bringen, wenn er schreit, dann ist er so weit weg, dass niemand ihn hört. Aber als ich das vorschlage, setzt sich meine Mutter in den Schaukelstuhl am Kamin, bewegt sich langsam vor und zurück, und ich vergesse, dass Jake anstrengend ist. Sie hebt ihr Hemd hoch und legt Jake an die Brust, den Kopf in ihrer Armbeuge. Er bewegt den Kopf ein wenig, bis er richtig liegt. Ich habe versucht herauszufinden, was er da macht, dieses ganze Schmatzen und Saugen, aber inzwischen weiß ich Bescheid. Ich gehöre nicht zu diesem intimen Moment zwischen meiner Mutter und Jake, auch wenn ich diese intimen Momente selbst schon erlebt habe, Momente, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Ich hebe mein Shirt hoch, lege mir meine Puppe Rachel an die Brust, schlage die Beine übereinander und lehne mich zurück. Jake greift nach dem Gesicht meiner Mutter, liebkost es mit seinen Wurstfingern. Ich mache die Augen zu.

 

«Jake, iss dein Frühstück auf», drängt mein Vater.

«Zumindest ist er beschäftigt», sagt meine Mutter. Sie lehnt am Küchenschrank und hält sich den Bauch, als wollte er sich selbständig machen. Sie ist stiller als sonst. Als sie meinem Blick begegnet, schmilzt ihr Gesicht zu dem freundlichsten Lächeln, das ich je sehen werde. Ich möchte auch so schön sein wie meine Mutter.

In der Ecke brummt die Waschmaschine. Rings um die Tür stehen in Chrom die Lettern WESTINGHOUSE. Die Sachen werden hin und her geworfen, während die Seifenblasen am Glas kleben und mich flehentlich bitten, ihnen beim Entkommen zu helfen. Schwipp, schwapp, schlupp.

«Bevor wir aufbrechen, hänge ich rasch noch die Bettwäsche auf», sagt meine Mutter. Mein Vater schaut sofort auf seine Uhr, sagt aber nichts. «Rebecca, zieh deinen Schneeanzug an, du kannst mir helfen», sagt meine Mutter. Während sie die Laken aus der Waschmaschine holt, steige ich in meinen Winteranzug, roter Kord mit weichem weißen Kaninchenfell, das an der Kapuze schon etwas abgetragen ist. Meine Mutter läuft in ihren Stiefeln durch den Schnee, nur mit einem Pullover, ich hinterher. Ihre Nase wird rot, ihre Finger greifen rasch nach den Laken und hängen sie an die Leine. Ich reiche ihr die Wäscheklammern. Die Laken sind steif, bevor wir fertig sind, aber ich weiß, dass sie, wenn sie abgenommen werden, wunderbar duften. Meine Mutter macht mein Bett, während ich darin liege, die duftenden Laken schweben langsam herunter und bedecken mich, es fühlt sich an wie Schmetterlingsflattern auf meiner Haut.

«Ist da eine Wiesenlerche zu hören?», frage ich, schaue zu den kahlen Pflaumenbäumen und zeige auf die kleinen Vögel, die die Zweige bevölkern, und horche, ob ich eine Melodie höre, die mehr Noten hat als die Lieder der meisten anderen Vögel. Ich mache den Klang nach, den Ruf, der im Sommer durch mein Fenster hereinkommt.

«Nicht im Winter», sagt meine Mutter. «Du wirst sie erst wieder hören, wenn dieser schauderhafte Winter endgültig vorbei ist. Wenn alles erwacht und von neuem beginnt.»

«Ich wünschte, ich könnte sie jetzt hören», sage ich.

«Ich hasse die Kälte», sagt sie fröstelnd, bevor sie sich umdreht und auf das Haus zuläuft.

Es gibt noch einiges Hin und Her, damit Jake wach bleibt, so dass er während der Fahrt schläft und nicht mit seinem Geschrei allen auf die Nerven geht. Wir alle wissen, dass er seinen Fußsack nicht ausstehen kann. Wir haben kapiert!, möchte ich ihm ins Gesicht schleudern.

Mein Vater setzt den Kombi rückwärts vor die hintere Tür, so dass wir das Picknick und den Schlitten verstauen können, mit dem wir die Sachen von der Hütte zum Auto schaffen werden. Wir haben unsere dicken Wintersachen an, mit den vielen Schichten Kleidung komme ich mir wie ein Holzklotz vor, wegen des Schals, den ich mir mehrmals umgewickelt habe, kann ich den Kopf nur ein bisschen zur Seite drehen.

Winter ist hart. Flüsse und Seen sind wie Eisen gefroren. Viele Leute fahren im Winter über das Eis, um Vorräte in ihre Hütten zu schaffen. Das ist viel leichter, als sie auf die kleinen Boote zu laden, die sie im Sommer verwenden. Am schönsten finde ich den Sommer, wenn wir in das Boot steigen und ablegen und die Welt hinter uns lassen. Ich sehe, wie meine Mutter das Tau löst, mein Vater sitzt hinten, eine Hand auf dem Motor. Meine Mutter stößt von der Anlegestelle ab, ein Bein über der Bordwand, den Fuß knapp über dem Wasser, elegant wie eine Ballerina.

