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Eine Schachtel voller Glück

Anne Maries gemütlicher Buchladen in der bunten Blossom Street läuft gut. Sie fühlt sich hier wohl, aber so richtig glücklich ist sie schon lange nicht mehr. Anne Marie beschließt, etwas zu ändern. Zwanzig Wünsche schreibt sie auf: Dinge, die sie schon längst einmal hätte tun wollen. Plötzlich nimmt sie das Leben von einer ganz anderen Seite wahr, entdeckt seine Schönheit und lernt, dass sich Wünsche nicht immer so erfüllen wie erwartet …

»Debbie Macomber schreibt so selbstbewusst und zuversichtlich, dass ihre Geschichten so einladend sind wie ein gemütlicher Lesesessel.«
Publishers Weekly

»Selbst die unromantischsten Leser werden sich mit den Frauen in dieser hoffnungsvollen Geschichte verbunden fühlen, während sie sich heimlich eine Träne wegwischen und ihre eigene Wunschliste beginnen.«
Booklist


  • Erscheinungstag: 03.04.2018
  • Aus der Serie: Blossom Street Serie
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768010
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für June Scobee Rodgers,
meine liebe Freundin, die mir Inspiration und Quell der Freude ist

April 2009
Liebe Freunde,

als wir noch Kinder waren, lagen meine Cousins, meine Cousinen und ich in den warmen Sommernächten oft draußen im Gras, schauten hoch in den Nachthimmel und vertrauten unsere Wünsche einem Stern an. Anscheinend bleibt dieses Kind in uns immer in irgendeiner Form lebendig, nicht wahr? Vor einiger Zeit wurde mir dies wieder bewusst, als mir bei einer Signierstunde meine Leserin Arliene Zeigler von ihrer Wunschliste erzählte. Auf dieser Liste standen keine Vorsätze, Beschlüsse oder auch nur Zielvorstellungen, sondern einfach nur Wünsche. Zum Beispiel Orte, die sie besuchen wollte, Menschen, die sie gern kennenlernen möchte, Erfahrungen, die sie zu machen hoffte.

Hat nicht jeder von uns solche Wünsche in der einen oder anderen Form? Heimliche Sehnsüchte, über die wir selten reden, weil sie vielleicht dumm klingen? Als ich Eine Schachtel voller Wünsche zu schreiben begann, setzte ich zunächst eine eigene Wunschliste auf. Darauf standen Dinge, wie mit meinem Mann zu kuscheln und in Erinnerungen an die gemeinsam verbrachten Jahre zu schwelgen. Ich wollte mit meinen Enkelkindern Seifenblasen steigen lassen und Schmetterlingen nachjagen. Ich wollte am Broadway singen. Na schön, Letzteres ist ein bisschen sehr weit hergeholt, aber träumen darf man ja …

Ich hoffe, Sie genießen es, ein paar Stunden mit Anne Marie, ihren Freundinnen (ganz besonders den Witwen) und allen anderen von der Blossom Street zu verbringen. Alix hat drüben im French Café die Kaffeemaschine eingeschaltet, Susannah arrangiert ihre Blumen auf dem Gehsteig vor ihrem Blumengeschäft Susannah’s Garden. Wie ich sehe, hat Whiskers sich im Schaufenster von A Good Yarn zusammengerollt, und Lydia hat das Schild an der Ladentür auf Geöffnet gedreht. Auch die Tür von Blossom Street Books steht offen, also hereinspaziert!

Ich freue mich immer, von meinen Lesern und Leserinnen zu hören. Sie können mich über meine Webseite (www.DebbieMacomber.com) oder per Brief (P.O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366, USA) erreichen.

Debbie Macomber

1. Kapitel

Es war sechs Uhr am Abend, und es war Valentinstag. Ein Zeitpunkt, zu dem man eigentlich feiern sollte – so wie früher, als sie und Robert noch verheiratet gewesen waren. Als Robert noch lebte. Aber heute Abend, am romantischsten Tag des Jahres, war Anne Marie Roche allein. Sie drehte das Schild in der Tür von Blossom Street Books auf Geschlossen. Ihr Blick streifte die Schaufensterauslage zum Valentinstag mit den ausgeschnittenen Papierherzen, den roten Luftballons und der Sammlung von Liebesromanen, die sie nicht mehr las. Dann schaute sie nach draußen. Die Abenddämmerung senkte sich über Seattle, und die Straßenbeleuchtung erwachte flackernd zum Leben.

Tatsache war: Anne Marie hasste ihr Leben. Na schön, Hass war ein etwas zu starkes Wort für das, was sie empfand. Immerhin war sie gesund, noch verhältnismäßig jung – achtunddreißig –, attraktiv und finanziell abgesichert; obendrein gehörte ihr der beliebteste Buchhandel im Viertel. Aber sie hatte niemanden, den sie lieben konnte. Niemanden, der sie liebte. Sie gehörte nicht mehr zu etwas, das größer war als sie selbst. Jeden Morgen, wenn sie aufwachte, fand sie das Bett neben sich leer vor, und sie glaubte nicht, sich an dieses Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit jemals gewöhnen zu können.

Ihr Mann war vor neun Monaten gestorben. Rein technisch betrachtet, war sie also Witwe, obwohl sie und Robert bereits in Trennung gelebt hatten. Trotzdem hatten sie sich regelmäßig getroffen und an einer Versöhnung gearbeitet.

Dann, ganz plötzlich, war alles vorbei, alle Hoffnung zunichte. Gerade, als sie kurz davorstanden, es noch einmal miteinander zu versuchen, erlitt ihr Mann einen schweren Herzinfarkt. Er brach im Büro zusammen und war tot, noch bevor die Sanitäter eintrafen.

Anne Maries Mutter hatte sie gewarnt, dass es riskant wäre, einen älteren Mann zu heiraten, aber fünfzehn Jahre – das war nicht so viel älter. Robert, charismatisch und gut aussehend, war Mitte vierzig, als sie sich kennengelernt hatten. Sie waren glücklich miteinander und hatten hervorragend zusammengepasst, außer in einem Punkt.

Anne Marie wünschte sich ein Baby.

Robert nicht.

Er hatte bereits zwei Kinder aus seiner ersten Ehe und kein Interesse daran, eine weitere Familie zu gründen. Zum Zeitpunkt der Hochzeit war Anne Marie mit dieser Bedingung einverstanden. Damals, bis über beide Ohren in Robert verliebt, kam ihr das nicht so wichtig vor. Aber dann, vor zwei Jahren, hatte die Wirklichkeit sie eingeholt. Ihre Sehnsucht, ihr Verlangen nach einem Kind wurden immer stärker. Doch Robert war standhaft geblieben und hatte keinen Millimeter nachgegeben. Seine »Lösung« des Problems hatte darin bestanden, ihr einen Hund zu schenken. Sie hatte ihn Baxter genannt. Sosehr sie den Yorkshireterrier auch liebte, an ihren Gefühlen hatte das nichts geändert. Sie wünschte sich immer noch ein Baby.

Dass Melissa, Roberts vierundzwanzigjährige Tochter, Anne Marie nicht leiden konnte –, es noch nie gekonnt hatte – hatte die Situation noch verschärft. Im Laufe der Jahre hatte Anne Marie etliche Male versucht, die Spannung zwischen ihnen beiden abzubauen. Nichts hatte gefruchtet. Bei Roberts Sohn Brandon, der noch fünf Jahre älter war als seine Schwester, war das zum Glück anders. Sie hatten ein gutes Verhältnis.

Als in der Ehe zwischen Robert und Anne Marie Probleme aufgetaucht waren, konnte Melissa ihre Schadenfreude nicht verbergen. Anne Maries Stieftochter wirkte hocherfreut, als Robert im Herbst vor zwei Jahren ausgezogen war, sieben Monate vor seinem Tod.

Anne Marie hatte keine Ahnung, was sie Schlimmes getan hatte, um sich diese leidenschaftliche Abscheu zu verdienen – außer sich in Melissas Vater zu verlieben. Sie vermutete den Grund für Melissas Verbitterung in der glühenden Hoffnung des Mädchens, ihre Eltern würden sich aussöhnen und wieder heiraten. Jedes Kind wünschte sich eine intakte Familie. Und als Anne Marie und Robert heirateten, war Melissa gerade erst im Teenageralter. Anne Marie nahm es Roberts Tochter nicht übel, dass sie so abweisend reagierte, aber seine Ehe mit Pamela war schon längst gescheitert, bevor Anne Marie in sein Leben trat. Dennoch, all ihren Versuchen zum Trotz, war es ihr nie gelungen, mit Melissa auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Seit Roberts Beerdigung hatte sie nichts mehr von ihrer Stieftochter gehört.

Anne Marie öffnete die Ladentür, als Elise Beaumont sich näherte. Elises Mann Maverick war erst kürzlich nach einem langen Kampf gegen den Krebs gestorben. Mit Mitte sechzig war die ehemalige Bibliothekarin bereits im Ruhestand. Nach fast dreißigjähriger Trennung hatte sie sich mit ihrem Mann ausgesöhnt, nur um ihn nach weniger als drei Jahren erneut zu verlieren – diesmal für immer. Schmächtig, grauhaarig und hager, wirkte sie ausgesprochen streng. Dieser Eindruck wurde allerdings von ihren traurigen Augen abgemildert. Sie war Stammkundin im Buchladen, und in den Monaten von Mavericks Krankheit hatten sie und Anne Marie sich angefreundet. In vielerlei Hinsicht war sein Tod eine Erlösung. Trotzdem hatte Anne Marie Verständnis dafür, wie schwer es war, jemanden loszulassen, den man liebte.

»Ich hatte gehofft, dass du kommst.« Sie begrüßte Elise mit einer raschen Umarmung. Normalerweise half Steve Handley am Donnerstagabend im Laden aus. Damit er in Ruhe Valentinstag feiern konnte, hatte Anne Marie ihren Laden zwei Stunden früher als üblich geschlossen.

