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Feels like Love

Als Buch hier erhältlich:

Mila zieht nach Berlin und ist von der hektischen Hauptstadt völlig überfordert. Alles erscheint der Medizinstudentin fremd und furchteinflößend. Dann begegnet ihr der erfolgreiche junge Modedesigner Leo, und bei ihm fühlt sie sich sofort angekommen. Durch Leo lernt Mila nicht nur die vielen bunten Ecken Berlins kennen, sondern sie erfährt auch zum ersten Mal, was Liebe ist. Leo verzaubert sie mit seiner Kreativität und seinem Charme. Aber schon bald muss Mila herausfinden, dass auf seinem Leben ein Schatten liegt, der ihre gemeinsame Zukunft in weite Ferne rücken lässt.


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Aus der Serie: Feels Like Reihe
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745752526
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PLAYLIST

Feels – Anna of the North

Habits of My Heart – Jaymes Young

3. Stock – AnnenMayKantereit

Watch – Billie Eilish

Without Me – Halsey

Whole Heart – Gryffin & Bipolar Sunshine

Something Just Like This – The Chainsmokers

Youth – Shawn Mendes & Khalid

Dusk Till Dawn – ZAYN & Sia

Footprints – Sia

Silence – Marshmello & Khalid

In the Dark – Camila Cabello

Here We Are – LOWES

Everything of My Heart – Parov Stelar

Never Be the Same – Camila Cabello

Your Soul – RHODES

Green Light – Lorde

PROLOG

Er trinkt in dieser Winternacht schon wieder.

Ich konnte es bereits riechen, als ich vor Stunden die steilen Treppen in mein Zimmer hochgeschlichen bin, wie immer darum bemüht, möglichst leise zu sein. Draußen segeln die Schneeflocken lautlos gegen meine Fensterscheibe. Ich kann sie sehen, obwohl ich kein Licht gemacht habe, der blasse Schein des Mondes genügt, und ich versuche, es ihnen gleichzutun. Lautlos zu sein, zu fallen und zu schweben. Ich schließe die Augen und schrecke doch jedes Mal wieder auf, wenn seine Stimme von unten lauter wird, er erst schreit und später brüllt.

Ich liege mit geschlossenen Augen im Bett, bete stumm, dass er nicht auf die Idee kommt, nach oben zu gehen, und versuche zu verschwinden, in meiner eigenen kleinen Unendlichkeit. Doch heute klappt es nicht. Heute ist seine Stimme aggressiver und die Stille tückischer, ihre Schreie panischer und ihr Weinen verzweifelter. Heute knallen Türen, und heute splittert Glas.

Der Schnee tanzt noch immer vor meinem Fenster, als ich die Augen öffne und etwas Warmes meine Wangen hinunterlaufen fühle. Ich klettere aus dem Bett und lege die Hand an die Türklinke, als ihr Schrei an meine Ohren dringt, markerschütternd. In diesem Moment realisiere ich die Bedeutung dieses Wortes zum ersten Mal.

Ich ignoriere die Worte meiner Geschwister, die mir immer und immer wieder eingetrichtert haben, nicht hinunterzugehen, wenn Mama und Papa streiten.

Das Telefon steht nicht in der Station auf der Kommode im Flur. Was soll ich tun: es im Wohnzimmer suchen oder gleich nach nebenan zu den Nachbarn gehen, um Hilfe zu holen?

Wie lange ich dort stehe, weiß ich nicht, überlege hin und her und will mir die Ohren zuhalten, um besser denken zu können. Der Messerblock auf der Küchentheke. Er erscheint auf einmal so deutlich vor meinem inneren Auge, dass mir schlecht wird. Ohne nachzudenken, laufe ich in die Küche.

Sie kauert in der Ecke vor den Einbauschränken, heulend, das Gesicht vor Todesangst verzerrt und er über ihr. Wie ein Wahnsinniger prügelt er auf sie ein. Mein Herz, das eben noch so wild gehämmert hat, setzt plötzlich für zwei Schläge aus.

»Hör auf!«

Dass die vor Panik vibrierende Stimme zu mir gehört, begreife ich erst, als sich meine Beine wie von selbst in Bewegung setzen. Er ist stärker als ich, das weiß ich nur zu gut, doch in diesem Augenblick spielt es keine Rolle.

Ich will ihn packen, ihn von ihr wegziehen, doch er nimmt mich gar nicht wahr, schlägt weiter zu, wie im Rausch, denn das ist er ja auch, im Rausch, und als sich unsere Blicke doch treffen, geht plötzlich alles ganz schnell.

Zuerst schaffe ich es, auf den Beinen zu bleiben, will zurückschlagen, aber ich bemerke die leere Bierflasche, nach der er greift, zu spät.

Schon wieder splittert Glas, schon wieder schreit sie, doch diesmal weiter entfernt, in diesem ohrenbetäubenden Moment, in dem ich falle, fliege, zur Schneeflocke werde. Ich entferne mich, von all dem Lärm, dem Streit und diesem Albtraum.

Lautloser als erwartet, so viel schwereloser.

EINS

Emilia

»Dass jemand so schnell ein WG-Zimmer in Berlin findet, habe ich wirklich noch nie erlebt.« Phil schüttelt ungläubig den Kopf, während die U-Bahn mit einem Ruck wieder anfährt.

»Noch ist es keine Zusage.« Ich betrachte den Bahnsteig durch die Fensterscheibe voller kleiner Brandenburger Tore. Weiße Silhouetten, auf dem Kopf stehend, seitlich oder richtig herum. Ich bin also tatsächlich hier. In der Hauptstadt. Es ist verrückt.

»Ach, das wird, das wird«, meint mein bester Freund. »So wie ich das gerade verstanden habe, ist das Zimmer noch nicht bei WG-gesucht gelistet. Wenn wir die Ersten sind und alles passt, hast du bestimmt Glück.«

»Eigentlich habe ich mich darauf eingestellt, mindestens die ersten zwei Wochen im Hostel zu verbringen.« Ich schaue wieder zu Phil.

»Du meinst, auf meiner Couch«, sagt er sofort. »Ansonsten wäre ich ernsthaft beleidigt.«

Ich lache. »Oder das. Aber nein, wirklich, ich dachte nicht, dass ich noch am Tag meiner Ankunft eine Besichtigung habe. Besonders nicht so kurz vor Semesterbeginn, wenn vermutlich erst recht alle Wohnungen vergriffen sind.«

»Na ja, das macht in Berlin eigentlich auch keinen Unterschied.« Phil zuckt mit den Schultern. »Es ist das ganze Jahr über zum Verzweifeln. Aber wem sag ich das, München dürfte ja kaum besser gewesen sein.«

Ich schüttele leicht den Kopf.

Der Wohnungsmarkt war zwar wirklich nicht besser, aber dafür alles andere. Meine WG, das Medizinstudium an der LMU, und wenn ich nur gekonnt hätte, wäre ich einfach dortgeblieben. Als ich vor zwei Jahren nur einen Teilstudienplatz bis zum ersten Staatsexamen in München erhalten habe, war mir bewusst, dass ich womöglich im Laufe meines Studiums noch einmal umziehen müsste. Doch was das wirklich bedeutet, habe ich erst verstanden, als ich vor wenigen Tagen den Zulassungsbescheid der Charité in den Händen gehalten habe.

Mit einem Mal ging alles Schlag auf Schlag, und auch wenn ich mit Phil und meinem Bruder Johannes gleich zwei Menschen habe, auf die ich mich in der neuen Stadt blind verlassen kann, fühlt sich der Umzug nach purer Überforderung an.

Es gleicht einem Wunder, dass Phils Bruder vor wenigen Minuten einen gewissen Leonardo am Telefon hatte, der ihm berichtete, eine Freundin von ihm habe kurzfristig ein Zimmer zu vergeben. Obwohl die offiziellen Besichtigungen erst morgen früh anlaufen, sei sie schon heute dazu bereit, mich einen Blick in die WG in Prenzlauer Berg werfen zu lassen. Phil jedenfalls ist felsenfest davon überzeugt, dass ich noch heute den Mietvertrag unterschreiben werde.