 

Wir fahren hinauf zum Five Mile Dock. Mr. Challis steht auf den Planken, die Arme vor der Brust verschränkt, und schaut hinaus über das Eis. Mein Vater kurbelt das Fenster hinunter.

«Raus auf den See heute?», fragt mein Vater.

«Ich glaube nicht», sagt Mr. Challis und streicht sich über den gepflegten Stutzbart. «Es ist schon zu spät im Jahr.»

«Es ist noch immer schweinekalt», sagt mein Vater.

Mr. Challis schüttelt den Kopf. «Ich traue dem Eis nicht. Ich an Ihrer Stelle würde es nicht riskieren.»

Meine Mutter streckt die Hand aus, an mir vorbei, berührt den Arm meines Vaters. Er schiebt ihre Hand weg. Mr. Challis spricht von dem neuen Damm, mit dem alles einfacher wird, weil man dann nicht mehr über den See fahren muss.

«Tolle Sache», sagt er.

Mein Vater sagt, dass er gern über die unendliche Weite des Sees fährt, das sei, als würde man in der Prärie fahren. Mr. Challis zuckt mit den Schultern, mein Vater kurbelt das Fenster hoch und steuert den Kombi zur Rampe, die zum See hinunterführt. Meine Mutter hält den Atem an und zieht die Schultern hoch. Mein Vater sagt kein Wort, bis wir das Ufer weit hinter uns gelassen haben.

«Schaut, ein perfekter Tag, um auf dem See zu fahren», sagt er. «Es liegt kaum Schnee.» Er fängt an zu summen.

Jake murmelt im Schlaf, seine Lippen machen einen Schmatzlaut, als träume er von einem Fläschchen. Ich kann ihn nicht sehen. Sein Bett ist auf dem Rücksitz, und wegen des Schals, in den ich mich eingemummelt habe, kann ich den Kopf nicht bewegen. Ich ziehe die Füße an und lege die Hände auf das Armaturenbrett.

Das Ufer ist verschneit, Felsgestein blinzelt aus der weißen Decke hervor, das Eis hat sich an manchen Stellen wie Scherbenhaufen aufgetürmt. Der See ist gesprenkelt mit Eisfischerhütten, die wie kleine Monopoly-Hotels aussehen. Hier und da steigt Rauch auf, und ich frage mich, wie das geht, ein Feuer auf dem Eis machen und nicht einbrechen.

 

 

2   Im Rainy Lake wimmelt es von Zandern und Barschen und Hechten, deren Verstecke die besten Fischer kennen, und sorgfältig hüten sie ihre Geheimnisse. Niemand verrät, wo man den besten Fisch fängt, sagt mein Vater, aber Lügen sind erlaubt, werden sogar erwartet. Daher die Anglermärchen, sagt er. Es gibt auch Seeforellen, sagt mein Vater, aber die bevorzugen kaltes und tiefes Wasser. Er zeigte mir den Unterschied zwischen den verschiedenen Sorten, legte die sterbenden, zuckenden Leiber auf die Planken. Der Hecht mit seinem langen zahnigen Maul. Der Barsch mit seiner ovalen Form und den freundlichen roten Augen. Der Zander mit seinen schönen olivgoldenen Seiten. Walleye, sagte mein Dad. Wie Jake und Jackson, Jakes richtiger Name. Oder Becca und Rebecca, sagte ich, aber er zuckte nur mit den Schultern und nickte gleichgültig. Er hat nie Becca zu mir gesagt. Nach einer Weile sahen die Fische gleich aus, alle waren traurig, schnappten nach Luft und träumten vom See.

Rainy Lake mit seinen vielen Buchten und Inseln und Seitenarmen, die wie Tintenfischtentakel in alle Richtungen gehen, ist groß. Ein Fischer könnte den ganzen Tag auf dem See sein, ohne je ein anderes Boot zu sehen. Das fand ich ziemlich groß. Wir sind nie angeln gewesen, dafür war nie Zeit. Das holen wir nach, ganz bestimmt. Später, wenn Jake seine eigene Angel halten kann. Dann gehen wir angeln, sagte mein Vater. Ich kann eine Angelrute halten. Ich kann sie sogar an der Anlegestelle auswerfen, aber ich fange nie etwas anderes als grünschleimige Zweige.

Die Hütte gehörte ursprünglich der Familie meiner Mutter, den Claydons. Die Familienmitglieder passten nicht besonders gut zusammen, erzählte sie mir, weil sie unterschiedlich geformt waren. Sie nahm zwei Steine von Jakes Puzzlespiel und versuchte, sie zusammenzulegen, aber sie passten nicht. «Siehst du», sagte sie, «sie passen einfach nicht.»

Dann erklärte sie mir mit Hilfe des Puzzlespiels, warum sie fand, dass ich ein Brüderchen brauchte, ein Brüderchen, das nachts schreit wie eine laut pfeifende Lokomotive. «Schau», sagte sie bei zwei passenden Stücken, «sie passen perfekt.» Einzelkinder sind viel zu einsam, sagte sie.

