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Eine Liebe in Apulien

Als Buch hier erhältlich:

Der silbrige Glanz des Olivenbaumes vor dem alten Haus, der Duft der Bougainvillea, die Hitze des Südens. Gern denkt Viola an die Sommer, die sie in Apulien bei ihrer Großmutter Adele verbracht hat. Nun fährt sie aus einem traurigen Anlass zurück nach Süditalien. Adele ist gestorben. Der zweite Schock für Viola: Sie erbt das heruntergekommene Anwesen. An das Erbe ist jedoch eine Aufgabe geknüpft. Eine Aufgabe, die Violas Leben verändern wird.

"Ein wunderschöner Roman, der die Magie des Südens in sich trägt."
ilbellodiesserletti.blogspot


  • Erscheinungstag: 03.04.2018
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767921
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Ale. Ohne ihn wäre das alles nicht möglich gewesen.

Prolog

Der Wind drang anmaßend und respektlos durch die Fensterritzen des alten Hauses. Schon die ganze Nacht lang hatte er gewütet und das Rauschen der Wellen und den Salzgeruch des Meeres an das Bett der alten Frau getragen. Selbst bei Tagesanbruch hatte der Wind sich nicht gelegt, doch die Seele der Frau hatte endlich ihren Frieden gefunden. Seit Stunden starrte sie schon auf eine Zeichnung, die an der Wand hing, ohne sie wirklich zu sehen: Ihre einzige Enkelin hatte sie ihr vor Jahren geschenkt, und immer, wenn sie sie besuchen kam, hatten beide dann diese Zeichnung betrachtet und sich dabei an vergangene Zeiten erinnert. Sie wusste, wenn das Mädchen das nächste Mal kam, würde sie vor dem Bild stehenbleiben, mit ihren Fingern darüberstreifen und an sie denken. Und sie würde es verstehen. Natürlich war das nicht der leichteste Weg. Aber Adele Manieri Medrano war in jeder Hinsicht eine ungewöhnliche Frau gewesen. Und der Tod würde an ihren Angewohnheiten nichts ändern.

Sie seufzte laut auf und wandte den Kopf zum Fenster, wo das Morgenlicht durch die Läden hereinfiel.

Die Enkelin würde den Schock schon überwinden und ihren letzter Willen akzeptieren. Sie hinterließ ihr zwar eine nicht gerade leichte Bürde, aber darum sorgte sich Adele nicht. Das Testament würde das Mädchen aus ihrer Erstarrung reißen und ihr ein Lebensziel geben.

Das Licht wurde immer heller, und vom Hof hörte man die ersten Geräusche des neuen Tages. Die alte Frau schloss die Augen und lächelte ein wenig. Nichts von alldem hier würde ihr fehlen. Sosehr sie dieses wehrhafte Haus und ihr Land geliebt hatte, die endlosen Olivenhaine voller Mohnblumen, das Grollen des Wintermeeres und die grellen Farben des Sommers, jetzt war sie müde. Sie vermisste ihren Mann, und in den vergangenen fünf Jahren hatte es keinen Tag gegeben, an dem ihr die von ihm hinterlassene Lücke nicht die Luft abgepresst hatte. Antonio war stark gewesen, ungestüm und hatte vor nichts und niemandem Respekt gehabt. An seiner Seite wirkten Probleme wie kleine Unannehmlichkeiten, und die Leidenschaft, mit der er alles anging, brachte Bewegung in das Leben der Menschen, die ihm nahestanden. Ja, er wäre stolz auf sie gewesen, auch jetzt, da sie das Steuer dieses Schiffes abgab.

Adele schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug. Es war so weit. Wie ein leichter Hauch löste sich ihre Seele aus den Fesseln des Körpers, das vom Leben gezeichnete Gesicht entspannte sich, und sie schwang sich auf.

1

Am ersten April kam der Anruf, der Violas Leben verändern sollte. Sie dachte zunächst, jemand würde sich einen Scherz erlauben, aber die schrille Stimme der Frau, die am anderen Ende der Leitung unter Tränen unverständliche Worte in den Hörer schrie, schien ihr zu ehrlich dafür.

Schon das Telefonklingeln war beunruhigend gewesen. Vielleicht, weil es erst sechs Uhr morgens war und traumschwere Stille im Haus herrschte. Viola, die nicht schlafen konnte, hatte draußen in einem Schaukelstuhl unter dem Vordach gesessen und sich in eine Decke gewickelt den spektakulären Sonnenaufgang angesehen. Nur zögernd hatte sie ihren Platz verlassen und recht verärgert geklungen, als sie den Hörer abnahm.

Sie brauchte eine Minute, um den Wortschwall der Frau am anderen Ende zu unterbrechen, und wesentlich länger, um zu begreifen, worum es eigentlich ging. Obwohl die Frau so aufgeregt war, konnte Viola sie dazu bewegen, ihr zu erzählen, was geschehen war. Sie weigerte sich zu glauben, was sie da hörte: Großmutter Adele war tot.

Sofort tauchten in Violas Kopf Bilder von Mandel- und Olivenhainen auf, von der blendenden Sonne und dem azurblauen Meer, dem Salzgeruch und den Felsen, gegen die die Wellen schlugen. Und inmitten all dessen sah sie die forschenden blauen Augen der Großmutter, ihre knotigen Hände und den gekrümmten Rücken, die langen schwarzen Röcke und das bestickte Schultertuch, das sie selbst in der Gluthitze des Augusts trug.

»Hast du mich verstanden?«, schrie die Frau am Telefon.

Viola riss sich zusammen.

»Ja, hab ich«, sagte sie, und ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, während sie sich mit dem Rücken an die Wand neben dem Telefon lehnte. Sie hatte den alten Apparat auf einem Flohmarkt in New York entdeckt, wo sie nach dem Diplom in Innenarchitektur noch einen Masterkurs absolviert hatte. Das Telefon war in bestem Zustand, aus schwarzem Bakelit und mit einem schweren großen Hörer, der beinahe das halbe Gesicht umrahmte. Die Schnur war so lang, dass man damit ohne Problem durch die ganze Küche und den Flur laufen konnte, ohne auflegen zu müssen. Ihre Mutter fand es ganz reizend, genauso hatte sie sich ausgedrückt, während ihr Vater einen großen Bogen um das Telefon machte, was ihm aber nicht schwerfiel, da er sich kaum je einen Meter von seinem iPhone wegbewegte.

Violas Hand umklammerte den Hörer, als könnte er ihr Kraft geben.

»Ihr müsst kommen, ich weiß nicht, was ich tun soll, man muss sich um die Beerdigung kümmern …« Carmela, die Frau am anderen Ende der Leitung, redete unablässig auf sie ein, und Viola hatte Mühe, ihr zu folgen.

»Ich muss mit Mama sprechen«, unterbrach sie den Wortschwall, weil sie mit ihren Erinnerungen allein sein wollte.

»Wir rufen dich zurück, ja?«

»Ja, aber beeilt euch bitte«, kam als Antwort.

Viola legte sanft den Hörer auf die Gabel und ließ sich an der Wand entlang zu Boden gleiten. Die rauen Steingutfliesen waren kalt, und sie zog sich fröstelnd die Decke um den Körper. Sie war verwirrt und wie betäubt. Ihr Kopf war nicht fähig, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren, da tauchte schon ein anderer auf. Es waren einfach zu viele Bilder, Erinnerungen, Worte, Sinneseindrücke.

Seit sie vor drei Jahren die Chance bekommen hatte, als Innenarchitektin in ein exklusives Einrichtungsbüro einzutreten, hatte sie nicht mehr oft Gelegenheit gehabt, ihre Großmutter in Apulien zu besuchen. Sie rief sie einmal in der Woche an, doch Adele telefonierte nicht gern, so waren ihre Gespräche immer kurz und einsilbig gewesen.

