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Felicità!

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Das Glück ist am größten, wenn man es teilen kann

Elli, Marie, Giovanna und Antonella waren einmal unzertrennlich, und das seit ihrem ersten turbulenten Aufeinandertreffen auf dem Pausenhof einer Münchner Grundschule. Dreißig Jahre später sieht das anders aus. Auf die Schule folgten Ehemänner, Kinder, zerplatzte Träume, Affären und Antonellas Tod, den ihre Schwester Giovanna nie verwunden hat. Als Gio beschließt, in ihrem Geburtsland Italien ein Akkordeon zu kaufen, begleitet Elli sie kurzerhand, denn es ist Zeit für ein Wiedersehen mit Marie, die sich, fern von ihnen, in einem kleinen Dorf in Mittelitalien ein neues Leben aufgebaut hat. Für die drei Frauen geht es um mehr als ihre Freundschaft, sie müssen herausfinden, was in ihren Leben wirklich zählt – und nur gemeinsam können sie dem Glück ein Stück näher kommen.

»Eine mitreißende Geschichte um Verlust und Tod, aber auch um das Leben, die Freude und das Glück.« Süddeutsche Zeitung


  • Erscheinungstag: 21.11.2023
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905959
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1.
CASTELFIDARDO.

Giovanna

Die Glastür schloss sich sanft hinter ihr. So, als wolle sie dem langen Weg der Entscheidung, der Giovanna hierhergebracht hatte, kein allzu forsches Ende setzen. Giovanna fühlte den ledernen Griff des Instrumentenkoffers warm und konkret auf der Haut ihres Handinneren. Trotz des nicht unerheblichen Gewichts, mit dem das Akkordeon ihren Arm nach unten zog, verspürte sie eine immense Leichtigkeit. Die Schwere von Jahren schien in diesen wenigen Momenten von ihr abgefallen zu sein, in denen sie der Geschäftsführerin zur Kasse gefolgt war, bezahlt und den Koffer mit dem Akkordeon an sich genommen hatte. Endlich. Als hätte allein der Akt der Übergabe, Geld gegen Gewicht, eine Last von ihr genommen. Die ganze lange Fahrt von München nach Castelfidardo, wo das Instrument auf sie gewartet hatte, hatte sie neben ihrer Freundin Elli, die hinter dem Steuer saß, auf dem Beifahrersitz herumgezappelt – hin- und hergerissen zwischen gespannter Erwartung und der bangen Frage, ob sie stark genug sein würde, sich den Geistern ihrer Vergangenheit zu stellen, die sie vermutlich beschwören würde, wenn sie die weißen und schwarzen Tasten unter ihren Fingern berührte. Die E-Mail, in der stand, dass sie das Akkordeon abholen könne, war schon vor einigen Wochen in ihrem Postfach aufgepoppt. Bestellt hatte sie es in einem Augenblick der Zuversicht. Erfüllt von der Hoffnung, damit ein Stückchen jener Vergangenheit zurückgewinnen zu können, die sie mit ihrer Schwester verloren hatte.

Ihr Vater hatte ihr zugeraten, das Akkordeon zu kaufen. Giovanna war dankbar gewesen für die Entscheidungshilfe. Sie hatte damals, vor einigen Monaten, nicht wissen können, dass sich hinter dem Mitgefühl ihres Vaters, seiner Empathie, ein schlechtes Gewissen verbarg.

Als dann die Nachricht von Victoria aus Castelfidardo kam, das Akkordeon sei zur Abholung bereit, hatte Giovanna um Aufschub gebeten. Nicht nur, weil sie gerade nicht aus München wegkonnte – einen Übersetzungsauftrag musste sie zuerst erledigen, der ihr das notwendige Geld, die knapp 3000 Euro für das Instrument, in die Kasse spülen sollte. Giovanna verdiente zwar nicht schlecht mit ihrer Arbeit für deutsch-italienische Firmen, aber der Zusatzauftrag war ihr gerade recht gekommen.