Wir verlassen die U2 am Senefelderplatz und steigen aus den U-Bahn-Katakomben nach oben. Die Nachmittagssonne steht bereits tiefer am makellos blauen Septemberhimmel. Ich erhasche einen Blick auf die von historischen Hausfassaden gesäumten Alleen, weiter hinten ragt der Fernsehturm über die Dächer. Geschäftsmenschen hetzen an Eltern mit Kinderwagen und Grüppchen von jungen Leuten vorbei und scheinen überhaupt keinen Blick mehr dafür zu haben, wie schön dieses Viertel ist. Die Blätter der vereinzelten Bäume haben sich der Jahreszeit angepasst und sind leicht orangerot verfärbt. Während wir an den kleinen Lokalen entlanggehen, ertappe ich mich dabei, wie ich bereits nach einem potenziellen neuen Lieblingscafé Ausschau halte.

»Prenzlauer Berg ist ganz nett, oder?« Phil schaut mich erwartungsvoll an.

»Zugegebenermaßen, ja.«

»Und du als Schwäbin passt hier ja sowieso gut hin.«

Ich stoße missbilligend die Luft aus. »Sagst gerade du.«

Tatsächlich sind wir beide gemeinsam in Süddeutschland zur Schule gegangen. Während ich nach dem Abitur direkt mit meinem Medizinstudium in München begonnen hatte, hat Phil erst einmal auf eigene Faust die südliche Erdhalbkugel erkundet und studiert nun im zweiten Semester an der Humboldt-Universität Kunst und Geschichte auf Lehramt. Schon während unserer Schulzeit war ich davon überzeugt, dass er eines Tages Lehrer werden würde. Ich kenne niemanden, der besser mit Kindern kann als er.

»Mila?«

Ich schrecke aus meinen Gedanken und bemerke erst jetzt, dass Phil vor einem der Häuser stehen geblieben ist.

»Das hier müsste es sein.«

Ich schirme meine Augen mit der flachen Hand ab, um etwas erkennen zu können. »Sieht voll schön aus.«

Phil nickt. »Altbau ist immer top«, murmelt er, während er ebenfalls die helle Fassade des Jugendstilhauses betrachtet. Am Eingang überfliegt er die Dutzenden Klingelschilder und drückt schließlich eines davon.

»Sie heißt Ivana?«, versichere ich mich und sehe ihn nicken. Eine kleine Ewigkeit lang tut sich nichts, Phil hebt bereits die Hand, um erneut zu klingeln, dann endlich ertönt ein leises Knacken in der Freisprechanlage, und ich höre zum ersten Mal ihre Stimme.

»Ja?« Ivana klingt deutlich genervt, und ich kann mich erst nach kurzem Zögern zu einer Antwort durchringen.

»Hi, hier ist Emilia. Ich komme wegen des WG-Zimmers«, beginne ich und höre noch im gleichen Moment das Summen des Türöffners.

»Dritter Stock rechts.«

Phil drückt einen Flügel der mächtigen Holztür auf und sieht mich auffordernd an. Ich schlucke mein Unbehagen hinunter und folge ihm in den Hausflur, hinter mir fällt die schwere Eingangstür mit einem dumpfen Knall ins Schloss, unsere Schritte hallen als einziges Geräusch im kühlen Flur wider. Eine breite Wendeltreppe mit schmiedeeisernem Geländer führt nach oben, einen Fahrstuhl gibt es nicht. Im dritten Stock steht eine der Wohnungstüren sperrangelweit auf, von Ivana jedoch keine Spur. Phil, der einen Schritt vor mir geht, lässt seine Fingerknöchel geräuschvoll gegen das Holz pochen und zögert einen Augenblick.

»Komm rein, bin gleich da«, tönt es von drinnen. Phil sieht mich auffordernd an und lässt mir den Vortritt. Beim Eintreten knarzen die alten Dielen leise unter meinen Sohlen. An der kleinen Garderobe hängen zahlreiche Jacken, auf dem Fußboden darunter stapeln sich die Schuhe.

Ich hebe den Blick, als Ivana durch eine der geöffneten Türen auf uns zukommt. Ihre blassblauen Augen kleben für einen Moment geradezu an Phil, dann sieht sie mich an.

»Du bist Emilia?« Ihre Stimme ist glasklar und kühl.

»Genau, oder einfach Mila.« Das Lächeln, das ich daraufhin versuche, scheint an ihrem makellosen Gesicht geradezu abzuprallen.

Sie nickt nur und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich bemerke genau, wie sie mich mustert. »Ivana, hi.«

Ich weiß im ersten Moment nicht, was ich darauf antworten soll, und bin froh, als Ivana ihre Aufmerksamkeit Phil widmet.

»Du musst Sam sein?«, vermutet sie.

»Fast richtig. Ich bin Phil, Sams Bruder. Leo und er haben vorhin telefoniert.«

Ivana hebt kurz die Augenbrauen. »Verstehe.« Die dunkelblonden glatten Haare reichen ihr bis kurz über die Schultern, sie ist blass und trägt kein sichtbares Make-up. Ihre Haut wirkt trotzdem so glatt wie eine Maske. Obwohl sie kaum größer ist als ich, hat sie etwas Einschüchterndes an sich. Sie trägt einen schwarzen Kapuzenpulli, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß ist und sie fast zu verschlucken scheint.

»Das ist das freie Zimmer.« Mit einem Kopfnicken deutet sie nach rechts und vergräbt die schmalen Hände in den Taschen ihres Sweatshirts, während ich den Raum betrete. »Fünfzehn Quadratmeter, was du hier an Möbeln siehst, bleibt drin.«

Ich nicke leicht, nehme aus den Augenwinkeln wahr, wie Phil mir folgt und Ivana sich mit einer Schulter gegen den Türrahmen lehnt. Sonnenstrahlen fallen durch die zwei großen Fenster und werfen Muster an die weißen Wände. Ich erkenne ein Bett, einen einfachen Schreibtisch samt Stuhl und gleich mehrere leere Regale und Kommoden einer schwedischen Möbelhauskette.

»Voll schön.« Ich drehe mich um und sehe, wie sich Ivanas Mundwinkel zum ersten Mal seit unserem Kennenlernen ansatzweise nach oben bewegen.

»Cool. Ich zeig euch den Rest.«

Phil und ich wechseln einen kurzen Blick, ich kann mein breites Grinsen kaum vor ihm verstecken und muss zugeben, dass diese Wohnung mit ihren hohen Stuckdecken, hellen Räumen und dem typischen Altbaucharme schon ziemlich genau meinen Geschmack trifft. Ivana lässt uns einen Blick ins Bad werfen, klein und verwinkelt, Fenster nicht vorhanden, dafür hat es eine Badewanne und Platz für eine Waschmaschine. Lediglich ein Gemeinschaftszimmer fehlt, doch die zusammengewürfelte Küche ist so geräumig, dass ein Tisch samt Sitzecke für drei Personen hineinpasst. An die Küche grenzt zu meiner Begeisterung ein winziger Balkon, auf den mit Müh und Not zwei Gartenstühle passen.

»So, mehr gibt’s nicht zu sehen.« Mit diesen Worten beendet Ivana die Besichtigung, als ich die Balkontür wieder schließe und mich zu ihr und Phil geselle. »Wär die Wohnung was für dich?« Dass sie so direkt fragt, macht mir klar, wie dringend sie einen Mitbewohner sucht. Oder wie wenig Lust sie auf einen Besichtigungs-Marathon hat.

Ich zögere einen kurzen Augenblick, dabei weiß ich längst, dass ich mich in diese Wohnung verliebt habe. Ich schicke ein stummes Stoßgebet gen Himmel, bevor ich die entscheidende Frage stelle: »Wie viel willst du denn für das Zimmer?«

Ich mache mich schon auf eine Zahl bereit, die meinen Traum vom Berliner WG-Leben wieder platzen lässt. Doch der Betrag, den Ivana nun nennt, klingt relativ akzeptabel. Mein Blick geht wie automatisch zu Phil, der mit dem Rücken gegen die Küchenfronten gelehnt steht und mir nun zunickt.

»Klingt nach einem vernünftigen Preis, vor allem in der Gegend«, meint er.

»Ab wann könnte ich denn einziehen?«, hake ich vorsichtig nach.

»So schnell wie möglich. Ich habe nicht damit gerechnet, dass meine alte Mitbewohnerin auszieht, und allein kann ich die Miete nicht zahlen. Bis Monatsende muss ich jemanden gefunden haben, sonst wird es eng.« Ivana verstummt, ihr abwartender Blick macht mir klar, dass es nun nur noch an mir liegt, und obwohl ich solche Entscheidungen am liebsten stundenlang aus allen möglichen Blickwinkeln beleuchte, weiß ich, dass ich nun spontaner entscheiden muss als sonst. Ich nicke, noch bevor ich es so richtig beschlossen habe. »Ich würde gern einziehen.«

Ivana sieht mich den Bruchteil einer Sekunde weiter an und streckt mir dann die Hand entgegen.