Meine Mutter verliebte sich in den Zauber des Rainy Lake. Ich stellte mir den See mit einem Zylinder und einem Kaninchen darin vor oder eine Frau, die im See schwimmt mit einem glitzernden Badeanzug wie im Zirkus, den Arm über dem Kopf und die Hüften schwingend. Die Eltern meiner Mutter sagten, ein Grundstück am See sei gut angelegtes Geld. Jeder will am Wasser sein. Eine gute Investition. Meine Mutter verbrachte die Sommer damit, schwimmen zu lernen, Blaubeeren zu pflücken, mit dem Kanu kreuz und quer über die Bucht zu paddeln und ganz allein mit dem Motorboot zu fahren.

«Ach, Becca», sagte sie, atemlos und fern. «Es war so toll hierherzukommen, es war so schön. Keine Schule und kein Zahnarzt, keine Autos, nichts von diesem ganzen Irrsinn», sagte sie und umarmte mich. Ich hoffte, der Zauber werde sich auf mich übertragen.

Warum ihre Eltern sie in der Hütte zurückließen und sich nicht weiter um sie kümmerten, habe ich nicht ganz verstanden. Ob ihnen das Elternsein zu viel war und sie einfach nicht daran gedacht hatten, die Tochter wieder mitzunehmen nach England, als hätten sie am Bahnhof vor der Abfahrt überprüft, dass alles da war, Koffer und Tickets und Reiseproviant und Regenmäntel und eine Flasche Limonade, meine Mutter aber vergessen hatten? Vielleicht war das die Situation, in der meine Mutter meinem Vater begegnete, vielleicht nahm er sie im Auto mit, als er sie allein mit ihrem Koffer am Straßenrand stehen sah. In all meinen sechs Jahren, jedenfalls den Jahren, an die ich mich erinnern kann, ist die Familie meiner Mutter nie auf Besuch gekommen und hat auch nie angerufen. Vielleicht sind sie so alt, dass sie schon senil sind und vergessen haben, dass sie zwei Töchter haben, nicht nur eine. Vielleicht war meine Mutter ja tatsächlich ein Nachzügler, ein nachträglicher und bald vergessener Gedanke.

Meine Mutter und ich verbrachten die Sommer in der Hütte, und als Jake da war, waren wir zu dritt. Mein Vater blieb zu Hause, um Heu zu machen, solange schönes Wetter war. Er hat das oft, zu oft gesagt, meist an Sonntagen, obwohl andere Leute glaubten, dass Gott ihn dafür bestrafen werde, wenn er am Kirchtag arbeitet. Die Ernte meines Vaters war nie besonders, vielleicht hat Gott meinem Vater also wirklich einen Denkzettel verpasst. Meine Mutter meinte, dass Gott sich nicht mit solchen Dingen abgebe, er habe genug damit zu tun, Kriege und Hungersnot zu verhindern, den Kleinkram überlasse er uns.

Inzwischen gehört die Hütte meiner Mutter, nicht den Claydons. Meine Mutter ist keine Claydon mehr. Sie wurde eine Archer, gab ihren Namen am Hintereingang der Kirche ab, als sie meinen Vater heiratete. Ich bin den Claydons nie begegnet, kenne sie nur von einem Foto auf dem Klavier, ein Foto der vier bei ihrer Ankunft in Roddick, wo sie den Sommer verbringen wollten. Meine Mutter hat recht: Die Claydons sind sehr alt, sogar ihre Schwester, die in der Mitte, die gelangweilt und verdrießlich in die Kamera schaut.

Die Hütte versteckt sich unter Birken und Pappeln, und im Sommer, wenn die Bäume voller Blätter sind, kann ich die Hütte vom Boot aus nicht sehen, der rostrote Anstrich vermischt sich mit den Farben des Waldes. Die vorderen Fenster, die sich bis an die Decke öffnen lassen, werden festgehakt, damit alle Gerüche und Geräusche vom See hereinkommen können, der Geruch der Erde und der Pflanzen, intensiv und real und manchmal durchdringend und modrig. Ich kann das Lachen des Wassers hören, das Kanu, das gegen die Anlegestelle stößt, ein hohles Geräusch, ich spüre, wie es schaukelte und gegen die Planken stieß und ich einschlief. Ich habe meiner Mutter einen ziemlichen Schrecken versetzt, und als sie mich schlafend im Kanu fand, konnte ich nicht erkennen, ob sie wütend oder traurig war. Vielleicht beides. Es war nicht meine Absicht gewesen, mir sind einfach die Augen zugefallen.

Die Hütte hat glatte, breite Dielen, und vor den Türen hängen schwere dunkle Stoffe, moosbeerenrot mit schwarzen Kringeln, die aussehen, als stammten sie aus einem Wappen. Die Gardine wird tagsüber seitlich festgemacht und abends wieder gelöst, damit niemand reingucken kann. An einer Wand steht ein großer Kieferntisch, dort sitze ich und mache Schreibübungen, ich schreibe meinen Namen in Druckbuchstaben und die Zahlen von eins bis zwanzig, säuberlich auf der Zeile, einen großen Bleistift in der Faust. Ich halte ihn ganz fest, als könnte ihn mir jemand wegnehmen, bevor ich fertig bin.