Ihre Eltern fuhren hingegen öfter zur Großmutter, obwohl der Hof seit dem Tod des Großvaters allmählich seinen Reiz zu verlieren schien. Carmela und ihr Mann, die dort seit Jahren als Hausmeister und Mädchen für alles lebten und arbeiteten, mühten sich redlich, doch er schien immer mehr herunterzukommen. Die Großmutter kümmerte das nicht weiter. Seit der Mann ihres Lebens gestorben war, konnte kaum noch etwas ihr Interesse wecken.

Violas Mutter machte sich Sorgen, hatte aber nicht den Mut, Adele andere Lösungen vorzuschlagen. Niemals hätte Adele ihr Heim aufgegeben.

Doch jetzt hatte sie es für immer verlassen. Und Viola hatte sich nicht einmal von ihr verabschieden können. Aber ist es nicht immer so? Man stellt erst fest, dass man jemand oder etwas vernachlässigt hat, wenn es zu spät ist, daran etwas zu ändern.

Leichte, hastige Schritte brachten Viola dazu, aufzustehen. Sie musste ihrer Mutter die Nachricht beibringen und wusste nicht, wie. Aber das war nicht nötig. Marianna Medrano erschien in der Küchentür, im Nachthemd, barfuß und mit einem gleichen Tuch wie dem ihrer Mutter über den Schultern. Sie sah ihre Tochter mit großen Augen an, in deren unverwechselbarem Blau ein Ausdruck von Angst und Wissen lag.

»Großmutter? War sie es?« Ihre Stimme klang unsicher, als würde sie die Antwort schon kennen. »Mit dem Gedanken an sie bin ich plötzlich wach geworden …«

Viola sah ihre Mutter an, während sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten und den Klumpen in ihrer Kehle herunterzuschlucken. Seit achtundzwanzig Jahren war ihr die enge Beziehung zwischen Mutter und Großmutter vertraut, aber dieses telepathische Band zwischen den beiden erstaunte sie immer wieder.

»Sie ist tot, Mama.«

Marianna schloss die Augen und presste das Tuch an ihre Brust. Doch sie weinte nicht, und ihr Atem ging so leicht, dass sie beinahe nicht zu atmen schien. Sie hatte ihre Gefühle nie nach außen getragen, aber Viola wusste, nein, sie spürte, welchen Schmerz ihre Mutter jetzt empfand.

Im oberen Stockwerk wurde eine Tür geöffnet. Gleich danach hörte man langsame schwere Schritte auf der Treppe.

»Na, was ist denn hier los?«, fragte Edoardo Cardelli, als er hinter seiner Frau auftauchte. Seine tiefe, einnehmende Stimme klang erstaunt. Er wusste, dass seine Tochter früh aufstand, aber seine Frau war morgens selten wach, wenn er zur Arbeit ging.

Keine der beiden Frauen antwortete ihm, und die Anspannung im Zimmer ließ das Lächeln auf seinen Lippen ersterben.

»Was ist passiert?«, fragte er besorgt nach.

»Großmutter ist gestorben«, flüsterte Viola und sah ihn angsterfüllt an. Ihrem Vater verschlug es für einen Moment die Sprache. Marianna nutzte diese Gelegenheit, um wortlos aus der Küche zu verschwinden und sich in ihr Zimmer zu flüchten. Wenn sie nicht in ihrem äußerst gepflegten Kräutergarten werkelte, verbrachte Violas Mutter Stunden im Atelier bei ihren Leinwänden, dem Geruch der Temperafarben und dem warmen Licht, das durch die Fenster hereinfiel. Vater und Tochter störten sie nur selten, wenn sie sich in ihr Reich zurückgezogen hatte, und jetzt wussten sie genau, dass es besser war, ihr nicht zu folgen, um zu versuchen, sie zu trösten. Ihre Art, die Trauer zu verarbeiten, würde sie wochenlang aus dem gemeinsamen Leben ausschließen. Genau wie vor fünf Jahren, als der Großvater gestorben war: Marianna hatte damals tagelang niemanden in ihre Nähe gelassen, und die Sorge ihres Manns und ihrer Tochter hatten sie nur verärgert.

Edoardo sah Viola mit feuchten Augen an. Dann breitete er stumm die Arme aus, und sie flüchtete sich schluchzend hinein.

Der Tod ihrer Großmutter war wie die unglückselige Krönung der Tiefschläge des letzten Monats. Als Erstes hatte Viola ihren Job verloren – und das auf ganz heimtückische Weise. Nachdem sie ihre ganze Kraft und viel Geld ihres Vaters in ihre Karriere investiert hatte und es gerade aufwärts ging, war sie von der blutjungen, intriganten Nichte des Eigentümers gemein ausgetrickst worden. Jedes Mal, wenn sie an diese Barbie mit den aufgeblasenen Brüsten dachte, der sie so viel beigebracht hatte und die kaum einen Stift in der Hand halten konnte wegen ihrer langen, gestylten Fingernägel, hätte sie am liebsten laut losgeschrien und auf etwas oder jemanden eingetreten.

Zum Beispiel auf ihren attraktiven, amüsanten, intelligenten und romantischen Exfreund, den sie mit einer anderen im Bett erwischt hatte. Sicher hatte es sie genauso geschmerzt, Riccardo zu verlieren wie ihre Arbeit. Trotzdem war Viola nach einem Monat zu der Einsicht gelangt, dass sein Verrat sie nicht allzu sehr überrascht hatte. Trotzdem tat es weh.

Während sie in den sicheren Armen ihres Vaters schluchzte, erinnerte sich Viola plötzlich an die Worte ihrer Großmutter.

»Verzweifele nicht«, hatte die ihr am Ende eines ihrer letzten Telefongespräche gesagt, »nichts geschieht je ohne Grund. Du musst nach vorn schauen und daran denken, dass du dich nun nicht mehr mit unnötigem Ballast herumquälen musst.«

Doch jetzt hatte sie auch ihre Großmutter verloren. Sie hätte sie so gern gefragt, welcher Grund eine solche Pechsträhne rechtfertigen könnte, denn sie hatte große Schwierigkeiten, einen zu finden.

2

Die Autofahrt in den Süden wollte kein Ende nehmen. Viola sah durch das Autofenster auf das Meer und war bezaubert von dem Anblick, wie die Sonne sich mit ihren Strahlen räkelte und einen schönen Frühlingstag ankündigte. Ihr Vater saß gern hinterm Steuer, und obwohl Viola darauf hingewiesen hatte, dass man auch fliegen könne, hatte er dies niemals in Erwägung gezogen. Am Tag nach dem Anruf waren sie aufgebrochen, lange vor Sonnenaufgang. In dieser Nacht hatte Viola kein Auge zugetan. Sie hatte im Bett gelegen, dem leisen Schnarchen ihres Vaters aus dem Nebenzimmer gelauscht und gegrübelt. Auf dem Hof anzukommen und dort nicht von der Großmutter, ganz in Schwarz, auf der Schwelle begrüßt zu werden, wäre bloß die letzte Bestätigung des Albtraums, den sie gerade durchlebte.

Niemand sagte etwas, während der Wagen auf der Straße am Meer entlangglitt. Ihre Mutter verbarg sich hinter einer großen Sonnenbrille, während ihr Vater, wenn er mal etwas weniger auf den Verkehr achten musste, aus dem Augenwinkel Frau und Tochter ansah und nicht so recht wusste, was er tun sollte.

Ein fröhliches Zwitschern unterbrach die Stille, Viola hatte eine Nachricht auf dem Handy bekommen. Sie sah verblüfft auf die Handtasche, die neben ihr auf dem Sitz lag. Die Trauer, durch die für sie in den letzten vierundzwanzig Stunden alles zum Erliegen gekommen war, hatte sie vergessen lassen, dass das Leben unbeirrbar weiterging.