Doch da war noch etwas anderes, das sie daran gehindert hatte, sofort in das idyllische Städtchen an der Riviera del Conero zu fahren, das im Walzerrhythmus zu atmen schien und in dem das Akkordeon sogar als Malerei den Asphalt der Straßen zierte: Es war auch die Wut auf ihren Vater gewesen, die sie zurückgehalten hatte. In der Zwischenzeit hatte sie von seinem Verrat erfahren, der vielleicht gar keiner war; erst durch sein jahrzehntelanges Schweigen war es einer geworden. Warum also sollte sie ihrem Vater jetzt noch vertrauen und seinen Ratschlägen folgen? Sie hatte ihn dorthin gewünscht, wo der Pfeffer wächst, und das bestellte Akkordeon, voller Wut und Enttäuschung, mit ihm, bevor sie erkannte, dass sie damit viel mehr sich selbst schaden würde als ihm.

Also hatte sie ihre Freundin Elli angerufen und sie gebeten, mit ihr zu kommen. Drei Tage, hatte Giovanna gesagt, mehr würden sie nicht brauchen. Dass Elli vorschlug, gleich eine ganze Woche Urlaub damit zu verbinden, hatte sie nicht erwartet. Erst recht nicht, dass Elli auch noch Marie ins Spiel brachte, die Freundin, die Giovanna seit Jahren aus den Augen verloren hatte. Elli hatte sofort den Routenplaner befragt, Giovanna noch an der Strippe.

»Eineinhalb Stunden von Castelfidardo in die Sibillinischen Berge, das wäre zu schaffen. Willst du?« Giovanna sagte »Ja«, ohne sich Zeit zum Nachdenken zu geben. Und das war noch ein Grund mehr, aufgeregt zu sein, auf der Fahrt von München nach Ancona und dann noch die 35 Kilometer weiter nach Castelfidardo.

Als sie nun auf die Straße trat, die Auswahl an wunderschönen Akkordeonmodellen im klimatisierten Ausstellungsraum hinter sich zurückließ, das eine, das jetzt ihres war, in der Hand, war die Augustsonne hinter einem Aufmarsch aufgeplusterter Kumuluswolken verschwunden.

Die Luft war schwer von Feuchtigkeit, fast sofort begann ihr Shirt, wie mit Klebstoff bestrichen, an Giovannas Haut zu haften. Ein erster Tropfen fiel herab und landete ausgerechnet auf der schwarzen Oberfläche des Instrumentenkoffers. Giovanna hievte ihre Last eilig hoch und beförderte sie über das Kopfsteinpflaster hinunter bis zu dem kleinen Platz, wo Elli mit dem Wagen auf sie wartete. Die Schlepperei war reichlich mühsam. Doch Giovannas einziger Gedanke galt im Augenblick dem Instrument, dessen Klang sie nun mit sich trug. Als würde die Verkäuferin, die es ihr vor kaum zwanzig Minuten präsentiert und probeweise noch einmal darauf gespielt hatte, noch immer ihre geübten Finger über die Tasten gleiten lassen. Die leise gesetzten Akkorde im Bass hatten den Raum nach und nach erfüllt und Giovanna eingewoben in ein Netz aus Tönen. Es hatte ihr ein Gefühl tiefer, lange entbehrter Befriedigung geschenkt, das sie bereits verloren geglaubt hatte. Dann hatte Giovanna die abgezählten Scheine aus der Tasche genommen, erleichtert, das viele Geld endlich los zu sein, hatte den schwarzen Koffer, in dem das Instrument jetzt lag, hochgehoben, seine erdende Schwere gespürt und ihn hinausgetragen.