Im Sommer auf dem offenen See zu fahren ist ungemütlich, weil das Aluminiumboot bei jeder Welle auf das Wasser knallt. Einmal schlug ich mit dem Kinn auf die Bordwand. Mein Vater sagte, dass ich wie ein Schwein blute, aber meine Mutter presste ein kaltes, nasses Tuch auf die Wunde, und schließlich hörte die Blutung auf. Meine Mutter klebte zwei schmale Pflasterstreifen über die Wunde, die die Haut zusammenhielten.

«So», sagte sie und rieb sich die Hände, «das muss nicht genäht werden.»

Ich war erleichtert. Ich sah schon, wie mein Kinn durch die Nähmaschine meiner Mutter gezogen wurde. Bei dem Gedanken tat mir der Bauch weh.

«Keine Sperenzchen wie bei der Sache mit den Lippen», sagte mein Vater unwirsch, er erinnerte sich an das Theater, das ich veranstaltete, als ich vom Schaukelpferd fiel und mir die Lippe aufschlug. An die Einzelheiten entsinne ich mich nicht mehr. Ich kann meine neue Wunde sehen, wenn ich einen Spiegel unter das Kinn halte. Meine Wunden gefallen mir. Meine Mutter sagt, sie sind der Beweis, dass ich eine Kindheit hatte, und lächelt dabei.

«Du bist ein Glückskind», sagte sie.

Ein Glückskind.

Die Fahrt zur Hütte ist etwas ganz Besonderes für uns. Wir lassen unser gewohntes, alltägliches Leben hinter uns, betreten ein anderes, werden andere Menschen, mit neuen Namen und einer anderen Geschichte oder vielleicht gar keiner Geschichte, es fängt einfach an, in diesem Moment an diesem Ort. Ich möchte Susie oder Penny oder Gabriela oder Felicity heißen. Auf meine Frage, wie sie gern heißen würde, sagte meine Mutter, Guinivere wäre hübsch. Als ich die Nase rümpfte, sagte sie, aber nicht Gwen. Gwen ist ein Name für Hühner, kein Als-ob-Name.

Die Bäume sind voller Vögel, sie lassen sich nicht so schnell vertreiben, und so singen sie ihre Lieder mit allen Strophen und Refrain. Draußen am See wird nicht alles überdeckt von Autolärm, Türenknallen, quietschenden Reifen, Hupen und lauten Rufen. In der Stille sind andere Geräusche zu hören, Geräusche, die mich hypnotisieren. Auch die Luft ist anders, die Sonne sanfter, die Geräusche voller und intensiver. Zu Hause auf der Farm kann ich morgens die Wiesenlerche durch mein Schlafzimmerfenster hören, ihren typischen Gesang, die lange Melodie, die anders ist als die Lieder von Rotkehlchen oder Blaumeise. Das Lied der Wiesenlerche besteht aus Achtel- und Viertelnoten und ist nie ganz fertig. Draußen am See singt die Wiesenlerche ein anderes Lied, mit ihrer Sommerstimme, ihrer Birkenstimme. Sie erzählt die ganze Geschichte, muss sich nicht beeilen.

Die Birken und Pappeln rauschen im Wind, sie klatschen, als freuten sie sich ebenfalls, dass wir gekommen sind. Das Wasser platscht ans Ufer, tanzt verspielt auf dem Sand. Es hört sich wie Lachen an, für mich eine Einladung, durch die Wellen zu hüpfen, mit einer Plastikente um den Bauch, und immer die Warnung meiner Mutter.

«Nicht zu weit hinaus», sagt sie. Sie beobachtet mich, ich fühle mich vollkommen sicher, gehe noch weiter hinaus und hüpfe noch höher, weil meine Mutter ja da ist. Ich weiß, sie wird die Schuhe abstreifen und loslaufen, um mich zu retten, und keinen Gedanken daran verschwenden, dass ihre Caprihose nass wird. Sie wird Jake in den Sand setzen und zu mir laufen. Ich weiß es. Wenn die Wellen mich also umwerfen und über mich hinwegplatschen und mein Gesicht unter Wasser ist, habe ich keine Angst.

Auch die Frösche sind anders hier draußen, in dem Teich hinter dem Strand, wo der Sand ansteigt und wieder abfällt. Sie haben nicht so viel Angst, dass ich sie fangen könnte. Sie hüpfen nicht ängstlich davon, sie sind größer, ihre Haut ist älter und dunkler, und sie tolerieren mich mit ihren geduldigen Augen und schweren Bäuchen und den weißen Kehlen, die im Rhythmus ihres Herzschlags pochen. Sie sind warm und glatt in meiner Hand, und ich halte sie mir ans Gesicht in der Hoffnung, dass sie etwas zu erzählen haben.

Zwischen den Bäumen lugen Felsen hervor, und dort, neben den Felsen, wachsen Blaubeeren. In einer halben Stunde haben wir einen Eiskremeimer gefüllt, wenn wir dem starken Bedürfnis, die Blaubeeren sofort zu essen, nicht nachgeben. Manchmal kapitulieren meine Mutter und ich, dann setzen wir uns auf einen Stein, stopfen uns den Mund voll und strecken die lila Zunge heraus.

«Nicht weitererzählen», sagt sie und lacht.

Das Geräusch der Wellen am Strand finde ich beruhigend. Ich schließe die Augen und kann das Geräusch jederzeit hören.

