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Eine Weihnachtshochzeit im Schnee

Als Buch hier erhältlich:

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Wunderbare Weihnachtsromantik von Bestsellerautorin Sarah Morgan

Im verschneiten Aspen soll Rosies Hochzeit stattfinden. Doch dem steht mehr im Weg, als alle ahnen: Die Eltern der Braut stehen selbst kurz vor der Scheidung und wollen nur genau bis nach den Feierlichkeiten den Schein wahren. Die Schwester der Braut hält die Eheschließung für einen Fehler und will Rosie davor bewahren, verliebt sich aber unsterblich in den Trauzeugen. Und die Braut selbst hat auch schon kalte Füße! Je näher der große Tag rückt, desto höher schwappen die Emotionen. Dieses Weihnachtsfest wird für jeden in der Familie unvergesslich!

»Morgan weiß einfach, wie man einen gut ausgewogenen Urlaubsroman mit familiären Ressentiments und Liebesgeschichte schreibt. Eine Weihnachtshochzeit im Schnee ist Schneehochzeitsfeeling pur und hält einen garantiert warm.« Entertainment Weekly


  • Erscheinungstag: 21.09.2021
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749901517

Leseprobe

MAGGIE

Als das Telefon morgens um drei Uhr klingelte und sie aus dem so dringend benötigten Schlaf riss, dachte Maggie als Erstes: schlechte Nachrichten.

In Gedanken ging sie verschiedene Möglichkeiten durch, wobei sie mit dem schlimmsten Szenario anfing. Tod oder zumindest eine Verletzung, die ein Leben verändern konnte. Polizei. Krankenwagen.

Mit klopfendem Herzen und halb benommen griff sie nach dem Telefon, das auf dem Bücherstapel neben ihrem Bett lag. Der Name auf dem Display vermochte sie nicht zu beruhigen.

Ihre jüngste Tochter schien Ärger nur so anzuziehen.

»Rosie?« Vorsichtig tastete sie nach dem Lichtschalter und setzte sich auf. Das Buch, über dem sie eingeschlafen war, fiel auf den Boden und brachte den Stapel mit Weihnachtskarten durcheinander, die sie am Abend zuvor angefangen hatte zu schreiben. Sie hatte eine Winterszene mit schneebeladenen Bäumen ausgesucht. Seit fast einem Jahrzehnt hatte es an Weihnachten keine Schneeflocke mehr in ihrem Dorf gegeben. Sie scherzten oft, dass ihr Nachname zum Glück White, also Weiß, lautete, weil das die einzige Möglichkeit war, eine weiße Weihnacht zu erleben.

Mit dem Telefon kuschelte sie sich unter die Decke. »Ist was passiert?« Angesichts der physischen Distanz zwischen ihr und Rosie fühlte sie sich frustriert und hilflos.

Alle sagten, dass Reisen die Welt kleiner machte, doch Maggie schien sie nicht kleiner zu sein. Warum konnte ihre Tochter ihr Studium nicht in der Nähe ihres Heimatdorfs fortführen? Oxford mit seinen berühmten Kirchtürmen und alten Colleges lag schließlich nur ein paar Meilen entfernt. Rosie hatte dort ihren Bachelor gemacht und dann ihren Master. Maggie hatte sie gern in ihrer Nähe gehabt. Sie waren im Sonnenschein über kopfsteingepflasterte Straßen spaziert, vorbei an alten honigfarbenen Gebäuden und durch die mit Narzissen übersäten Wiesen der Christchurch Meadows. Insgeheim hatte Maggie gehofft, dass ihre Tochter in der Nähe bleiben würde, doch nach ihrem Master war Rosie ein Stipendium für ein Doktorandenprogramm in den USA angeboten worden.

Kannst du das glauben, Mom? An dem Tag, an dem sie die Nachricht erhalten hatte, war sie mit wehendem Haar durch das Wohnzimmer gewirbelt, bis ihr vom Drehen und Maggie vom Zuschauen ganz schwindelig geworden war. Bist du stolz auf mich?

Maggie war gleichermaßen stolz und betrübt gewesen, wobei sie ihre Trauer natürlich verborgen hatte. Als Mutter tat man das nun mal.

Sogar sie erkannte, dass es eine Chance war, die Rosie ergreifen musste, und dennoch hatte sie sich im Stillen gewünscht, dass sie sie ausschlug. Nach dem Transatlantik-Flug hinaus aus ihrem Nest war Maggie mit E-Mail, Skype und den sozialen Netzwerken zurückgeblieben, doch nichts davon war befriedigend. Am wenigsten mitten in der Nacht. War Rosie erst seit vier Monaten fort? Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie sie an jenem glühend heißen Sommertag zum Flughafen gebracht hatte.

»Ist es dein Asthma? Bist du im Krankenhaus?« Was konnte sie tun, falls Rosie tatsächlich im Krankenhaus war? Nichts. Angst war ihr ständiger Begleiter, vor allem jetzt.

Wenn es sich um ihre älteste Tochter Katie gehandelt hätte, die in ein anderes Land gezogen wäre, wäre sie vielleicht entspannter. Katie war vernünftig und zuverlässig, aber Rosie? Rosie war immer impulsiv und draufgängerisch gewesen.

»Ich bin nicht im Krankenhaus. Hör auf zu jammern!«

Erst jetzt hörte Maggie den Lärm im Hintergrund.

Lachen und Johlen.

»Hast du deinen Inhalator dabei? Du klingst, als wärst du völlig außer Atem.« Das Geräusch weckte böse Erinnerungen. Rosie mit hervorquellenden Augen und blauen Lippen. Das pfeifende Geräusch, wenn der Sauerstoff sich durch ihre verengten Luftwege drängte. Maggie, die mit zitternden Händen kaum das Telefon halten konnte und den Notruf wählte – voller Panik, die sie vor ihrem Kind zu verbergen versuchte. Ruhe, hatte sie gelernt, war wichtig, auch wenn sie nur gespielt war.

Auch als Rosie vom Kind zur Erwachsenen gereift war, hatte es keine Atempause gegeben.

Bei manchen Kindern verschwand das Asthma. Bei Rosie nicht.

Während ihrer Collegezeit war Rosie einige Male ohne ihren Inhalator zu einer Party gegangen. Nachdem sie ein paar Stunden getanzt hatte, hatte man sie dann in die Notaufnahme gebracht. Auch da war der Anruf morgens um drei gekommen, und Maggie war durch die Nacht gerast, um an ihrer Seite zu sein. Das waren die Anfälle, von denen Maggie wusste, aber sie war sicher, dass es noch viele andere gegeben hatte, die Rosie ihr verschwiegen hatte.

»Ich bin außer Atem, weil ich mich freue. Ich bin zweiundzwanzig, Mom. Wann hörst du auf, dir Sorgen zu machen?«

»Nie. Mein Kind bleibt immer mein Kind, egal, wie viele Kerzen auf dem Geburtstagskuchen stecken. Wo bist du?«

»Ich bin über Thanksgiving mit Dans Familie in Aspen, und ich habe Neuigkeiten.« Sie hielt inne, und Maggie hörte das Klirren von Gläsern und Rosies ansteckendes Lachen. Es war unmöglich, dieses Lachen zu hören und nicht auch zu lächeln. Die Lautstärke stand im Kontrast zu der Stille in Maggies Schlafzimmer.

Ein kühler Luftzug verursachte ihr eine Gänsehaut, sodass sie aufstand und sich ihren Morgenmantel von der Stuhllehne nahm. Das Honeysuckle Cottage sah von außen idyllisch aus, doch es war furchtbar zugig. Im August war das durchaus eine Erleichterung, doch im November ließ es einen bis auf die Knochen frieren. Sie musste wirklich etwas für die Wärmedämmung tun, bevor sie auch nur daran denken konnte, das Cottage zu verkaufen. Der historische Charme, die Kletterrosen und der Blick auf die Dorfwiese entschädigten nicht für Frostbeulen.

Oder vielleicht war es gar nicht das Haus, das kalt war? Vielleicht war nur ihr kalt.

Trotz ihrer Traurigkeit bemühte sie sich, wieder zuzuhören.

»Was ist los? Was für Neuigkeiten? Es klingt, als würdest du eine Party feiern.«

»Dan hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Buchstäblich aus heiterem Himmel. Wir haben uns abwechselnd gesagt, wofür wir dankbar sind, und als er dran war, hat er mich ganz seltsam angesehen, und dann ging er auf die Knie und – Mum, wir werden heiraten.«

Maggie ließ sich aufs Bett plumpsen und hatte die Kälte völlig vergessen. »Heiraten? Aber du und Dan seid erst seit ein paar Wochen zusammen …«

»Elf Wochen, vier Tage, sechs Stunden und fünfzehn Minuten – oh, warte, jetzt sind es sechzehn, ich meine siebzehn …« Sie lachte, und Maggie versuchte mitzulachen.

Wie sollte sie damit umgehen? »Das ist nicht sehr lang, Liebling.« Doch es passte zu ihrer impulsiven Tochter.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie richtig sich das anfühlt. Und du verstehst es bestimmt, weil es bei dir und Dad genauso war.«

Maggie starrte auf den feuchten Fleck an der Wand.

Sag ihr die Wahrheit.

Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte die Worte nicht heraus. Es war der falsche Zeitpunkt. Sie hätte es schon vor Monaten tun sollen, doch sie war zu feige gewesen.

Und jetzt war es zu spät. Sie wollte keine Spaßbremse sein und ihrer Tochter den Augenblick verderben.

Ja, sie konnte noch nicht einmal sagen: Du bist zu jung. Denn sie war genauso alt gewesen, als sie Katie bekommen hatte. Was sie zu einer Heuchlerin machte. Oder eher zu jemandem mit Erfahrung?

»Du hast gerade als Doktorandin angefangen …«

»Das gebe ich nicht auf. Ich kann verheiratet sein und trotzdem studieren. Das machen viele.«

Dagegen konnte Maggie nichts sagen. »Ich freue mich für dich.« Klang sie fröhlich? Sie gab sich mehr Mühe. »Wow!«

Sie hatte gedacht, die härtesten Momente als Mutter bereits hinter sich zu haben, doch wie sich herausstellte, warteten noch einige Überraschungen auf sie. Rosie war kein Kind mehr. Es war ihr Recht, eigene Entscheidungen zu treffen. Und eigene Fehler zu machen.

Rosie sprach weiter: »Ich weiß, dass alles ein bisschen schnell geht, aber du wirst Dan genauso lieben wie ich. Als du mit ihm gesprochen hast, sagtest du, dass er einen tollen Eindruck macht.«

Aber war ein Skype-Gespräch dasselbe wie eine persönliche Begegnung?