Elise legte ihren Mantel ab und hängte ihn über die Rückenlehne eines Polsterstuhls. »Ich habe selbst nicht geglaubt, dass ich kommen würde. Aber dann habe ich entschieden, dass ich genau das heute Abend brauche: die Gesellschaft der anderen Witwen.«

Die Witwen.

Sie hatten sich in einem Lesekreis kennengelernt, den Anne Marie in ihrem Laden organisiert hatte. Nach Roberts Tod schlug sie Lolly Winstons »Himmelblau und Rabenschwarz« als Lektüre vor, einen Roman über eine junge Frau, die sich mit ihrer Witwenschaft arrangiert. In diesem Kreis hatte Anne Marie auch Lillie Higgins und Barbie Foster kennengelernt, und schließlich war Colette Blake ebenfalls zu ihnen gestoßen. Die Witwe hatte die Wohnung über A Good Yarn, dem Wollgeschäft von Lydia Goetz, gemietet. Seit dem letzten Jahr war sie wieder verheiratet.

Während sie sich im Lesekreis mit immer neuen Büchern befassten, kamen die Witwen einander auch privat näher und begannen, sich auch anderweitig zu verabreden. Ihre Treffen fanden häufig ganz formlos bei einer Tasse Kaffee im nahe gelegenen French Café statt oder bei einem Glas Wein in Anne Maries Wohnung über dem Buchladen.

Lillie und Barbie waren ein besonderes Witwenpaar, nämlich Mutter und Tochter. Beide hatten sie ihre Männer bei einem Flugzeugunglück vor drei Jahren verloren. Anne Marie hatte damals in der Zeitung von dem Absturz der Privatmaschine gelesen. Bei dem tragischen Unfall während der Landung in Seattle waren beide Piloten und auch die Passagiere ums Leben gekommen. Lillies Mann und ihr Schwiegersohn hatten in leitender Position für denselben Parfümhersteller gearbeitet und waren häufig zusammen geschäftlich unterwegs.

Lillie Higgins war in etwa im selben Alter wie Elise, aber sonst hatten die beiden keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Man sah Lillie ihr Alter nicht an. Sie wirkte kaum älter als fünfzig, aber da ihre Tochter bereits vierzig war, musste sie schon etwa Mitte sechzig sein. Zierlich und schlank, wie sie war, gehörte sie zu den wenigen Frauen, die scheinbar nicht alterten. Ihre Garderobe bestand aus immens teuren Strickwaren und Goldschmuck. Anne Marie hatte den Eindruck, dass Lillie, wenn sie wollte, den Buchladen zehnmal hätte kaufen können.

Barbie Foster, ihre Tochter, war ihrer Mutter sehr ähnlich, und ihr Name passte – jedenfalls, was die äußere Erscheinung anging. Sie hatte lange blonde Haare, die anscheinend nie in Unordnung gerieten, wunderschöne kristallblaue Augen und eine absolut makellose Figur. Kaum zu glauben, dass ihre Zwillingssöhne bereits achtzehn waren und gerade ans College gewechselt hatten; Anne Marie wäre jede Wette eingegangen, dass die meisten Leute sie eher für die Schwester als die Mutter ihrer Söhne hielten. Wenn Barbie ihr nicht so sympathisch gewesen wäre, hätte sie leicht eine Abneigung gegen sie entwickeln können, weil die Frau so … vollkommen war.

»Danke, dass du heute früher geschlossen hast. Ich bin viel lieber hier, als schon wieder einen Abend allein zu verbringen«, sagte Elise und unterbrach damit Anne Maries Gedanken.

Da war das Wort wieder.

Allein.

Trotz ihrer eigenen Befürchtungen hinsichtlich des Valentinstages rang Anne Marie sich ein Lächeln ab. Sie deutete zum hinteren Teil des Ladens hinüber. »Luftpolsterfolie und alles andere liegen im Hinterzimmer bereit.«

Letzten Monat, als sie über einen Roman von Elizabeth Buchan diskutierten, war der Valentinstag zur Sprache gekommen. Von ihren Freundinnen erfuhr Anne Marie, dass dieser Tag für Witwen wohl der schmerzlichste Tag des Jahres war, und so beschloss ihr kleiner Kreis, ein eigenes Fest zu planen. Statt der romantischen Liebe und der Ehe wollten sie die Freundschaft feiern, so den mitleidigen Blicken der Welt die Stirn bieten, auf vergangene Liebe und Hoffnung für die Zukunft anstoßen.

Elise lächelte zittrig und spähte in das Hinterzimmer des Ladens. »Luftpolsterfolie?«

»Habe ich tonnenweise«, entgegnete Anne Marie. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Versender Luftpolsterfolie verwenden.«

»Aber warum liegt sie auf dem Boden?«

»Nun ja …« Jetzt, wo sie versuchen sollte, das zu erklären, kam Anne Marie die Sache ziemlich dumm vor. »Ich habe immer den unwiderstehlichen Drang, die kleinen Blasen platzen zu lassen. Also dachte ich, wir machen das gemeinsam – indem wir darauf herumlaufen.«

»Du willst, dass wir auf der Luftpolsterfolie herumlaufen?«, fragte Elise sichtlich verwirrt.

»Betrachte es als Valentinstanz und Feuerwerk in einem.«

»Aber Feuerwerk gibt es doch nur am Unabhängigkeitstag oder vielleicht zu Neujahr.«

»Genau das ist der Sinn der Sache«, bekräftigte Anne Marie. »Es geht um Neuanfänge.«

»Werden wir auch Champagner trinken?«

»Darauf kannst du wetten. Ich habe ein paar Flaschen echten Champagner besorgt. Veuve Clicquot.«

»Veuve bedeutet Witwe, weißt du das? Der Sekt der Witwe Clicquot – wie passend. Was sollten wir sonst trinken!«

Die Tür öffnete sich, und Lillie und Barbie traten ein, gehüllt in eine Wolke eleganter Düfte. Gleich nach ihrem Eintreten schloss Anne Marie den Laden ab.

»Partyzeit«, verkündete Lillie und reichte Anne Marie eine weiße Schachtel mit Backwaren.

»Ich habe Schokolade mitgebracht«, erklärte Barbie und hielt eine Schachtel mit dunklen belgischen Pralinen hoch. Sie trug einen roten Hosenanzug mit einem breiten schwarzen Gürtel, der ihre schmale Taille betonte. Gab es in dieser Welt eigentlich keine Gerechtigkeit? Die Frau hatte die Figur einer Göttin und aß Schokolade?

»Ich habe gelesen, dass Zartbitterschokolade und Rotwein eine Menge gesundheitsfördernder Stoffe enthalten«, meinte Elise.

Davon hatte Anne Marie auch gelesen.

Lillie schüttelte gespielt erstaunt den Kopf. »Erst Wein und jetzt auch Schokolade – das Leben ist herrlich.«

Anne Marie führte die Gruppe ins Hinterzimmer und dimmte das Licht vorn im Laden. Hinten standen nicht nur Champagner und passende Gläser bereit, auch eine Kristallvase mit roten Rosen schmückte den Raum. Die Rosen waren ein Geschenk von Susannah’s Garden, dem Blumenladen gleich nebenan. Die Ladeninhaber in der Blossom Street waren alle miteinander befreundet. Von Alix Turner vom French Café, die ebenfalls von der kleinen Feier gehört hatte, stammte das Tablett mit Käse, Crackern und kernlosen grünen Weintrauben, das Anne Marie auf ihrem Arbeitstisch abgestellt hatte. Das Spitzentuch, das als Tischdecke diente, hatte Lydia ihnen für die Feier überlassen. Es war so schön, dass es in Anne Marie erneut den Wunsch weckte, stricken zu lernen.

Sie wünschte, sie könnte in den Geschenken ihrer Freundinnen mehr sehen als nur ein Zeichen von Anteilnahme, aber ihre Gefühlslage ließ das nicht zu. Trotzdem war sie wegen der anderen Witwen und um ihret- wie ihrer selbst willen entschlossen, es wenigstens zu versuchen.

»Das wird Spaß machen«, verkündete Elise und erklärte den anderen, warum Anne Marie die Luftpolsterfolie auf dem Boden ausgebreitet hatte.

»Was für eine tolle Idee!«, rief Barbie.

»Soll ich einschenken?«, fragte Anne Marie, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie bedrückt sie war. Jetzt fühlte sie sich schon seit Monaten so elend. Dabei hatte sie doch erwartet, das Leben sähe nach so langer Zeit längst wieder rosiger aus. Vielleicht brauchte sie eine Therapie. Eines war jedenfalls sicher: Irgendetwas brauchte sie.

»Unbedingt!«, erwiderte Lillie und deutete auf den Champagner.

Anne Marie öffnete die Flasche und füllte die vier Champagnerkelche. Dann prosteten sie einander zu und stießen miteinander an.

»Auf die Liebe«, sagte Elise. »Auf Maverick.« Ihre Stimme brach.

»Auf die Schokolade!« Barbie zog eine Grimasse, vielleicht um von Elises Tränen abzulenken.

»Auf den Champagner der Witwe«, warf Lillie ein.

Anne Marie schwieg.

Obwohl es bereits neun Monate her war, schien ihre Trauer weder schwächer noch leichter erträglich zu werden. Sie arbeitete zu viel, aß zu wenig und trauerte um all das, was hätte sein können. Dabei ging es nicht nur um die Tatsache, dass der Mann, den sie geliebt hatte, tot war. Mit seinem Tod war sie gezwungen, all ihre Träume und Hoffnungen in Bezug auf ihre Ehe zu begraben. Den Traum von einer echten Partnerschaft, den Traum von einer eigenen Familie. Selbst wenn sie sich wieder verlieben sollte, was ziemlich unwahrscheinlich schien, war eine Schwangerschaft im Alter von über vierzig Jahren riskant. Ihr Traum von einem eigenen Kind war mit Robert gestorben.

Schweigend nippten alle vier an ihrem Champagner, jede in ihre eigenen Erinnerungen versunken. Anne Marie sah den Schmerz in Elises Gesicht, den nachdenklichen Ausdruck in Lillies Miene, Barbies halbherziges Lächeln.

»Ziehen wir unsere Schuhe aus, um die Noppenfolie platzen zu lassen?«, fragte Lillie einen Augenblick später.