Elli stand hinter dem schräg geparkten Wagen, Giovanna sah, dass sie einen Schirm aufgespannt hatte und so wild winkte, dass sie auf der Stelle zu hüpfen schien. Giovanna musste lächeln beim Anblick ihrer Freundin, trotz der Last, die sie trug. Elli war aufgeregter als sie selbst, schien es ihr, so sehr freute sie sich für sie. Bei jedem Hopser wippten ihre blonden korkenzieherähnlichen Löckchen auf die kräftigen Schultern herab und wieder zurück in ihre Ausgangsposition auf die Höhe ihres ausgeprägten Kinns. Die letzten Meter, die Giovanna noch bis zum Auto fehlten, lief Elli ihr mit dem Schirm entgegen. Sie war gut einen Kopf größer als Giovanna und bugsierte sie sicher zum Heck des Wagens, wo sie angestrengt weiterhin den Schirm mit einem Arm in die Luft streckte, während sie sich bückte und mit der anderen Hand eilig den Kofferraum öffnete. Gemeinsam hoben sie das schwere Instrument hinein, dann verschwand es hinter der sich schließenden Klappe. Der Regen war stärker geworden und Giovanna dankbar für den Schirm, unter dem sie mit wenigen Schritten die Beifahrertür erreichte. Sie ließ sich auf den Sitz plumpsen, beobachtete, wie Elli auf die andere Seite des Autos hastete und konnte sich nicht schnell genug hinüberrecken, der Freundin die Türe von innen zu öffnen. Da war Elli schon im Wagen, hatte den Schirm geschlossen und das tropfnasse Ding hinter den Sitzen verstaut. Ganz kurz verspürte Giovanna den Impuls, noch einmal aus dem Auto zu springen und sich mit einem Blick in den Kofferraum zu vergewissern, dass es auch dort lag, das Akkordeon – als könne es plötzlich weg sein, verschwunden, so wie ihre Schwester. Wie zuvor ihre Mutter. Ja, auch wie Marie.

Doch da hatte Elli schon den Motor angelassen und lenkte den Wagen durch das Gewirr der Gassen hinaus zur Via Roma, auf der Suche nach dem richtigen Weg zu ihrer Pension. »Giò«, sagte sie, und wie immer, wenn sie den Namen ihrer Freundin abkürzte, klang es wie das englische »Joe«. Bei Giovannas Mutter hatte es sich vollkommen anders angehört, so als stürzten das »I« und das »O« nach dem stimmhaften »Dsch« gemeinsam einen sehr steilen Abhang hinunter. »Dscho’« hatte es geklungen, das »O« hinten abgerissen im rasanten Fall der Intonation. Ihr Vater dagegen sprach sie selten anders als mit dem Kosenamen an, den er exklusiv für seine ältere Tochter reserviert hatte. »Uccellino«, »kleiner Vogel«, hatte er sie genannt, als sie noch mit ihm geredet hatte. Und bei Antonella war es gewesen, als würde sie den Namen ihrer genau zwanzig Minuten älteren Schwester singen. So wie sie alles, was sie tat, in eine Melodie verwandelte, Moll oder Dur, je nachdem, wie sie sich gerade fühlte. Bis all ihre Melodien verstummt waren.

Elli schaltete in den zweiten Gang; die Straße führte sie außen um das Städtchen herum, die Zweige der üppig wachsenden Kiefern an ihrem Rand gaben immer wieder den weiten Blick ins Tal frei, über das der Regen – der erste seit Wochen, wie die Verkäuferin im Akkordeonladen erzählt hatte – einen zarten Schleier gebreitet hatte. Giovanna erinnerte sich an diese Straße. Es war dieselbe, über die ihr Vater damals den Fiat gesteuert hatte. Tiefblau war der Wagen gewesen, wie der Frühling, der an jenem Tag vor bald 40 Jahren den Himmel hoch und hell über Castelfidardo spannte. »Ein Ort der Musik«, von dem ihre Mutter Allegra nicht aufgehört hatte zu schwärmen, als sie dabei gewesen war, in ihrer römischen Wohnung die Reisetaschen für die beiden Mädchen zu packen.