Maggie schluckte all die Warnungen hinunter, die ihr in den Sinn kamen. Sie würde sich auf keinen Fall in ihre eigene Mutter verwandeln und jeden glücklichen Moment vermiesen. »Er wirkte charmant, und ich freue mich für dich. Falls das nicht so klingt, liegt das daran, dass es hier mitten in der Nacht ist, und du weißt, wie ich mich fühle, wenn ich gerade aufgewacht bin. Als ich deinen Namen auf dem Display gesehen habe, habe ich mir Sorgen wegen deines Asthmas gemacht.«

»Ich hatte seit Ewigkeiten keinen Anfall mehr. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich wollte es dir einfach sofort erzählen.«

»Schon okay. Ich bin froh, dass du mich geweckt hast. Ich will alles wissen.« Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass ihre Tochter mit ihr im Zimmer war und nicht Tausende von Meilen entfernt.

Kein Grund zur Panik! Es war eine Verlobung, das war alles. Sie hatten noch viel Zeit zu entscheiden, ob das hier das Richtige für sie war. »Wir werden das richtig feiern, wenn du mit deiner Schwester zu Weihnachten hier bist. Würde Dan gern mitkommen? Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Vielleicht schmeißen wir eine Party. Laden die Baxters ein und deine Freunde vom College und von der Schule.« Die Planungen hoben Maggies Stimmung. Weihnachten war für sie die schönste Zeit des Jahres – die eine Gelegenheit, zu der die ganze Familie zusammenkam. Sogar Katie, die als Ärztin ein anstrengendes Leben führte, konnte normalerweise ein paar freie Tage zu Weihnachten herausschlagen, wenn sie im Gegenzug die Silvesterschicht übernahm. Maggie freute sich darauf, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie hatte den leisen Verdacht, dass ihre älteste Tochter ihr aus dem Weg ging. Immer wenn Maggie ein Treffen vorschlug, kam Katie mit einer Ausrede, was ihr gar nicht ähnlich sah, weil sie sonst selten ein kostenloses Essen ausschlug.

Weihnachten gab ihr die Gelegenheit, ein bisschen nachzuhaken.

Ihrer Meinung nach war Oxford der perfekte Ort dafür. Dort wollte sie gemeinsam mit der Familie die Feiertage verbringen. Sicher, es würde wohl keinen Schnee geben, doch was war schöner als ein Nachmittagsspaziergang zu Glockengeläut an einem klirrend kalten Wintertag?

Es versprach alles perfekt zu werden – abgesehen von einer Komplikation.

Nick.

Maggie wusste immer noch nicht, wie sie mit dieser Angelegenheit umgehen sollte.

Vielleicht war eine Verlobung genau das, was sie brauchten, um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken.

»Weihnachten ist eins der Themen, über die ich mit dir sprechen muss.« Rosie klang zögerlich. »Ich wollte nach Hause kommen, doch seit Dan mir den Antrag gemacht hat … na ja, wir sehen keinen Sinn darin, zu warten. Wir haben uns schon für einen Tag entschieden. Wir heiraten Heiligabend.«

Maggie runzelte die Stirn. »Du meinst, nächstes Jahr?«

»Nein, dieses Jahr.«

Während sie die Tage zählte, fiel ihr beinahe die Kinnlade herunter. »Du willst in weniger als vier Wochen heiraten? Einen Mann, den du kaum kennst?« Rosie war immer impulsiv gewesen, doch das hier war keine bedeutungslose Spielerei, die man nach ein paar Tagen wieder vergaß, oder ein Kleid, das dann doch nicht die richtige Farbe hatte. Eine Ehe war keine Sache, die man einfach wieder umtauschen und so in Ordnung bringen konnte. Es gab keinen Grund zur Eile, außer … »Liebling …«

»Ich weiß, was du denkst, und das ist es nicht. Ich bin nicht schwanger! Wir heiraten, weil wir uns lieben! Ich liebe ihn über alles. So habe ich noch für niemanden empfunden.«

Du kennst ihn kaum.

Auf eine unangenehme Art war Maggie bewusst, dass es einen nicht vor Problemen bewahrte, wenn man jemanden gut kannte. Daher änderte sie ihre Argumentation.

»Ich freue mich für euch!« Wie sich herausstellte, konnte sie Freude ebenso überzeugend vortäuschen wie Ruhe. »Aber ich kann so rasch nichts in die Wege leiten. Selbst eine kleine Hochzeit braucht monatelange Planung. Als Jennifer Hill im Sommer geheiratet hat, erzählte mir ihre Mutter, dass sie die Fotografin über ein Jahr im Voraus buchen mussten. Und wo sollen alle übernachten? Es ist Weihnachten. Alles wird voll sein, und selbst wenn wir etwas fänden, würde es um diese Jahreszeit ein Vermögen kosten.«

Wie viele Menschen könnte sie im Honeysuckle Cottage unterbringen? Und wie würde Dans Familie Rosies Zuhause mit seinen leicht schiefen Wänden und der veralteten Heizung finden? Würde der englische Landhaus-Charme sie für die erfrorenen Zehen entschädigen? Im Sommer wirkte das Haus mit seinem Garten und den üppigen Kletterrosen wie aus dem Bilderbuch, doch im Winter glich das Leben hier einem Überlebenstraining. Allerdings lag Aspen in den Rocky Mountains, und dort musste es im Winter doch ebenfalls ziemlich kalt sein, oder?

Vielleicht würden sie und Dans Mutter sich beim Austausch über die Herausforderungen des Heizens im Winter miteinander anfreunden.

»Du musst dich um nichts kümmern«, sagte Rosie. »Wir heiraten hier, in Aspen. Es tut mir leid, dass wir nicht unser übliches Familientreffen im Cottage abhalten, aber es wird magisch sein, die Feiertage hier zu verbringen. Erinnerst du dich an all die Jahre, die Katie und ich aus dem Fenster gestarrt und auf Schnee gehofft haben? Hier gibt’s mehr Schnee, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Weihnachten in Colorado wird himmlisch sein. Die Landschaft ist unglaublich, und es wird in jeder Hinsicht eine weiße Weihnacht.«

Weihnachten in Colorado.

Maggie starrte auf die altrosa Vorhänge, die auf den dunklen Eichenboden fielen. Sie hatte sie während der langen Nächte genäht, in denen sie über Rosie gewacht hatte.

»Du kommst Weihnachten also nicht nach Hause?« Warum hatte sie das gesagt? Sie wollte nicht zu den Müttern gehören, die ihren Kindern ständig Schuldgefühle machten. »Du heiratest, wo und wen du willst, aber ich denke nicht, dass sich in Aspen alles schneller organisieren lässt. Um eine Hochzeit in weniger als einem Monat auf die Beine zu stellen, müsste man zaubern können.«

»Wir können zaubern. Catherine, Dans Mutter, ist Hochzeitsplanerin und einfach großartig. Erst vor einer Stunde hat Dan mir den Antrag gemacht, und sie hat schon ein paar Anrufe getätigt und Blumen und den Hochzeitskuchen bestellt. Normalerweise betreut sie Promis und hat jede Menge Kontakte.«

»Oh, dann … toll.« Maggie fühlte sich, als wäre sie in einen Fluss gefallen und würde nun mitgerissen, hilflos und strampelnd. »Es macht ihr nichts aus, dir zu helfen?«

»Sie freut sich. Und sie hat einen tollen Geschmack. Alles wird perfekt sein.«

Maggie dachte an ihr eigenes, unperfektes Leben und fühlte einen Stich der Eifersucht. Wie konnte sie auf jemanden eifersüchtig sein, den sie nicht einmal kannte?

Vielleicht hatte sie eine Midlife-Crisis, aber hätte sie die nicht kriegen müssen, als Rosie ausgezogen war? Warum jetzt? Vermutlich litt sie unter einem verspäteten Empty-Nest-Syndrom.

Sie blinzelte, um wieder klar sehen zu können, und fragte sich, warum sie je geglaubt hatte, dass es einfach sein würde, Mutter zu sein.

Um sich auf das Praktische zu konzentrieren, machte sie im Geist eine Liste all der Dinge, die sie erledigen musste, um Weihnachten abzusagen. Der Kuchen würde bleiben, ebenso die Cranberrysoße, die in der Kühltruhe wartete. Bei einem Farmer aus der Region hatte sie einen Truthahn bestellt, aber vielleicht konnte sie den noch streichen.

Was allerdings nicht so leicht zu canceln war, waren ihre Erwartungen.

Die Whites kamen zu Weihnachten immer zusammen. Sie hatten ihre Traditionen, die einigen vielleicht seltsam erschienen, doch Maggie schätzte sie. Gemeinsam schmückten sie den Baum, sangen Weihnachtslieder, machten ein riesengroßes Puzzle und spielten alberne Spiele. Sie waren einfach zusammen. Das kam nicht oft vor, seit ihre Töchter erwachsen waren, und sie hatte sich darauf gefreut.

»Hast du es deiner Schwester schon erzählt?«

»Sie rufe ich als Nächste an. Nicht sehr wahrscheinlich, dass ich sie erreiche. Sie arbeitet ja immer. Aber ich möchte, dass sie meine Brautjungfer wird.«

Wie würde Katie reagieren? »Ja, deine Schwester würde sich selbst nicht als romantisch beschreiben.«

Manchmal fragte sich Maggie, ob die lange Zeit in der Notaufnahme das Menschenbild ihrer ältesten Tochter verzerrt hatte.

»Ich weiß«, sagte Rosie, »aber es geht hier ja nicht um irgendeine Hochzeit, sondern um meine. Für mich wird sie das sicher tun.«

»Du hast recht, das wird sie.« Katie war schon immer eine fürsorgliche und liebende ältere Schwester gewesen.

Maggie blickte auf das Foto, das auf ihrem Nachttisch stand. Die beiden Mädchen standen nebeneinander, hielten sich im Arm und drückten die Wangen aneinander, während sie in die Kamera sahen, sodass ihrer beider Lächeln fast verschmolz. Es war eines ihrer Lieblingsbilder.

»Ich weiß, dass du das Fliegen hasst, Mum, aber du wirst kommen, oder? Ich möchte euch alle so gern dabeihaben.«

Fliegen. Ja, das hasste Maggie.

Wenn in Gesprächen das Thema aufs Reisen kam, gab sie vor, Flüge zu vermeiden, um den Planeten zu retten, doch tatsächlich schützte sie nur sich selbst. Die Vorstellung, in einer Blechbüchse durch die Luft geflogen zu werden, versetzte sie in Panik. Alles schien außerhalb ihrer Kontrolle zu liegen. Was, wenn der Pilot am Abend zuvor zu viel getrunken hatte? Was, wenn sie mit einem anderen Flugzeug zusammenstießen? Jeder wusste, dass der Luftraum völlig überlastet war. Was war mit Drohnen? Oder Vogelschlag?