Missmutig holte sie ihr Handy heraus. In den letzten beiden Wochen hatte Riccardo sich oft bei ihr gemeldet und in zahlreichen SMS um Versöhnung gebettelt. Viola hatte ihm nie geantwortet, aber er war beharrlich geblieben. Doch diesmal war er es nicht. Außerdem war es zu früh für ihn. Es war Laura, ihre beste Freundin.

Ein Superabend! Ich habe einen Sponsor für unser Projekt gefunden! Muss dringend ins Bett, wir sprechen später noch! Ich hab jede Menge Ideen!

Viola stöhnte. Die Begeisterung und Hartnäckigkeit ihrer Freundin, die sie bis vor ein paar Tagen geteilt hatte, war ihr jetzt lästig. Als Viola entlassen wurde, war Laura mit ihr ausgegangen mit dem klaren Ziel, dass sie ihre Wut und Enttäuschung im Alkohol ertränken sollte. Viele Gläser später war die Idee entstanden, dass sie gemeinsam eine PR-Agentur eröffnen könnten. Beide Frauen waren immer sehr gefragt gewesen, wenn es darum ging, gesellige Abende in Lokalen zu organisieren, und da Laura gerade genau wie sie keinen Job hatte, hatten beide das für eine tolle Idee gehalten. Doch am nächsten Morgen hatten mörderische Kopfschmerzen Violas Begeisterung für dieses Projekt bereits reichlich gedämpft. Sie liebte ihre Arbeit als Innenarchitektin und konnte sich kein Leben vorstellen, in dem sie nur Partys und Events organisierte. Das hatten sie zwar gern getan und sehr gut, aber nur als Freizeitvergnügen. Während Laura diese Idee weiterverfolgte und versuchte, Viola mit immer neuen Vorschlägen und Plänen zu überzeugen, war diese nicht bereit gewesen, neue Verpflichtungen zu übernehmen.

Sie schaltete das Handy aus und warf es in ihre Handtasche zurück. Es wäre ihr unpassend vorgekommen, Laura den Tod ihrer Großmutter in einer SMS mitzuteilen.

»Alles in Ordnung?«, fragte ihr Vater besorgt. Seine kleine Tochter schien ihre ganze Lebensenergie eingebüßt zu haben, nachdem sie ihren Arbeitsplatz verloren und ihr Freund sie betrogen hatte.

»Das war Laura«, antworte Viola einsilbig und wich seinem Blick im Rückspiegel aus.

Sie schloss die Augen und lehnte sich mit der Stirn an das Seitenfenster. Nach der schlaflosen Nacht wurde sie vom hypnotischen Fahrgeräusch des Wagens müde. Sie versuchte, sich der beruhigenden Umarmung des Schlafes zu überlassen, denn sie wollte nicht mehr denken, und diese endlose Reise war auch nicht gerade dazu angetan, ihre Ängste zu beschwichtigen.

3

»Au!«, beschwerte Viola sich, die jäh aus dem Schlaf gerissen worden war, als sie mit dem Kopf gegen das Seitenfenster knallte.

»Entschuldige, mein Schatz«, sagte ihr Vater und ging etwas mit dem Tempo herunter. »Diese Straße ist ein einziges Schlagloch.«

Viola rieb sich die Augen, dann versuchte sie, sich in dem engen Auto etwas zu strecken.

»Wo sind wir?«, fragte sie gähnend.

»Wir sind fast da.« Ihr Vater sah verstohlen zu seiner Frau hinüber. Ihr hartnäckiges Schweigen bedrückte ihn. Natürlich begriff er, wie schwierig die Situation gerade für sie war, aber es ärgerte ihn, dass sie ihn so aus ihrem Leben ausschloss und er nichts tun konnte.

Viola quetschte sich zwischen die Vordersitze und legte dem Vater eine Hand auf die Schulter. Sie sah hinaus auf die unbefestigte Straße mit den Steinmäuerchen zu beiden Seiten, die auf einem kahlen Platz genau vor dem Gut endete. Trotz des hellen Sonnenscheins lag über allem eine Atmosphäre der Verlassenheit, die Viola so hart wie eine Ohrfeige traf. Sie hatte nie erwartet, den Gutshof in einem solchen Zustand zu sehen. Die mächtigen Umfassungsmauern rund um den Besitz waren schmutzverkrustet. Hier und da hatten sich Schlingpflanzen ihrer bemächtigt, und Unkraut und Buschwerk wucherten wild.

Der Wagen fuhr durch den Torbogen, der von zwei alten, verkrüppelten Meereskiefern bewacht wurde, und hielt schließlich links unter einem mit Schilfrohr gedeckten Vordach an, das schon bessere Tage gesehen hatte. Die Mittagssonne brannte ungehindert durch die löchrigen Halme.

Edoardo stellte den Motor ab, und alle drei blieben einen Moment reglos sitzen, als wollten sie Kraft für den nächsten Schritt sammeln.

Viola linste aus dem Seitenfenster. Seit ihrem letzten Besuch waren zwei Jahre vergangen: Sie hatte mit Riccardo ihren Urlaub hier verbringen wollen, aber der hatte verärgert über den schlechten Zustand des Hauses und den äußerst kühlen Empfang durch die Großmutter nach drei Tagen darauf bestanden, in ein Hotel zu gehen. Hätte er das Haus jetzt gesehen, wäre er nicht einmal aus dem Wagen gestiegen. Das Gut wirkte wie verlassen.

Ursprünglich hatte der Besitz aus dem Haupthaus und einer Reihe kleinerer Gebäude rechts davon bestanden, in denen früher einige Bauernfamilien gelebt hatten, die die umliegenden Felder bewirtschafteten. Alles war von mächtigen, beinahe drei Meter hohen Mauern umgeben. Erst später hatte man den Besitz um einen zweiten Hof und das Haus erweitert, in dem Carmela und Vito lebten. Dessen einstmals weiße, gepflegte Fassade war jetzt grau und schmutzig, das schöne Rot der Fensterläden verblasst. Vor den Fenstern wuchsen keine Blumen, und selbst die Bougainvillea, die die Vordertür umrahmte, schien zu kränkeln. Links führte ein kleiner Bogen in einen Hof auf der Rückseite des Gebäudes, wo Carmela einen Gemüsegarten bewirtschaftete und verschiedene Tiere hielt: Hühner, Kaninchen, Katzen und Hunde.

Das Zuschlagen von Wagentüren brachte Viola jäh in die Wirklichkeit zurück. Ihren Eltern waren ausgestiegen. Resigniert entschloss sie sich, ihnen zu folgen.

Carmela stand auf der Schwelle des Gutshauses und sah sie alle unverwandt an. Sie presste einen Zipfel ihrer Schürze an die Brust, und man merkte ihr an, dass sie geweint hatte. Nero, der alte Setter des Großvaters, stand neben ihr, betrachtete neugierig die Ankömmlinge und wedelte langsam mit dem Schwanz. Edoardo ging auf Carmela zu, legte zart seine Hände auf ihre Arme und küsste sie auf die Wangen. Daraufhin brach sie in Tränen aus, und Viola sah, wie ihre Mutter sich versteifte.

»Marianna …«, schluchzte Carmela und streckte die Arme nach der erstarrten, reglosen Frau aus. Zu aller Überraschung nahm Marianna Carmelas Hände und schenkte ihr ein sanftes Lächeln. »Sie starb in Frieden, Carmela. Wein doch nicht.«

Violas Augen füllten sich mit Tränen. Während ihre Eltern Carmela ins Haus folgten, sah sie sich um.