»Okay, dann Hand drauf.«

*

Zwei ganze Tage vergehen, ehe ich zum ersten Mal komplett allein in Berlin unterwegs bin. Es ist Montag, Phil musste zur Arbeit, er jobbt neben der Uni in einem Museum, und für mich ist heute Bürokratie angesagt. Nach einem nervenaufreibenden Besuch beim Bürgeramt mache ich mich auf den Weg Richtung Mitte. Auf dem Campus der Humboldt-Universität befindet sich das Referat für Studienangelegenheiten, wo ich meinen Studierendenausweis und das Semesterticket ausgehändigt bekomme.

Als ich das Büro eine kleine Ewigkeit später verlasse, ist es bereits früher Nachmittag. Der frische Nordostwind fegt mir die Haare aus dem Gesicht, ich ziehe fröstelnd die Schultern zusammen und vergrabe die Nase in meinem Schal. Die milden Spätsommertage dieses Jahres scheinen seit heute endgültig gezählt zu sein.

Mit einer Handbewegung fische ich mein Handy aus der Jackentasche und muss schmunzeln, als ich die Nachricht auf dem Display sehe: Schreib mir, wenn du da bist. Ich versuche dann, kurz Pause zu machen.

Noch während ich auf den Eingang der Charité zusteuere, drücke ich auf das Anrufsymbol und hebe das Handy ans Ohr. Innerlich zähle ich meine Schritte, lausche dem Freizeichen und will schon fast wieder auflegen, als er endlich rangeht.

»Faber.«

Ich muss sofort grinsen, als ich seine leicht gestresste Stimme höre. »Ja, hier auch«, antworte ich bloß und atme leise auf, als ich endlich den warmen Eingangsbereich der Klinik erreiche.

»Mila, hey! Wo bist du?«

»Eben unten reingekommen, ich hab deine Nachricht gelesen. Schaffst du es, oder ist die Notaufnahme voll?«

»Gerade geht’s. Treffen wir uns in der Cafeteria?«

»Gerne.«

»Findest du da hin?«

Ich muss mich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen, schließlich habe ich das Schild, das mir den Weg dorthin zeigt, längst entdeckt. »Sicher, Jojo.« Ich höre meinen Bruder leise lachen.

»Dann bis gleich.« Er lässt mir keine Zeit für eine Antwort, ich versenke mein Handy wieder in meiner Jackentasche. Einmal nur möchte ich ihn nicht völlig gestresst und unter Zeitdruck erleben. Bereits auf den endlosen Fluren bis zur Cafeteria lasse ich meinen Blick über das bunte Durcheinander aus Besuchern, Patienten, Pflegern und Ärzten wandern. Ich nehme an einem der langen weißen Tische Platz. Als ich Richtung Tür sehe und Jojo erkenne, muss ich lächeln. Ich stehe auf, während er auf mich zukommt. Einen Moment später liege ich schon in den Armen meines großen Bruders.

»Du hast es gefunden, Respekt«, werde ich von Jojo begrüßt, und ich höre die Prise Ironie sofort aus seiner vertrauten Stimme heraus.

»Ich hab dich auch vermisst«, entgegne ich und lasse mich noch einmal von ihm drücken.

»Schön, dass du da bist. Ich hätte dich spätestens heute Abend besucht«, meint er nun ernster.

»Du glaubst doch selbst nicht, dass du einmal pünktlich aus der Klinik kommst.«

»Als Studentin ist man doch lange wach …«

Er zupft den weißen Kittel zurecht, den er über der blauen Klinikkleidung trägt. Seine Kitteltaschen sind vollgestopft mit Stethoskop und Checklisten, an der Brusttasche ist das Namensschild befestigt, das seine Position verrät: Dr. med. Johannes Faber – Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Bevor ich etwas erwidern kann, sieht Jojo Richtung Essensausgabe und dann wieder zu mir.

»Kaffee?«

Ich nicke.

»Immer noch mit Milch und zu viel Zucker?«

Mein Lachen scheint ihm Antwort genug zu sein. Es dauert nicht lang, bis Jojo mir gegenüber Platz nimmt und zwei Tassen vor uns auf dem Tisch abstellt.

»Danke. Was bekommst du von …«

»Mila …« Er verdreht nur die Augen und nimmt seine Tasse. »Ich bitte dich. Und jetzt sag schon, wie geht’s dir? Hat der Umzug gut geklappt? Ich bin übrigens immer noch beleidigt, dass du bei Phil wohnst und nicht bei uns.«

Ich muss schmunzeln. »Ich weiß, Jojo. Ich soll dich von ihm grüßen.«

Er grummelt etwas Unverständliches, bevor er einen Schluck aus seiner Tasse nimmt. Natürlich kennt mein großer Bruder Phil von früher, als wir alle auf das gleiche Gymnasium in unserem Heimatort gegangen sind. Jojo war einige Klassen über uns, doch Phil war oft genug bei uns zu Hause. Im Grunde ist es erstaunlich, dass wir nun, so viele Jahre später, alle in Berlin gelandet sind.

Still beobachte ich, wie Jojo unauffällig auf sein Telefon linst, es dann aber wieder in der Tasche seines Kittels verschwinden lässt.

»Ist schon okay, wenn du losmusst.«

Sein Blick geht wie ertappt zu mir. Es dauert einen Moment, ehe er den Kopf schüttelt. »Nein, alles gut. Ich habe eigentlich noch keine richtige Pause gemacht.« Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Heute war es mal wieder so richtig stressig.«

»Ich will dich nur nicht aufhalten, wenn du noch …«

»Tust du nicht. Erzähl mir lieber, was die WG-Suche macht.«

Während ich ihm von der Wohnungsbesichtigung bei Ivana berichte, kann ich selbst kaum glauben, dass das alles wirklich geschehen ist. Auch nach den ersten Tagen in der Stadt fühlt es sich nicht so an, als würde ich tatsächlich hier wohnen. Eher so, als wäre ich nur zu Besuch und könnte in ein paar Tagen wieder nach München zurückkehren. Wie gern ich das tun würde, denn eigentlich wollte ich nie nach Berlin. Was genau meinen Bruder so an unserer Hauptstadt fasziniert, dass er für seine erste Stelle als Assistenzarzt hierhergezogen ist, habe ich nie so ganz verstanden. Laut, schnell und hektisch, viel zu schmutzig und unpersönlich, das ist Berlin. Die Stadt, die nie schläft und stärker pulsiert, als es jedes menschliche Herz je könnte.

Sicher, München ist auch nicht gerade ein Dorf, aber irgendwie eine Spur entspannter. Vielleicht fühle ich mich im Süden auch einfach wohler. Ja, wenn ich es mir hätte aussuchen können, wäre ich dort geblieben, und dennoch muss ich mich glücklich schätzen, überhaupt weiter studieren zu dürfen. Als ich damals den Teilstudienplatz bis zum ersten Staatsexamen in München bekam, war mir gar nicht wirklich klar, was das später bedeuten würde. Ich war überglücklich, mit meinem zwar guten, aber eben doch wieder nicht sehr guten Abitur sofort einen Studienplatz bekommen zu haben, und hätte nie im Leben abgelehnt. Vor knappen drei Monaten dann der Schock, als klar war, dass ich an der LMU aufgrund mangelnder Plätze nicht für das fünfte Semester zugelassen werden würde. Was macht man also mit einem angefangenen Medizinstudium? Hinschmeißen? Niemals … Dafür war es schon viel zu lange mein Traum, Ärztin zu sein und wie mein großer Bruder Leben zu retten. Also habe ich die letzten Wochen dazu genutzt, unzählige Bewerbungen zu schreiben, während meine anderen Kommilitonen das bestandene Physikum gefeiert haben. Vor einer Woche dann endlich die unfassbare Erleichterung in Form einer vorläufigen Immatrikulationsbescheinigung aus Berlin. Und jetzt bin ich hier.

»Ich glaube ja, dass nichts ohne Grund passiert«, erklärt Jojo, als wir auf meinen Studienortswechsel zu sprechen kommen. »Das Schicksal wollte, dass wir uns jetzt wieder öfter sehen.«

»Vermutlich hast du recht.« Gedankenverloren rühre ich mit dem Kaffeelöffel in meiner Tasse herum und seufze leise.