Als die Kinder klein gewesen waren, hatten sie und Nick sie in den Wagen verfrachtet und waren zum Strand gefahren. Einmal hatten sie die Fähre hinüber nach Frankreich genommen und waren bis nach Italien gefahren (nie wieder, hatte Nick gesagt, weil die Kinder sie den ganzen Weg von Paris bis Pisa im Chor mit Sind wir bald da? bombardiert hatten).

Und jetzt sollte sie über Weihnachten in die Rocky Mountains fliegen.

Und das würde sie tun. Selbstverständlich würde sie das tun.

»Wir werden da sein. Nichts kann uns davon abhalten.« Maggie verabschiedete sich von ihrem Traum einer Familienweihnacht im Cottage. »Aber was ist mit dem Veranstaltungsort? Wirst du so kurzfristig was finden können?«

»Wir werden die Hochzeit hier feiern, in Dans Zuhause. Seiner Familie gehört die Snowfall Lodge. Das ist dieses bezaubernde Boutique-Hotel kurz vor Aspen. Ich kann es kaum erwarten, dass ihr es seht. Der Ausblick hier ist wunderbar. Wälder und Berge, Außen-Whirlpools – kurz: der perfekte Ort für Weihnachten und der perfekte Ort zum Heiraten. Ich freue mich so sehr!«

Honeysuckle Cottage war der perfekte Ort für Weihnachten.

Maggie konnte sich nicht vorstellen, Weihnachten an einem Ort zu verbringen, den sie nicht kannte, noch dazu mit völlig unbekannten Menschen. Aber nicht nur das! Nein, es waren obendrein perfekte Menschen, die sie nicht kannte. Selbst bei der Aussicht auf Schnee fühlte sie sich nicht besser.

»Klingt, als hättest du an alles gedacht. Fehlt nur noch die Garderobe.«

»Ja, das wollte ich gerade ansprechen. Es ist in dieser Jahreszeit ziemlich kalt hier. Ihr werdet wirklich warme Kleidung brauchen.«

»Ich meinte deine Garderobe. Dein Hochzeitskleid.«

»Catherine nimmt mich morgen mit in ihren Lieblingsbrautladen. Sie hat einen Termin gemacht, damit wir den Laden für uns allein haben.«

Die wenigen Male, die Maggie an Rosies Hochzeit gedacht hatte, hatte sie sich vorgestellt, sie gemeinsam mit ihr zu planen, über Fotos in Zeitschriften zu grübeln und Kleider anzuprobieren.

Nicht ein einziges Mal hatte sie daran gedacht, dass die ganze Sache ohne sie stattfinden würde.

Und plötzlich wurde ihr klar, dass sich nur Weniges in ihrem Leben so entwickelt hatte, wie sie es geplant hatte.

Sie starrte auf die leere Bettseite neben sich.

»Das ist … nett von ihr.«

»Sie ist nett. Sie sagt, ich sei die Tochter, die sie nie hatte. Sie verwöhnt mich wirklich.«

Aber Rosie ist meine Tochter, dachte Maggie. Sie wollte diejenige sein, die sie verwöhnte.

Egal, wie sehr sie sich bemühte, es war unmöglich, nicht verletzt und ein bisschen gekränkt zu sein.

Schon jetzt fühlte sie sich eher wie ein Gast statt wie die Mutter der Braut.

Nein! Sie würde nicht zu dieser Art Mutter werden. Es war Rosies besonderer Tag und nicht ihrer. Ihre Gefühle spielten keine Rolle.

»Wie kann ich helfen?«

»Gar nicht. Kommt einfach hierher. Catherine kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen. Ich weiß, dass du sie ins Herz schließen wirst.«

Maggie fragte sich, was Rosie über sie erzählt hatte. Meine Mutter arbeitet bei einem Wissenschaftsverlag. Sie backt und gärtnert gern. Für eine prominente Hochzeitsplanerin klang das vermutlich so spannend wie eingeschlafene Füße.

»Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.«

»Kann ich mit Dad sprechen? Ich möchte seine Stimme hören.«

Maggie umfasste das Telefon fester. Darauf war sie nicht gefasst. »Ich … ähm … er ist im Moment nicht da.«

»Es ist mitten in der Nacht. Wie kann er nicht da sein?«

Panisch suchte Maggie nach einer plausiblen Erklärung. Sie konnte Nicks Stimme hören: Um Himmels willen, Mag, das ist absurd. Es ist an der Zeit, ihnen die Wahrheit zu sagen.

Doch die Wahrheit war das Letzte, was sie Rosie an ihrem Verlobungstag zumuten wollte.

Sie würde ihrer Tochter den großen Moment nicht verderben.

»Er ist spazieren gegangen.«

»Spazieren? Um drei Uhr morgens? Habt ihr euch doch noch einen Hund zugelegt oder was?«

»Nein. Dein Dad hat bis spätabends an einem Paper gearbeitet und konnte nicht schlafen. Aber er sollte gleich zurück sein.« Dass sie so abgebrüht log, schockierte sie etwas. Schließlich hatte sie die Mädchen immer dazu angehalten, die Wahrheit zu sagen.

»Er soll mich anrufen, sobald er zur Tür reinkommt.«

»Wirst du dann nicht schlafen?«

Sie hörte Gläserklingen, und Rosie kicherte. »Hier ist es erst acht Uhr abends. Sagst du ihm, dass er mich zurückrufen soll?«

Weil ihr keine Ausrede einfiel, versprach Maggie, dass Nick zurückrufen würde, und beendete das Gespräch.

Einen Moment lang blieb sie sitzen und ging dann zum Fenster. Draußen war es dunkel, doch der Mond tauchte die Dorfwiese in ein gespenstisches Licht.

Im Sommer wurde dort Cricket gespielt, im Winter waren die Bäume mit Lichterketten geschmückt, für die der Dorfrat zahlte. Vorschläge, den Verkehr durch das Dorfzentrum zu leiten, hatten für eine Protestwelle gesorgt.

Maggie nahm an, dass es in Aspen derlei Probleme nicht gab. Vermutlich musste dort niemand gegen den Verkauf der lokalen Buslinie kämpfen oder gegen den Plan, die Bibliothek nur noch zwei Tage die Woche zu öffnen.

Weil sie keine Alternative sah, nahm sie das Handy und wählte Nicks Nummer.

Es klingelte und klingelte, doch Maggie blieb hartnäckig. Als die Kinder klein gewesen waren, hatte sie Nicks Fähigkeit, unter allen Umständen zu schlafen, bewundert und ihn zugleich darum beneidet. Sie war jede halbe Stunde aufgestanden, als Rosie klein gewesen war, und hatte die Hauptlast der Asthmaanfälle getragen, auch wenn Nick zwischen seinen Reisen mal zu Hause gewesen war.

Schließlich nahm er ab. »Hallo?«

»Nick?«

»Maggie?« Seine Stimme war schlaftrunken, und sie sah ihn vor sich, wie er sich schüttelte wie ein Bär, der aus dem Winterschlaf erwacht.

»Du musst Rosie anrufen.«

»Jetzt? Mitten in der Nacht? Was ist los?« Das musste man ihm lassen: Er war sofort besorgt. »Ist sie im Krankenhaus?«

»Nein. Sie hat Neuigkeiten.« Sollte sie es ihm sagen oder es lieber Rosie überlassen? Schließlich entschied sie, es ihm selbst zu sagen. Nick neigte zu unverblümten Antworten, und sie wollte nicht, dass er Rosie diesen Moment verdarb. »Sie und Dan werden heiraten.« Sie hörte Glas klirren und Nick fluchen. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich habe ein Wasserglas umgestoßen.«

Nick war Professor für Ägyptologie, furchtbar intelligent und mit Alltagsgegenständen liebenswert ungeschickt. Zumindest hatte Maggie es am Anfang liebenswert gefunden. Mit den Jahren wurde es weniger liebenswert, nachdem er die Hälfte ihres Lieblingsgeschirrs aus chinesischem Porzellan zerbrochen hatte. Sie hatte gescherzt, dass er nicht wusste, wie man mit ganzem Geschirr umging, weil er beruflich nur mit Tonscherben zu tun hatte.

»Sie und Dan werden Weihnachten in Colorado heiraten.«

»Diese Weihnachten? Das in ein paar Wochen?«

»Genau das. Dans Familie besitzt ein Luxusresort. Ich habe vergessen, wie es heißt.«

»Snowfall Lodge.«

»Woher weißt du das?«

»Rosie hat es erwähnt, als sie mir von ihren Plänen für Thanksgiving erzählt hat. Herrje. Heiraten. Darauf war ich nicht vorbereitet. Unsere kleine Rosie. Tut immer das Unerwartete.« Es entstand eine Pause, in der sie ein Rascheln im Hintergrund hörte und das Klicken eines Lichtschalters. »Wie fühlst du dich?«

Traurig. Verloren. Verwirrt. Beklommen.

Allerdings war sie nicht sicher, wie viel diese Gefühle mit Rosies Neuigkeiten zu tun hatten.

»Es geht mir gut.« Die Lüge war genauso groß wie die, dass Nick immer noch im Bett neben ihr schlief. »Es ist Rosies Leben, und sie sollte tun, was sie will.«

»Was ist mit Weihnachten? Ich weiß, wie wichtig das für dich ist.«

»Wir werden trotzdem Weihnachten feiern, nur nicht im Honeysuckle Cottage. Die Hochzeit ist für Heiligabend geplant.« Sie schaffte es nicht ganz, das Zittern ihrer Stimme zu verbergen.

»Wirst du hinfahren?«

»Was für eine Frage ist das denn? Glaubst du ernsthaft, dass ich nicht zur Hochzeit meiner Tochter gehen würde?«

»Bis vor zwei Minuten habe ich noch gar nichts gedacht, erst jetzt, wo du es erwähnt hast. Ich weiß, wie sehr du Weihnachten im Cottage liebst und wie sehr du das Fliegen hasst. Ich weiß so ziemlich alles über dich.«

Sie dachte an die Akte, die sie auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte.

Nein. Er wusste nicht alles.