Nur der alte Olivenbaum in der Mitte des Hofes schien der allgemeinen Verwahrlosung zu trotzen. Viola hatte nie in Erfahrung bringen können, wie alt er wirklich war, aber es hieß, er sei kurz nach Fertigstellung des Besitzes, Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, von Conte Manieri gepflanzt worden, der, nachdem er den Königshof in Neapel während der Regentschaft der Habsburger verlassen hatte, sich hier niedergelassen hatte. Der gewundene Stamm, dessen graue Rinde an einigen Stellen abgeplatzt war, hatte viele Buckel und einen Umfang von mindestens anderthalb Metern. Der Baum selbst war nicht sehr hoch, hatte aber eine dichte Blätterkrone von einem schönen Dunkelgrün. An seinem Fuß wurde er von einem niedrigen Steinmäuerchen eingerahmt, dessen gepflegter Zustand einen starken Gegensatz zu dem heruntergekommenen Gut bildete.

Der Großmutter war der Olivenbaum heilig gewesen. Und das nicht nur, weil er als Symbol für die Wurzeln ihrer Familie in Apulien stand.

Adele hatte in ihm quasi den Totem für die Gabe gesehen, die sich durch die Jahrhunderte bei den Frauen der Familie weitervererbt hatte.

Adele Manieri war eine Heilerin gewesen.

Sie hatte viele Jahre ihre Fähigkeiten eingesetzt, um den Menschen zu helfen, die zu ihr kamen, wenn es scheinbar keine andere Möglichkeit mehr für die Heilung ihrer Gebrechen gab. Sie hatte ihr Werk demütig, fast im Geheimen betrieben, da gewisse Kräfte Neid anzogen. Trotzdem hatte sich schnell das Gerücht verbreitet, sie sei eine Hexe, besonders bei denen, die sie und ihre himmelblauen Augen fürchteten, die einem bis tief in die Seele schauen konnten.

Viola hatte der Blick der Großmutter immer fasziniert. Bei ihr kam man niemals mit einer Lüge durch. Aber das war auch nicht nötig. Adele war die Erste gewesen, die einen drängte, neue Erfahrungen zu machen, sein Leben in vollen Zügen zu leben und nichts unversucht zu lassen. Ihr etwas anzuvertrauen, war genauso natürlich, als würde man es in ein heimliches Tagebuch schreiben.

Tief aus ihrem Inneren stieg ein beklemmendes Gefühl auf und drückte ihr die Kehle zu. Es riss Viola aus ihren Erinnerungen. Sie wandte dem Olivenbaum den Rücken zu und ging auf den rechts von ihr liegenden großen Hof zu, der von dem anderen durch eine hohe Steinmauer getrennt war. Sie lief durch einen zweiten Torbogen, der so breit war, dass auch ein Auto durchgepasst hätte, und stand dann vor dem Gutshaus. Trotz seines heruntergekommenen, desolaten Zustands übte es auch nun noch auf sie eine Faszination aus. Ein beinahe quadratisches, zwei Stockwerke hohes Gebäude mit einem dicken Holzportal in der Mitte, welches fächerförmig von leicht hervorstehenden Steinen ummauert war. Im oberen Stockwerk führten zwei Fenstertüren, deren Läden geschlossen waren, auf parallel angelegte Balkone mit schmiedeeisernen Gittern. Viola erinnerte sich, dass hinter der linken Tür das Gästezimmer lag, in dem sie und Riccardo geschlafen hatten. Dort gab es auch ein Fenster zum Meer, das nur knapp einen Kilometer entfernt lag. Sie liebte den Blick über die kargen, wilden Ländereien des Großvaters, auf denen Olivenbäume sowie Sonnen- und Mohnblumen die Herrschaft übernommen hatten und sie erst am Fuß der Felsen dem Meer überließen.

Das Flachdach des Hauses war von einem Kranzgesims umgeben, und die in regelmäßigen Abständen angebrachten Zinnen ließen es wie einen Wehrturm aussehen. Auf dem Dach erhoben sich zwei Schornsteine und ein kleiner Steinbogen mit einer Glocke.

Rechts vom Gutshaus stand ein kleines einstöckiges Gebäude, ebenfalls mit einem von Zinnen eingerahmten Flachdach, dort hatte die Großmutter die vergangenen fünf Jahre gelebt. Viola erinnerte sich genau, wie es dort drinnen aussah: ein großer Raum mit einer Gewölbedecke, der zu einem Drittel von einem gemauerten Herd eingenommen wurde, daneben eine Tür, die in einen kleinen Nebenraum führte, wo Adele schlief, dort standen nur ein Bett, ein Nachttisch und eine Truhe. Viola hatte den Eindruck, wenn sie jetzt dort hineinginge, würde sie ihre Großmutter wiedersehen. Jeder einzelne Gegenstand würde dort von ihr erzählen. Genauso vom Großvater, denn die Erinnerung an ihn war noch sehr lebendig.

Er war derjenige gewesen, der den Ort angelegt hatte, den Viola vom gesamten Gut am meisten liebte: den Garten auf der Rückseite des Hauses außerhalb der Umfassungsmauern. Als Antonio Medrano die Großmutter heiratete, hatte er schweren Herzens seine Laufbahn als Karikaturist und Satirezeichner aufgegeben und begonnen, die Ländereien rund um das Gut aufzukaufen. Als Erstes genau diesen Garten. Er war mit einem niedrigen Steinmäuerchen umgeben, ein kleines Paradies, in dem zahllose Pflanzen blühten und gediehen: Oleanderbäume, Ginster, Kakteen, Heckenrosen, Myrten, Salbei und Rosmarin. Unter einer mit Weinlaub bewachsenen Laube hatte der Großvater eine kleine Oase der Ruhe geschaffen mit einem Tisch und einem Bänkchen darin. Durch die oft wildwuchernden Pflanzen zogen sich steingepflasterte Wege, und das Rauschen der Blätter und Vogelgezwitscher bildeten eine stete Untermalung.

Der Großvater hatte weiter das Land angekauft, von dem das Gut umgeben war. Der nächste Nachbar befand sich in mindestens fünf Kilometern Entfernung. Die Olivenhaine und die Sonnenblumenfelder wurden von Vito und Saisonarbeitern bewirtschaftet. Zum Besitz gehörten auch einige Schaf- und Ziegenherden, die Antonio Medrano Hirten übergeben hatte. Die Milch der Tiere wurde an Käsereien in der Umgebung verkauft. Denn die wahre Liebe des Großvaters hatte den Pferden gegolten. Diese kaufte er persönlich, er ritt und pflegte sie. Wie er da so einsam bei Tagesanbruch über seine Felder streifte, war ein romantischer, aber auch trauriger Anblick gewesen. Seine Leidenschaft für diese schönen stolzen Tiere hatte er Viola vererbt. In Erinnerung an ihre langen Ausritte ging Viola auf den Garten auf der Rückseite des Hauses zu.

Mit zitternder Hand drückte sie das Eisentor zum Hof auf und betrat langsam diesen magischen Ort. Die Mauer nach Osten hin wurde größtenteils von einem riesigen Feigenkaktus mit seinen großen dornenbewehrten Triebabschnitten eingenommen. Er war wild und übermäßig gewachsen, ohne dass ihn jemand gegossen oder seine Früchte geerntet hätte, die mit ihrem Gewicht an einigen Stellen die Zweige abgebrochen hatten. Viola bewegte sich geradezu andächtig über die mit Unkraut zugewachsenen Wege. Sie sah Obstbäume, die sich anschickten, aus dem langen Winterschlaf zu erwachen. Die glänzend grünen Blätter der Rebstöcke streckten sich der Sonne entgegen wie sich öffnende Hände. Zwischen zwei verkrüppelten Olivenbäumen hing eine alte, inzwischen vollkommen zerfetzte Hängematte, und Viola stockte der Atem bei der Erinnerung, wie sie als kleines Mädchen in dem Garten mit dem Großvater gespielt hatte, seinen Geschichten, die niemals ein Ende fanden, gelauscht und dabei durch die vom Wind bewegten Zweige in den Himmel geschaut hatte.