»Mom hat ein Problem damit, auf Strümpfen herumzulaufen«, meinte Barbie mit einem Blick auf ihre Mutter. »Sie findet es fürchterlich.«

»Das war bei uns einfach nur nicht üblich«, murmelte Lillie.

»Ihr braucht eure Schuhe nicht auszuziehen«, erklärte Anne Marie. »Es geht nur darum, Spaß zu haben. Ein bisschen Krach zu machen, unsere Freundschaft und unsere Erinnerungen zu feiern.«

»Dann lasst uns loslegen«, meinte Elise, hob einen ihrer Füße, die in festen Schuhen steckten, und trat auf eine Blase, bis sie mit einem leisen Knall zerplatzte.

Barbie ging als Nächste festen Schrittes ans Werk, und ihre hochhackigen Pumps machten gleich einer ganzen Reihe von Blasen den Garaus.

Pop. Pop. Pop.

Pop.

Lillie folgte ihrem Beispiel, allerdings vorsichtig und eher zaghaft.

Pop.

Anne Marie folgte als Letzte. Es fühlte sich … gut an. Wirklich gut, und das Geräusch der platzenden Blasen trug zu dem unerwarteten Gefühl von Spaß und Heiterkeit bei. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer kleinen Feier lächelte sie.

Nach einer Weile waren alle hochrot im Gesicht vor lauter Aufregung, und der Champagner trug ebenfalls seinen Teil dazu bei. Die anderen kicherten aufgekratzt miteinander. Ganz so weit war Anne Marie noch nicht, aber sie spürte, dass nicht mehr viel fehlte. Die Fähigkeit, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen, war ihr abhandengekommen, als Robert starb, und das war nicht das Einzige, was sie verloren hatte. Früher hatte sie gern gesungen, frei heraus und ungehemmt. Aber nach Roberts Beerdigung musste sie feststellen, dass sie nicht mehr singen konnte. Sie konnte es einfach nicht mehr. Ihr schnürte sich die Kehle zu, wann immer sie es versuchte. Was dabei herauskam, waren gequälte Töne, die kaum Ähnlichkeit mit Musik hatten, und nach einer Weile gab sie es auf. Schon seit Monaten hatte sie nicht einmal mehr versucht, ein Lied anzustimmen.

Immer noch platzten knallend Blasen, während sie gemeinsam auf der Luftpolsterfolie herumspazierten und dabei hin und wieder stehen blieben, um einen Schluck Champagner zu trinken. Sie marschierten so feierlich auf der Folie herum, als wären sie Soldaten auf einer Parade, und prosteten einander mit ihren Champagnerkelchen zu.

Und Anne Marie stellte fest, dass sich dank ihrer Freundinnen ihre Stimmung allmählich zu heben begann.

Kurz darauf hatten sie alle Blasen zum Platzen gebracht. Mit ihren Champagnergläsern zogen sie sich auf die Stühle im schwach beleuchteten Laden zurück, wie sie es auch in ihren Lesekreisen immer machten, und hoben erneut die Gläser.

Anne Marie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Obwohl sie gerade noch gelacht und diesen Abend mit ihren Freundinnen verbracht hatte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie weg, aber neue drängten nach, und es dauerte nicht lange, bis Barbie darauf aufmerksam wurde. Ihre Freundin legte ihr tröstend eine Hand aufs Knie.

»Wird der Schmerz jemals geringer?«, fragte Anne Marie, angelte nach einem Taschentuch in ihrer Hosentasche und tupfte sich die Augen ab. Sie hasste es, so die Fassung zu verlieren. Am liebsten hätte sie erklärt, dass sie früher nicht so nah am Wasser gebaut gewesen war. Sentimentalität war ihr eigentlich fremd, aber alle ihre Gefühle hatten sich intensiviert, seitdem Robert tot war.

Lillie und Barbie wechselten wissende Blicke. Die beiden waren am längsten verwitwet.

»Das tut er«, versprach Lillie und wurde ebenfalls ernst. »Aber es dauert.«

»Ich fühle mich so allein.«

»Nichts anderes war zu erwarten«, meinte Barbie und hielt ihr die Schachtel Pralinen hin. »Hier, nimm noch eine. Dann fühlst du dich besser.«

»Das hat schon meine Großmutter immer gesagt«, fügte Elise hinzu. »Iss etwas, und schon sieht die Welt besser aus.«

»Meine hat immer gesagt, du wirst dich wie neugeboren fühlen, wenn du etwas für jemand anderen tust«, sagte Lillie. »Sie schwor darauf, dass Freundlichkeit gegenüber anderen jede Form von Traurigkeit heilen kann.«

»Sport hilft auch«, fügte Barbie hinzu. »Ich habe viele, viele Stunden im Fitnessstudio verbracht.«

»Kann ich mir nicht einfach etwas kaufen?«, fragte Anne Marie klagend und stieß dabei einen hicksenden Lacher aus.

Die anderen lächelten.

»Ich wünschte, es wäre so einfach«, meinte Elise feierlich.

Seit Monaten hatte Anne Marie keinen Appetit mehr, und die Vorstellung, ein Fitnessstudio zu besuchen, übte keinerlei Reiz auf sie aus. Auf einem Laufband nirgendwohin zu laufen kam ihr ziemlich sinnlos vor. Ihr war auch nicht nach ehrenamtlicher Arbeit zumute, jedenfalls nicht gerade jetzt – obwohl es ihr womöglich tatsächlich helfen könnte, diese Krise, diese Zeit der Selbstbefangenheit, zu überwinden, wenn sie jemand anderem half.

»Wir suchen alle nach einem schnell wirkenden Heilmittel, nicht wahr?«, fragte Barbie leise.

»Vielleicht.« Lillie ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken. »Von allen Möglichkeiten könnte mich nur eine wirklich reizen: etwas zu kaufen.«

»Geht mir genauso«, meinte Barbie lachend.

»Ich weiß, dass ihr Witze macht – na ja, zum Teil wenigstens –, aber materielle Dinge helfen nicht«, warnte Elise und holte sie damit zurück in die Wirklichkeit. »Jede Erleichterung, die ein Kaufrausch mit sich bringt, ist immer nur vorübergehend.«

So verlockend der Gedanke, sich selbst ein Geschenk zu kaufen, auch war, Anne Marie vermutete, dass Elise recht hatte.

»Wir alle müssen uns um unseren Körper kümmern. Anständig essen. Sport treiben«, fuhr Elise nachdenklich fort. »Außerdem ist es wichtig, die Finanzen in Ordnung zu bringen.«

»In dem Punkt sind wir uns absolut einig«, sagte Lillie.

»Lass uns doch all unsere Vorschläge aufschreiben«, redete Elise weiter, griff nach ihrer Handtasche und holte ein kleines spiralgebundenes Notizbuch heraus.

»Wenn ich eine solche Liste aufstellen würde«, meldete Lillie sich zu Wort, »dann kämen dort ganz bestimmt nicht Dinge wie Blumenkohl essen und Joggen drauf. Ich würde mir vornehmen, ein paar der Dinge zu tun, die ich seit Jahren vor mir herschiebe.«

»Zum Beispiel?«, fragte Anne Marie.

»Oh, irgendetwas, was Spaß macht. Zum Beispiel eine Reise nach Paris.«

Anne Marie durchfuhr es wie ein Blitz. Als sie frisch verheiratet waren, hatte Robert ihr versprochen, sie eines Tages mit nach Paris zu nehmen. Sie hatten es sich oft ausgemalt. Jede Facette ihrer Reise in die Stadt des Lichts hatten sie diskutiert. Die Museen, die sie besuchen, die Plätze, auf denen sie umherstreifen, die leckeren Dinge, die sie essen wollten …

»Ich möchte mit jemandem, den ich liebe, nach Paris«, flüsterte sie.

»Ich möchte mich wieder verlieben«, erklärte Barbie entschlossen. »Bis über beide Ohren verlieben wie schon einmal. Ich wünsche mir eine Liebe, die mein Leben verändert.«

Für einen Augenblick wurden alle ganz still und dachten über ihre Worte nach.

Anne Marie konnte kaum glauben, dass Barbie auf männliche Begleitung verzichten musste. Sie hatten zwar nie über das Thema gesprochen, aber es überraschte sie, dass eine so attraktive Frau nicht von Männern umschwärmt wurde. Wobei, vielleicht wurde sie das ja sogar. Vielleicht hatte sie einfach nur hohe Ansprüche. Wenn das der Fall war, hatte Anne Marie dafür volles Verständnis.

»Wir möchten alle geliebt werden«, sagte Lillie. »Das ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis.«

»Ich hatte Liebe«, erwiderte Elise. Ihre Stimme war belegt und verriet ihren Schmerz. »Ich glaube nicht, dass ich eine solche Liebe noch einmal finden kann.«

»Ich hatte sie auch«, sagte Barbie.

Wieder wurden alle still.

»Mir gefällt die Idee, dass wir eine Liste aufstellen«, erklärte Elise mit Nachdruck. »Eine Liste mit Dingen, die man tun möchte.«

Anne Marie nickte und spielte mit einem ausgemusterten Dekorationsstück zum Valentinstag. Die Idee hatte ihr Interesse geweckt. Sie brauchte etwas, für das sie sich begeistern konnte. Sie brauchte Inspiration und Motivation. Eine Liste konnte ihr dabei womöglich helfen. Schließlich neigte sie sowieso dazu, Listen zu schreiben, aber diese würde ganz anders sein – nicht der übliche Katalog von Terminen und alltäglichen Aufgaben.

»Ich für mein Teil brauche keine weitere Aufgabenliste«, murmelte Lillie und fasste damit Anne Maries Gedanken in Worte. »Davon habe ich schon mehr als genug.«

»Diese wäre anders«, erwiderte Anne Marie und schaute Elise fragend an. »Dies wäre eine … eine Art Inventurliste von Wunschvorstellungen«, fuhr sie fort, laut zu denken. Ihr wurde bewusst, dass zum Leben als Witwe eine ganze Menge Dinge gehörten, die angepackt werden sollten. Dahingehend hatten ihre Freundinnen recht: Sie musste ihre finanziellen Dinge regeln und auf ihre Gesundheit achten.