Damals waren sie mittags angekommen, Giovanna, ihre Eltern und ihre Schwester, nachdem sie einmal den italienischen Stiefel in seiner Breite durchmessen und einen phänomenalen Hagelschauer gleich hinter L’Aquila durchquert hatten. Antonella hatte gesungen – natürlich hatte sie das, sie hatte mit ihrer klaren Stimme den Alt der Mutter ergänzt bei irgendeinem jener Lieder, die Mama ständig vor sich hin summte. Sie schöpfte aus einem bemerkenswerten Fundus traditioneller, klassischer und populärer Musik, die sie unmöglich alle am ehrwürdigen römischen Konservatorium Santa Cecilia gelernt haben konnte. Solche Texte!? Manche dieser Lieder klangen so sehr nach neapolitanischen Hinterhöfen, dass Giovanna immer wieder der Verdacht beschlich, ihre so kultivierte Mutter musste in ihrer Jugend manche ganz und gar unkultivierten Dinge getan haben. Aber das hätte sie ihren Töchtern gegenüber nie zugegeben – und jetzt war es zu spät, sie danach zu fragen.

»Giò?« Elli musste sie zum wiederholten Mal angesprochen haben. Besorgnis, aber auch ein wenig Ungeduld lagen in ihrer Stimme, und Giovanna bemühte sich, in die Gegenwart zurückzukehren.

»Und?«, wollte die Freundin wissen und machte eine Handbewegung in Richtung Kofferraum, »ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«

»Ich, ich glaube schon.« Giovanna strich sich eine feuchte Strähne ihrer dunklen Haare aus dem Gesicht und streckte den leicht verspannten Rücken, der ihr das Schleppen des schweren Akkordeons übel genommen hatte. Mit Mitte vierzig sollte man seinen Bandscheiben besser keine Experimente mehr zumuten. Vielleicht aber war es auch das Grübeln, das ihr Kreuz nicht mochte. Sie nahm Ellis Frage dankbar zum Anlass, ihren trübseligen Gedanken zu entkommen.

»Was heißt, du glaubst schon? Sieht es so aus, wie du es bestellt hast, oder nicht?«

Giovanna verzog das Gesicht zu einem amüsierten Lächeln. Elli war sicher das unmusikalischste Wesen, das weltweit zu finden war. Klar, dass sie nicht nach dem Klang des Akkordeons fragte, sondern nach seiner Optik. »Natürlich sieht es so aus, wie ich es bestellt habe.«

»Ja, aber dann ist doch alles klar, oder nicht?«

»Ich vermute es, ja. Hab’s nicht ausprobiert.« Giovanna kannte ihre Freundin gut. Gut genug jedenfalls, um zu wissen, dass Elli spürte, wenn sie an einem entscheidenden Punkt des Gesprächs angekommen waren. Und so war Giovanna auch klar, dass Elli aus Feingefühl nicht weiter fragte und nicht wegen fehlendem Interesse. Irgendwann würde sie Elli vielleicht erklären können, warum sie sich im Laden gescheut hatte, selbst die Gurte des wunderschönen Instruments, dessen silberne Beschläge auf dem schwarzen Korpus glänzten, über die Schultern zu streifen und ihre Finger auf die Tasten und Knöpfe zu legen. Und sicher würde der richtige Augenblick irgendwann da sein, es zu tun.

Immerhin war sie hergekommen, hatte sich entschieden, das Instrument endlich zu holen. Bis zu diesem richtigen Augenblick aber würde sie sich damit begnügen, es bei sich zu wissen. Mit den Fingerspitzen die feinen silbernen Buchstaben nachzufahren, die sie in den Koffer hatte eingravieren lassen.