»Wenn meine Tochter in Aspen heiratet, dann werde ich ebenfalls da sein.«

»Wie? Mir ist es nie gelungen, dich in ein Flugzeug zu kriegen. Nicht mal für unsere Flitterwochen.«

»Ich werde einen Weg finden.« Sie konnte ein Flugangst-Seminar besuchen, doch das schien eine lächerliche Investition zu sein. Alkohol wäre billiger. Sie trank selten, deshalb würden zwei Gin Tonic sicher reichen. »Die Einzelheiten können wir später besprechen. Sie möchte, dass du zurückrufst, damit sie es dir persönlich sagen kann.«

Erneut entstand eine Pause. »Was glaubt sie, wo ich bin? Was hast du ihr erzählt?«

»Dass du einen Spaziergang machst, weil du nicht schlafen konntest.«

Durch das Telefon klang sein Stöhnen wie eine Anklage. »Das geht jetzt lange genug. Wir sollten es ihnen sagen, Mags.« Er klang müde. »Sie sind keine Kinder mehr und verdienen es, die Wahrheit zu erfahren.«

»Wir sagen es ihnen im richtigen Moment, und dieser Moment ist nicht gekommen, wenn deine jüngste Tochter dich voller Freude anruft, um dir zu sagen, dass sie heiraten wird.«

»In Ordnung, aber wir sagen es ihr, bevor wir in Colorado ankommen. Nächste Woche rufen wir sie gemeinsam an. Wir leben jetzt seit Monaten getrennt. Es ist an der Zeit, den Mädchen zu sagen, dass es vorbei ist.«

Vorbei.

Maggie spürte, wie ihr Hals eng wurde und es in ihrer Brust schmerzte.

Das lag daran, dass es mitten in der Nacht war. Um drei Uhr in der Früh schienen alle Dinge schlimmer zu sein.

»Katie sage ich es lieber persönlich, doch sie ist im Moment schwer erreichbar. Hast du in letzter Zeit von ihr gehört?«

»Nein, aber das ist nicht ungewöhnlich. Ihr zwei habt dieses Mutter-Tochter-Ding. Sie ruft immer dich an.«

Aber Katie hatte nicht angerufen – schon eine ganze Weile nicht mehr.

Bedeutete das, dass sie beschäftigt war oder dass etwas nicht stimmte?

»Ich werde es morgen wieder bei ihr versuchen. Normalerweise tut sie Weihnachten nichts anderes als schlafen und essen. Nach Aspen zu reisen ist vielleicht schwierig für sie.«

Schwierig für sie alle.

Eine Schwester, die nicht an die Ehe glaubte, und Eltern, die sich scheiden ließen.

Welche Art Hochzeit würde das werden?

KATIE

»Das ist alles, Sally. Wir sind fertig.« Katie zog ihre Latexhandschuhe aus und erhob sich. Die Stiche waren sauber, und sie war stolz, dass sie die bestmögliche Arbeit verrichtet hatte. Es würde eine Narbe bleiben, doch Katie wusste, dass Sally diese Nacht nie vergessen würde – mit oder ohne Narbe. »Gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen können?«

Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre linke Wange war verfärbt und angeschwollen, in ihren Augen lag Ernüchterung. »Ich hätte nie gedacht, dass mir das je passieren würde.«

Jetzt setzte Katie sich wieder. Ihre Schulter schmerzte vom zu langen Sitzen in einer Position, und sie rollte sie unauffällig vor und zurück, um die Verspannung zu lösen. »Das kann jedem passieren. Es liegt nicht an Ihnen, sondern an ihm. Es ist nicht Ihre Schuld.« Auch wenn sie wusste, dass die Frau ihr vermutlich nicht glaubte, war es wichtig, die Worte auszusprechen.

»Ich komme mir so dumm vor. Ich denke die ganze Zeit, dass mir etwas entgangen sein muss. Wir sind seit zwei Jahren zusammen. Seit vier Monaten verheiratet. Er hat so was noch nie vorher getan. Ich liebe ihn. Ich dachte, er liebt mich. Wir lernten uns kennen, als ich einen neuen Job hatte, und er war einfach umwerfend. Er schien perfekt.«

Katie fröstelte. »Perfekt« war nicht normal. Welches menschliche Wesen war perfekt? »Tut mir leid.«

»Es gab kein Zeichen. Keinen Hinweis.«

»Perfekt« war vielleicht das Zeichen gewesen. Aber vielleicht war sie abgestumpft.

In den vielen Jahren, die sie schon in der Notaufnahme arbeitete, hatte sie alles gesehen. Kinder, die missbraucht wurden. Frauen, die missbraucht wurden, und, ja, auch Männer, die missbraucht wurden. Sie hatte Menschen gesehen, die aufeinander eingestochen hatten, Menschen, die zu schnell gefahren waren und dafür den Preis gezahlt hatten, Menschen, die getrunken hatten und sich dann hinters Steuer gesetzt und ein Leben genommen hatten. Natürlich gab es auch viele alltägliche Unfälle, außerdem Herzinfarkte, Gehirnblutungen und unzählige akute Notfälle, die sofortigen Einsatz verlangten. Und dann gab es noch die Menschen, die die Notaufnahme für die bequemste Möglichkeit hielten, um banalste Probleme medizinisch behandeln zu lassen. Jeden Tag war sie mit einem bunten Querschnitt von Menschen konfrontiert, manche davon gut, manche nicht so gut.

»Als wir uns kennenlernten, war er freundlich und fürsorglich. Liebevoll. Aufmerksam.« Sally wischte sich die Tränen von der Wange. »Ich versuche nicht zu weinen, weil das Weinen wehtut. Die körperlichen Verletzungen sind schlimm, aber das Schlimmste ist, dass das Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit erschüttert ist. Sie müssen das schon öfter gesehen haben. Ich kann nicht glauben, dass ich die Erste bin.«

Katie reichte ihr ein Taschentuch. »Sie sind nicht die Erste.«

»Wie kommen Sie damit klar? Hier zu arbeiten bedeutet sicher, das Schlimmste im Menschen zu sehen.«

Genau in diesem Moment spürte Katie ein quälendes Stechen in ihrer Schulter. Ja, sie bekam das Schlimmste im Menschen zu sehen. Sie musste sich erst in Erinnerung rufen, dass sie auch das Beste zu sehen bekam, und fragte sich, wie es mit dieser Frau weitergehen würde. Mit dieser Ehe. Würde sie ihrem Mann vergeben? Würde sich der Kreislauf wiederholen? »Was wollen Sie tun? Haben Sie einen Plan?«

»Nein. Bis er mich die Treppe runtergeworfen hat, wusste ich nicht, dass ich einen brauche.« Sally putzte sich die Nase. »Das Haus gehört mir, doch im Moment fühle ich mich dort nicht sicher. Vermutlich bleibe ich eine Zeit lang bei meinen Eltern. Er will mit mir sprechen. Ich glaube, ich sollte zumindest zuhören.«

Katie wollte ihr sagen, dass sie nicht zurückgehen sollte, doch es war nicht ihre Aufgabe, Ratschläge zu erteilen. Ihr Job war es, die körperlichen Schäden zu versorgen. Sally dabei zu helfen, mit den emotionalen Wunden umzugehen und die eigene Kraft zurückzuerlangen, lag in der Verantwortung von anderen. »Die Polizei möchte mit Ihnen sprechen. Fühlen Sie sich bereit?«

»Nicht wirklich, aber es ist wichtig, also tue ich es. Dies sollte unser erstes gemeinsames Weihnachten werden.« Sally steckte das Taschentuch in ihren Ärmel. »Ich hatte alles geplant.«

Die Jahreszeit schien ihren Schmerz noch zu vergrößern, doch Katie wusste aus Erfahrung, dass Tragödien keine Weihnachtspause machten.

Jemand öffnete die Tür. »Dr. White! Wir brauchen Sie.«

Die Samstagabende in der Notaufnahme waren nichts für Feiglinge, auch wenn das neuerdings nicht nur für die Samstage galt. Jeder Abend war verrückt.

»Okay, bin gleich da.« Sie sah die Schwester an, die ihr assistiert hatte. »Stellen Sie bitte sicher, dass Sally alle nötigen Informationen bekommt?« Dann wendete sie sich wieder ihrer Patientin zu. »Wenn Sie bereit sind, gibt es Menschen, mit denen Sie sprechen können. Menschen, die Ihnen helfen können.«

»Aber niemand kann die Uhr zurückdrehen. Niemand kann ihn in den Mann zurückverwandeln, für den ich ihn gehalten habe.«

Katie fragte sich, ob Sallys schlimmste Wunde wohl die Erschütterung ihres Glaubens war. Wie sollte sie jemals wieder einem Mann vertrauen können? »Ich hoffe, alles geht gut aus für Sie.«

Natürlich würde Katie das nicht erfahren. Dieser Ort war wie ein Traumata-Fließband. Sie behandelte alles, was durch die Tür kam, und wandte sich dann dem nächsten Notfall zu. Hier gab es keine Langzeitversorgung.

»Sie waren sehr freundlich. Ihre Eltern müssen stolz auf Sie sein.«

»Dr. White!«

Katie biss die Zähne zusammen. Tatsächlich musste Mitgefühl in ein winziges Zeitfenster gequetscht werden. Sie waren unterbesetzt, und eine lange Reihe von Patienten wartete auf sie. Also lächelte sie Sally erneut zu und verließ den Raum.

Wären ihre Eltern stolz, wenn sie ihr Leben in den letzten Wochen verfolgt hätten? Vermutlich nicht.

Vermutlich enttäuschte sie sie – genau wie sich selbst.

Sie blickte zu der Schwester, die im Flur wartete. »Gibt es ein Problem?«

»Der Typ, der Blut hustet …«

»Mr. Harris.«

»Ja. Harris. Wie machen Sie das? Wie merken Sie sich jeden Namen, obwohl Sie keine Minute mit der Person gesprochen haben?«

»Ich möchte eine unmenschliche Erfahrung so menschlich wie möglich machen. Was ist mit ihm?«

»Seine Testergebnisse sind da. Dr. Mitford hat ihn sich angeschaut und sagt, dass er aufgenommen werden muss, aber wir haben kein freies Bett.«

Wann hatten sie jemals keinen Bettenmangel? Eher fand man ein Einhorn in seinem Weihnachtsstrumpf als ein freies Bett in der Notaufnahme. Die Nachfrage überstieg das Angebot. Ein Patient, den sie zu Beginn ihrer Schicht behandelt hatte, wartete noch sechs Stunden später auf ein Bett. Da die Gefahr bestand, sich mit einem Krankenhauskeim zu infizieren, schickte Katie die Leute nach Möglichkeit immer nach Hause. »Haben Sie seine Tochter erreicht? Ist sie auf dem Weg?«

»Ja und ja.«

»Rufen Sie mich an, wenn sie eintrifft. Ich werde mit ihr reden. Er könnte zu Hause besser dran sein, wenn sich jemand um ihn kümmert.« Und es wäre besser für seine Würde. Seinen Papieren hatte sie entnommen, dass er CEO im Ruhestand war. Früher hatte er vermutlich eine ganze Firma herumkommandiert. Nun war er das Opfer menschlicher Hinfälligkeit. Egal, wie viel sie zu tun hatte, sie rief sich in Erinnerung, dass das Eintreffen in der Notaufnahme einer der stressigsten Momente im Leben eines Menschen war. Was für sie Routine bedeutete, ängstigte die Patienten oft sehr.