Sie ging in den hinteren Teil des Gartens. Der Kies auf den Wegen knirschte geräuschvoll unter ihren Schuhen, was einen hässlichen Kontrast zu der friedlichen Stille dieses Paradieses bildete. Doch das kümmerte sie nicht mehr. Sie kannte nur ein Ziel, die Ställe, in denen der Großvater seine so geliebten Pferde gehalten hatte, während sie inständig hoffte, dass sie nicht trostlos leer sein würden. Bis vor zwei Jahren hatten dort noch Pferde gestanden, die Großmutter konnte sie doch nicht alle verkauft haben.

Aber die Stallungen waren verlassen. Die Enttäuschung darüber traf sie tief. Sie ging zurück und setzte sich auf ein niedriges Mäuerchen. Was war mit der Großmutter geschehen, dass sie das Gut so vernachlässigt hatte? Viola gegenüber hatte sie sich immer entschlossen gezeigt, hatte sie angespornt, nach vorn zu sehen und für das zu kämpfen, woran sie glaubte. War sie selbst vielleicht zu blind gewesen, um deren Kummer zu erkennen? Viola bereute es, dass sie ihre Großmutter in den letzten beiden Jahren nicht besucht hatte. In ihrer Brust mischten sich Schuldgefühle, Schmerz und ein Gefühl der Leere, dem sie sich nicht entziehen konnte. Sie sprang auf und verließ fluchtartig den Garten, wobei sie über Steine stolperte und sich an den ungepflegten Büschen, die ihr den Weg versperrten, Kratzer zuzog. Sie wollte nur noch eins: so schnell wie möglich diesen Ort verlassen, der nur von Einsamkeit und Tod sprach. Am liebsten wäre sie gleich nach Hause gefahren. Nein, eines würde sie noch tun, sie würde Laura anrufen und ihr mitteilen, dass sie bereit war, sich mit ihr selbstständig zu machen. Nach einem Monat voller Tränen und diesem letzten schrecklichen Schicksalsschlag wollte Viola nur noch leben.

4

Auch an diesem Morgen wollte die Frühlingssonne anscheinend keine Rücksicht auf die Trauer im Haus nehmen. Unerschütterlich beleuchtete sie Land und Meer mit ihrer überbordenden Wärme.

Viola sah sie durch die schmutzigen Fenster ihres Schlafzimmers hereinfallen. Sie hatte bei geöffneten Läden geschlafen und nun beobachtete sie, in die Kissen gekuschelt, wie der Himmel seine Farbe veränderte.

Während ihres erzwungenen Aufenthalts auf dem Gut erlebte sie eine Achterbahn der Gefühle: Schmerz und Wut, Trauer und Zorn, Leere und Niedergeschlagenheit. All dies hatte sie erschöpft, und momentan war sie in graue Teilnahmslosigkeit versunken.

Im Haus war es kalt, und Viola zog sich fröstelnd die nach Mottenpulver riechende Decke enger um den Körper.

Sie wollte nach Hause. Hier gab es nichts mehr, wofür es sich zu bleiben lohnte. Die Lücke, die die Großmutter hinterlassen hatte, war so übermächtig, dass sie ihrer aller Leben lähmte.

Edoardo war ungeduldig, er wollte dringend wieder an seine Arbeit. Doch die Erbschaftsangelegenheiten erforderten Zeit. Und obwohl seine Frau versucht hatte, ihn zu beruhigen und zu überzeugen, nach Hause zu fahren, hatte er beschlossen zu bleiben. Den größten Teil des Tages verbrachte er an seinem Handy, aber er hatte dabei immer ein Auge auf seine beiden Frauen, die versunken in Erinnerungen durch das Haus streiften.

Ihre Mutter dagegen hatte sie alle überrascht. Sie hatte schnell ihre Stummheit und die dunkle Sonnenbrille abgelegt und bewegte sich jetzt leicht wie ein frischer Windhauch durch das Haus. Es wirkte, als wollte sie alle Erinnerungen, die diese baufälligen Mauern bargen, in sich aufnehmen, bevor sie das Haus für immer verließ. Schließlich war sie hier geboren und hatte fast die Hälfte ihres Lebens hier verbracht. Die Liebe, die sie hier im Kreise ihrer Familie empfangen hatte, hatte ihr Kraft und Entschlossenheit verliehen.

Viola erinnerte sich an den Tag des Begräbnisses. Großmutter Adele war weit über die Grenzen ihres Dorfes hinaus bekannt gewesen. Dennoch waren nur wenige Leute zum Gottesdienst erschienen. Das hatte Viola gekränkt, aber als sie Marianna ansah, hatte die Überraschung über ihr Verhalten die Enttäuschung überwogen. Ihre Mutter lauschte mit hocherhobenem Kopf den Worten des Pfarrers und nickte ab und zu einem Bekannten zu.

»Ich habe eigentlich immer gedacht, hier in der Gegend würde man Großmutter mehr schätzen«, beklagte Viola sich später bei ihr. »Es waren kaum Leute da, und die wenigen sahen eher verschreckt aus.«

»Eine Frau mit einer Gabe, wie deine Großmutter sie hatte, erregt Misstrauen«, hatte Marianna ihr erklärt. »Die Leute kamen heimlich zu ihr, sie wussten um ihre Kräfte, aber sie hatten Angst davor.« Vielen Menschen, die den Trauerzug heimlich hinter den Fenstern verfolgt hatten, hatte die Großmutter wahrscheinlich irgendwann geholfen, aber sie waren nicht mutig genug, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und sich diejenigen zum Feind zu machen, die ihre Abneigung gegen diese unglaubliche Frau zur Grundlage täglicher Kämpfe gemacht hatten.

»Bist du wach?«, fragte Violas Mutter und streckte ihren blonden Schopf durch die Tür.

»Morgen«, brummte Viola und sah sie an.

»Komm, steh auf. Ich habe den Frühstückstisch im Garten gedeckt.«

Marianna setzte sich auf den Bettrand und fuhr ihrer Tochter mit den Fingern liebevoll durch die weichen Locken.

Viola war zwar kein kleines Mädchen mehr, aber sie liebte diese Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Tochter, für die sie beide leider immer weniger Zeit hatten.

»Was steht denn heute an?«, fragte Viola vorsichtig und bereits leicht gereizt.

»Liebling, es tut mir leid. Dein Vater muss mir noch bei dem ganzen bürokratischen Kram helfen. Du weißt doch, dass das nicht meine Sache ist. Aber du kannst tun und lassen, was du willst.«

Viola hatte erwogen, nach Hause zu fahren. Hier gab es nichts für sie zu tun, und die erzwungene Untätigkeit gemischt mit den Erinnerungen machten ihr den Aufenthalt unerträglich. Aber nachdem sie in einem Anfall von Wut Laura angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass sie an ihrem Projekt teilnehmen würde, hatte sie das sofort danach bereut. Und nun wusste sie nicht, wie sie bei ihrem nächsten Treffen aus dieser Sache wieder herauskommen sollte.

»Ich bleibe noch etwas«, brummte sie.

»Weißt du«, gestand ihr die Mutter, »das Gut ist wirklich sehr groß. Ich hatte ja keinen Einblick in die Angelegenheiten hier und habe nie mit meinem Vater über den Besitz gesprochen. Deshalb bin ich mit allem hier nicht sehr vertraut. Dein Vater muss jetzt noch herausfinden, was alles auf uns zukommt.«

Marianna nahm eine Locke ihrer Tochter, deren Haarfarbe an reifen Weizen erinnerte, und machte sich daran, einen hartnäckigen Knoten aufzulösen.

»Und was kommt deiner Meinung nach auf uns zu?« Viola klang jetzt ungehaltener, als sie eigentlich war.