So fein wie die kunstvollen Beschläge der Konzertinstrumente, die sie schon als achtjähriges Mädchen völlig fasziniert hatten, als sie hinter ihrer Mutter durch die Tür einer jener vielen Akkordeonwerke getreten war, die zum Ort gehörten. Eine Kundin war damals eben dabei gewesen zu spielen, und das Licht hatte sich verfangen in den silbernen Ornamenten auf dem Gehäuse, hatte sie zum Leuchten gebracht, so wie für Giovanna der Klang zu leuchten schien, der aus den Tiefen des Balgs stieg, sich in den Windungen ihres Gehörs und ihres Herzens verankerte. Damals hatte sie nach Mamas Hand gegriffen und sie festgehalten. Atemlos. Fasziniert. Und erfüllt von dem augenblicklichen Wunsch, einmal selbst so ein Akkordeon zu besitzen.

Was am Preis scheiterte bei jenem, ihrem ersten Besuch in Castelfidardo, an dem ihre Welt noch sauber in ihrem Umlauf unterwegs war. Papà, ach Papà, hatte bedauernd den Kopf geschüttelt, als Giovanna ihn bestürmte. »Das ist im Moment nicht drin, Uccellino«, hatte er ihr erklärt und einen Blick mit seiner Frau getauscht, um sicherzugehen, dass sie, die Musikerin, nicht in ihrer eigenen Begeisterung schon eine Zusage gemacht hatte, die er nicht einhalten konnte. Giovanna hatte den Blick aufgefangen und gewusst, dass sie verloren hatte. Nicht mal die vehemente Fürsprache ihrer Schwester hatte etwas genützt. Antonella hatte den Eltern in den Ohren gelegen – die ganze Werkstattführung hindurch, auch noch während die Erwachsenen noch einen Espresso aufs Haus tranken und die Kinder einen Dolce aßen, bis sie den Laden wieder verlassen hatten. Bei Musik war auf ihre Schwester Verlass. Sie verstand, was in Giovanna vorging, und hätte sich ebenso gefühlt wie sie, hätte es sich nicht um ein Akkordeon, sondern ein neues Cello gehandelt, in dessen Klang sie selbst sich verliebt hätte.

Antonella hatte Musik geliebt, mehr noch als Giovanna. Und während ihre Zwillingsschwester schon mit zwei Jahren jede aufgeschnappte Melodie nachgesummt hatte, war Giovanna den wilden Rhythmen erlegen, die sie auf Töpfen, Gläsern und Holzkisten trommelte.

Giovanna liebte Musik, doch Antonella lebte sie. Sie schien selbst zu einem Wesen aus Tönen zu werden, wenn sie den Bogen über die Saiten des Piccolo-Cellos streichen ließ, auf dem sie schon als Vierjährige bestanden hatte. Dann war es, als verschwände das schüchterne Mädchen hinter der Stimme des Instruments, und zurück bliebe nichts als der pure Klang. Doch die Töne, welche das Lied ihrer Schwester gebildet hatten, waren heute verloren, verschüttet unter den häuserschweren Lasten von Giovannas Trauer, der Gesang aus dem Takt geraten unter dem steten Beschuss ihrer Selbstanklage.

Da waren sie schon wieder, diese Erinnerungen. Vielleicht war die Fahrt hierher doch keine so gute Idee gewesen.

Giovanna ließ das Fenster auf ihrer Seite des Wagens herunter und versuchte, den Kopf in den Fahrtwind zu halten. Dass dabei der Regen ihr Gesicht wusch, war ihr nur recht. Diesmal wollte sie Elli nicht sehen lassen, dass sie weinte.