»Und was ich hier so von den Studenten höre, muss die Ausbildung echt klasse sein. Die haben viel mehr Praxisbezug als wir damals.«

»Unterrichtest du auch schon?«

Jojo nickt. »Ich mache manchmal Teachings für die Studierenden im Blockpraktikum. Das müsste auch demnächst bei dir dran sein.«

»Verrückt.« Ich muss lächeln. Jojo als Lehrer … Erklären konnte er schon immer gut. »Wie geht’s Louisa? Und der Kleinen?«

Das Lächeln, das sich augenblicklich auf Jojos Gesicht ausbreitet, packt mich sofort. »Hervorragend, allen beiden. Wir waren vorgestern beim Ultraschall. Warte, ich kann dir Bilder zeigen.« Jojos Grinsen wird noch eine Spur breiter. Er fischt sein Handy wieder heraus und hält mir kurz darauf das Foto eines Ultraschallbildes unter die Nase. »Sechzehnte Woche.«

»Das ist so toll, Jojo«, murmele ich, während ich wie gebannt auf das Handydisplay starre. Ich erkenne tatsächlich die Umrisse eines kleinen zusammengekugelten Körpers und das vergleichsweise große Köpfchen. »Habt ihr inzwischen einen Namen?«

Er schüttelt den Kopf, während er das Handy zurück in seine Tasche wandern lässt. »Ein paar Ideen, aber entschieden haben wir uns noch nicht. Ist ja auch noch ein bisschen Zeit.«

Ich nicke. »Mama und Papa wollen nächstes Wochenende vielleicht nach Berlin kommen.«

»Wirklich? Haben sie keine Gäste?«

»Doch, aber Oma und Opa würden die paar Tage für sie einspringen. Mama meinte, dass sie dich und Lou schon lange wieder besuchen wollten und jetzt, wo ich hier bin, sogar doppelten Grund hätten, vorbeizuschauen. Sie wollte dich anrufen, bestimmt hat sie dich nur noch nicht erreicht.«

»Ich habe mich schon ewig nicht mehr bei ihnen gemeldet.« Jojo seufzt schuldbewusst und fährt sich mit der Hand durch die dunklen Haare. »Irgendwie war so viel los, ich bin mit den zusätzlichen Notarzteinsätzen ziemlich ausgelastet, und Lou macht momentan ein Interview nach dem anderen, bevor sie in den Mutterschutz geht. Geht’s ihnen gut? Hat Mama was erzählt?«

»Ja, ist alles gut. Das Hotel läuft, sie haben vor Kurzem die Sanierungen komplett abgeschlossen und einen neuen Koch eingestellt. Letzte Woche war jemand von der Klassifizierung da, sie haben tatsächlich die fünf Sterne geknackt.«

»Echt? Oh krass, ich bekomme ja gar nichts mehr mit. Ich muss Mama gleich heute Abend …« Jojos Satz wird von einem unüberhörbaren Klingeln abgeschnitten. Er greift beinahe reflexartig in die Tasche seines Kittels. »Oh Mann«, murmelt er, wirft mir einen kurzen entschuldigenden Blick zu und nimmt den Anruf dann an. »Ja, Faber.« Sekundenlang ist er still, nickt mehrmals und trommelt abwesend mit den Fingerspitzen auf der weißen Tischplatte herum. »Okay, ja, ich bin gleich da. Holt ihr wen aus der Neuro dazu? Kathrin hat Dienst, glaube ich. Und schickt mir ein Rea-Team hoch. Gut, Ciao.«

»Das hört sich nicht gut an …«, vermute ich, und Jojo seufzt.

»Nicht wirklich, nein. Wir kriegen ein Polytrauma rein, Motorradunfall, der Heli landet in zehn Minuten. Sorry, ich muss …«

»Du musst dich nicht entschuldigen, das ist dein Job«, falle ich ihm ins Wort und sehe ihn daraufhin leicht lächeln.

»Das ist der Vorteil, wenn man eine kleine Schwester hat, die das Gleiche macht wie man selbst.«

»Ich denke, jeder würde das verstehen.«

Er lacht kurz auf und zuckt mit den Schultern. Die Stuhlbeine kratzen mit einem unangenehmen Geräusch übers Laminat, während er aufsteht.

»Du willst nicht wissen, wie oft Lou und ich in letzter Zeit aneinandergeraten, wenn ich an freien Wochenenden doch für jemanden einspringen muss.« Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er mich an, und mir wird klar, dass da jemand ziemlichen Redebedarf hat. Jojo und Louisa führen eine perfekte Ehe, doch mein Bruder kann mir nicht weismachen, dass es selbst in ihrem Alltag nicht manchmal kriselt.

»Ich rufe dich die Tage an, dann treffen wir uns in Ruhe«, schlage ich vor und sehe Jojo nicken. »Und jetzt ab mit dir. Geh Leben retten.«

Sein Grinsen wirkt bedrückt, aber ehrlich. Er hebt leicht die Hand zum Abschied und ist bereits zwei, drei Schritte zur Tür gegangen.

»Ich gebe mein Bestes.«

ZWEI

Emilia

Dass ich müde bin, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts, als ich an diesem Mittwochabend von der Uni nach Hause fahre. Es regnet, ich habe keinen Regenschirm dabei und bin nur Sekunden nachdem ich aus den U-Bahn-Katakomben nach oben gelaufen bin klatschnass. Von hier aus sind es keine drei Minuten bis zur WG, doch als ich mit klammen Fingern meinen Schlüssel aus der Tasche fische, zittere ich vor Kälte am ganzen Körper. Hätte ich nur eine richtige Jacke angezogen.

Meine nassen Haare kleben mir im Gesicht, während ich die mächtige Eingangstür aufdrücke und einen Moment später endlich im Trockenen bin. Dumpf hallen meine schweren Schritte im leeren Treppenhaus, ich quäle mich die Stufen hoch ins dritte Obergeschoss und atme erst auf, als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss gefallen ist.

Mehrere Sekunden lang bleibe ich reglos im Flur stehen und lausche in die Stille. Die Lichter sind aus, ich höre kein Geräusch, Ivanas Zimmertür ist geschlossen, so wie eigentlich immer, doch ein kurzer Blick zur Garderobe genügt, um festzustellen, dass meine Mitbewohnerin nicht zu Hause ist. Der riesige schwarze Mantel, den sie immer und überall trägt, hängt nicht am Haken. Auf den zweiten Blick registriere ich, dass auch ihre dunkelroten Docs nicht an ihrem Platz an der Wand stehen. Ob ich froh sein soll, dass sie noch unterwegs ist, weiß ich nicht.

Erschöpft schließe ich für einen Moment die Augen, während ich mir die Schuhe von den Füßen streife. Die Dielen knarzen leise unter meinen feuchten Socken, als ich zu meinem Zimmer gehe und die Tür hinter mir schließe. Meine Tasche lasse ich achtlos neben dem Schreibtisch zu Boden fallen, und obwohl ich vor ein paar Minuten nichts anderes wollte, als aus meinen nassen Sachen zu kommen, habe ich nun absolut keine Motivation mehr, mich umzuziehen.

Als seltsame Mischung aus Grau- und Dunkelblautönen fällt das letzte Tageslicht durch die Fenster. Es ist bereits nach sieben, beinahe dunkel draußen, und trotzdem mache ich kein Licht. Die seltsam bedrückte Atmosphäre in meinem Zimmer passt gerade ausgezeichnet zu meiner Stimmung. Ich stelle mich ans Fenster, lehne die Stirn gegen die Glasscheibe und betrachte die vorbeifliegenden Lichter der Autoscheinwerfer dort unten auf der Straße, dann schließe ich erneut die Augen. Scheiße, echt … Was für ein bescheuerter Tag. In einer bescheuerten Woche, in einer bescheuerten Stadt, in der ich nie leben wollte. Zweiter Tag in der Klinik, und ich habe nichts Besseres zu tun, als beim Blutabnehmen umzukippen. Und das auch noch vor der Oberärztin der Onkologie, der ich seit heute mit zwei Kommilitoninnen über die Schulter schauen darf. Peinlicher geht’s nicht. Der abwertende Kommentar der Oberärztin hallt noch immer in meinem Gedächtnis: mal wieder eine von der Sorte »Ärztin werden wollen, aber kein Blut sehen können«. Augen auf bei der Berufswahl!

Dabei kann ich Blut sehen. Ich habe nie auch nur ein Problem damit gehabt – und jetzt das. Vielleicht hätte ich besser doch etwas gefrühstückt heute Morgen und nicht mit leerem Magen zur Visite erscheinen sollen.

Schwerfällig öffne ich die Augen, hebe den Kopf und beschließe, mir nun doch lieber etwas Trockenes anzuziehen, bevor ich mich erkälte und direkt in der ersten Woche auf der neuen Station krankmelden muss.