Sie vergaß nie, wie es für ihre Mutter gewesen war, mit Rosie im Krankenhaus zu sein.

Rasch hintereinander behandelte Katie drei Patienten und wurde dann von einer Schwindelattacke erfasst.

Das war in den letzten Wochen schon mehrmals passiert und ängstigte sie allmählich. Sie musste bei der Arbeit ihr Bestes geben, und das gelang ihr immer seltener.

»Ich hole mir rasch einen Kaffee, bevor ich umkippe.« Sie drehte sich um und lief direkt in einen Kollegen hinein.

»Hey, Katie.« Mike Bannister war an der medizinischen Fakultät in ihrem Jahrgang gewesen, und sie waren Freunde geblieben.

»Wie waren die Flitterwochen?«

»Lass es mich so sagen: Zwei Wochen in der Karibik waren nicht genug. Was machst du bei der Arbeit? Nach dem, was passiert ist, dachte ich … Bist du sicher, dass du hier sein solltest?«

»Es geht mir gut.«

»Hast du ein paar Tage freigenommen?«

»Ich brauche mir nicht freizunehmen.« Sie zwang sich, langsam zu atmen, und hoffte, dass Mike weitergehen würde.

Er blickte sich um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. »Du bist sehr gestresst und am Ende deiner Kräfte. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Ach, das bildest du dir nur ein.« Ja, sie war sehr gestresst. »Vermutlich ist mein Blutzucker zu niedrig. Ich bin unleidlich, wenn ich hungrig bin, und ich hatte keine Pause, seit ich vor sieben Stunden hier reingekommen bin. Das werde ich jetzt ändern.«

»Du bist auch nur ein Mensch, Katie.« Mikes Blick ruhte auf ihrem Gesicht. »Was geschehen ist, war schrecklich. Beängstigend. Niemand würde es dir übelnehmen, wenn …«

»Sorg dich um die Patienten, nicht um mich. Es gibt genug von ihnen.« Katie versuchte, den Schmerz in ihrer Schulter und ihr Herzrasen zu ignorieren. Sie wollte nicht daran denken, und sie wollte schon gar nicht darüber sprechen.

Sie hatte einmal mitgehört, wie ihre Mutter zu jemandem gesagt hatte: »Katie ist robust wie ein Fels.«

Bis vor einem Monat hätte sie dem nicht widersprochen.

Jetzt fühlte sie sich alles andere als robust. Sie war am Ende ihrer Belastbarkeit, und es wurde immer schwieriger, das vor ihren Kollegen zu verbergen. Allein der Gedanke, zur Arbeit zu gehen, brachte sie an den Rand einer Panikattacke, und dabei hatte sie nie an Panikattacken gelitten.

Ihre Mutter rief weiter an, um ein Mittagessen vorzuschlagen, und sie hielt sie weiter hin, weil sie Angst hatte, vor ihr zusammenzubrechen.

»Tut mir leid.« Ein Pfleger rempelte sie an, während er von einem Ende der Abteilung zum anderen rannte, und das Heulen einer Sirene sagte ihr, dass das Arbeitsaufkommen so bald nicht nachlassen würde.

»Die Sanitäter bringen eine hässliche Kopfverletzung. Und diese Filmcrew macht mich wahnsinnig«, sagte Mike.

Die Filmcrew hatte Katie ganz vergessen. Sie arbeiteten an einer Reportage über Notfallmediziner, und Katie nahm an, dass sie allmählich wünschten, ein anderes Objekt ausgesucht zu haben.

Am ersten Tag war der Kameramann in Ohnmacht gefallen, als er mit den Folgen eines besonders hässlichen Autounfalls konfrontiert worden war. Er hatte sich den Kopf an einem Rollwagen aufgeschlagen, und sie hatte die Wunde mit sechs Stichen genäht. Seine Kollegen hatten es saukomisch gefunden, dass er auf der anderen Seite der Kamera gelandet war, doch sie hätte gut ohne die zusätzliche Arbeit leben können.

»Es ist wie ein Kriegsgebiet«, hatte einer der Journalisten etwas früher am Abend gesagt, und in Anbetracht der Tatsache, dass er tatsächlich mal in einem Kriegsgebiet gewesen war, wollte ihm niemand widersprechen. »Kein Wunder, dass ihr unterbesetzt seid. Warst du nie versucht, die ganze Sache hinzuschmeißen und Dermatologin zu werden?«

Katie hatte nicht geantwortet. Sie war versucht, vieles zu tun, und das beunruhigte sie allmählich.

Medizin war ihr Leben. An dem Abend von Rosies erster Asthma-Attacke hatte sie sich entschieden, Ärztin zu werden. Ihr Vater war nicht da, und Katie war zu jung gewesen, allein zu bleiben, sodass sie mit ins Krankenhaus gefahren war.

Sofort war sie fasziniert gewesen von den piependen Maschinen, dem leisen Zischen des Sauerstoffs und dem erfahrenen Arzt, der ihrer kleinen Schwester half, wieder zu atmen.

Mit achtzehn hatte sie sich an der medizinischen Fakultät eingeschrieben. Mehr als zehn Jahre später war sie noch immer dabei, sich als Ärztin nach oben zu arbeiten. Sie mochte ihre Kollegen, und sie liebte das Gefühl, dass sie ihre Arbeit gut machte. Doch in letzter Zeit hatte sie dieses Gefühl seltener als früher. Sie wollte mehr für ihre Patienten tun, doch es mangelte an Zeit und Ressourcen. Die Grenzen des Jobs frustrierten sie zunehmend, und sie fragte sich, ob die Arbeit noch richtig für sie war.

Doch der Zeitpunkt, sich diese Frage zu stellen, war vor zwölf Jahren gewesen, nicht jetzt.

Sie wandte sich von Mike ab.

Ein Assistenzarzt lungerte in der Nähe herum und wartete auf die Gelegenheit, einen Fall zu besprechen, doch bevor sie den Mund öffnen konnte, traf die betrunkene Kopfverletzung ein. Der Mann war blutbedeckt und jaulte wie ein verwundetes Tier.

Erst eine Stunde später hatte sie endlich Zeit für den Pausenraum, wo sie sich einen Proteinriegel und einen Kaffee gönnte, während sie ihr Handy checkte.

Sie hatte drei entgangene Anrufe von ihrer Schwester. Mitten in der Nacht?

Sie schlang den Rest des Riegels hinunter und rief zurück, wobei sie sich damit beruhigte, dass ihre Schwester durchaus fähig war, mitten in der Nacht anzurufen, um zu sagen, dass sie mit Ballett anfing oder sich entschieden hatte, einen Marathon zu laufen.

Bitte lass es nur so was sein.

Wenn ihrer Schwester irgendetwas zugestoßen sein sollte, wäre das ihr Ende.

»Rosie?« Sie warf das Papier in den Mülleimer. »Bist du im Krankenhaus?«

»Um Himmels willen, kann eine Frau nicht mal ihre Familie anrufen, ohne dass alle annehmen, sie sei im Krankenhaus? Was ist los mit euch?«

Erleichterung durchflutete sie. »Wenn du deine Familie um vier Uhr morgens anrufst, musst du diese Reaktion einkalkulieren.« Katie entschied, sich fünf Minuten Ruhe zu gönnen, und streifte ihre Schuhe ab. »Dann ist das hier ein normaler Anruf?« Sie beäugte den Stuhl, fürchtete aber, dass sie nicht wieder hochkam, wenn sie sich erst hingesetzt hatte.

»Nicht ganz. Ich rufe an, weil ich wichtige Neuigkeiten habe und dich um etwas Spezielles bitten möchte.«

»Wichtige Neuigkeiten?« Warum klangen diese Worte so bedrohlich, wenn ihre Schwester sie aussprach? »Du wirfst dein Studium hin und reist nach Peru?«

Rosie lachte, denn es hatte eine Zeit gegeben, als sie genau das erwogen hatte. »Nein. Du darfst noch mal raten.«

Bei Rosie konnte es alles sein.

»Du hast mit Irish Dance angefangen und ziehst jetzt in eine Leprechaun-Kolonie.«

»Wieder falsch. Ich werde heiraten!«

Katie verschüttete ihren Kaffee auf Rock und Beine. »Scheiße.«

»Ich weiß, dass du keine ausgesprochene Romantikerin bist, aber ich kann nicht glauben, dass das dein Kommentar dazu ist.«

»Das war, weil ich mich gerade verbrüht habe, nicht wegen deiner Neuigkeit.« Früher hatte sie nie geflucht, doch die Jahre in der Notaufnahme hatten sie verändert. »Was hast du gesagt?« Sie griff nach einem Tuch und wischte den Kaffee auf. »Du willst heiraten? Wen?«

»Was meinst du mit wen? Dan natürlich.«

»Weiß ich von Dan?« Katie hatte den Überblick über die Beziehungen ihrer Schwester verloren. »Oh, warte, ich erinnere mich, dass du ihn erwähnt hast. Er ist dein aktueller Freund.«

»Nicht nur mein aktueller, sondern mein letzter. Er ist der eine.«

Katie verdrehte die Augen und war erleichtert, dass es kein Video-Anruf war. »Das dachtest du bei Callum Parish auch.«

»Er war mein erster Freund. Den liebt man immer.«

Katie hatte ihren ersten Freund nicht geliebt. Sie war noch nie verliebt gewesen und ziemlich sicher, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.

»Was ist sein Problem?«

»Was soll das heißen?«

»Du suchst dir immer Männer aus, die eine schwierige Phase durchmachen. Du liebst es, Leute zu retten.«

»Das stimmt nicht. Und Dan hat kein Problem, außer vielleicht, dass seine zukünftige Schwägerin verrückt ist.«

Zukünftige Schwägerin. Katie bemühte sich, das in ihren Kopf zu kriegen. »Warum heiratest du ihn, wenn er kein Problem hat?«

»Weil ich ihn liebe!«

Liebe. Eine Krankheit mit ungewisser Prognose, die oft ohne Vorwarnung zuschlug.

»Ich prüfe nur, ob du nicht zu irgendwas gedrängt wirst, das ist alles. Es ist wichtig, dass du es aus den richtigen Gründen tust.« Katie fiel zwar kein vernünftiger Grund ein, aber sie war bereit, ihre eigenen Grenzen auf diesem Gebiet zu akzeptieren. Rosie hatte recht. Sie war keine Romantikerin. Sie sah keine romantischen Filme, las keine Liebesromane. Und von Hochzeiten träumte sie schon gar nicht. Sie lebte ein Leben, das von der Realität durchtränkt war. Happy Ends sah sie nur äußerst selten.