»Hast du nicht gesehen, in welchem Zustand hier alles ist?«, rief ihre Mutter aus und sah ihre Tochter eindringlich an. »Vielleicht lasten hohe Schulden auf dem Besitz, die Mutter überfordert haben. Wir müssen mal sehen, wie es finanziell aussieht.«

»Das wird also dauern …«

»Möglich. Aber wie ich schon gesagt habe, du kannst nach Hause fahren, wann du willst.«

Ihre Mutter stand auf und zog Viola die Decke weg, die sie sich bis unters Kinn gezogen hatte.

»He!«, protestierte die und versuchte, sie zurückzuerobern.

»Ich erwarte dich unten«, verabschiedete Marianna sich und verließ das Zimmer genauso lautlos, wie sie es betreten hatte. Während Viola sah, wie die Tür sich hinter ihr schloss, dachte sie, dass ihre Mutter trotz ihrer sechzig Jahre immer noch eine wunderschöne Frau war. Sie war nicht ganz einen Meter siebzig, schlank, und bewegte sich mit der Anmut einer Balletttänzerin. Sie trug immer lange bunte Röcke, und in ihre dichte goldblonde Mähne mischten sich nur hier und da ein paar weiße Haare. Marianna war eine begnadete Malerin und hatte lange an einem Gymnasium Kunstgeschichte unterrichtet. Doch dann hatte sie aus Verbitterung über die Bürokratie des Schulsystems alles hingeschmissen und sich mit Leib und Seele ihrer großen Leidenschaft gewidmet. Wenn Viola sie bei ihrer Arbeit beobachtete, kam es ihr oft so vor, als wäre die Welt, die ihre Mutter sich geschaffen hatte, nur schwerlich mit der realen vereinbar. Aber Marianna war glücklich, und sie hatte es geschafft, dass ihre Tochter in einem heiteren und wohlhabenden Umfeld aufwuchs.

Viola streckte die Beine aus dem Bett, wobei sie daran dachte, in welcher Sackgasse ihr Leben steckte. Sie fühlte sich ausgelaugt und leer, und sooft sie sich auch sagte, dass sie endlich handeln müsste, schob sie es doch ständig auf, sich die Ärmel hochzukrempeln und die Dinge anzupacken. Sie griff nach ihrem alten Jogginganzug, der zwar ziemlich abgetragen, aber bequem war, zog ihn an, band die Haare mit einem Zopfband zusammen und ging hinunter zum Frühstück. Obwohl sie gern geflohen wäre, um die größtmögliche Entfernung zwischen sich und diesen Ort zu bringen, sah sich Viola auf ihrem Weg durch den kurzen Flur mit dem Tonnengewölbe um und dachte, dass es noch nicht zu spät war, dieses alte Gemäuer auf Vordermann zu bringen. Ein neuer Anstrich würde diesen vom Zahn der Zeit dunkel gewordenen und bröckelnden Mauern schon sehr helfen. Mit fachmännischem Blick beurteilte Viola die Einrichtung und überlegte, was man besser behielt oder ersetzte. Die Möglichkeiten dieses Gebäudes weckten ihr berufliches Interesse und erinnerten sie daran, wie sehr sie ihre Arbeit vermisste. Sie war gut darin, auf den ersten Blick zu erkennen, wie sich ein Raum mit ein paar intelligenten Kniffen positiv verändern ließ.

Sie schüttelte den Kopf, versuchte, diese sinnlosen Gedanken loszuwerden, und betrat die Küche. Sie war leer, doch in der Luft lag der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee. Durch die offene Tür zum Hof fielen Sonnenstrahlen herein, die sich bis zur gegenüberliegenden Wand zogen. Viola folgte ihm und trat hinaus in die frische Morgenluft. Sie kniff die Augen zusammen, um sich an das blendende Licht zu gewöhnen, und sah dann ihre Eltern in dem Pavillon sitzen, den eine üppige Glyzinie für sich in Beschlag genommen hatte. Wenn sie blühte, würde der Duft beinahe unerträglich sein.

Genau wie diese Situation, dachte Viola.

»Guten Morgen!«, begrüßte sie ihre Eltern und küsste ihren Vater auf die Wange. Edoardo machte ihr auf dem kleinen Rattansofa neben sich Platz und reichte ihr ein Glas mit frischgepresstem Orangensaft. Viola nahm sich eine dick mit Marmelade bestrichene Brotscheibe und biss hinein.

Eine Weile aßen alle still vor sich hin. Edoardo sah ab und zu auf sein iPad, zusehends beunruhigt, dass er die Schreinerei seinen Angestellten hatte überlassen müssen. Violas Mutter war schweigsam, aber sie wirkte ganz entspannt, während sie eine alte Gartenzeitschrift durchblätterte.

»Der Notar hat angerufen«, sagte Edoardo zu seiner Tochter und unterbrach damit die Idylle. »Wir müssen alle drei zur Testamentseröffnung erscheinen.«

»Warum?«

»Keine Ahnung. Aber das hat er gesagt. Er erwartet uns um elf.«

»Ich hoffe, es dauert nicht zu lange«, sagte Marianna und blickte kurz von ihrer Zeitschrift auf.

Edoardo sah sie ungeduldig an. »Ich gehe mich anziehen«, sagte sie, stand elegant auf, raffte mit einer Hand ihren bunten Flatterrock und entfernte sich leichtfüßig.

»Wenn ich sie nicht so genau kennen würde, könnte ich manchmal Angst bekommen«, brummte Violas Vater und starrte auf die Tür, hinter der seine Frau verschwunden war.

Viola legte ihm den Kopf auf die Schulter und kuschelte sich an seinen Arm.

»Ich denke manchmal, dass ich sie überhaupt nicht kenne«, antwortete sie. »Meiner Meinung nach hat sie die gleiche Gabe wie Großmutter: Sie kann in deiner Seele lesen, wie und wann sie will, aber sie selbst bleibt unergründlich.«

»Kann sein.« Edoardo drückte seine Tochter so fest an sich, dass sie sich lachend wehrte. »Du weißt aber, dass sie dich unglaublich liebt und will, dass du glücklich bist.«

»Danke, Papa.«

Viola stand auf, trank den Orangensaft auf einen Schluck aus und ging zum Haus.

»Ich geh duschen!«, rief sie.

»Um zehn Uhr fahre ich los. Wer nicht da ist, muss zehn Kilometer laufen!«

Die Sonne schien hell auf die Häuser des Dorfes, die sich dort oben auf der Anhöhe zusammendrängten. Die weiß gekalkten Wände reflektierten den Schein, sodass die kleine Ansiedlung so leuchtend hell strahlte wie ein Feuerwerk.

Edoardo parkte den Wagen außerhalb der Stadtmauern, und sie gingen durch die engen Kopfsteinpflastergassen Richtung Domplatz, wo sich die Kanzlei des Notars befand.

Obwohl sie schon so oft hier gewesen war, bewunderte Viola die Schönheit dieses Dorfes stets aufs Neue. Die Häuser wirkten schlicht mit klaren Linien, und doch waren sie mit kunstvollen Gesimsen verziert. Als die Europäische Gemeinschaft ein Programm zur Neubelebung der historischen Stadt- und Ortskerne aufgelegt hatte, hatte auch dieses kleine Dorf sich ins Zeug gelegt und sein Zentrum saniert. Der Tourismus hatte ein wenig Wohlstand gebracht: Die Straßen waren sauber, neue Bars und Osterien waren entstanden, überall wurden Öl, Wein und andere regionale Erzeugnisse verkauft.

In ihre Gedanken versunken, hatte Viola gar nicht bemerkt, dass sie an ihrem Ziel angekommen waren.

Während sie die Treppe des eleganten Wohnhauses hinaufstiegen, ließ eine gewisse Unsicherheit Viola zögern. Warum wurde ein solches Geheimnis um das Testament der Großmutter gemacht? Würde es da eine Überraschung geben?

Das sollten sie bald erfahren.