Wir fahren im Winter zur Hütte, wenn der See kein See, sondern eine Straße ist, und sobald wir auf dem See sind, darf ich auf dem Rodelschlitten sitzen, der vom Auto gezogen wird. Jake ist noch nicht alt genug, ich werde ganz allein auf dem Schlitten über das Eis gleiten. Meine Mutter hakt meine dicken Fausthandschuhe in das Sisalseil des langen Schlittens, auf dem sechs meinesgleichen Platz hätten.

«Halt dich gut fest. Nicht zu schnell, Robert», sagt meine Mutter, und ihre Stimme hat wieder diesen warnenden Klang. Kurz bevor sie in den Wagen steigt, die Hand auf dem Türgriff, macht sie kehrt und läuft zu mir. «Ich fahre mit dir», sagt sie atemlos und erregt und setzt sich hinter mich. Sie gibt meinem Vater ein Zeichen, er fährt langsam. Meine Mutter lässt die Absätze auf dem Eis schleifen, damit der Schlitten nicht unter das Auto gerät. «Alles gut», sagt sie, «wir sind sicher.»

Ich stelle mir vor, dass man durch das klare Eis wie durch ein Fenster sehen kann, dass man die Fische sieht, die in gemächlichem Wintertempo hin und her schwimmen, vielleicht mit Schals und Handschuhen und warmen Mützen, die Schildkröten auf dem Grund des Sees, die dort auf den Frühling warten, damit sie wieder herauskrabbeln und ihre Eier legen können. Aber das Eis ist trüb und grau und rissig. Ich kann überhaupt nichts sehen, kein einziges Etwas.

 

Wir erreichen die Bucht vor der Hütte. Mächtige Schneewehen türmen sich vor der Anlegestelle auf, wir lassen den Kombi also in einiger Entfernung vom Ufer stehen und gehen zu Fuß weiter. Wir packen Jake mitsamt seinem Autobettchen und dem Picknickkorb auf den Schlitten. Mein Vater geht den Pfad hinauf, der sich in dem tiefen Schnee kaum abzeichnet. Mit seinen Schneeschuhen kann er die meiste Zeit auf der Schneedecke gehen. Nur manchmal bricht er ein, und dann höre ich, wie er sich anstrengt, wieder freizukommen. Das Gehen ist mühsam, die Beine pochen. Ich drehe mich um und schaue kläglich zu meiner Mutter, möchte weinen, möchte jammern, weiß aber, dass das keine gute Idee wäre.

«Leg dich hin, mach einen Schneeengel und streck dich», sagt meine Mutter. «Ich werd das auch machen.»

Wir lassen uns mit einem dumpfen Geräusch in den Schnee fallen wie auf eine weiche Matratze und bewegen Arme und Beine. Der Schnee dringt in die Ärmel und prickelt auf der Haut.

«Hey, ihr beiden», ruft mein Vater. «Habt ihr aufgegeben? Faule Bande! Lasst die Männer die ganze Arbeit machen.»

Ich höre Jake brüllen, er will raus aus seinem Schlafsack, der längst zu klein für ihn ist.

«Wir kommen», ruft meine Mutter und versucht ächzend, auf die Beine zu kommen.

Etwas sagt mir, diesen Moment auszuschneiden und an einem sicheren Erinnerungsort zu verwahren, wir beide im Schnee, unter uns die perfekten Engel, der Schnee auf der Wange meiner Mutter, der ihre Haut rot und das Blau ihrer Augen noch intensiver macht. Sie hält ihren knallgelben Wollfäustling unter die Nase, schnieft ein bisschen, die Nasenflügel geweitet, ihr Wintermantel an den Ellbogen und am Kragen abgetragen, der Reißverschluss ein bisschen eingerissen. Ihre Augen sind vollkommen blau, die Wimpern lang und seidig, die Lippen rot und voll. Sie ist schön, meine Mutter. Sie ist wunderschön. Wir stapfen den Rest des Weges durch den Schnee zur Hütte.

Mein Vater schaufelt die hintere Terrasse frei, die sich über die ganze Breite der Hütte erstreckt.

«Schaut mal», sagt er und zeigt auf das halb abgerissene Fliegengitter vor dem Küchenfenster. «Ein Bär hat versucht einzubrechen. Ich hätte mein Gewehr mitbringen sollen.»

«Nein, nein», sagt meine Mutter. «Die Bären waren zuerst da, und außerdem schlafen sie.»

«Dummes Zeug», sagt mein Vater und schaufelt kopfschüttelnd weiter, als wollte er die Gedanken meiner Mutter aus seinem Kopf in den Schnee werfen. «Frauen», murmelt er und etwas davon, dass sie keine Ahnung hätten.

Meine Mutter reißt eine Zeitung in Stücke und holt Rinde und Späne aus der Holzkiste. Sie baut ein lockeres Nest im Ofen, während Jake neben ihr hockt und zuschaut, die Fäuste in der Hose.

«Ein Feuer braucht Luft, sonst brennt es nicht», sagt sie zu mir über Jakes Kopf hinweg, und ich lächle, freue mich, dass er noch nicht alt genug ist, etwas über das Feuermachen zu lernen.