»Zwanzig Wünsche«, platzte sie plötzlich heraus.

»Warum zwanzig?« Elise beugte sich gespannt vor. Ihr Interesse war offensichtlich.

»Ich weiß nicht. Das klingt einfach gut.« Anne Marie zuckte leicht die Achseln. Die Zahl war ihr in den Sinn gekommen, ohne dass sie wirklich wusste, warum. Zwanzig. Zwanzig Wünsche, die ihr helfen würden, das Leben wieder interessant und aufregend zu finden. Zwanzig Wünsche, die sie niederschreiben wollte. Zwanzig Gründe, nach vorn zu schauen, statt sich in ihrer Trauer zu vergraben. Sie konnte nicht so weitermachen, sich nicht weiter von einem Tag zum nächsten schleppen, gefangen in Schmerz und tiefem Kummer, nur weil Robert tot war. Sie brauchte ein neues Ziel, das ihrem Leben Sinn verlieh. Das war sie sich schuldig. Und ihm.

»Zwanzig Wünsche«, wiederholte Barbie bedächtig. »Ich glaube, das funktioniert. Zwanzig ist eine überschaubare Menge. Anders als hundert zum Beispiel.«

»Und es sind nicht zu wenige – wie zwei oder drei«, fügte deren Mutter hinzu.

Anne Marie spürte, dass ihre Freundinnen ihren Vorschlag ernst nahmen. Das bestärkte sie darin, es für eine gute Idee zu halten. »Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft.«

»Lasst es uns tun!«, rief Lillie.

Barbie richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Du solltest Französisch lernen«, sagte sie lächelnd zu Anne Marie.

»Französisch?«

»Für deine Reise nach Paris.«

»In der Highschool hatte ich zwei Jahre Französisch.« Allerdings war als Einziges hängen geblieben, wie man die Verben être und avoir konjugierte.

»Frische es wieder auf.« Barbie rutschte auf ihrer Sitzfläche nach vorn.

»Vielleicht mach ich das wirklich.«

»Ich könnte Bauchtanzen lernen«, meinte Barbie als Nächstes.

Die anderen schauten sie überrascht an; Anne Marie grinste beifällig.

»Lillie hat es schon mal erwähnt, aber ich glaube, es würde uns allen unglaublich guttun, eine ehrenamtliche Aufgabe zu übernehmen«, meinte Elise. »Ich engagiere mich als Lunch-Patin in der Schule, die mein Enkel besucht, und ich freue mich jedes Mal auf die Zeit, die ich mit Malcolm verbringe.«

»Lunch-Patin? Was ist das denn?«

»Ein Programm für Kinder, die soziale Schwierigkeiten haben. Einmal wöchentlich besuche ich die Schule und esse gemeinsam mit einem Jungen in der dritten Klasse zu Mittag. Malcolm ist so ein liebes Kind, und er blüht richtig auf, seitdem ich Zeit mit ihm verbringe. Wenn er mich sieht, wie ich die Schule betrete, rennt er auf mich zu, als hätte er die ganze Woche auf meinen Besuch gewartet.«

»Ihr esst also gemeinsam zu Mittag?«

»Ja, genau, aber er zeigt mir auch gern, was er gerade in der Schule macht. Er hat Schwierigkeiten mit dem Lesen, bemüht sich aber sehr. Ab und an liest er mir etwas vor, oder ich lese ihm etwas vor. Ich habe ihm ein paar von den Kinderbüchern von Lemony Snicket mitgebracht, und er liebt sie über alles.«

»Du gibst ihm also Nachhilfeunterricht?«

»Nein, nein, er hat einen Nachhilfelehrer fürs Lesen. Darum geht es nicht bei dem Programm. Ich bin seine Freundin. Ein bisschen wie eine zusätzliche Oma.«

Die Idee klang toll, fand Anne Marie, aber sie wusste nicht recht, ob dieses Programm das Richtige für sie war. Sie würde darüber nachdenken müssen. Mittwochs hatte sie frei, außerdem jeden zweiten Samstag, wenn Theresa im Laden aushalf. Sie musste zugeben, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit an einer Grundschule ihr etwas zu tun geben könnte, etwas anderes, als nur sich selbst zu bemitleiden.

Es war eigentlich kein Wunsch, aber Elise beharrte darauf, dass sie sich mit ihrem Ehrenamt besser fühlte. Vielleicht lag darin ja der Schlüssel zum persönlichen Glück: einem anderen zu helfen.

Gegen halb zehn lösten sie ihre kleine Feier auf, und nachdem Anne Marie alle verabschiedet hatte, verschloss sie die Ladentür. Dann stieg sie die Treppe hinauf in ihre winzige Wohnung über dem Buchladen. Ihr treu ergebener Hund Baxter wartete schon auf sie und wuselte so lange um ihre Beine herum, bis sie sich zu ihm hinabbeugte, ihn hochnahm und ihm die Aufmerksamkeit schenkte, die er wollte, bevor sie noch eine kurze Runde mit ihm Gassi ging.

Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, musste sie immer noch an das neue Projekt der Witwen denken. Also brühte sie sich eine Tasse Tee auf, schnappte sich einen Notizblock, schlug eine leere Seite auf und setzte sich auf die Couch, wo Baxter sich neben ihr zusammenrollte. Oben auf die Seite schrieb sie:

Zwanzig Wünsche

Sie brauchte sehr lange, um auch nur einen ersten Punkt zu Papier zu bringen, doch schließlich stand er da:

1. Einen guten Aspekt am Leben entdecken

Es berührte sie beinahe peinlich, dass ihr nichts Besseres einfiel als so ein wehleidiger, jämmerlicher Wunsch, der nur zu deutlich ihre seelische Verfassung erkennen ließ. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte sich daran zu erinnern, wovon sie früher geträumt und was sie sich in jüngeren Jahren mehr oder weniger explizit gewünscht hatte.

Dann schrieb sie einen zweiten Punkt nieder, auch wenn er ihr reichlich dumm vorkam.

2. Ein Paar rote Cowboystiefel kaufen

In ihren Zwanzigern, lange bevor sie Robert heiratete, hatte Anne Marie ein solches Paar in einem Schaufenster gesehen. Damals war sie wie angewurzelt stehen geblieben. Sie hatte gewusst, dass sie sie haben musste, unbedingt. Also hatte sie den Laden betreten und sie anprobiert. Sie passten perfekt. Absolut perfekt. Leider passte das Preisschild ganz und gar nicht. Unter keinen Umständen hätte sie tausendfünfhundert Dollar für ein Paar Cowboystiefel ausgeben können! Nur widerwillig hatte sie das Geschäft verlassen und ihren kleinen Traum begraben.

Damals hatte sie in Teilzeit im Universitätsbuchladen gearbeitet und konnte sich eine solche Extravaganz nicht leisten. Aber seitdem hatte sie immer wieder einmal an diese Stiefel gedacht. Auch heute war der Wunsch noch lebendig, und der Preis war längst nicht mehr so abschreckend, wie er es vor so vielen Jahren war. Irgendwie würde sie ein Paar dekadente Cowboystiefel für sich auftreiben. In Rot.

Weiter – was wünschte sie sich noch? Sie kaute auf dem Ende ihres Stiftes herum, während sie darüber nachgrübelte. Verflixt, so schwierig sollte das doch eigentlich nicht sein …

Dann fiel ihr ein: Wenn sie sich rote Cowboystiefel kaufte, dann sollte sie darüber nachdenken, was sie darin tun konnte.

3. Line Dance lernen

Zwar hegte sie den Verdacht, dass Line Dance in Seattle ein bisschen aus der Mode gekommen war – anders als beispielsweise in Dallas –, aber der Vorteil an der Sache war, dass sie dafür keinen Partner brauchte. Sie konnte einfach hingehen und ihren Spaß haben, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, dass sie allein war und nicht Teil eines Paares. Sie war noch nicht bereit für eine neue Beziehung; vielleicht irgendwann einmal, aber jetzt definitiv noch nicht. Nach ein paar Minuten strich sie diesen Wunsch wieder. Ihr fehlte die Tatkraft für gesellige Unternehmungen. Sie las noch einmal ihren ersten Wunsch und strich ihn ebenfalls. Wie sollte sie abschätzen, ob sie tatsächlich einen guten Aspekt am Leben gefunden hatte? Der Wunsch war einfach nicht spezifisch genug.

Verschiedene Möglichkeiten gingen ihr durch den Kopf, aber sie verzichtete darauf, sie in ihre Liste einzutragen.

Lillie hatte recht. Als Erstes musste sie ihre Geldangelegenheiten regeln. Diesen Punkt schrieb sie allerdings auf ein zweites Blatt Papier, dazu den jährlichen Check-up beim Arzt und – vielleicht – die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio. Auf ihrer ersten Liste, der Wunschliste, blieb nur eine Sache stehen: das Paar Cowboystiefel.

Jetzt hatte sie also zwei Listen – eine für Wünsche und eine weitere für die praktischeren Dinge des Lebens. Natürlich würde letztlich jeder Wunsch auch eine eigene Aufgabenliste nötig machen, aber darüber konnte sie sich ein anderes Mal den Kopf zerbrechen. Sie schloss die Augen und versuchte zu ergründen, was sie sich am meisten wünschte, welchen Wunsch sie sich unbedingt erfüllen wollte. Die nächsten paar Ideen waren allesamt vernünftiger Natur: zum Beispiel Termine vereinbaren, die sie seit Monaten auf die lange Bank schob. Es war schon traurig, dass ihr einziger Wunsch, die tiefste Sehnsucht ihres Herzens, ein völlig überteuertes Paar Stiefel war.

Aber genau da lag das Problem: Sie wusste einfach nicht mehr, was sie wollte. Im dichten Nebel ihrer Trauer und ihrer geplatzten Träume war ihr die Freude abhandengekommen, genau wie das Lachen und das Singen.