5

Das Geräusch eiliger Schritte, die die Treppen herunterkamen, hallte im ganzen Gebäude wider. Der Mann erreichte die Haustür, öffnete sie geräuschvoll und ließ sie heftig hinter sich zufallen. Er war überzeugt, dass sie diese wütenden Geräusche gehört hatte, die das ganze Gebäude erschütterten. Aber das war ihm egal. Ihn zerfraß eine solch zerstörerische Wut, dass sie ihm in die Haut brannte. Augenblicklich verabscheute er alles und jeden, aber besonders sich selbst.

Schon einmal hatte er sich in einer erdrückenden Situation gefangen gefühlt, an die er sich nicht gewöhnen konnte. Als er sich schließlich aus diesen Fesseln befreit hatte, hatte er so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und diese Gegend gebracht.

Acht Jahre auf dem Meer hatten ihm klargemacht, was es bedeutete, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und auch seinen Mitmenschen die Wahl zu lassen. Acht Jahre frei wie ein Vogel, in denen er alle Zeit der Welt gehabt hatte, um in sich hineinzuhorchen und zu begreifen, was für ein Mensch er werden, wo er leben und was er tun wollte.

Doch auf einmal waren diese Fesseln, die er für immer abgeschüttelt glaubte, zu neuem Leben erwacht, hatten sich um seine Hand- und Fußgelenke gelegt und ihn erneut im Griff. Er fühlte sich, seit er das Dorf betreten hatte, wie gefangen. Als würde ihn etwas oder jemand gegen seinen Willen in ein farbloses Leben ohne Licht und Zukunft zwingen.

In den Jahren seiner Abwesenheit hatte er sich mental und finanziell von der Familie unabhängig gemacht. Doch dann hatte man ihm mitgeteilt, dass die Mutter krank und der Vater nie da war. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, dass er sich weigern könnte zurückzukehren.

Doch er war auch nicht so naiv zu glauben, dass es einfach werden würde. Allein der Gedanke, seinen Vater wiederzusehen, machte ihn nervös. Aber er hätte nie gedacht, dass es so enden würde.

Er erinnerte sich an die klägliche Stimme der jungen Frau, die er eben verlassen hatte. An ihre Tränen, die so leicht geflossen waren, die drängenden Vorwürfe und die moralische Erpressung. Er konnte ihr nicht einmal mehr in die Augen sehen, und wenn sie bei ihm nach Zärtlichkeit oder einer Umarmung suchte, entzog er sich ihr. Wie lange würde er das noch durchhalten? Doch ihm blieb keine Wahl. Für ihre Lage war er allein verantwortlich.

Das Klingeln seines Handys erinnerte ihn daran, dass es noch andere Probleme in seinem Leben gab. Also, ganz ehrlich, sein Leben war ein einziges schreckliches Chaos aus Hindernissen und Problemen.

»Hallo?«, antwortete er knapp.

»Wo zum Teufel bist du?«, schrie ihn eine Stimme an. »Die auf der Baustelle warten schon seit einer halben Stunde auf uns. Willst du, dass man uns feuert?«

Das war Ezio, genannt il Rosso. Der Spitzname bezog sich aber nicht auf seine Haare, die waren schwarz wie die Nacht, sondern darauf, dass sein Gesicht knallrot wurde, wenn er sich aufregte. Und das kam ziemlich häufig vor.

»Ich bin gleich da.«

»Aris, verdammt, ich bereue jetzt schon, dass ich dir diese Arbeit besorgt habe!«

Als ob dieser Hilfsjob auf einer Baustelle, noch dazu schwarz, ein Traumjob war. Doch leider brauchte er ihn. Und als er ihn angenommen hatte, hatte ihm sogar der Gedanke eine gewisse Befriedigung verschafft, wie sehr das seinen Vater ärgern würde, wenn er davon erfuhr. Der große Giovanni Ranieri, emeritierter Professor für antike Geschichte an der Universität Bari. Der allein schon dadurch, dass er ihm diesen absurden Namen verpasst hatte, seit seiner Geburt versucht hatte, ihn nach seinen Vorstellungen zu formen.

Doch angesichts der Nachricht war Dottore Ranieri äußerlich vollkommen gelassen geblieben. Inzwischen verbrachte er den größten Teil seines Lebens in der Stadt, fern von dem Geschwätz im Dorf. Und fern von seiner Frau.

»Beruhige dich und mach weiter«, sagte Aris zu Ezio. »Ich komm auf die Baustelle«, dann beendete er das Gespräch.

Er ging zu seinem Motorrad, setzte den Helm auf, zog die Jacke an und fuhr mit quietschenden Reifen los. Nur auf seiner Honda CBR konnte er für einige Momente alles vergessen. Nach dem Unfall hatte er sie eigentlich verkaufen wollen. Seine Mutter hatte ihn inständig darum gebeten mit ihrem sanften, erschöpften Blick. Sara wollte sogar, dass er sie in ihrer Anwesenheit nicht mehr erwähnte. Andererseits, sie würde nie wieder darauf steigen, richtig? Nicht in ihrem Zustand. In ihm regte sich Widerspruchsgeist, und er gab Gas, dass der Motor vor Vergnügen aufheulte. Sein Leben gehörte nicht mehr ihm, die anderen trafen die Entscheidungen. Aber das Motorrad würde er nicht verkaufen. Es war seine Illusion von einem anderen, dem wahren Leben. Einem Leben, das nur ihm gehörte.

6

Der Streifen Land zwischen dem Gut und dem Meer war karg und zerklüftet. Ein knapper Kilometer Steine und Gras, ein paar wild wuchernde Büsche und eine einsame hohe Agave, die im Wind schwankte.

Viola lief zusammen mit Nero auf die Klippen zu, wobei sie vergeblich versuchte, nicht in die unter Gestrüpp verborgenen kleinen Löcher im Boden zu stolpern. Ihr Kopf war noch ganz wirr von den Enthüllungen des Notars.

Ihr Vater hatte wütend und unter Fluchen den Raum verlassen, taub für die Bitten seiner Frau, er solle sich doch beruhigen.

»Was hat sie sich dabei gedacht?«, brüllte er. »Dass ich mein kleines Mädchen in diesem gottverlassenen Ort zurücklasse?«

Hätte es Viola nicht vor Überraschung die Sprache verschlagen, hätte sie wohl angesichts der Sorge ihres Vaters um sie gelacht. Für ihn war sie sein kleines Mädchen und würde es immer bleiben.

Tatsächlich hatte das Testament der Großmutter alle verblüfft. Viola hatte das Gut geerbt, allerdings mit der Auflage, ihm zu altem Glanz zu verhelfen. Und dazu eine bescheidene Geldsumme, mit der sie die Instandsetzungsarbeiten beginnen könnte. Carmela und Vito sollten in ihrem Haus bleiben und genossen dort lebenslanges Wohnrecht.

Während der kurzen Rückfahrt zum Gut, der Vater schimpfte weiter wütend vor sich hin, die Mutter betrachtete äußerlich ruhig die Straße, hatte Viola versucht, die Neuigkeit zu verdauen.

Ihre Großmutter tat nie etwas ohne einen bestimmten Grund. Doch im Moment wusste Viola nicht, worin der bestand. Warum hatte sie geglaubt, ihre Enkelin könnte oder wollte hier leben? Was sollte sie hier tun? Oliven anbauen? Sie erinnerte sich nicht, je besonderes Interesse für diese Tätigkeit gezeigt zu haben.

Als Erstes, nachdem der Notar die Verlesung des Testaments beendet hatte, hatte sie ihre Mutter angesehen. Warum hatte die Großmutter ihr nichts hinterlassen? Zwischen den beiden hatte doch ein so inniges Band bestanden. Was hatte die Großmutter veranlasst, sie vom Testament auszuschließen?