Eine Gänsehaut huscht über meinen Körper, als ich meinen Pulli über den Kopf ziehe und kurz darauf nur in Unterwäsche vor meinem Kleiderschrank stehe. Ich schlüpfe in Leggins und ein graublaues Sweatshirt, binde meine immer noch nassen Haare zu einem unordentlichen Knoten hoch und lasse mich schließlich auf das Bett sinken. Heute werde ich sowieso niemandem mehr unter die Augen treten, also ist es komplett egal, wie ich aussehe. Ivana wird auch heute wieder heimkommen und sich in ihrem Zimmer verschanzen, ohne ein Wort mehr als unbedingt nötig mit mir zu sprechen. Seit zehn Tagen wohnen wir nun zusammen, wobei ich mich größtenteils so fühle, als würde ich hier allein leben. Sie ist so selten zu Hause, dass ich sie kaum zu Gesicht bekomme. Morgens, wenn ich zur Uni muss, schläft sie noch, ihre Vorlesungen beginnen anscheinend erst später, und bis heute weiß ich nicht genau, was sie eigentlich studiert. Irgendwas mit Mode an der Universität der Künste, das hab ich von ihr erfahren, als wir uns vor ein paar Tagen zufällig in der Küche begegnet sind. Auf ein längeres Gespräch mit mir wollte sie sich offenbar nicht einlassen, musste natürlich sofort wieder weiter zur Arbeit. Zusammen mit Freunden, die mit ihr studieren, hat sie ein kleines Modelabel irgendwo in Kreuzberg.

Gut, wir sind nur Mitbewohnerinnen, keine Freundinnen. Vielleicht bin ich nach meiner Zeit mit Mary in München, wo wir alles andere als eine Zweck-WG hatten, auch einfach mit den falschen Erwartungen an diese Sache hier herangegangen. Mehrere Male habe ich versucht, ein Gespräch mit Ivana zu beginnen, doch ihre Antworten waren so knapp und abweisend, dass ich mir letztendlich einfach nur noch blöd vorkam, weiter etwas über sie herausfinden zu wollen. Interessante Küchengespräche, wie ich sie mit Mary hatte, scheinen absolut nicht Ivanas Ding zu sein. Kein einziges Mal haben wir bisher zusammen gegessen oder einfach nur gequatscht. Vielleicht sollte ich Ivana fragen, ob ich irgendetwas falsch gemacht oder etwas Blödes gesagt habe. Jedenfalls trägt ihr Desinteresse nicht gerade dazu bei, dass ich mich wohler in Berlin fühle. Im Gegenteil, ich komme mir mit einem Mal so einsam vor wie noch nie zuvor.

Es war eine Scheißidee, hierherzuziehen. Ich hätte in München bleiben sollen, ein Freisemester nehmen können und hätte dann sicher einen Platz für den klinischen Studienabschnitt an der LMU erhalten. Mary und ich hätten weiter in unserer absolut harmonischen WG gewohnt, und alles wäre gut. Stattdessen hocke ich jetzt hier, habe eine Mitbewohnerin, die mich hasst, und Freunde, die keine Zeit für mich haben.

Das alles wäre nicht einmal so schlimm, hätte ich wenigstens unter meinen neuen Kommilitonen erste Kontakte knüpfen können. Doch auch das stellte sich bei der Einführungsveranstaltung fürs fünfte Semester schwieriger heraus als gedacht. Ich bin tatsächlich die Einzige, die neu in den Jahrgang gekommen ist, und nach vier Semestern haben sich unter meinen neuen Mitstudenten bereits feste Cliquen gebildet. Natürlich habe ich mit dem einen oder anderen bereits ein paar Worte gewechselt, doch da ich mich selbst nicht als die extrovertierteste Person dieser Erde beschreiben würde, ist es mir bisher eher schwergefallen, Anschluss zu finden.

Müde lasse ich mich zurücksinken und betrachte die Decke. Meine Schreibtischlampe taucht den Raum nun doch in warmes Licht, und ich zwinge mich, mit dem Nachdenken aufzuhören. Jetzt gedanklich in Selbstmitleid zu baden bringt mich kein Stück weiter. Immerhin habe ich ein Dach über dem Kopf und zwei Menschen, zu denen ich im Notfall jederzeit kommen könnte. Mit Jojo wollte ich mich die Tage sowieso noch mal treffen, und vielleicht findet auch Phil am Wochenende ein wenig Zeit für mich.

Ich halte den Atem an, als ich meine, ein Geräusch aus dem Flur gehört zu haben, lausche konzentriert in die Stille und nehme dann tatsächlich leise Schritte von draußen wahr. Das muss Ivana sein.

Erst habe ich absolut keine Lust, ihr gegenüberzustehen und mich ihren genervten Blicken zu stellen, doch dann zwinge ich mich, solche Gedanken in den hintersten Winkel meines Hirns zu verbannen. So werde ich noch in hundert Jahren keine neuen Freunde gefunden haben.

Mit diesem Vorsatz erhebe ich mich von meinem Bett. Mein Magen rumort lautstark und erinnert mich daran, dass ich seit dem Brötchen nach dem unangenehmen Vorfall heute Morgen in der Klinik nichts mehr gegessen habe. Ich trete in den Flur. In der Küche ist Licht, und ich bewege mich auf die offene Tür zu. Natürlich erwarte ich Ivana und erschrecke mich beinahe zu Tode, als ich einen Augenblick später einem fremden Typen gegenüberstehe.

Er lehnt mit dem Rücken gegen die Küchenzeile, hält den Kopf etwas gesenkt und hat den Blick auf das Handy in seiner Hand gerichtet. Erst als ich mit einem verunsicherten Schritt nach hinten zurückweiche und dabei schmerzhaft mit der Seite gegen den Türrahmen knalle, bemerkt er mich.

Ich weiß nicht, wie viele Sekunden vergehen, ehe mir klar wird, dass ich ihn völlig hemmungslos anstarre, und trotzdem kann ich den Blick nicht abwenden. Tiefbraune Augen halten mich fest. Ich bringe kein Wort über die Lippen.

»Hi.«

Ein simples, leicht verwirrtes Hi seinerseits, mehr ist es nicht, und doch genügt es, um das Herz in meiner Brust schneller hämmern zu lassen.

»Ich, ähm …«, beginne ich und vergesse im gleichen Moment, was ich sagen wollte.

»Du musst die neue Mitbewohnerin sein?« Seine Stimme klingt ruhig und gelassen, fast eine Spur belustigt, und seine dunklen Augen lassen mich noch immer nicht los.

Ich schaffe tatsächlich ein Nicken. »Die bin ich.« Ich zwinge mich zu atmen. »Und du bist?«

»Leo. Ein Freund von Ivana. Ich dachte, sie ist hier«, erklärt er, und ich nicke erneut.

»Ach so.«

Als dieser Leo mich weiter schweigend, fast ein wenig erwartungsvoll ansieht, fällt auch bei mir der Groschen. Ich habe mich nicht vorgestellt. »Ich bin Mila. Also Emilia. Aber sag einfach Mila.«

Oh Gott. Peinlich, peinlich. Ob er das leicht angespannte Vibrieren in meiner Stimme herausgehört hat, weiß ich nicht. Falls ja, lässt er es mich nicht spüren. Ein feines Lächeln umspielt seine Lippen, während er den Kopf etwas schieflegt.

»Hi Emilia-Mila.«

»Hi.« Meine Stimme klingt atemlos, und ich verfluche mich stumm dafür.

»Leonardo-Leo, wenn du es genau wissen willst. Aber sag einfach Leo.«

»Okay.« Ich schlucke. Unangenehm … Was tut er hier überhaupt, und warum bin ich so nervös?

Leo steckt sein Handy weg, und etwas daran macht mich irgendwie glücklich.

Er ist groß, mindestens einen Kopf größer als ich, eher mehr. Seine dunkelbraunen, leicht lockigen Haare waren wohl irgendwann mal eine Frisur und hängen ihm als herausgewachsener Undercut in die Stirn. Beinahe so, als hätte er meinen Gedanken gehört, hebt er nun die Hand und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Eine Handbewegung, die er ebenso perfektioniert draufzuhaben scheint wie alle Männer, die ich kenne. Markantes Kinn, deutlich erkennbare Wangen- und Kieferknochen, eine etwas zu große, aber gerade Nase. Und Augen, wie eine Mischung aus allen dunkelbraunen Zartbittertönen, nur noch intensiver.