»Kannst du dich nicht für mich freuen?«

»Ich bin deine große Schwester. Mein Job ist es, dich zu beschützen.«

»Wovor?«

»Vor jedem und vor allem, was dir schaden könnte. In diesem Fall vor dir selbst. Du bist impulsiv, liebenswert und einfach entzückend und das optimale Ziel für jede Pfeife.«

»Dan ist keine Pfeife.«

»Vielleicht nicht, aber du siehst in niemandem das Schlechte. Und … Wie soll ich das sagen, ohne dich zu kränken? Bei Männern beweist du keine gute Menschenkenntnis.«

»Jetzt kränkst du mich ja doch. Und ›entzückend‹ hört sich übrigens an, als würdest du von einem Welpen sprechen, der in eine Pfütze gefallen ist. Das ist kein Kompliment für jemanden, der eine akademische Karriere verfolgt. Du nimmst mich nie ernst. Vielleicht bin ich keine erfolgreiche Ärztin wie du, aber ich studiere in Harvard und promoviere. Manche Menschen sind davon beeindruckt.«

»Ich nehme dich ernst.« Tat sie das? »Und es ist möglich, entzückend und klug zugleich zu sein. Ich weiß, dass manche Menschen davon beeindruckt sind, weshalb ich dich auf den Boden der Tatsachen runterholen muss, damit dir dieses ganze Ivy-League-Ding nicht zu Kopf steigt. Und deshalb sollten wir uns daran erinnern, dass du Märchen studierst, was im Prinzip dein ganzes Leben zusammenfasst.« Das war ein alter Familienscherz, doch Katie durchzuckte ein Schuldgefühl, als sie es sagte. Vielleicht hatte sie diesen Scherz schon zu oft gemacht.

»Ich studiere Keltische Sprachen, Volkskunde und Mythologie. Keine Märchen.«

»Ich weiß, und ich bin stolz auf dich.« Katies Stimme wurde weicher. Sie war tatsächlich stolz auf ihre Schwester. »Und ich liebe dich und möchte dich beschützen.«

»Ich brauche keinen Schutz. Ich liebe ihn, Katie. Dan ist … er ist … unglaublich. Er ist witzig, liebenswürdig und so entspannt, dass es einfach nicht zu glauben ist, und er küsst wie ein Gott. Ich dachte nie, dass ich so empfinden könnte.«

»Du kannst einen Kerl nicht heiraten, nur weil er gut im Bett ist.« Es war so lange her, dass sie mit jemandem im Bett gewesen war – ob gut oder nicht –, dass sie vermutlich nicht das beste Urteilsvermögen hatte.

»Das ist alles, was von dem, was ich sagte, bei dir angekommen ist? Er ist so viel mehr als das. Er ist perfekt für mich.«

Nachdem sie gerade Sally behandelt hatte, läuteten die Alarmglocken ohrenbetäubend laut in Katies Ohren. »Niemand ist perfekt. Wenn er perfekt wirkt, liegt das entweder daran, dass er sich bemüht, etwas zu verbergen, oder dass du noch nicht lange genug mit ihm zusammen bist, um seine Fehler zu sehen. Denk an Sam.«

»Ich habe dir gerade gesagt, dass ich heiraten werde, und du musst Sam erwähnen? Hältst du das wirklich für den richtigen Zeitpunkt?«

»Du hast Sam angebetet und ihn übrigens auch für den einen gehalten, bis du entdeckt hast, dass er mit zwei deiner Freundinnen geschlafen hat.«

»Menschen benehmen sich manchmal schlecht. So ist das Leben.«

»Nimmst du ihn in Schutz?«

»Nein, aber wir waren auf dem College. Da drehen alle ein bisschen durch.«

»Er hat dir wehgetan, Rosie. Du hast so sehr geweint, dass du den schlimmsten Asthma-Anfall bekamst, den du je hattest. Nie werde ich diese verrückte Fahrt nach Oxford vergessen. Und wie ich Mum angelogen habe, weil du mich gebeten hattest, es ihr nicht zu erzählen.« Ihre Mutter kannte weniger als die Hälfte der Vorfälle mit Rosie, seit diese ausgezogen war. Manchmal spürte Katie diese Last, denn sie sah die ungefilterte Version von Rosies Leben.

»Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich macht. Das hat sie einfach schon genug getan.«

»Und dann war da … Wie war doch gleich sein Name? James. Er bestand darauf, dass du zahlst, wenn ihr zusammen wart.«

»Er hatte nicht viel Geld.«

»Er war ein Schmarotzer.« Sie hatte Rosie Geld leihen müssen, doch das erwähnte sie nicht. Es ging nicht um Geld, sondern um ein beeinträchtigtes Urteilsvermögen.

»Dan ist anders.« Rosie blieb stur. »Das wirst du sehen, sobald du ihn kennenlernst.«

»Großartig. Wann kann ich ihn kennenlernen?« Wenn es nach ihr ging: je früher, desto besser. Verlobungen konnte man auflösen, oder? Beziehungen gingen immer wieder zu Ende, vor allem Rosies.

»Deshalb rufe ich an. Wir heiraten Weihnachten, direkt hier in Aspen. Kannst du dir etwas Romantischeres vorstellen? Blauer Himmel und Schnee.«

»Diese Weihnachten? Das Weihnachten, das in weniger als einem Monat stattfindet? Machst du Witze?«

»Warum sind alle so überrascht?«

»Weil man eine Hochzeit normalerweise mehr als ein paar Wochen vorher ankündigt und du ihn erst seit ein paar Monaten kennst.« Das Bild von Sallys wundem, tränenüberströmtem Gesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Es gab kein Zeichen. Keinen Hinweis. »Weiß Mum es?«

»Ja, ich habe sie zuerst angerufen. Sie war begeistert. Dad ebenfalls.«

Katie war ziemlich sicher, dass ihre Mutter eine Panikattacke bekommen hatte. »Warum die Eile? Warum nicht noch ein wenig warten?«

»Weil wir das so bald wie möglich tun wollen. Und ich wünsche mir wirklich, dass du dabei bist. Die Schwarzmalerei kannst du zu Hause lassen.«

»Es tut mir leid.« Katie schluckte. Ihre Schwester zu verletzen war das Letzte, was sie wollte. »Ich hatte ein paar harte Wochen bei der Arbeit, das ist alles. Ignorier mich. Natürlich werde ich zu deiner Hochzeit kommen. Du bist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin. Ich würde die Hochzeit um nichts in der Welt verpassen wollen. Verzeih mir.«

»Es gibt nichts zu verzeihen. Ich weiß, dass du dich um mich sorgst.« Rosies Stimme war weich und warm. Angesichts ihrer großzügigen Reaktion fühlte Katie sich noch schlechter.

Die Fähigkeit ihrer Schwester, menschliche Unzulänglichkeiten zu verzeihen, war sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche. Sie machte sie anfällig für jeden Loser und jeden Mistkerl, der ihr über den Weg lief.

Gehörte Dan dazu?

»Wie ist der Plan? Muss ich irgendeine Unterkunft buchen?« Der Gedanke an Reisevorbereitungen saugte ihr die letzte Energie aus. »Was ist mit Mum und Dad?«

»Sie kommen natürlich auch. Und abgesehen von eurem Flug ist alles arrangiert. Dans Familie gehört dieses großartige Hotel in den Bergen. Das wird der schönste Urlaub, den du je hattest.«

Katie hatte vor Weihnachten gegraut. Sie hatte sich gefragt, wie sie während dieses Familienfests die Fassade aufrechterhalten konnte. Normalerweise liebte sie diese Zeit. Sie schlief gern aus und genoss die leckeren Mahlzeiten ihrer Mutter. Sie quatschte mit ihrem Vater und ließ sich von seiner Arbeit erzählen. Doch jetzt war alles anders. An einem dunklen, regnerischen Abend vor ein paar Wochen hatte sich ihr Leben für immer verändert.

Jetzt fühlte sie sich ausgelaugt. War sie wirklich in der Lage, nach Aspen zu fliegen und ein fröhliches Gesicht aufzusetzen?

»Wann sollen wir kommen?«

»Die Hochzeit wird an Heiligabend sein, deshalb dachten wir, dass ihr alle eine Woche vorher kommt, um Dan und seine Familie kennenzulernen. Dann könnt ihr über Weihnachten bleiben und vor Neujahr wieder zurückfliegen – oder wann immer ihr wollt. Ach Katie, ich bin so aufgeregt! Ich kann mich nicht zwischen einer Fahrt mit dem Pferde- oder dem Hundeschlitten für die Gäste entscheiden.«

»Na, zerbrich dir meinetwegen nicht den Kopf. Ich laufe gern.«

»Hier liegt schon meterweise Schnee. Es ist ein Winterwunderland. Du wirst sehen, dass Laufen hier gar nicht so einfach ist.«

»Laufen gehört zu den wenigen Dingen, in denen ich hervorragend bin. Ich habe jahrelange Übung.«

»Ich möchte, dass du meine Brautjungfer bist. Meine Trauzeugin. Nenn es, wie du willst.«

Katie wollte es gar nicht benennen. Warum konnte ihre Schwester nicht begreifen, dass diese Hochzeit ein riesengroßer Fehler war?

»Bist du sicher? Vermutlich hinterlasse ich einen schmutzigen Fußabdruck auf deinem Kleid. Ich weiß nicht viel über Hochzeiten.« Noch weniger wusste sie über die Pflichten einer Brautjungfer, doch Spielverderberin zu sein gehörte vermutlich nicht dazu.

»Du musst nur lächeln und mir beistehen. Du kannst Mum beatmen, wenn sie im Flugzeug eine Panikattacke bekommt. Tut mir leid, dass ich ihr das Familienweihnachten verderbe. Du weißt, wie wichtig es für sie ist, alle zusammenzuhaben. Ich vermisse dich. Wir haben seit Ewigkeiten nicht mehr gequatscht. Ich habe mich sogar schon gefragt, ob du mir aus dem Weg gehst.«

»Das ist ja lächerlich. Ich bin beschäftigt, das ist alles.«

Erzähl ihr, was dir passiert ist. Erzähl ihr, dass du das Gefühl hast, als würde die Welt um dich herum einstürzen.

Sie wusste, dass Rosie entsetzt wäre. So wie sie ihre mitfühlende Schwester kannte, würde sie vermutlich den nächsten Flug nehmen und zu ihr kommen.

Katie blinzelte. Sie war diejenige, die auf Rosie aufpasste, nicht umgekehrt.