Marianna schien die Entscheidung jedoch überhaupt nicht zu kränken. Nachdem sie es aufgegeben hatte, ihren Mann zu beruhigen, war sie in resigniertes Schweigen gesunken.

Edoardo hatte die beiden Frauen am Gut aussteigen lassen und war dann weitergefahren, um seinen Ärger woanders abzureagieren.

Viola war der Mutter in die Küche gefolgt, hatte sich dort an den alten Holztisch gesetzt und ihr zugesehen, wie sie sich einen ihrer Entspannungstees aufbrühte.

»Das ist alles so absurd«, war sie schließlich herausgeplatzt.

»Nein, das ist es nicht«, hatte Marianna erwidert und sich ihr gegenüber hingesetzt.

Viola hatte ihre Mutter angesehen, als hätte sie den Verstand verloren.

»Sie hat dir nichts hinterlassen!«

»Aber ich wollte auch nichts. Dein Vater und ich haben alles, was wir brauchen.«

»Aber warum dann ich?«

»Deine Großmutter hatte großes Vertrauen in dich.«

»Dann muss ich sie ziemlich enttäuscht haben …«

»Sei nicht albern«, hatte Marinna sie verärgert unterbrochen. »Jeder stößt in seinem Leben auf Hindernisse. Du hast eine schwierige Phase durchlebt …«

Viola hatte ironisch die Augenbrauen gehoben und das Gesicht verzogen, als wollte sie widersprechen.

»Du bist schön, klug und gesund. Und jung. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Glaubst du wirklich nicht, dass die Zukunft noch etwas Großes für dich bereithält?«

»Im Moment gelingt es mir nicht, so weit vorauszuschauen …«

Beide hatten eine Weile geschwiegen. Je mehr Viola versuchte, die Beweggründe ihrer Großmutter zu verstehen, desto weniger begriff sie. Dieses ganze Grübeln regte sie auf.

»Was hat Großmutter denn von mir erwartet, als sie mir diesen Besitz hinterlassen hat? Welche Zukunft sollte ich hier denn haben?«

»Du musst die Erbschaft natürlich nicht annehmen.«

»Aber ich fühle mich dazu verpflichtet.«

»Nein, so darfst du das nicht sehen. Deine Großmutter hat auf ihre Art versucht, dir in diesem schwierigen Moment deines Lebens zu helfen.«

»Es könnte aber sein, dass ich das gar nicht will. Hier im Süden bleiben, meine ich.«

»Ich sage dir noch einmal: Du muss es nicht tun. Denk darüber nach, nimm dir etwas Zeit, um dich zu entscheiden. Es hat keine Eile.«

Während Viola über die letzten Worte ihrer Mutter nachdachte, hatten Viola und Nero den Rand der Klippe erreicht. Das Meer war aufgewühlt, die Wellen klatschten wütend und mit Wucht gegen die Felsen, während die Sonne die Gischt aufleuchten ließ, die zu ihr hochspritzte. Viola sog die frische, salzige Luft mit tiefen Atemzügen ein und nahm die Farben dieser wilden, unbewohnten Gegend in sich auf.

Es stimmte nicht, dass es keine Eile hatte. Solange sie sich nicht entschieden hatte, würden Sorge und Unsicherheit quälend an ihr nagen. Was sie überraschte: Eigentlich missfiel ihr der Gedanke hierzubleiben überhaupt nicht, im Gegenteil.

Viola strich sich mit der Hand über die vom Wind zerzausten Haare und sah sich um, fasziniert von der Landschaft. Sie hatte diese Gegend immer geliebt. Vielleicht war es ja tatsächlich der richtige Ort, um noch einmal von vorn anzufangen.

Während ihr Blick vom Meer zu den vom Wind niedergebogenen Büschen schweifte, entdeckte Viola ein paar Hundert Meter von ihr entfernt eine Gestalt auf einem Felsen. Sie war zu weit entfernt, als dass man ihr Gesicht erkennen konnte, aber sie sah eindeutig zu ihr herüber. Instinktiv machte Viola einen Schritt auf sie zu, daraufhin stand die Gestalt auf und rannte in Richtung Gutshof. Es gab keine anderen Häuser in der Nähe, und die Hauptstraße war mindestens zwei Kilometer entfernt. Wer konnte das sein, fragte Viola sich, während sie beobachtete, wie sich das Sonnenlicht in den hin und her schwingenden schulterlangen Haaren der Gestalt verfing. Eigentlich hatte sie auf einen kleinen Jungen getippt, aber auf die Entfernung waren Alter und Geschlecht kaum zu bestimmen. Die Gestalt rannte unbeholfen mit unkoordinierten Bewegungen vorwärts. Aber man sah genau, dass sie mit der Gegend vertraut war. Viola sah ihr neugierig nach, bis sie in einer Erdsenke verschwand. Sie warf einen letzten Blick auf das Meer und wandte sich ab, um den Rückweg anzutreten. Gefolgt von Nero durchquerte sie die Olivenhaine: Die ältesten Bäume, die rund um den Gutshof standen, hatten dicke gewundene Stämme und riesige Wurzeln, die aus dem Erdreich ragten. Sie waren unregelmäßig auf dem Grundstück angepflanzt. In weiterer Entfernung, auf dem Land, das später nach und nach dazugekauft worden war, standen sie jedoch in perfekten, geraden Reihen, und das Gras darunter war geschnitten und gepflegt wie in einem Garten.

Viola traf einen Entschluss: Sie würde sich schnell entscheiden, dann konnten alle bald wieder in ihr normales Leben zurückkehren.

7

Am Nachmittag war das Wetter plötzlich umgeschlagen: Der Wind schüttelte die Zweige des alten Olivenbaums in der Mitte des Hofes hin und her, er ließ die Fensterläden klappern und wirbelte den Staub hoch. Am Horizont hatten sich große graue Wolken zusammengeballt, und in der Dunkelheit des Abends leuchteten die Blitze aus dem Zentrum des Gewitters auf.

»Wir müssen es ihnen sagen«, murmelte Carmela zu ihrem Ehemann, während sie sich an den Tisch setzte und ihm zusah, wie er mit tief über den Teller gebeugtem Kopf aß.

»Wir müssen überhaupt nichts«, brummte der mit vollem Mund zurück. »Das geht sie nichts an.«

»Das wird es aber, wenn sie das Geld finden«, beharrte sie.

»Als sie vom Notar zurückkamen, war Herr Edoardo sehr aufgebracht.«

Vito schnaubte kurz, hob den Kopf und sah seine Frau verärgert an. Carmela war eine gute Ehefrau. Sie beklagte sich nie über die harten Mühen ihres bescheidenen Lebens, sie hatte sich immer um ihn gekümmert und ihn unterstützt und wusste, wann sie besser den Mund hielt. Sicher, sie war starrköpfig, aber sie hatte ein großes Herz. Vielleicht ein zu großes, bedachte man, wie sehr sie ihre einzige Tochter geliebt hatte und welches Ende diese genommen hatte.

Jetzt machte sie sich Sorgen: Sie mochte keine Geheimnisse, vor allem nicht Adele und ihrer Familie gegenüber. Und das nicht nur, weil die alte Frau in Menschen wie in einem Buch lesen konnte, sondern auch weil sie ihr zutiefst dankbar war.

Vito kannte seine Frau genau, und er wusste, dass sie ihn bearbeiten würde, bis sie gewonnen hatte. Dies war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie nicht schweigen würde.

»Wir haben nichts Schlechtes getan«, erwiderte er stur. »Die Signora hat immer frei ihre Entscheidungen getroffen. Und sie wissen auch, dass niemand sie beeinflussen konnte.«

»Sie könnten uns wegschicken«, fuhr Carmela beharrlich fort. »Wovon würden wir leben? Und was machen wir dann mit ihm?« Sie hob den Kopf zum ersten Stockwerk hin.

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