Bisher war ihre zweite Liste deutlich länger als die Wunschliste. Darauf standen unter anderem Terminvereinbarungen mit einem Steuerberater, einem Rechtsanwalt, dem Tierarzt und mehreren Ärzten. Traurig, traurig, traurig. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Listen von Lillie und Barbie aussehen würden. Die beiden sprudelten sicher über von wunderbaren Ideen: Orte, die sie besuchen, Erfahrungen, die sie auskosten, Menschen, die sie kennenlernen wollten.

Anne Marie starrte auf ihre Liste mit dem einen lächerlichen Punkt. Sie war versucht, das Blatt zusammenzuknüllen.

Aber sie tat es nicht. Aus Gründen, die sie selbst nicht benennen konnte, ließ sie die Liste auf der Arbeitsplatte in der Küche liegen. Listen waren wichtig, das wusste sie. Im Laufe der Jahre hatte sie genug darüber gelesen, wie man sich Ziele setzte, um zu erkennen, wie viel es brachte, Dinge aufzuschreiben. Auch in ihrem Buchladen bot sie eine ganze Reihe von Bestsellern an, die sich mit genau diesem Thema befassten.

Na schön, es war ein Anfang. Sie würde die Idee nicht einfach ad acta legen, und sie hatte wenigstens die dringendsten Notwendigkeiten ins Auge gefasst. Sie hatte herausgefunden, was sie tun musste.

Irgendwann später würde sie auflisten, was sie tun wollte.

Mit dem Finger strich sie über das Wort Stiefel. Dumm, unpraktisch, lächerlich – aber es war ihr egal. Sie war wild entschlossen, sich diese Dinger zu kaufen.

Schon jetzt zeigte der Gedanke, ihre Wünsche aufzulisten, Wirkung. Schon jetzt spürte sie einen winzigen Funken Hoffnung, eine Spur von Erregung. Tauwetter hatte eingesetzt.

Am Ende würden ihr andere Sehnsüchte, andere Wünsche in den Sinn kommen. Noch waren neunzehn offen. Sie hatte das Gefühl, der Dschinn sei endlich aus der Lampe entkommen und warte nur darauf, von ihren größten Wünschen zu hören. Jetzt musste sie nur noch ihrem Herzen lauschen, und wenn ihr das gelang, würden ihre wildesten Träume wahr werden.

Wenn das Leben doch nur so einfach sein könnte.

Natürlich war es das nicht, aber Anne Marie beschloss, so zu tun, als ob.

2. Kapitel

In der ganzen nächsten Woche warf Anne Marie immer wieder mal einen Blick auf ihre Liste. Aus dem Blatt Papier mit der Überschrift »Zwanzig Wünsche« wurde ein Flickenteppich aus Hingekritzeltem und wieder Ausgestrichenem. Sie schrieb »Ich möchte wieder singen«, überlegte es sich dann anders und entschied, es sei unnötig, einen Wunsch auf etwas zu verschwenden, von dem sie überzeugt war, dass es sich ganz von allein irgendwann ergeben würde.

Schließlich übertrug sie die Liste, so wie sie war, auf einen gelben Notizblock, auf dem ihre Wünsche irgendwie offizieller wirkten. Dann kam sie am Mittwoch, ihrem freien Tag, auf dem Rückweg vom Steuerberater an einem Laden für Hobbyartikel vorbei und entdeckte im Schaufenster Bastelmaterial für selbst gestaltete Sammelalben. Sie betrachtete die wunderschön beklebten Seiten, die dort zur Schau gestellt waren. Früher hatten sie gern Dinge dekoriert und gebastelt. Sie war sich nicht sicher, ob sie immer noch ein Händchen dafür hatte, aber die Vorstellung, für ihre magere Wunschliste solche Seiten zu gestalten, war verlockend: ein Sammelalbum, um ihre Wünsche zusammenzutragen, ihre Pläne zu schmieden und ihre Bemühungen um Verwirklichung zu dokumentieren. So konnten ihre Wünsche sie ermutigen, nach vorn zu schauen, sich mit einem Optimismus auf die Zukunft zu konzentrieren, der ihr seit der Trennung von Robert fehlte.

Diesen Gedanken im Hinterkopf, kaufte Anne Marie sich die benötigten Bastelmaterialien und machte sich auf den Heimweg. Dabei kam sie an A Good Yarn vorbei, dem Wollgeschäft, das nur zwei Türen von ihrem Buchladen entfernt lag. Einem Impuls folgend, trat sie ein. Zum einen wollte sie Lydia für die Tischdecke danken und zum zweiten … nach einem Strickkurs fragen.

Stricken wollte sie als Nächstes auf ihre Wunschliste setzen. Sie fragte sich, warum sie nicht schon früher auf diese Idee gekommen war. Elise konnte perfekt stricken und versuchte oft, die anderen zu ermuntern, es auch zu lernen. Wenn sie davon sprach, wie viel Befriedigung ihr Stricken gab, klang das so verlockend, dass Anne Marie schon öfter mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, einen Kurs zu belegen. Lydia Goetz, die Inhaberin von A Good Yarn, war in der Blossom Street sehr beliebt und wurde allgemein bewundert. Anne Marie war mit ihr befreundet und war schon oft in dem Laden gewesen, obwohl sie nie ernstlich daran gedacht hatte, Stricken zu lernen. Jetzt aber erfüllte die Aussicht darauf, selbst zu stricken, sie mit ungewohnter Begeisterung.

Lydia saß mit ihrer Schwester Margaret an einem Tisch im hinteren Teil des Ladens. Neben der zierlichen, anmutigen Lydia wirkte ihre Schwester eher grobknochig und ein bisschen ungelenk. Auf den ersten Blick mochte man kaum glauben, dass die beiden verwandt waren. Sobald man aber die erste Überraschung überwunden hatte, die es unweigerlich gab, wenn man erfuhr, dass die beiden Schwestern waren, dann sah man auch die Ähnlichkeiten: die Form der Augen, des Kinns.

Als Anne Marie den Laden betrat, waren die beiden Schwestern offensichtlich in ein Gespräch vertieft. Lydia strickte dabei, Margaret häkelte. Die Glocke über der Tür ließ sie beide aufschrecken.

Sofort zeigte sich ein Lächeln auf Lydias Gesicht. »Anne Marie, wie schön, dich zu sehen! Ich freue mich, dass du vorbeischaust.« Mit ihrer natürlichen Herzlichkeit schaffte Lydia es, jedem Kunden sofort das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein.

»Guten Morgen«, begrüßte Anne Marie die beiden Frauen lächelnd. »Lydia, ich wollte dir noch einmal für die wunderschöne Tischdecke danken.«

»Oh, gern geschehen. Weißt du, eigentlich ist das ein Spitzenschal, den ich vor Jahren gestrickt habe. Ich hoffe, du wirst Gelegenheit haben, ihn öfter zu verwenden.«

»Ganz bestimmt.«

»Ich wollte übrigens im Buchladen vorbeischauen«, fuhr Lydia fort. »Mir ein paar neue Krimis holen. Wie war denn eure Valentinsparty?«

»Herrlich«, antwortete Anne Marie und schaute sich um. Wann immer sie das Wollgeschäft betrat, staunte sie aufs Neue über die Auswahl an schönen Farben und einladenden Garnen. Sie ging hinüber zu den Garnen in Blau-, Grün- und Petroltönen, die einen Teil der Regale belegten, stellte ihre Einkäufe auf den Boden und befühlte ein Knäuel unwiderstehlich weicher Wolle.

»Kann ich dir helfen, etwas Bestimmtes zu finden?«, fragte Lydia.

Anne Marie nickte und spürte, wie sie zögerte. »Ich würde gern Stricken lernen.« Dies war ihr erster positiver Schritt, um die Wünsche ihrer Liste Wirklichkeit werden zu lassen. Sie hatte überlegt, womit sie anfangen sollte, und Stricken kam ihr sehr geeignet vor. »Ich … habe die Ankündigung im Schaufenster gesehen. Letzte Woche. Für einen Anfängerkurs. Aber jetzt ist sie nicht mehr da. Hast du für die nähere Zukunft noch einen neuen Kurs geplant?«

»Zufällig haben Margaret und ich gerade über einen Anfängerkurs gesprochen, der jeden Donnerstagnachmittag laufen soll.«

Anne Marie schüttelte den Kopf. »Donnerstags arbeite ich den ganzen Tag.«

»Ich ziehe auch in Erwägung, einen neuen Kurs für Berufstätige anzubieten. Wie sieht es bei dir Dienstagmittag aus? Würdest du dich dafür einschreiben wollen?«

Bevor Anne Marie reagieren konnte, war Margaret aufgesprungen. »Das sind zu viele Kurse«, grummelte sie. »Lydia gibt viel zu viele Kurse. Das laugt sie aus.«

»Margaret!«, protestierte Lydia und warf ihrer Schwester einen verzweifelten Blick zu.

»Stimmt doch. Du brauchst hier noch jemanden zusätzlich, der Kurse gibt. Ich tue schon, was ich kann, aber manchmal habe ich mehr Kunden, als ich bewältigen kann, und du bist mit all diesen Kursen ausgelastet.«

Lydia ignorierte ihre Schwester. »Anne Marie, wenn du Stricken lernen möchtest, bringe ich es dir selbst bei.«

Anne Marie wurde bewusst, dass sie tatsächlich einen Kurs besuchen wollte, keinen Einzelunterricht. Line Dance hatte sie wieder verworfen, weil sie das Gefühl hatte, mit so vielen Leuten auf einmal überfordert zu sein; ein kleiner Strickkurs dagegen wirkte viel weniger bedrohlich. Außer der Valentinsparty mit den Witwen hatte sie seit Roberts Tod nicht mehr viel unternommen oder war gar ausgegangen. Bis jetzt war ihr schon der bloße Gedanke daran, sich mit irgendwem außerhalb ihres Buchladens fröhlich zu unterhalten, unvorstellbar. Sie kam zu dem Schluss, den Wiedereinstieg in gesellschaftlichen Umgang mit einem Strickkurs leichter bewältigen zu können. Ein paar Frauen mit ähnlichen Vorstellungen, alle konzentriert auf dieselbe Aufgabe …

»Danke für das Angebot, ich weiß das zu schätzen«, sagte sie zu Lydia. »Aber Margaret hat vermutlich recht. Du hast schon genug um die Ohren. Gib mir Bescheid, wenn deine Planung für den mittäglichen Anfängerkurs konkret wird.«

»Natürlich.«

Sie verabschiedeten sich, Anne Marie nahm ihre Einkäufe wieder an sich und verließ das Wollgeschäft. Als sie am Schaufenster vorbeiging, entdeckte sie Whiskers, Lydias Katze, die sich in einem Korb mit roter Wolle zusammengerollt hatte. Wenn Anne Marie mit ihrem Hund Baxter spazieren ging, dann richtete er sich oft am Schaufenster auf, stützte sich mit den Vorderpfoten an der Scheibe ab und war voll auf Lydias Katze fixiert – die nichts mit ihm zu tun haben wollte.