Sie war Rosies Fels in der Brandung. Und nie hatte Rosie ihre Unterstützung und ihren Rat so sehr gebraucht wie jetzt.

Genau hier und jetzt fällte sie die Entscheidung.

Vergiss Weihnachten. Vergiss Entspannung. Vergiss die eigenen Probleme.

Die erste Priorität bestand darin, ihre kleine Schwester vor einem großen Fehler zu bewahren, der sie ins Elend stürzen würde.

»Ich würde die Hochzeit um nichts in der Welt verpassen.« Sie musste Dan persönlich kennenlernen und einen Weg finden, ihre Schwester vor sich selbst zu schützen. Und wenn ihr das früh genug gelang, dann konnten sie vielleicht immer noch rechtzeitig zu Hause sein, um Weihnachten im Honeysuckle Cottage zu verbringen.

Mit Glück würde ihre Mutter so sehr auf Rosie fokussiert sein, dass sie nicht bemerkte, dass mit Katie etwas nicht stimmte. »Ich kann es kaum erwarten, Brautzeugin zu sein oder wie immer das heißt. Ich bitte nur um eins: Quetsch mich nicht in dunkelrotes Polyester. Ich möchte nicht statisch aufgeladen sein. Und gib nicht zu viel Geld aus.« Weil diese Hochzeit nicht stattfinden wird. Sie drehte sich um, als die Tür geöffnet wurde und Mike hereinkam. »Ich muss los. Bin auf der Arbeit.«

»Ich bin stolz auf dich. Katie. Ich erzähle jedem, dass meine große Schwester Ärztin ist.«

Die große Schwester bricht gerade zusammen.

Sie war eine Hochstaplerin. »Geh, und hab Spaß. Aber nicht so viel Spaß, dass du deinen Inhalator vergisst.«

»Katie …«

»Ich weiß. Ich bin die Inhalator-Polizei. Stürz dich in Partys. Lebe das Leben. Ich ruf dich morgen an.« Sie beendete das Gespräch und streifte sich wieder ihre Schuhe über.

Fragend hob Mike eine Augenbraue. »Es geht doch nichts über Ratschläge, die man selbst nicht befolgt. Wann bist du das letzte Mal zu einer Party gegangen und hast das Leben gelebt?«

»Ich feiere Party in meinem Kopf. Im Moment bin ich auf einer virtuellen Party.«

»Gehört dazu auch ein virtueller Kater? Wer heiratet?«

»Meine Schwester. In weniger als vier Wochen.«

»Das ist die Schwester, die Märchen studiert?«

Katie zuckte zusammen. »Ich habe diesen Witz vielleicht überstrapaziert. Sie studiert Keltische Sprachen, Mythologie und Volkskunde an einem Ivy-League-College. Vermutlich würde sie behaupten, dass es zum Verständnis der Kultur und des Glaubens einer Gesellschaft beiträgt. Das war schon Thema vieler lebhafter Auseinandersetzungen am Esstisch. Sie ist wirklich sehr klug, doch für mich ist sie immer noch meine kleine Schwester, und ich ziehe sie zu oft auf.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Mir ist, als hätte ich ihr erst gestern Bilderbücher vorgelesen.«

»Großer Altersunterschied?«

»Zehn Jahre. Ich glaube, meine Eltern hatten es schon aufgegeben, ein zweites Kind zu kriegen, und dann kam Rosie.«

»Und du hast eine gehörige Portion Eifersucht entwickelt?«

»Was?« Katie starrte ihn an. »Nein. Ich habe sie vergöttert. Schon vom ersten Moment an, als ich ihr lustiges haarloses Köpfchen sah.« Sie dachte an Rosie, ein hinreißendes Kleinkind, das ihr überallhin gefolgt war. Rosie in ihrem Lieblingsdinosaurierschlafanzug. Rosie, die bei einem Asthma-Anfall blau wurde. »Ich gebe zu, dass ich wohl etwas gluckenhaft bin, weshalb ich jetzt nach Colorado fliege, um den Kerl kennenzulernen.«

»Du hast ihn noch nicht getroffen?«

»Nein. Und sieh mich nicht so an. Ich bin sowieso schon außer mir. Sie kennen sich erst seit ein paar Monaten. Was kann man in ein paar Monaten schon über jemanden erfahren? Was, wenn er ein Spieler ist oder ein Narzisst? Er könnte Psychopath sein. Vielleicht ein Serienmörder.«

Mike lehnte sich an die Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dr. Unheil. Immer die Optimistin.«

»Ich bin nicht Dr. Unheil. Dank der Jahre, die ich hier arbeite, bin ich Dr. Realität. Die Realitäten des Lebens vor der Nase zu haben heilt jeden Optimismus. Es gibt nichts Verlässliches im Leben, das wissen wir beide.«

»Ein Grund mehr, die glücklichen Momente zu genießen, wenn man ihnen begegnet.«

»Hast du das wirklich gesagt? Falls man dich als Arzt feuert, könntest du Grußkarten texten.« Sie trank ihren Kaffee aus und ging zur Tür.

»Katie …«

»Was?« Sie drehte sich um und sah den besorgten Ausdruck in seinem Gesicht.

»Weiß deine Familie, was dir passiert ist?«

»Nein, und es gibt keinen Grund, es ihnen zu sagen.«

»Sie könnten dir helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe. Ich bin mir Hilfe genug.« Ihre Eltern hatten genug Hilfe geleistet in ihrem Leben. Es war an der Zeit, dass sie ihre Zweisamkeit genossen.

»Vielleicht tut es dir gut, ein paar Wochen an der frischen Luft zu sein und Bergluft zu atmen.«

»Vielleicht.« Sie verdrängte seine besorgte Miene und schloss die Tür hinter sich.

Frische Luft war egal. Bergluft war ihr egal. Sogar ein weißes Weihnachten war ihr egal.

Sie würde nur aus einem einzigen Grund nach Colorado fliegen.

Um die Hochzeit ihrer Schwester zu verhindern.

MAGGIE

Mit einem starken Kaffee bewaffnet, gab Maggie Catherines Namen in die Suchmaschine ein.

Es gab Bilder von Dans Mutter bei einer Benefizveranstaltung in Manhattan, schlank wie ein Model und die blonden Haare elegant aufgesteckt, passend für einen Auftritt auf dem roten Teppich.

Bedrückt scrollte Maggie durch ein Dutzend weiterer Bilder.

Catherine, wie sie eine fast senkrechte Skipiste in Aspen hinunterfuhr.

Catherine, die auf dem Gipfel des Kilimandscharo triumphierend die Faust in die Höhe reckte und zu Spenden für eine Stiftung gegen Herzkrankheiten aufrief.

Catherine, die in einem figurbetonten schwarzen Kleid zu einem Meeting eilte, den Terminkalender unter den Arm geklemmt.

In einem früheren Gespräch hatte Rosie ihr erzählt, dass Catherines Mann überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war, als Dan noch auf dem College studiert hatte. Die Familie war am Boden zerstört gewesen angesichts des Verlusts, doch Catherine hatte sich gezwungen, nach vorn zu sehen.

Maggie vergrößerte das Bild. Diese Frau sah nicht gebrochen aus. Es gab keinerlei Anzeichen von Trauer oder Sorge. Keine Falte auf der Stirn. Kein silbernes Haar. Wie konnte jemand einen solchen Schicksalsschlag erleben und dabei so gefasst aussehen? Ein führendes US-Magazin hatte einen Artikel über sie veröffentlicht mit der Überschrift: »Von der Tragödie zum Triumph.« Maggie las ihn von Anfang bis Ende und erfuhr, dass Catherine Reynolds ihr Hochzeitsgeschäft nach dem Tod ihres Mannes aufgebaut und ihre hausfraulichen Fähigkeiten für ein kommerzielles Unternehmen genutzt hatte.

Dan war achtundzwanzig, was bedeutete, dass Catherine, sofern sie keine medizinische Sensation war, mindestens Ende vierzig sein musste.

Die Frau, die ihr vom Bildschirm entgegenlächelte, sah nicht mal wie vierzig aus.

Maggie zwirbelte die Enden ihrer Haare zwischen den Fingern. Sie ließ sie seit dreißig Jahren im gleichen Salon schneiden und trug immer den gleichen Schnitt. Tatsächlich gab es wenig in ihrem Leben, das sie verändert hatte.

Während Catherine sich neu erfunden und einen Neustart gewagt hatte, indem sie ihr Leben mit neuen Herausforderungen füllte, war Maggies Leben allmählich immer leerer geworden. Erst war Katie aus dem Haus gegangen und dann Rosie. Ihr Terminkalender, der einst voller Schul- und Sporttermine gewesen war, hatte nun große Lücken. Sie tat weiter das, was sie immer getan hatte, machte ihren Job und versorgte den Garten. Sie war daran gewöhnt gewesen, für vier zu kochen, doch daraus waren drei geworden und dann zwei und dann, nachdem das Leben aus ihrer Ehe entwichen war, eine. Statt ein neues Leben aufzubauen, wie Catherine das offenbar getan hatte, lebte Maggie eine verwässerte Version des Lebens, das sie schon immer gelebt hatte.

Nachdenklich schob sie den Laptop beiseite und sah zu der Akte, die geöffnet auf dem Tisch neben ihr lag. Sie war fast voll. Bald würde sie den Ordner nicht mehr schließen können.

Die Lektüre über Catherines entschlossenen Kampf, ihr Leben neu zu erfinden, gab ihr ein Gefühl von Erbärmlichkeit und Nutzlosigkeit. Catherine hatte ihren Mann auf tragische Weise verloren. Maggie ihren durch Achtlosigkeit. Oder war es Apathie? Sie wusste es nicht einmal.

Maggie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie ihre Ehe irgendwie vergeudet hatte.

Ein Grund, warum sie den Mädchen die Neuigkeit noch nicht mitgeteilt hatte, war die Tatsache, dass sie sie selbst noch nicht ganz begriffen hatte.

Hätten sie und Nick sich mehr bemühen sollen?

In dem Bewusstsein, dass sie eine Stunde mit trüben Gedanken verbracht hatte, schloss Maggie die Akte und verstaute sie in einer Schublade, damit sie außer Sicht war. Sie wollte nicht, dass Nick sie entdeckte, sonst würde ein Gespräch nötig werden, das sie nicht führen wollte.

Als Nächstes schloss sie ihr Lieblingsrezeptbuch für Weihnachten, das seit einer Woche geöffnet auf dem Tisch lag, und schob es wieder ins Regal. Sie würde es nicht brauchen.