»Hat Vana irgendwas gesagt? Wo sie hin ist, wann sie wiederkommt?« Seine angenehm tiefe, leicht raue Stimme reißt mich zurück in die Gegenwart. Ich schüttele rasch den Kopf und ziehe beide Arme schützend unter meine Brust, als Leo mich noch immer ansieht.

»Keine Ahnung, ich hab sie heute noch nicht gesehen.«

»Hm, komisch … Im Atelier war sie auch nicht.« Kurz noch scheint Leo nachzudenken, dann zuckt er leichtfertig mit den Schultern. »Na ja, irgendwann wird sie schon wieder heimkommen.«

»Wie bist du überhaupt …?«

»Ich habe einen Schlüssel«, erklärt er, als wäre es das Normalste der Welt, nach Lust und Laune in fremde Wohnungen zu spazieren. »Entschuldige bitte, falls ich dich erschreckt habe.«

»Keine Sorge, wie ein gefährlicher Einbrecher siehst du nicht gerade aus«, meine ich, obwohl er mit seiner Vermutung gar nicht mal so danebenlag.

»Dafür bist du aber ganz schön zusammengezuckt.« Er schmunzelt.

»Allzu oft passiert es eben nicht, dass ich in die Küche komme und dort einen wildfremden Typen vorfinde.«

»Ich entschuldige mich vielmals.«

Ich muss lächeln. Das leichte Grinsen auf seinen Lippen wird noch eine Spur breiter, als sich mein Magen in diesem Moment deutlich hörbar zu Wort meldet. Reflexartig ziehe ich die Arme enger um meinen Körper, doch Leo ist das Geräusch natürlich nicht entgangen.

»Hunger?«

Ertappt nicke ich. »Bin eben erst aus der Uni gekommen.«

»So spät? Krass …«

Mein Herz pocht stärker, als ich mit wenigen Schritten die Küche durchquere und dabei ziemlich nah an ihm vorbeigehen muss. Obwohl Ivana nicht hier ist, macht er keinerlei Anstalten zu gehen, und irgendwo ganz tief in meiner Brust freut es mich, dass er noch bleibt, obwohl er dazu eigentlich keinen Grund hat.

Der Regen prasselt von draußen gegen das Glas der Balkontür, übertönt die Stille, die sich plötzlich über uns gelegt hat. Ich öffne den Kühlschrank und werde das Gefühl nicht los, Leos Blick in meinem Rücken zu spüren. Tatsächlich höre ich ihn nun leise auflachen und bekomme eine Gänsehaut.

»Typisch, Vana …«

Ich verstehe erst, was er meint, als ich mich auf den Anblick konzentriere, der sich mir bietet. In unserem Kühlschrank herrscht gähnende Leere. Ich sichte mehrere Wasserflaschen, Milch, Eier, eine Salatgurke und eine Packung Margarine. Ja richtig, einkaufen gehen wollte ich heute eigentlich auch noch … Ernüchtert lasse ich die Kühlschranktür wieder zufallen und komme zu dem Schluss, dass es für mich wohl auch heute wieder Müsli zu Abend geben wird.

»Pfannkuchen?«

Ertappt drehe ich den Kopf in Leos Richtung. »Hm?«

»Magst du welche?«

Ich nicke reflexartig auf seinen fragenden Blick.

»Sehr schön.« Er geht bereits an mir vorbei und öffnet die Kühlschranktür.

»Du musst nicht …«, beginne ich, doch komme nicht weit.

Er wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Ich weiß.«

»Leo …«

Die Zeit scheint für einen winzigen Augenblick stillzustehen, nachdem ich zum ersten Mal seinen Namen gesagt habe und er mich, mit der Milchpackung in der einen und zwei Eiern in der anderen Hand, ansieht.

»Ich habe gerade überwältigend große Lust, welche für dich zu machen.« Unbeirrt stellt er die Zutaten auf der Arbeitsplatte ab und hebt den Blick erst wieder, als von mir immer noch keine Antwort kommt. »Also, wenn das okay ist.«

»Fragst du mich das gerade wirklich?«

Er zuckt nur lächelnd mit den Schultern und wartet, bis ich ihm antworte.

»Du bist verrückt, und ja, es wäre sehr okay.«

»Puh, ein Glück.« Er lächelt dieses viel zu schöne Lächeln und dreht sich wieder weg, öffnet eine der Schranktüren, die ich noch nie weiter beachtet habe, und befördert eine Packung Mehl ans Tageslicht.

»Pfannen sind da unten, glaube ich«, meine ich, um nicht völlig unnütz herumzustehen, und deute zu einer der Schubladen neben dem Backofen.

Leo nickt bloß. »Ich weiß, ich koche hier nicht zum ersten Mal, also alles gut.«

Aus irgendeinem Fach hat er plötzlich eine große Schüssel gezaubert. Als er bemerkt, dass ich noch immer mitten im Raum stehe, hält er inne. »Setz dich, ich kenne mich vermutlich besser in dieser Küche aus als du.« Seine Stimme klingt gelassen und trotzdem so bestimmt, dass ich mich nicht traue, zu widersprechen, sondern kommentarlos auf einen der Stühle am Tisch sinke.

Stumm beobachte ich, wie er die Zutaten für den Teig in die Schüssel gibt.

Ich will gerade fragen, ob ich nach einer Küchenwaage suchen soll, als er bereits das Wort ergreift. »Dich stresst irgendwas.«

Überrascht sehe ich ihn an.

»Du könntest mir verraten, was es ist.« Mit der Schüssel im Arm dreht er sich zu mir.

»Es ist nichts«, beginne ich vage. Leo wartet einen Augenblick, dann hebt er auffordernd die Augenbrauen.

»Du müsstest schon etwas genauer erklären, was du unter nichts verstehst, damit ich helfen kann.«

Ich muss lächeln, obwohl mir danach nicht gerade zumute ist. Als Leo es bemerkt, schmunzelt er ebenfalls. Dann seufze ich leise. »Irgendwie ist zurzeit alles ein bisschen viel. Der Umzug, ich musste die Uni wechseln. Jetzt bin ich hier, und eigentlich ist alles gut, aber … keine Ahnung.«

»Was studierst du denn?«

»Medizin«, sage ich, und es ist wie immer, wenn ich jemandem davon erzähle. Leo mustert mich beeindruckt, und ich mache mich auf einen der üblichen Sprüche gefasst. Oh wow. Das ist ganz schön lernintensiv, oder? Hattest du ein Einser-Abi? Also ich könnte das ja nie. Aber es kommt keiner. Im Gegenteil.

»Ich mache also einer Beinahe-Ärztin Pfannkuchen. Verrückt.«

Mein Bauch wird warm, und erneut zupft das Lächeln an meinen Mundwinkeln. »Beinahe ist relativ«, murmele ich.

»Und keine Sorge, Berlin ist am Anfang immer ein bisschen ruppig zu dir«, fährt er fort. »Okay, vielleicht nicht nur am Anfang. Sondern immer. Aber du gewöhnst dich dran.«

»Ist das so?«

»Absolut. Ich kannte kaum jemanden hier, Uni habe ich mir irgendwie auch ganz anders vorgestellt, als sie dann war, und ich hatte die erste Zeit ziemliches Heimweh.«

Dass er so ehrlich ist, überrascht mich. Irgendwie macht es ihn ziemlich sympathisch, dass er das mit dem Heimweh einfach so zugibt.

»Aber nach drei, vier Wochen hatte sich alles eingespielt, und mittlerweile will ich auf keinen Fall mehr weg.«

»Du bist also auch nicht von hier?«

Leo schüttelt den Kopf. »Aus einem Ort in der Nähe von Stuttgart.«

»Wirklich? Das hört man aber gar nicht raus.«

»Wenn ich nüchtern bin und mir Mühe gebe, nicht, nein. Und du?«

»Vom Bodensee.«

»Oh, schön. Quasi um die Ecke also.«

»Du sagst es.«

Ich ziehe ein Bein an die Brust und stelle die Ferse auf der Kante meines Stuhls ab. Während Leo den Gasherd einschaltet und schließlich die erste Portion Pfannkuchenteig in die Pfanne gibt, lege ich meine Wange auf meinem angewinkelten Knie ab. Seine Schulterblätter zeichnen sich unter seinem dunklen Shirt ab. Ich kann nicht anders, als seine sehnigen Arme anzustarren, als er die gusseiserne Pfanne vom Herd hebt.

Ich halte für einen kurzen Moment die Luft an, als er den Pfannkuchen zum Wenden wenige Zentimeter durch die Luft fliegen lässt und ohne jegliche Mühe wieder auffängt.