Anne Marie schleppte ihre Einkaufstaschen nach oben, stellte sie auf dem Küchentisch ab, nahm ihren Hund auf den Arm und streichelte sein seidiges Fell. »Hallo, Mr. Baxter. Ich habe gerade deinen Freund Whiskers gesehen.«

Er wand sich aufgeregt auf ihrem Arm, also setzte sie ihn auf den Boden zurück und holte ihm einen Hundekuchen aus einer Dose auf der Arbeitsplatte. »Bitte sehr!« Lächelnd schaute sie zu, wie er lautstark das Leckerli wegknusperte und anschließend jeden Krümel sorgfältig aufleckte. »Vielleicht stricke ich dir irgendwann ein Mäntelchen … oder vielleicht auch nicht.«

Jetzt, wo der Strickkurs womöglich gar nicht gesichert war, stellte Anne Marie geschockt fest, wie sehr sie das demotivierte. Ein Hindernis, und schon war sie bereit aufzugeben. Vor nicht einmal einem Jahr hätte nichts sie so schnell bremsen können, aber in letzter Zeit nahmen ihr schon die alltäglichsten Probleme den Mut.

Immerhin waren Baxters Bedürfnisse überschaubar und leicht zu befriedigen, und er hing unerschütterlich an ihr. Das tat gut und tröstete sie.

Und jetzt wollte sie sich erst einmal ihrem Projekt Sammelalbum widmen und machte sich ans Werk. Sie hatte ein schwarzes Ringbuch mit einem Klarsichtfach auf der Vorderseite gekauft. Die nächsten dreißig Minuten verbrachte sie damit, Buchstaben auszuschneiden, sie mit Glitzerkleber zu verzieren und auf einen leuchtend rosa Karton zu kleben. Diesen schob sie anschließend in das Klarsichtfach, sodass auf der Vorderseite des Ringbuchs der Titel »Zwanzig Wünsche« zu sehen war. Passend zum Ringbuch hatte Anne Marie zwanzig Klarsichthüllen gekauft, eine für jeden Wunsch.

Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass es schon weit nach ein Uhr war, als ihr auffiel, dass sie noch gar nicht zu Mittag gegessen hatte. Sie öffnete eine Dose mit Suppe, gab den Inhalt in eine Schale und erhitzte sie in der Mikrowelle. Da klingelte ihr Telefon.

Überrascht nahm sie den Hörer schon beim ersten Klingeln ab. Zugleich gab die Mikrowelle piepsend zu verstehen, dass ihr Essen fertig war.

»Hallo«, meldete sie sich, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, um ihr Essen auf den Tisch zu stellen. Zu Hause rief sie nur noch selten jemand an. In den Wochen nach Roberts Beerdigung hatten sich einige Paare, mit denen sie beide befreundet gewesen waren, noch häufig gemeldet, aber nach und nach hatten sich all diese Leute zurückgezogen, nachdem Anne Marie sich keine große Mühe gegeben hatte, den Kontakt zu halten. Es war so viel leichter, sich in ihrer Trauer zu vergraben.

»Anne Marie, ich bin es, Lillie. Du wirst es nicht glauben«, sprudelte ihre Freundin atemlos hervor.

»Was?« Angesichts der Aufregung in Lillies Stimme hob sich ihre eigene Stimmung.

»Weißt du noch, was du am Valentinsabend gesagt hast?«

Anne Marie runzelte die Stirn. »Nicht genau. Ich habe Verschiedenes gesagt. Was davon meinst du?«

»Oh, du weißt schon. Elise sprach davon, dass man essen solle, um sich besser zu fühlen, und dann brachte jemand anders – ich glaube, das war ich – ehrenamtliche Tätigkeit zur Sprache, und du sagtest …« Sie kicherte. »Du hast gefragt, ob wir uns nicht einfach irgendwas kaufen können.«

Anne Marie lächelte. Sie hatte das scherzhaft gemeint, aber Lillie schien sie ernst genommen zu haben. »Willst du mir damit sagen, dass du dir etwas gekauft hast?«

»Und ob ich das habe«, erwiderte Lillie vergnügt.

»Nun lass mich doch nicht so lange zappeln. Was hast du dir gekauft?«

Wieder kicherte Lillie. »Ein brandneues, leuchtend rotes Cabrio.«

»Nein!« Anne Marie tat so, als wäre sie schockiert.

»Doch. Kannst du dir vorstellen, dass ich mir mit dreiundsechzig einen Sportwagen kaufe?«

»Was für einer ist es?« Anne Marie hatte so gut wie keine Ahnung von Autos. Deshalb war sie Mitglied in einem Automobilclub. Tatsächlich war auch Robert in Sachen Autos ziemlich hilflos gewesen.

»Ein BMW.«

Der musste teuer gewesen sein, so viel wusste Anne Marie immerhin. Nun ja, Lillie konnte sich das leisten. Der Parfümhersteller war nach dem Flugzeugunglück mehr als großzügig ihr und ihrer Tochter gegenüber, und sie waren beide finanziell abgesichert.

»Magst du eine Spritztour mit mir machen?«

Im ersten Moment wollte Anne Marie ablehnen, aber sie überlegte es sich beinahe sofort anders. Warum nicht? Lillies Aufregung war so ansteckend, dass sie nicht widerstehen konnte.

»Sehr gern«, antwortete sie herzlich.

»Großartig. In zwanzig Minuten unten vor dem Buchladen.«

»Ähm, was ist mit Jacqueline?« Sie wusste, dass Lillie noch viele andere Freundinnen hatte und dass sie und Jacqueline Donovan sich besonders nahestanden. Sie hatten gemeinsam ihre Kinder großgezogen, waren Mitglieder im gleichen Country Club und diverser Wohltätigkeitsorganisationen. Auch Jacqueline war eine regelmäßige Kundin von Blossom Street Books, ebenso wie von allen anderen Läden in der Straße.

»Keine Sorge, sie kommt auch noch dran«, erklärte Lillie. »Also, möchtest du nun mitkommen oder nicht?«

»Ich möchte. Ich dachte nur … ach, egal. Ich würde sehr gern in deinem glänzenden roten Cabrio mitfahren.«

Hastig aß sie ihre Suppe, schnappte sich dann ihren Mantel und ging nach unten, um am Straßenrand zu warten. Lillie fuhr absolut pünktlich vor. Das Auto war tatsächlich knallrot und glänzend. Obwohl der Himmel bedeckt war, hatte Lillie das Verdeck heruntergelassen.

Anne Marie trat näher und bestaunte das Schmuckstück. »Lillie, das ist traumhaft schön.«

Die ältere Frau grinste. »Das sehe ich auch so.«

»Was hat Barbie dazu gesagt?«

Lillie schüttelte den Kopf. »Sie weiß es noch nicht. Niemand weiß es. Ich hatte den Wagen gerade aus dem Ausstellungsraum gefahren, als ich dich angerufen habe.«

»Warum gerade mich?«

»Weil du mich auf die Idee gebracht hast. Es ist also nur angemessen, dass du auch als Erste mitfahren darfst.«

Anne Marie erinnerte sich gut an das Gespräch – »iss etwas«, »tu etwas« –, aber sie hätte niemals erwartet, aufgrund dieses Gesprächs zu einer Spritztour in einem brandneuen BMW zu kommen.

»Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir selbst ein Auto gekauft. Ich habe die ganzen Verkaufsverhandlungen selbst geführt«, verkündete Lillie stolz. »Und ich wusste ganz genau, was ich wollte, bevor ich den Laden überhaupt betreten habe. Diese Verkäufer werfen nur einen Blick auf mich, und in ihren Augen leuchten die Dollarzeichen. Ich musste ihnen – und auch mir selbst – beweisen, dass ich kein leichtes Opfer bin.«

»Ich bin sicher, das hast du geschafft – und noch viel mehr.«

Lillie nickte. »Ich habe im Internet gesucht und eine Website gefunden, die den Preis auf der Rechnung nennt und dann die üblichen Gewinnmargen und die Werbekosten des Händlers aufdeckt.«

Anne Marie war von Minute zu Minute stärker beeindruckt. »Du hast wirklich gründlich recherchiert.«

»Meine Liebe, du findest nahezu alles im Internet.« Sie hob die Augenbrauen. »Ich habe auch herausgefunden, dass in den Händlerkosten ein Einbehalt für den Gewinn enthalten ist.« Lillie lächelte verschmitzt und fuhr fort. »Der Verkäufer war sehr charmant, ich muss schon sagen. Er ging davon aus, dass er mit einer mehr als ansehnlichen Provision aus dem Deal hervorgeht, aber die Vorstellung habe ich ihm schnell ausgetrieben.«

Anne Marie starrte sie erstaunt an. »Wie hast du das angestellt?«

»Wir haben verhandelt, und ich hatte ihn schon fast so weit, dass er mein Angebot annehmen wollte. Da fiel mir ein, dass Händler manchmal Anreize und Rabatte für verkaufte Autos bekommen.«

»Das hast du auch erwähnt?«

»Selbstverständlich, und er war mit meinen Bedingungen einverstanden.«

»Herzlichen Glückwunsch, Lillie.« Anne Marie hatte keine Ahnung gehabt, dass die ältere Frau so geschäftstüchtig war. Soweit sie wusste, hatte Lillie noch nicht einen einzigen Tag in ihrem Leben gearbeitet, jedenfalls nicht außerhalb ihres Hauses. Barbie war in vielerlei Hinsicht eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter. Beide Frauen hatten jung geheiratet, und zwar einen Mann, der etwa zehn Jahre älter war als sie. Das war etwas, was Anne Marie mit ihnen gemeinsam hatte; aber beide Frauen waren Mutter geworden, Anne Marie nicht. Sie hatten beide prompt das erwartete Kind zur Welt gebracht beziehungsweise in Barbies Fall Zwillingssöhne. Wenn Anne Marie sich recht entsann, dann waren Eric und Kurt Foster beide an verschiedenen Colleges an der Ostküste eingeschrieben. Elite-Colleges natürlich.