Sie zündet ein Streichholz an, aus dem Fidibus steigen Flammen auf. «Gleich werden wir es hier warm haben», sagt sie, reibt die Hände und nimmt Jake weg vom Ofen. Sie hält die Hand vor den Ofen. «Heiß», sagt sie mit einem Stirnrunzeln und fester Stimme. Jake strampelt nur und brüllt. Er ist nicht besonders schlau. Das wird wohl noch kommen. Er wird sich vermutlich entwickeln. Ich möchte ihm zugutehalten, dass er noch ein Baby und nicht strohdumm ist, aber es fällt mir schwer. Er kann sich praktisch alles erlauben, wegen seiner Grübchen und seiner schönen Augen und seiner blonden Locken und weil er so knuddelig ist. Er muss nicht schlau sein. Dafür ist er süß.

Meine Mutter leert Schränke und füllt Kartons mit Kerzenleuchtern und Fotografien und Geschirr, das sie sorgfältig in Handtücher und Stofffetzen eingewickelt hat. Sie faltet Decken zusammen und stapelt Spiele aufeinander, während das Feuer knackt und prasselt und Jake zwischen den Stühlen herumkrabbelt und sich in diesem weiten, offenen Raum sehr frei fühlt. Mein Vater holt Handwerkszeug aus dem Schuppen, das er hinunter zum See trägt und hinten in den Wagen packt. Etwas Besonderes geht zu Ende. Ich spüre es auf der Haut, meine Mutter ist still, während Jake ununterbrochen herumkräht. Meine Mutter stellt Bücher auf den Tisch.

«Such die aus, die dir besonders lieb sind», sagt meine Mutter. «Den Rest lassen wir hier.»

Mir sind alle lieb, all die Bücher, mit denen ich lesen gelernt habe, während meine Mutter mir über die Schulter schaute und mich ermunterte, als ich auf ihr Knie klettern konnte und ein Buch aufschlug und ihre Lippen meinen Kopf berührten. Mit dem Finger fuhr ich die Buchstaben entlang, als wäre es Blindenschrift. Wenn ich bei einem Wort stockte, wartete meine Mutter, sprach dann den Anfangslaut vor: st, st, st, und wartete wieder. Stolpern, sagte ich, und sie flüsterte Ja dicht an meinem Ohr, das Flüstern kitzelte mein Ohr und in meinem Kopf, wanderte durch das Gehirn bis zum anderen Ohr.

Meine Mutter sieht die ganzen Sachen vor ihr und wischt sich die Stirn. Sie lächelt, aber zwischen ihren Augenbrauen ist ein Knoten.

«Ich bin schon als Kind hierhergekommen», sagt sie und dreht sich langsam um die eigene Achse. «Als kleines Mädchen.» Sie lässt sich auf einen Stuhl fallen und stößt dabei den Bücherstapel zu Boden, ihre Arme hängen herunter, das Gesicht auf den Knien. «Ich wollte immer, dass es dir gehört», sagt sie.

Tränen rollen ihr über die Wangen, nur ein paar, rinnen die Nasenfalte entlang. Ich weiß nicht, wie ich sie trösten soll, drücke nur wortlos mein Gesicht an das ihre und sage nichts. Jake quengelt, meine Mutter steht auf, der Moment ist vorbei.

Schließlich ist alles sortiert und eingepackt und der Kombi bis obenhin beladen. Eingezwängt zwischen den Sachen ist Jakes Autobett, in dem er liegt, eingepackt in seinem Schlafsack. Meine Mutter musste warten, bis er eingeschlafen war. Er ist schnell eingeschlafen, ich glaube, er hat sogar geschnarcht.

Meine Mutter setzt mich auf den Vordersitz und steigt hinten ein, wo noch etwas Platz ist. Mit ausgestreckter Hand kann sie Jakes Bettchen gerade so erreichen. Mein Vater wirft sich schwer atmend in den Wagen und knöpft die Jacke auf.

«Alles klar?», fragt er und schaut über die rechte Schulter zu meiner Mutter.

«Ja.»

Ich kann sie nicht sehen, kann meinen Kopf überhaupt nicht bewegen.

«Warte, einen Moment. Ich habe meinen alten Teddybär vergessen. Ich habe ihn Becca versprochen», sagt sie. Sie ist schon im Begriff, die Tür zu öffnen.

«Vergiss es», sagt mein Vater. «In den Wagen passt nichts mehr rein.»

«Unmöglich. Ich hab’s ihr versprochen», sagt sie. «Ich gehe.»

«Nein, ich gehe», sagt mein Vater. «Dann kann ich auf der Heimfahrt die ganze Zeit herummosern. Wir müssen los. Es wird bald dunkel.»

«Der Bär steckt im mittleren Bett. Nett von dir», sagt sie, und ihre Stimme klingt dankbar.

«Ich grummle schon», sagt er und knallt die Tür zu.

Ich sehe ihm zu, wie er die Anhöhe hinaufstapft, die Schneedecke trägt ihn nicht mehr. Ab und zu fuchtelt er mit den Armen, als wäre er stinksauer. Ein lautes Krachen erfüllt die Bucht, und bevor das Auto sich aufbäumt und mir die Sicht nimmt, sehe ich, wie mein Vater erschrocken stehen bleibt. Dann habe ich das Gefühl, die Welt bricht unter mir ein.