Es war peinlich, es zuzugeben, doch sie plante Weihnachten schon seit September und schrieb seit Oktober Listen. Der erste Hauch von Winter in der Luft ließ sie an Schmortöpfe, herzhafte Suppen und geröstetes Wurzelgemüse denken. Sie hatte sich auf die Feiertage mit ihren kulinarischen Ritualen gefreut: umrühren, köcheln, backen in der warmen, nach Zimt duftenden Küche. Vor allem hatte sie sich auf die Zeit mit ihrer Familie gefreut.

Sie schlang die Hände um ihren Becher und starrte hinaus in den Garten, während sie am Kaffee nippte. Frost funkelte und schimmerte auf dem Rasen, und leichter Bodennebel ließ das Ganze ätherisch wirken. Zu dieser Jahreszeit bildete ein Ilex-Busch mit seinen vollen blutroten Beeren den einzigen Farbtupfer in ihrem Garten. Maggie hatte gehofft, dass die Vögel genug davon übrig lassen würden, damit sie mit den Zweigen das Haus dekorieren konnte, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Sie würde keine Beeren brauchen – genauso wenig wie die Mistel, die büschelweise am alten Apfelbaum wuchs. Sie würde Weihnachten nicht hier sein.

Nie zuvor war sie über die Feiertage verreist gewesen. Hatte nie ein Weihnachten erlebt, das nicht ihr gehörte. Sie hatte Freunde, die Weihnachten nur zu gern »flüchteten«, um dem Trubel zu entgehen, doch Maggie liebte den Trubel. Wie würde Weihnachten ohne das alles sein?

Und warum machte sie sich Gedanken um Weihnachten, wenn es doch in Wirklichkeit um Rosies Hochzeit ging? Was stimmte nicht mit ihr?

Sie sah auf die Uhr.

Nick hatte gesagt, dass er um elf käme, und nun war es halb zwölf. Da er grundsätzlich zu allem zu spät kam, was sogar ihre Hochzeit einschloss, überraschte sie das nicht. Früher hatte es sie zornig gemacht, dass er fließend Altgriechisch sprach, aber nicht sagen konnte, wann er nach Hause kommen würde. Er konnte Hieroglyphen entziffern, doch offenbar nicht die Uhr oder eine Textnachricht lesen.

Am Anfang hatte das keine Rolle gespielt. Sie hatte seine Leidenschaft geliebt und dass er so sehr in den Dingen versank, die er liebte. Was ihm an Verlässlichkeit fehlte, machte er durch Spontaneität wieder wett. Den einen Tag wedelte er mit zwei Konzertkarten für das Sheldonian Theatre, am nächsten entführte er sie zu einem Picknick am Fluss, wo sie das Sonnenlicht auf dem Wasser funkeln sahen. Nick hatte die lebenslustige Seite von Maggie zum Vorschein gebracht. Für sie war das eine ebenso große Entdeckung wie das Grab des Tutanchamun. Sie war das Kind älterer Eltern, die ihre Verantwortung ernst genommen und alles in ihre Entwicklung und Erziehung investiert hatten. Ihre Liebe zu erlangen war anstrengend gewesen und die Beziehung zu ihnen steif und belastet. Spaß war kein Teil ihres Lebens gewesen, bis sie in ihren ersten Wochen in Oxford Nick kennengelernt hatte.

Er studierte Ägyptologie und sie Englisch. Sein Ruf und seine akademische Karriere blühten rasant auf. Sie blieben in Oxford, und sie nahm einen Job bei einem Wissenschaftsverlag an und lektorierte Bücher. Wenn ihr durch den Kopf ging, dass sie ihren Job nicht so liebte, wie Nick seinen liebte, ignorierte sie den Gedanken.

Und dann kam Katie zur Welt, und die Heftigkeit ihrer Gefühle und die Macht der Verbindung, die sie fühlte, überraschten sie. Maggie liebte sie mit Leib und Seele und entdeckte, dass ihre Leidenschaft ihrem Kind, ihrem Ehemann und ihrer Familie galt. Dass sie ein Heim schaffen wollte wie jenes, das sie selbst gern gehabt hätte.

Katies Geburt lieferte ihr den perfekten Vorwand, die Arbeitszeit zu reduzieren. Am Ende blieb sie zu Hause, da ihr die Kinderbetreuung mehr Spaß machte als ihr Job.

Als Katie in die Schule ging, fing Maggie wieder bei dem Verlag an, doch als Rosie kam, machte sie eine zweite Karrierepause. Ihre jüngste Tochter war eine Frühgeburt gewesen, ein winziges, zerbrechliches Etwas, das weniger als eine Tüte Zucker gewogen hatte. Als Baby litt Rosie ständig an Husten und Erkältungen, und irgendwann kam es zu ihrem ersten Asthma-Anfall.

Maggie hatte das nie vergessen. Danach kamen die Anfälle öfter, und das Leben wurde zu einer Abfolge schlafloser Nächte und panischer Fahrten ins Krankenhaus.

In den ersten zehn Jahren von Rosies Leben war Maggie ständig erschöpft gewesen.

Sie zogen aus dem Zentrum Oxfords weg und nach Honeysuckle Cottage, in der Hoffnung, dass die Luftverschmutzung dort geringer wäre als in der Stadt. Untersuchungen zeigten, dass Hundehaare ein Auslöser für die Anfälle waren, was bedeutete, dass sie auf den Familienhund, den Nick sich so sehr wünschte, verzichten mussten.

Rosies Kindheit war eine stetige Abfolge von abgesagten Vorhaben und Nottransporten ins Krankenhaus. Dann kam sie ins Teenageralter, und es wurde schwieriger, sie zu kontrollieren. Einen Inhalator bei sich zu tragen war nicht cool. Da sie ihren Zustand ignorierte, landete sie viel zu oft im Krankenhaus. Die Anspannung wirkte sich auf sie alle aus, genauso wie die Ignoranz ihrer Freunde und Bekannten, die Asthma für etwas Harmloses hielten.

Maggie erinnerte sich noch gut an den Tag, als Katie in die Küche gestürmt kam und ihre Bücher auf den Tisch geworfen hatte.

Ich werde Ärztin, weil ich Rosie dann heilen kann.

Maggie hatte oft Schuldgefühle gehabt, dass sie den Großteil ihrer Zeit und Aufmerksamkeit ihrer jüngsten Tochter widmete, doch Katie schien das nicht zu beeinflussen. Sie war ein fröhliches und sehr entschlossenes Kind, das sich zu einer fröhlichen und sehr entschlossenen Erwachsenen entwickelte. Stets setzte sie sich Ziele und führte To-do-Listen, um diese Ziele zu erreichen. Anders als Nick und Rosie, die ihre Entscheidungen impulsiv und intuitiv trafen, tat Katie nie etwas, das sie nicht von hinten bis vorn durchdacht hatte.

Von einem fleißigen, talentierten Kind war sie zu einer fleißigen und engagierten Erwachsenen geworden. Jetzt arbeitete sie als Ärztin, und Maggie war stolz auf sie.

Anders als die sprunghafte Rosie wusste Katie immer genau, was sie wollte, und zauderte nie.

Das Klingeln an der Haustür riss sie aus ihren Gedanken. Sie ging und öffnete.

Nick stand vor ihr. Seinen langen Wollmantel hatte er schon seit Jahren. Er trug ihn mit aufgestelltem Kragen und seinem Lieblingsschal um den Hals. Jetzt schenkte er ihr das gleiche schiefe Lächeln, das vor vielen Jahren ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, und sie spürte Trauer in sich aufwallen. Wo war ihre Liebe geblieben? Es hatte keinen großen Streit gegeben. Keine heimlichen Affären oder Flirts. Wiederholt hatte sie versucht, den Punkt zu bestimmen, an dem ihre Ehe nicht mehr funktioniert hatte, doch sie war nicht in der Lage gewesen, ein spezielles Ereignis auszumachen. Sie und Nick hatten nebeneinanderher und sich dann langsam auseinandergelebt. Keiner von ihnen hatte es bemerkt, bis ihre einstige Verbindung eines Tages nicht mehr da gewesen war.

Sogar die Entscheidung, sich zu trennen, hatten sie einvernehmlich und freundschaftlich getroffen.

Manchmal fragte sie sich, ob sie einander unter dem Druck, eine Familie sein zu müssen, einfach verloren hatten.

Trotz allem war sie erleichtert, dass er hier war. Sie musste mit jemandem sprechen. Irgendjemandem. Sie machte die Tür weiter auf. »Hast du wieder deinen Schlüssel verloren?«

»Ausnahmsweise nicht, aber es ist mir unangenehm, ihn zu benutzen. Das hier ist nicht mehr mein Haus.« Er zögerte und trat dann über die Schwelle.

»Es ist noch immer dein Haus, Nick. Wir haben es gemeinsam gekauft, und wenn wir es verkaufen, teilen wir den Erlös. Du hast ein Recht, hereinzukommen, wann immer du willst.« Sie wollte das Schloss nicht wechseln. Warum sollte sie?

»Ich möchte nicht stören.« Er blickte zur Treppe, und sie lachte kurz auf, als sie begriff, dass er ihre Privatsphäre respektierte.

»Meinst du, da versteckt sich ein Weihnachtself unter meinem Bett? Oder der Weihnachtsmann persönlich? Irgendein muskulöser junger Kerl?«

Eine weitere ernsthafte Beziehung stand nicht auf ihrem Wunschzettel. Und was etwas Oberflächlicheres anging – nun, der Gedanke an eine Affäre war grotesk.

»Es ist kalt hier drin.« Nick berührte den Heizkörper, der ihm am nächsten war. »Ist die Heizung wieder kaputt?«

»Sie wartet auf den ersten Frost, um kaputtzugehen.« Wie gewöhnlich trug Maggie zwei Pullover, sodass sie dicker aussah, als sie war.

»Soll ich jemanden anrufen?« Er bot nicht an, selbst nachzusehen. Nick vermochte einen Vorlesungssaal in seinen Bann zu ziehen, doch einen tropfenden Wasserhahn konnte er nicht reparieren, und Möbel zum Selbstaufbau verwirrten ihn.

»Das habe ich schon getan. Sie kommen nächsten Montag.«

»Du siehst müde aus.«

»Kein Wunder, wenn man um drei Uhr morgens angerufen wird.« Sie wusste, dass Nick vermutlich gleich wieder ins Bett gegangen wäre. Seine Fähigkeit zu schlafen, egal, wie groß die Krise war, war über die Jahre zu einer Quelle des Neids und der Frustration geworden. Sie hätte alles dafür gegeben, einfach abschalten und jemand anderem fünf Minuten lang die Verantwortung übergeben zu können. Vielleicht versetzte ihn nur die Tatsache, dass sie das nicht konnte, in die Lage, selbst abschalten zu können – beruhigt durch das Wissen, dass sie das Kommando übernahm.

»Rosie hätte dich nicht mitten in der Nacht anrufen sollen.«

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