»Möchtest du nicht zufällig auch hier einziehen? Diese WG braucht dringend jemanden, der kochen kann.«

Er dreht sich zu mir, lacht leise und stützt sich mit den Handflächen an der Kante der Küchenplatte ab, während er sich dagegenlehnt. »Liebend gerne. Nur, wo soll ich schlafen?«, fragt er lachend.

Bei Ivana …? Ich bin kurz davor, es zu sagen, doch verkneife mir die Worte. Ein Freund von Ivana. Das hat er vorhin gesagt. Aber Bester-Freund-Freund? Gelegentlich-Sex-Freund? Richtiger-Freund-Freund? Ich habe keinen blassen Schimmer, aber eigentlich wüsste ich auch nicht, was es mich angeht.

»Machst du das beruflich?«, frage ich, weil mir nichts Besseres einfällt, und deute zum Herd.

»Kochen? Nein, nein. Nur für mich und Freunde. Und Beinahe-Ärztinnen.« Er lächelt wieder, und es ist viel zu schön. Es ist mein Glück, dass Leo sich erneut den Pfannkuchen widmet. Obwohl zwischen unseren Sätzen immer wieder kleine Pausen entstehen, ist es nicht im Geringsten unangenehm. Mit den richtigen Menschen, das habe ich in den letzten Jahren gelernt, kann man auch schweigen, ohne dass es seltsam ist. Und mit Leo ist es nicht seltsam. Es ist schön, in dieser Chaosküche mit fettigem Pfannkuchenduft und warmem Licht, während draußen die Hauptstadt im Herbstregen ertrinkt.

»Studierst du auch?«, frage ich irgendwann.

Er nickt, ohne mich anzusehen. »Ja, Modedesign an der UdK.«

»Oh, wow …«, entfährt es mir, und im Grunde bin ich kein bisschen besser als die ganzen Oh-wow-Menschen, wegen denen ich so oft die Augen verdrehen muss. »Zusammen mit Ivana?«

»Genau.«

»Arbeitest du auch mit ihr in diesem Klamottenlabel?«

»Du meinst Kiezkind? Ja, das haben wir mit ein paar Freunden auf die Beine gestellt.« Jetzt leuchten seine Augen, und auf einmal will ich alles darüber wissen.

»Okay, erzähl mir alles.«

Er lacht. »Du musst schon Fragen stellen, sonst ist es gemein.«

»Gut. Lass mich überlegen. Habt ihr schon Stars eingekleidet?«

»Zählen irgendwelche pseudoprominenten Influencerinnen?«

»Hm, ja. Ich denke schon.«

»Dann ja.«

»Erstaunlich. Wo findet man euch?«

Während Leo mir von dem kleinen Atelier erzählt, das Ivana, er und ihre Freunde irgendwo in Kreuzberg angemietet haben, überträgt sich seine Begeisterung geradezu auf mich. Fast so, als würde er leuchten, während er von diesen Modesachen erzählt, mit denen ich nicht wirklich etwas anfangen kann. Aber das macht nichts, denn so lerne ich erstens etwas Neues und kann zweitens vergessen, dass ich eigentlich schlecht gelaunt war.

Auf einem Teller schichtet Leo einen fertig gebackenen Pfannkuchen über den nächsten. Schließlich öffnet er wieder den Kühlschrank.

»Ihr habt nicht mal Marmelade da? Euer Ernst?«

»Keine Ahnung«, gebe ich zu.

Kopfschüttelnd lässt er die Kühlschranktür wieder zufallen. »Vielleicht sollte ich doch wieder einziehen«, sagt er, und mein Herz zwickt leicht.

Er hat also mal hier gewohnt? Vermutlich wäre jetzt ein guter Moment, um ihn einfach zu fragen, doch ein Teil von mir wehrt sich dagegen. Ich weiß auch nicht.

»Nutella? Auch nicht? Puh, das ist schon alles sehr enttäuschend«, murmelt er, während er einen Küchenschrank öffnet.

»Vielleicht gibt es Zimt und Zucker?«, schlage ich vor.

Seine Miene hellt sich auf. Er geht leicht auf die Zehenspitzen. »Du bist ein Genie, Emilia-Mila.«

Kurz darauf stellt er den Pfannkuchenteller zusammen mit einer Tasse voller Zucker-Zimt-Mischung vor mir auf den Tisch.

»Isst du nicht mit?«, frage ich, als er keine Anstalten macht, sich ebenfalls zu bedienen, sobald er mir gegenübersitzt.

»Darf ich denn?«

»Du hast gekocht, was für eine Frage!«

»Und dein Magen hat wirklich sehr, sehr laut geknurrt. Du musst satt werden«, erklärt er.

»Mir wird spätestens nach vier Stück schlecht. Also bitte, hilf mir.«

»Na gut. Wenn du drauf bestehst.« Leo rutscht auf seinem Stuhl nach hinten und kehrt kurz darauf mit einem weiteren Teller zurück an den Tisch. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt Pfannkuchen gerollt und mit den Händen gegessen habe, aber es ist großartig. Warm, süß und fettig und genau das, was ich nach diesen kalten Schlechte-Laune-Tagen gebraucht habe.

Unsere immer noch sehr angenehme Stille wird jäh unterbrochen, als die Wohnungstür krachend ins Schloss fällt. Beinahe ertappt hebe ich den Kopf und sehe einige Sekunden später Ivana in der Tür zur Küche stehen. Ihr Blick wird hart, als sie Leo und mich dort sitzen sieht. Ehe ich etwas sagen kann, hat sie Leo schon im Visier.

»Wo warst du?« Ihre Stimme klingt scharf. Unbewusst höre ich auf zu kauen, während sie die Arme in die Hüften stemmt.

»Äh, hier?« Leo lässt sichtlich verwirrt die Gabel sinken. Ivana dreht sich mit einem genervten Seufzen um und schlüpft aus ihrem Mantel. Keine Ahnung, wo ich hier hineingeraten bin, aber plötzlich würde ich mich gern unauffällig in mein Zimmer verabschieden.

»Vana, hey … ich dachte, du wärst zu Hause.« Leos Stimme klingt besänftigend. Auf das nahezu trotzige Schweigen im Flur schiebt er schließlich seinen Stuhl zurück und steht auf. Wir wechseln einen kurzen Blick, bevor er Ivana in den Flur folgt.

Ich will ihrem Gespräch nicht zuhören, wirklich nicht. Doch es geht nicht anders.

»Ich war im Label. Rate, wer die Schnitte für Dienstag jetzt komplett allein abgeändert hat.«

»Ich dachte, wir wollten das noch mal besprechen, bevor …«

»Und ich dachte, wir treffen uns dort!«

»Hey.« Leo dämpft die Stimme deutlich, und ich würde mir am liebsten die Ohren zuhalten. Das geht mich alles gar nichts an, und ich hasse Konflikte. Ich hasse sie wirklich, es wird mir in genau diesem Moment wieder bewusst. »Das ist scheiße gelaufen, und es tut mir leid. Ich wollte dich anrufen, aber ich hab’s vergessen. Sorry.«

»Ja, großartig, Mann …«

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie er nach ihrem Handgelenk greift. Es ist nur eine kleine Geste, doch ich habe plötzlich keinen Appetit mehr. Er berührt sie so, wie man jemanden berührt, den man schon sehr oft berührt hat.

»Schau mich an«, bittet er leise.

Sie tut es tatsächlich.

»Was kann ich machen, damit du nicht mehr sauer bist?«

»Meine beschissene Küche aufräumen«, grummelt sie und sieht in meine Richtung. Ertappt senke ich den Blick. »Was habt ihr überhaupt gemacht?«

»Pfannkuchen«, sagt Leo, als wäre es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt.

»Ernsthaft? Pfannkuchen?«

»Ja. Und ich räume natürlich auf. Tut mir leid. Willst du auch welche?«

»Nein, verdammt.« Sie entzieht sich seinem Griff. »Ich geh schlafen.«

»Es tut mir leid, okay?«, wiederholt Leo, dabei scheint uns allen klar zu sein, dass die Worte längst bedeutungslos sind.

»Nacht«, grummelt Vana, bevor sie sich umdreht und ihn tatsächlich stehen lässt. Mich würdigt sie keines Blickes. Sekunden später fällt ihre Zimmertür ins Schloss.

Es ist still, und Leo schließt für einen kurzen Moment die Augen. Er öffnet sie erst wieder, als er meinen Blick zu spüren scheint. Erst zögert er, dann kommt er die wenigen Schritte auf mich zu.