Jake schreit los, weil die Bücher auf ihn gefallen sind. Meine Mutter weint.

«Ach du liebes bisschen», sagt sie.

Und ich bin mir nicht sicher, wer welches Geräusch macht. Meine Mutter sagt, ich soll das Fenster herunterkurbeln, und versucht, nach hinten zu greifen, vorbei an den vielen Kartons, um Jakes Bettchen zu fassen zu kriegen. Mein Vater ist plötzlich im Wasser, das rings um den Wagen ist. Er versucht, mit seinem schweren Parka zu schwimmen. Er greift nach dem Wagen, arbeitet sich zum Fenster vor, Hand für Hand, das Gesicht grau wie das Eis, die Lippen schon blau.

«Rebecca», ruft meine Mutter angsterfüllt und schiebt mich zum Fenster. Ich will mich an ihr festhalten und mein Gesicht in ihr vergraben, aber sie schiebt, und mein Vater zieht.

«Jake! Gib mir Jake!», brüllt mein Vater durch das offene Fenster mit einer Stimme, die ich noch nie gehört habe. Er zerrt am Türgriff, aber die Tür geht nicht auf. Die Dunkelheit nimmt mir die Luft, während mein Vater versucht, mich durch das Fenster zu ziehen. Das Atmen fällt mir schwer bei der Kälte. Dann kann ich nichts mehr sehen, ich werde immer schwächer.

 

 

3   Ich sehe, wie meine Brust sich hebt und senkt, als würde ich atmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich atme. Meine Brust hebt sich, wartet dann ein bisschen, bevor sie sich langsam und mechanisch wie ein Roboter wieder senkt. Meine Brust tut weh, ich hole also nur ein bisschen Luft, ganz wenig, und atme langsam wieder aus. Ich habe Angst vor dem Einatmen, lasse es also sein, bis ich einatmen muss. Ich versuche, nicht nach Luft zu schnappen. Mein ganzer Körper schmerzt, als wäre er in einen Schraubstock gespannt, wie den in der Werkstatt meines Vaters, den er immer fester dreht und sich dabei auf die Zähne beißt. Ich frage mich, ob meine Augen hervortreten. Meine Finger sind dick und taub, abgesehen davon, dass eine Million Nadeln in meiner Haut stecken, hoch bis zum Ellbogen, genau wie in den Füßen, gefühllos und dann jedes Gefühl bis hinauf zu den Knien.

Die Zimmerdecke ist hoch, viel zu hoch, braune Flecken an den Fliesenrändern, als hätte jemand vergessen, dort sauberzumachen, vergessen, dort hinzusehen. Ich überlege, wie groß ich sein müsste, um die Fliesen zu erreichen, um sie abzuwischen, denn sie sind hässlich. Ich bin in einem hässlichen Zimmer und weiß nicht, wo dieses Zimmer ist. Ich hole noch immer ganz wenig Luft. Ich schließe die Augen, weil das Zimmer so hässlich ist, aber sie bleiben nicht geschlossen.

«Du bist wach», sagt eine viel zu laute Stimme, und jemand schaut mir ins Gesicht, eine Parfümwolke und der Geruch von kaltem Kaffee schlagen mir entgegen, so dass ich die Hand vor die Nase halte. Ich ziehe das Kinn ein und versinke noch tiefer im Kissen.

«Ich bin Mrs. Middleton. Du bist im Krankenhaus», sagt sie.

Ich zähle die Fliesen an der Decke. Eins, zwei, drei, vier.

«Ich werde mich um dich kümmern», sagt sie, nicht mehr ganz so laut, aber mit falscher Freundlichkeit in der Stimme.

Mrs. Middleton streicht mir die Haare hinter die Ohren, ihre kalten Finger berühren meinen Hals, es brennt. Ich will rufen, laut nach meiner Mutter rufen, aber ich beiße die Zähne zusammen, Tränen laufen mir über die Wangen in die Ohren, es juckt innendrin, die Tränen blubbern in den Ohren, es klingt wie Glucksen. Ich zähle in Gedanken. Eins, zwei, drei.

Überall ist Lärm. Klappernde Tabletts, ein schrilles, metallisches Geräusch, Schubladen und Schranktüren werden zugeworfen, bei so viel Krach tut mir der Kopf weh. Die Schwestern reden mit ihren viel zu lauten Stimmen, als gäbe es mich gar nicht. Sie reden über den Unfall. Der arme Robert ist seit dem Unfall nicht mehr derselbe. Eine Schwester legt die Hand auf die Brust, als sie von dem Unfall spricht, als würde sie gleich einen Herzinfarkt bekommen. Die Kleine in Zimmer 207 war dabei. Eine schreckliche Sache.

Die Schwester sagt, in dem eiskalten Wasser sei mein Herz ein paarmal stehengeblieben, nachdem mein Vater mich gerettet hat. Gut, dass sie dich an Land gebracht haben, sonst wäre es eine andere Geschichte.

Eine andere Geschichte. Ich will eine andere Geschichte.