»Es fühlt sich so gut an, ein Auto zu fahren, um das ich selbst gefeilscht habe«, sagte Lillie. »Und das habe ich dir zu verdanken.«

»Also wirklich, ich habe doch nur eine Bemerkung gemacht.«

»Dabei ging es nicht nur darum, mein Auto selbst zu kaufen«, fuhr Lillie fort, als hätte Anne Marie gar nichts gesagt. »Es ging auch darum, alles selbst in die Hand zu nehmen, statt jemand anderem die Aufgabe zu übergeben. Ich hatte schon immer das Gefühl, ich könnte eine gute Geschäftsfrau sein, wenn ich nur Gelegenheit dazu bekäme.« Mit der Hand rieb sie über das Lenkrad. »Niemand schien mir zuzutrauen, dass ich meine Angelegenheiten selbst regeln kann. Ironischerweise war ich diejenige, bei der die meiste Überzeugungsarbeit geleistet werden musste. Dank dir ist es mir gelungen.«

Anne Marie war ein wenig unbehaglich zumute. Lillie schrieb ihr viel mehr zu, als sie verdiente.

»Komm schon«, sagte Lillie, »steig ein.«

Anne Marie öffnete die Beifahrertür, stieg in das Cabrio und schnallte sich an.

Lillie packte das Lenkrad fest mit beiden Händen und warf fröhlich den Kopf in den Nacken. »Eines muss ich dir sagen, diese Zwanzig-Wünsche-Geschichte wird mehr und mehr mein Ding.«

»Geht mir genauso«, meinte Anne Marie. »Als du angerufen hast, war ich gerade dabei, mir ein Sammelalbum zu basteln – eine Seite für jeden Wunsch. Ich werde Fotos aus Zeitschriften ausschneiden, um sie zu visualisieren, und jeden einzelnen Schritt dokumentieren.«

Lillie wandte sich lächelnd ihr zu. »Was für eine tolle Idee.«

Das Lob machte ihr Mut, und rasch fuhr Anne Marie fort zu beschreiben, was für Materialien sie im Bastelladen gekauft hatte. »Meine Liste steckt zwar inhaltlich noch in den Anfängen, aber ich arbeite daran. Wie sieht es bei dir aus?«

Einen Moment schwieg Lillie. »Ich habe beschlossen, ich möchte mich verlieben.« Aus ihren Worten sprach so viel Entschlossenheit, wie Anne Marie sie noch nie von ihr gehört hatte.

»Barbie sagte dasselbe auf der Valentinsparty.«

»Ich weiß.«

Anne Marie wartete schweigend.

»Viele Männer wollen sich mit mir verabreden«, fuhr Lillie fort. »Ich will nicht selbstgefällig klingen, aber an den meisten bin ich nicht interessiert.«

Anne Marie nickte. Es überraschte sie nicht, dass »viele Männer« Lillie attraktiv fanden.

»In den letzten sechzig Jahren und ein paar zerquetschten habe ich ein oder zwei Dinge dazugelernt«, fuhr Lillie fort, »und ich bin nicht mehr so leicht mit Reichtümern oder Beziehungen zu beeindrucken wie früher. Wenn ich mich verliebe, dann wünsche ich mir einen rechtschaffenen Mann. Ich möchte mich in jemanden verlieben, der anständig und nett und …« Sie suchte anscheinend nach dem richtigen Wort. »Und ehrenhaft ist. Ich möchte mich in einen ehrenhaften Mann verlieben.« Anscheinend machte es sie verlegen, ihren Wunsch laut ausgesprochen zu haben, und sie beugte sich vor, um den Wagen anzulassen. »Du hast es vermutlich schon erraten: Meine Ehe war – anders als die meiner Tochter – keine besonders gute. Ich möchte nicht die Fehler wiederholen, die ich als junges Mädchen gemacht habe.« Der Motor erwachte röhrend zum Leben, um dann zu schnurren wie ein Kätzchen.

Ein prüfender Blick nach hinten, und Lillie fuhr aus ihrem Parkplatz auf der Blossom Street heraus. Sie steuerte den Wagen in Richtung Freeway und schlug vor, durchs Kent Valley und am Green River entlangzufahren. Anne Marie war einverstanden.

Sie schloss die Augen und ließ den kalten Februarwind an sich vorbeiziehen. Lillie schaltete das Autoradio ein, als der DJ gerade einen Hit aus den späten Sechzigern ankündigte. Bald darauf summte sie »Did You Ever Have To Make Up Your Mind« von The Lovin’ Spoonful mit. Anne Maries Mutter hatte dieses Lied oft gesungen, als sie noch ein Kind war. Vielleicht war es seltsam, mit einer Frau befreundet zu sein, die so alt war wie ihre Mutter. Leider stand sie ihrer nicht sonderlich nahe, obwohl sie Einzelkind war. Anne Maries Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie in der sechsten Klasse war, und die Verbitterung, die vor allem ihre Mutter entwickelte, hatte die nachfolgenden Jahre bis heute überschattet. Dass Anne Marie ihrem Vater ähnelte, trug nicht gerade zur Verbesserung der Situation bei. Nach der Scheidung hatte sie kaum noch Kontakt zum Vater, und er starb bei einem Bootsunfall auf dem Lake Washington, als sie fünfundzwanzig war. Ihre Mutter hatte nie wieder geheiratet.

Weil ihre Beziehung so problematisch war, vermied Anne Marie allzu häufige Besuche zu Hause, achtete aber darauf, ihre Mutter wenigstens einmal im Monat anzurufen, auch wenn sie anscheinend nicht viel zu bereden hatten – trotz der Seltenheit der Anrufe. Jedenfalls hatte Anne Marie sehr viel mehr mit Lillie gemein als mit ihrer eigenen Mutter.

Während Lillies Stimme lauter wurde, blieb Anne Marie still. Sie befürchtete, sich zu blamieren, wenn sie versuchte mitzusingen. Nach etwa zwanzig Minuten fuhr Lillie vom Freeway ab und bog auf die Straße ein, die am Ufer des Green River entlangführte.

Soweit Anne Marie sich erinnern konnte, hatte sie seit Roberts Tod keinen so vollkommenen Augenblick mehr erlebt. Die Straße gehörte ihnen allein. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, der Wind zerzauste ihre Haare, und das hätte ihr nicht gleichgültiger sein können.

Lillie hingegen hatte einen Seidenschal um ihren Kopf geschlungen, sodass ihre elegante Frisur kein bisschen in Unordnung gebracht wurde.

Beim Herumkurven auf den ländlichen Straßen zeigte Lillie, was für eine gute Autofahrerin sie war. Dann aber, mitten in einer scharfen Kurve, stieß sie einen leisen Schreckensruf aus.

»Was ist los?« Sofort war Anne Marie nervös. Sie klammerte sich am Haltegriff der Beifahrertür fest, während Lillie sich bemühte, den Wagen unter Kontrolle zu bringen.

»Das Lenkrad«, keuchte Lillie. Sie fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Dann schaute sie Anne Marie aus schreckensgeweiteten Augen an. »Irgendwas stimmt nicht mit der Lenkung.«

»Das ist ein funkelnagelneues Auto!«

»Das musst du mir nicht sagen«, quetschte Lillie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus, holte ihre Handtasche hinterm Sitz hervor, nahm ihr Mobiltelefon heraus und atmete langsam und kontrolliert aus. »Zum Glück habe ich die Nummer des Händlers in der Liste der Anrufer.« Während sie darauf wartete, dass am anderen Ende jemand abnahm, schlang sie einen Arm um ihre Taille.

»Hallo«, sagte sie ohne die leiseste Spur von Verärgerung in der Stimme. »Lillie Higgins hier. Ich war heute am frühen Nachmittag in Ihrem Laden. Könnte ich bitte Darryl Pierpont sprechen? Er hat mich bedient.« Dann wartete sie. Anscheinend war der Verkäufer gerade nicht erreichbar, denn als Nächstes bat sie darum, den Geschäftsführer zu sprechen. Auch der war anscheinend nicht in seinem Büro. »Na schön«, sagte Lillie schließlich. »Eine Frage: Haben Sie den Scheck, den ich ausgestellt habe, bereits eingelöst?« Sie wandte sich Anne Marie zu, ihr Blick verriet ihren Zorn. »Dann schlage ich vor, dass Sie das auch nicht tun, denn ich bin drauf und dran, ihn bei der Bank sperren zu lassen.«

Das trug ihr ganz schnell die Aufmerksamkeit ein, die sie wollte. Nachdem sie erklärt hatte, was geschehen war, einen Moment zugehört und dann beschrieben hatte, wo sie sich gerade befanden, beendete Lillie das Telefonat.

»Der Händler schickt einen Abschleppwagen, und der Kundendienstleiter bringt mir ein Ersatzauto für die Zeit, bis sie herausgefunden haben, was mit meinem nicht stimmt.«

»Na das ist ja wohl das Mindeste.«

»Bis dahin müssen wir hier warten.«

Sie stiegen wieder ins Auto und unterhielten sich etwa eine halbe Stunde, bis ein anderer BMW auftauchte, gefolgt von einem Abschleppwagen. Ein südländisch aussehender Mann stieg aus dem Auto. »Ms. Higgins?«, fragte er mit leichtem mexikanischem Akzent an Lillie gewandt.