»Tut mir leid, ich sollte …«, beginnt er mit resignierter Stimme, doch ich falle ihm ins Wort.

»Schon okay. Mir tut es leid. Du hättest nicht …«

»Doch«, fällt er mir ins Wort. Sein Blick liegt schwer auf mir, aber irgendwie fühle ich mich auch wieder leichter als noch vor ein paar Sekunden. »Doch, ich wollte aber. Ich hab das mit Ivana vercheckt, das ist jetzt einfach blöd gelaufen. Du kannst nichts dafür.«

»Ihr solltet euch aussprechen«, sage ich, ohne es wirklich zu wollen.

Leo zögert. Sein Blick fällt auf das Chaos auf der Arbeitsfläche.

»Ich räume das auf«, sage ich sofort.

»Nein, ich …«, beginnt er, doch ich lasse ihn nicht ausreden.

»Doch. Wirklich. Und du musst jetzt auch nicht aus Höflichkeit widersprechen, okay?«

Er mustert mich einen Moment lang, als wollte er abwarten, ob ich das gerade wirklich ernst meine. Dann nickt Leo. »Danke«, sagt er. »War schön, dich kennenzulernen, Emilia-Mila. Wir sehen uns, ja?«

Ich hoffe doch, Leonardo-Leo …

Doch das sage ich nicht. Stattdessen nicke ich nur. Als Leo sich umdreht und zurück in den Flur geht, sticht mein Herz ein kleines bisschen. Ich hätte es durchaus noch ein wenig länger in seiner Gesellschaft ausgehalten. Ich kann den Blick erst wieder abwenden, als er Ivanas Zimmertür hinter sich ins Schloss gezogen hat.

Der Regen prasselt weiter gegen die Küchenfenster, während ich den letzten Bissen Pfannkuchen hinunterschlucke und plötzlich keinen Appetit mehr habe. Schweigend räume ich Minuten später die Küche auf, gehe schließlich ins Bad und höre die leisen Stimmen aus Ivanas Zimmer noch, als ich kurz vor Mitternacht das Licht meiner Nachttischlampe lösche.

Bleibt er also über Nacht? Was bedeutet das alles, und warum denke ich überhaupt darüber nach?

Der Tag war lang und wie jeder einzelne der letzten Woche voller viel zu intensiver Eindrücke. Trotzdem sind Pfannkuchen und tiefbraune Augen das Letzte, woran ich denke, ehe ich der Müdigkeit nicht länger trotzen kann und in einem Stück von der Dunkelheit verschluckt werde.

DREI

Emilia

Die nächsten Tage laufen besser. Woran genau das liegt, kann ich nicht sagen, doch meine Kommilitoninnen entpuppen sich bei den gemeinsamen Mittagessen in der Mensa doch als ziemlich cool, und mein morgendlicher Weg per U-Bahn zur Charité fühlt sich langsam, aber sicher nach Alltag an. An diesem Nachmittag fahre ich anstatt in die WG nach Mitte. Es wird höchste Zeit, dass ich Berlin erkunde. Als ich die S-Bahn am Hackeschen Markt verlasse, überlege ich, Phil zu texten. Vielleicht hat er spontan Lust auf einen Kaffee. Ich krame mein Handy aus der Tasche und schreibe ihm eine Nachricht, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Umgebung lenke.

Nach wenigen Schritten entlang der viel befahrenen Straße entdecke ich den Fernsehturm, der über den Dächern in den wolkenverhangenen Himmel ragt. Ich lasse mich treiben, folge den Menschenmassen, die das Bahnhofsgebäude in diesem Augenblick wieder ausspuckt, so lange, bis ich die Hackeschen Höfe erreiche, die ich bisher nur von Instagram-Fotos kannte. Eine Weile wandere ich durch die Innenhöfe, schaue ab und zu auf mein Telefon, doch Phil scheint meine Nachricht noch nicht gelesen zu haben.

Ich weiß nicht, wie lange ich den fremden Wegen folge, Cafés, Imbisse und kleine Geschäfte passiere, als ich plötzlich glaube, meinen Namen gehört zu haben. Irritiert bleibe ich stehen und spüre noch im gleichen Augenblick eine Hand an meiner Schulter.

»Hey, du bist es wirklich!« Leo lächelt und nimmt die Hand erst weg, als ich mich zu ihm drehe. Selbst durch den dicken Stoff meines Wintermantels glaube ich, seine kurze Berührung direkt auf meiner Haut zu spüren. Seine Augen sind wirklich verflucht braun.

»Verrückt, was machst du hier? Berlin ist manchmal so ein Dorf.« Er lacht, und wie schon bei unserem ersten Treffen wird mein Bauch dabei warm.

»Ich weiß auch nicht«, sage ich. »Ich glaube, ich bin auf der Suche nach einem schönen Café. Und du?«

»Wie praktisch. Ich bin gerade auf dem Weg zu einem. Genau genommen dem, in dem ich seit zwölf Minuten arbeiten sollte.«

Ich muss lachen. »Oh, dann lass dich nicht aufhalten!«

»Kommst du mit? Du kommst mit, oder? Es gibt auch Kaffee aufs Haus. Oder Matcha. Was immer du trinkst. Du musst dich nur mit mir beeilen.«

»Okay, okay.« Ich habe gar keine Zeit, darüber nachzudenken, was ich hier eigentlich gerade tue. Plötzlich gehe ich neben Leo die Straße entlang und habe Mühe, bei seinem Tempo Schritt zu halten.

»Perfekt. Hast du keine Uni?«

»Heute nicht mehr. Ich wollte mich ein bisschen in der Gegend umsehen«, erkläre ich, woraufhin er nickt.

»Mitte ist ätzend«, meint er, während er die Hände in den Taschen seiner Jacke vergräbt. »Zu viele Touristen. Wenn ich das nächste Mal Zeit habe, gehen wir nach Kreuzberg, okay? Ich muss dir das Label zeigen und die beste Falafel der Stadt.«

»Einverstanden. Wie weit ist es eigentlich zu deinem Café?«

»Nicht weit. Drei Minuten von hier.«

»Warum nimmst du nicht die Bahn?«

»Ich wohne um die Ecke, das lohnt sich nicht. Eigentlich ist es echt nicht weit, aber keine Ahnung, irgendwie bin ich trotzdem immer zu spät. Meine Kollegen hassen mich«, erklärt er unbekümmert. »Aber ich halte den Rekord beim Trinkgeld, deshalb lieben sie mich auch.«

»Soso.«

Er lächelt. Im Gehen mustert er mich. »Heute war ein besserer Tag?«, vermutet er dann.

Irgendwie schön, dass er das bemerkt. Ich nicke. »Kann man so sagen. Und bei dir? Konntest du das mit Ivana eigentlich noch klären?«

Ich weiß nicht, warum ich es anspreche. Vielleicht, weil mich das Thema seit Tagen beschäftigt, obwohl es das nicht sollte. Als ich am Morgen nach dem Pfannkuchenabend zur Uni aufgebrochen bin, war es bei Ivana noch still. Ich habe keine Ahnung, ob Leo die Nacht bei ihr verbracht hat oder irgendwann gegangen ist.

»Ja, zum Glück«, sagt er, und mein Lächeln fühlt sich seltsam erzwungen an. »Ich glaube, es war halb zwei, als ich gegangen bin. Ich habe versucht, leise zu sein. Bist du aufgewacht?«

»Nein, ich …« Ich schlucke. »Ich habe nichts gehört.«

»Okay, sehr gut. Jedenfalls … Wir hatten noch was zu klären, ich wollte das nicht so stehen lassen. Du hast ja gesehen, wie sauer sie war. Ich kann so was nicht ab.« Ich nicke nur und sehe auf, als Leo nach einigen Sekunden weiterspricht. »Wie versteht ihr euch so?«

»Ivana und ich?«

Er nickt, und ich zögere für einen Augenblick. Die Antwort ist offensichtlich, doch ich werde ganz bestimmt nicht vor ihm schlecht über sie sprechen. »Gut. Na ja … Wir sehen uns nicht oft, um ehrlich zu sein. Hat sie was gesagt?«

»Nein, Unsinn. Aber ich weiß, wie sie sein kann.«

Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe. »Also, beste Freundinnen sind wir tatsächlich nicht.«

»Du darfst das nicht persönlich nehmen, wenn sie manchmal abweisend wirkt. Vana ist so. Sie braucht lange, bis sie mit anderen Menschen warm wird, aber sie meint das nicht böse.«

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