 

«Sie spricht nicht», sagt Mrs. Middleton zu dem Arzt, während beide in mein Gesicht starren – der Arzt trägt ein seitlich geknöpftes weißes Hemd, genau wie der Friseur meines Vaters. Vielleicht hat der Arzt ja zwei Jobs, vielleicht arbeitet er halbtags als Arzt und halbtags als Friseur. Er hat ein Stethoskop wie eine Halskette um den Hals, und ich frage mich, ob er die Leute draußen auf dem Korridor anhält und ihnen das Herz abhorcht. «Darf ich mal», sagt er, und dann weiß er alles über den Betreffenden und wie es in seinem Innern aussieht. «Oh, Ihnen geht es nicht gut», sagt er, weil er das hören kann. Er kann hören, dass ihr Kätzchen überfahren wurde oder dass der Junge von der Wippe gefallen ist und sich den Rücken geschrammt hat. Er kann sogar hören, was sich das Mädchen zum Geburtstag wünscht. «Hmmm», macht er und versucht, die Geräusche zu entziffern.

Der Arzt atmet laut durch die Nase ein, die Nasenflügel weit geöffnet. Er drückt das kalte Metall auf meinen Rücken und sagt, ich soll einatmen, aber ich atme ja schon, deshalb zähle ich wieder die Fliesen. Eins, zwei, drei.

«Ein und aus durch den Mund. Jetzt tief einatmen», sagt er, seine Stimme geschäftlich, ohne eine Spur Freundlichkeit, es geht nur um das Einatmen.

Es tut weh. Ich verziehe das Gesicht und halte den Atem an.

«Bald wirst du keine Schmerzen mehr haben», sagt er und zieht dann an meinen Fingern, schaut sich jeden einzelnen an, und dann die Zehen. Er schaut mir in die Ohren, sieht sich die Tränen an, die in meinem Kopf blubbern, und dann zieht er meine Bettdecke wieder hoch bis unters Kinn. «Bald kannst du wieder aufstehen und mit deinen Spielsachen spielen», sagt er. «Du wirst dich richtig super fühlen.»

Richtig super. Mir ist nicht klar, was richtig super bedeutet. Bedeutet es, dass ich wachsen werde und größere Schuhe brauche und meine Jackenärmel zu kurz sein werden? Oder bedeutet richtig super, dass alles so sein wird wie früher? Bedeutet richtig super, dass das, was am See passiert ist, nicht so wichtig ist? Heißt richtig super, dass es mir gutgehen wird?

Auf dem Fußboden neben dem Bett liegen Spielsachen, aber es sind nicht meine. An einer Drahtkonstruktion hängen orangene und gelbe und grüne Perlen, die man hin- und herschieben kann. Ich stelle mir vor, die Perlen herunterzuziehen und sie auf dem Fußboden kullern zu lassen. In der Ecke steht eine große gehende Puppe, Arme und Beine steif, ihr Gesichtsausdruck ist überhaupt nicht freundlich, als müsse sie sich ganz auf das Gehen konzentrieren. Ein Auge ist halb aufgerissen, was ihr etwas Furchterregendes gibt. Eine Achter-Packung Crayola-Buntstifte liegt auf einem Stapel von drei, vier Malbüchern, ganz zuoberst Casper, der freundliche Geist. Wie gern würde ich Casper orange ausmalen, aber meine Lust, das Bett zu verlassen, hält sich in Grenzen. Es gibt ein Leiterspiel, die Schachtel ist an den Ecken eingerissen, der Deckel liegt schief darauf, und ich sehe eine Barbie mit übel zerkautem Bein. Es gibt eine kleine Dose Play-Doh ohne Deckel, alle Farben kleben zusammen, die Knete ist bestimmt hart und nutzlos. Es gibt ein Pull-a-Tune, ein Xylophon auf Rädern, und eine Schachtel Little Red Schoolhouse mit Bausteinen.

Auf dem Bord sitzt ein Sockenaffe, der mich mit seinem großen roten Mund anlacht, die langen dünnen Arme vor der Brust verschränkt. Ich würde ihn gern herunternehmen und umarmen, aber er gehört mir nicht. Was, wenn das andere Kind hereinkommt und den Affen zurückhaben will? Ich lasse ihn auf dem Bord. Meine Brust tut weh. Ich friere. Eins, zwei, drei.

Im Zimmer steht noch ein zweites Bett. Die Laken sind glatt und straff gespannt. Nur jemand sehr Dünnes würde da hineinpassen. Ich steige langsam aus dem Bett, werfe einen Blick in den Korridor und zerre dann die Laken frei, die in der Matratze festgesteckt sind, und lege sie zerknüllt in die Mitte des Bettes, als würde es schon von jemand benutzt, so dass es nicht noch einen Unfall geben muss, niemand sonst wird durch das Eis fallen und zum Aufwärmen hierhergebracht werden, um mit Spielsachen zu spielen, die ihr gar nicht gehören.

«Jell-O!», ruft eine Schwester, die ein Tablett mit einer Schale grünem Wackelpeter trägt, der aber überhaupt nicht wackelt. Es sind kleine Stückchen Obst darin, die weder einsinken noch obendrauf tanzen, sondern einfach in dem Grün eingesperrt sind.

«Alle lieben grünen Jell-O», sagt die Schwester und macht ein strenges Gesicht, als sie das unordentliche Bett sieht.

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