»Ja.«

»Ich bin Hector Silva, der Kundendienstleiter, und ich möchte mich persönlich bei Ihnen für diese Unannehmlichkeit entschuldigen.«

»Ich habe den Wagen gerade mal knapp zwei Stunden!«

Hector schüttelte den Kopf. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir die Ursache für das Problem finden und beseitigen werden. Bis dahin stellt Ihnen unser Autohaus diesen Leihwagen zur Verfügung.«

Anne Marie fand den Mann auf Anhieb sympathisch. Er war schätzungsweise in Lillies Alter, hatte eine schön gebräunte Haut und grau-schwarz melierte Haare. Er reichte Lillie ein paar Dokumente, die sie unterzeichnen musste, und dann die Schlüssel für den Leihwagen.

»Soll ich Sie zum Autohaus mitnehmen, Mr. Silva?«, bot Lillie zu Anne Maries Überraschung an.

»Nein, danke. Ich werde im Abschleppwagen mitfahren und persönlich dafür sorgen, dass Ihr Cabrio ordnungsgemäß abgeliefert wird. Sie erhalten den Wagen so schnell wie möglich zurück.«

»Danke.«

Er neigte leicht den Kopf. »Es ist mir ein Vergnügen, Ms. Higgins.«

Während Hector Silva und der Fahrer des Abschleppwagens das weitere Vorgehen besprachen, stiegen Lillie und Anne Marie in den zweiten Wagen, eine Luxuslimousine.

»Er war so nett«, bemerkte Anne Marie. Der Kundendienstleiter hätte kein bisschen zuvorkommender oder höflicher sein können.

»Dabei hatte ich mich schon gefreut, den Leuten im Autohaus die Meinung zu geigen«, meinte Lillie seufzend. »Aber wie könnte ich, wenn doch alle so wunderbar reagieren? Na ja«, fügte sie grinsend hinzu, »jedenfalls, nachdem ich gedroht hatte.«

»Das betrifft aber wohl nicht Mr. Silva.«

»Ja, das sehe ich genauso. Er schien mir aufrichtig zu sein.«

Sie machten sich wieder auf den Weg, wobei Lillie jetzt direkt in Richtung Stadt zurückfuhr und Anne Marie vor Blossom Street Books absetzte.

»Danke, Lillie«, sagte Anne Marie, als sie ausstieg. »Ich hatte noch nie so viel Spaß bei einer Spritztour.«

»Bye!« Mit einem Lächeln, das nicht nur in ihren Augen leuchtete, sondern direkt von Herzen kam, fuhr Lillie davon.

3. Kapitel

Anne Marie atmete tief durch, als sie vor der Woodrow-Wilson-Grundschule stand. Elise Beaumont hatte ihr mehrfach das Lunch-Paten-Programm empfohlen. Elise selbst war an einer anderen Schule Lunch-Patin – der Schule, die ihr Enkel besuchte –, aber Woodrow Wilson lag näher an der Blossom Street. Elise hatte ihre Erfahrungen so positiv dargestellt, dass Anne Marie sich schließlich dazu durchgerungen hatte, in der Schule anzurufen. Ein Ehrenamt war inzwischen zum dritten Punkt auf ihrer Liste der zwanzig Wünsche geworden, gleich hinter den roten Stiefeln und Stricken lernen.

Lilly hatte sich ein rotes BMW-Cabrio gekauft und war trotz der Probleme, die gleich am ersten Tag aufgetreten waren, immer noch begeistert von ihrem Kauf. Beflügelt von diesem Hochgefühl, hatte sie beschlossen, ihre finanziellen Angelegenheiten, die sie bisher anderen überlassen hatte, stärker selbst in die Hand zu nehmen. Genau wie Barbie und Elise arbeitete sie an ihrer Liste.

In der vergangenen Woche hatte Elise verkündet, sie wolle sich um einen Teilzeitjob bewerben. In den letzten drei Jahren der Krankheit ihres Mannes hatte sie Mavericks Pflege übernommen. Jetzt, wo ihr Mann tot war, brauchte Elise irgendeine Arbeit, um ihre Zeit zu füllen. Maverick hätte nicht gewollt, dass sie zu Hause hockte und Trübsal blies, meinte sie.

Zwar war Anne Marie dem Pokerprofi Maverick Beaumont nur ein- oder zweimal begegnet, aber sie hatte das Gefühl, Elise sah das richtig. Maverick war ganz offensichtlich ein Mann der Tat gewesen. Er hätte seine Frau dazu gedrängt, in den ihr verbleibenden Jahren etwas Konstruktives und Sinnvolles zu tun. Das Lunch-Paten-Programm war ein guter Anfang, aber Elise hatte Zeit, viel Zeit, und eine Menge Energie.

Anne Marie war sich nicht sicher, wie Robert auf ihr ehrenamtliches Engagement als Lunch-Patin reagiert hätte – ganz zu schweigen von ihrer Liste der zwanzig Wünsche. Hätte er das albern gefunden? Egozentrisch? Oder hätte er das für eine gute Idee gehalten, eine gute Möglichkeit, wieder Freude am Leben zu entwickeln? Sie waren fast elf Jahre verheiratet gewesen, und dennoch gab es Tage, an denen Anne Marie das Gefühl hatte, ihren Mann nie richtig gekannt zu haben.

Robert war sehr zurückhaltend, hatte seine Gefühle vor der Welt und manchmal sogar vor ihr verborgen. Als sie ihm zum ersten Mal gesagt hatte, sie wünschte sich ein Kind, hatte er einfach das Zimmer verlassen. Erst drei Tage später war er bereit, auch nur über das Thema zu reden. Er sagte ihr, eine zweite Familie komme für ihn nicht infrage. Soweit er wusste, hätten sie diese Entscheidung vor ihrer Heirat gemeinsam getroffen. Damit hatte er recht. Sie hatte sich einverstanden erklärt, auf Kinder zu verzichten. Er schien jedoch nicht zu verstehen oder anerkennen zu können, dass sie bei ihrer Heirat an einem vollkommen anderen Punkt ihres Lebens war. Sie war viel zu jung, um zu erkennen, wie intensiv das Verlangen nach einem Baby im Laufe der Jahre werden würde.

Robert blieb bei seinem Standpunkt. Er habe bereits eine Familie, und es sei an der Zeit, über Enkelkinder nachzudenken, nicht über eigene Kinder. Damals sei sie mit seiner Bedingung einverstanden gewesen, und jetzt müsse er sich darauf verlassen können, hatte er gesagt.

Anne Marie versuchte, ihre Sehnsucht nach einem Kind zu ignorieren. Ermuntert und unterstützt von Robert, kaufte sie Blossom Street Books – von dem kleinen Erbe ihrer Großeltern, das sie Jahre zuvor gewinnbringend investiert hatte. Aber das löste das Problem nicht, genauso wenig wie Baxter, der Yorkshireterrier, mit dem Robert sie eines Abends überraschte. Sosehr sie Robert, ihren Buchladen und ihren Hund auch liebte, sie sehnte sich immer noch nach einem Baby. Im Gegenteil zu dem, was sie damit eigentlich erreichen wollte, wurde das Verlangen immer stärker, je länger sie versuchte, es zu ignorieren.

Sie wollte ein Kind. Roberts Kind. Das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, lag mehr als elf Jahre zurück. Sie hatte ihre Meinung geändert, aber er weigerte sich, es ihr gleichzutun. Sie bettelte und schmeichelte, vergebens.

Verschärft wurde die Situation dadurch, dass Robert diese persönliche und vertrauliche Angelegenheit mit seiner Tochter besprach, die natürlich für ihn Partei ergriff. Dadurch wurde Anne Maries Beziehung zu Melissa – und auch zu Robert – noch schwieriger.

Melissa hatte Anne Marie von dem Tag an gehasst, an dem diese Robert heiratete. Zwar war das Mädchen damals gerade mal dreizehn Jahre alt, hatte aber dennoch alle Annäherungsversuche Anne Maries ganz entschieden zurückgewiesen. Je älter sie wurde, desto ablehnender und intoleranter wurde ihre Haltung. Roberts Tochter war immer Daddys kleines Mädchen gewesen, und in ihrer Abneigung gegen Anne Marie war sie unnachgiebig. Melissa tat alles, um ihr das Gefühl zu geben, nicht dazuzugehören. Sie lud Anne Marie nicht zu Schulabschlüssen, Geburtstagen oder anderen Familienfeiern ein. Ihr Stiefsohn Brandon hingegen hatte sie von Anfang an akzeptiert, und sie hatten ihre eigenen kleinen Feste gefeiert. In den ersten Jahren hatte Robert noch versucht, eine Brücke zwischen ihr und seiner Tochter zu bauen, aber diese Versuche fielen auf unfruchtbaren Boden, und nach einiger Zeit gaben sie und Robert beide auf. Seine Beziehung zu Melissa wurde zu einer separaten Angelegenheit, die nichts mit ihrer Ehe zu tun hatte.

Dennoch oder gerade deswegen fühlte Anne Marie sich zutiefst verraten, als ihr Mann eine so vertrauliche Angelegenheit zwischen ihr und ihm mit seiner Tochter besprach. Damit verhielt er sich ihr gegenüber illoyal. Schlimmer noch als das war der Umstand, dass Melissa ihr Wissen alles andere als geheim hielt und Anne Marie mit dem verhöhnte, was sie wusste. Die Demütigung schmerzte in Verbindung mit ihrem Kummer noch stärker.

Als Anne Marie weinend ihren Zorn über Robert ausschüttete, hörte er nur ungerührt zu. Nichts, was sie sagte, schien ihn zu berühren. Seine Miene war ausdruckslos, und ein paar Tage später packte er einen Koffer und zog aus. Einfach so.

Den Schock darüber konnte Anne Marie wochenlang nicht verwinden. Nach einem Monat, in dem sie ihn nicht ein einziges Mal anrief, weil sie ihm diese Befriedigung auf keinen Fall gönnte, kam Robert kurz nach Hause, um ihr eine Trennung vorzuschlagen.

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