2.
NOTTE.

Elli

Elli konnte nicht schlafen. Sie lauschte hinüber zu ihrer Freundin und war sich nicht ganz sicher, ob Giovannas regelmäßige Atemzüge nicht vorgetäuscht waren. Vielleicht erging es ihr ja nicht anders als ihr selbst – sie hätte keine Lust gehabt, zu reden, todmüde wie sie war. Die lange Fahrt steckte ihr noch in allen Knochen, und der Stress der vergangenen Wochen schien sie stärker erschöpft zu haben, als sie gedacht hatte. Außerdem lagen ihr die Panini con mozzarella schwer im Magen, die sie sich nach ihrem Einchecken in der Pension gekauft und abends auf der Dachterrasse verzehrt hatten. Mangels anderer Gäste hatten sie die Aussicht auf das Tal für sich allein gehabt. Die Panini waren viel zu lecker gewesen, und Elli hatte viel mehr gegessen, als sie eigentlich gewollt hatte. Dazu hatten sich die Freundinnen zwei Flaschen Weißwein gegönnt, einen kräftigen Vigor Passerina, angebaut in den Marken, und auf alte Zeiten angestoßen. Und sie beide waren am Ende ein wenig überrascht gewesen, als nur noch die leeren Flaschen auf dem hohen, weiß getünchten Holztisch standen, und sie einige Mühe gehabt hatten, von den massiven Barhockern wieder herunterzukommen. Auch die grünen Oliven, Tomaten und gesalzenen Kartoffelchips hatten sie bis auf den letzten Bissen verzehrt, während sie den Blick übers Tal schweifen ließen, in dem nach und nach die Lichter weniger wurden, die in den verstreuten Häusern und der einen oder anderen Werkstätte brannten, wo ein Akkordeonbauer bis spät in die Nacht an der Einstellung einer Tastenmechanik arbeitete oder dem Aufwachsen der Stimmplatten.

»Ganz wie damals«, hatte Giovanna geseufzt, Elli zuprostend, »als wir am Strand bei Follonica saßen und es so heiß war, dass wir mitten in der Nacht ins Meer gegangen sind.«

Elli fixierte konzentriert ihr Glas: »Wir hätten ertrinken können, so besoffen wie wir waren«, wandte sie ein, ihre Zunge stolperte über das »O«.

»Der Wein war aber nicht so gut wie heute. Lambrusco, dieses süße Zeug.«

Giovanna schüttelte sich. »Ekelhaft!«

Dann hatten sie weitergetrunken, ständig hatte eine von ihnen gefragt: »Weißt du noch?«

»Damals im Sommerlager?«, hatte die andere sekundiert.

»Als wir die Nacht durchgemacht haben und in dieses Schwimmbad eingestiegen sind? Da waren wir auch besoffen«, hatte Elli kopfschüttelnd gesagt.

Und Giovanna: »Weißt du noch? In Berlin? Als Marie aus dem Fenster geklettert ist und Herrn Hauser eine Rose ins Zimmer geworfen hat?«

Giovanna war noch erstaunlich nüchtern, fand Elli, wahrscheinlich war sie den Alkohol doch mehr gewohnt als sie selbst.

»Dem Englischlehrer? Den sie so angehimmelt hat?« Elli lachte lauter, als sie wollte. Zu dem Zeitpunkt waren sie längst bei der zweiten Flasche angekommen, und Elli fiel schon wieder etwas ein: »Weißt du noch, als Susanne beinahe ins Elefantengehege gestürzt ist, damals am Ende der Vierten?«

Und Giovanna: »Schade, dass sie es nicht getan hat. Da hätte sie wenigstens mal wirklich etwas zu erzählen gehabt.«

Sie hörten erst auf damit, als Elli am Ende der zweiten Flasche gar nicht mehr darüber nachdachte, was sie von sich gab und sagte: »Weißt du noch? Damals in Griechenland?« Und noch im selben Augenblick hatten beide Antonella vor Augen, und Elli hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Von einem Moment zum anderen war die Stimmung gekippt.

»Nein, nein, alles gut«, hatte Giovanna gesagt, als Elli sie fragte, ob alles in Ordnung sei, sich entschuldigte. Doch das Lachen war verschwunden von der Terrasse, von jetzt auf gleich, und Elli verwünschte sich für ihre Gedankenlosigkeit.

Feingefühl wie ein Metzgerhund. Das Zitat aus einem Pumuckl-Hörspiel ihrer Kindertage kam ihr in den Sinn, während sie wach im Bett lag und sich Vorwürfe machte. Zuerst die Sache mit Marie. Und dann musste sie die Freundin auch noch an Antonella erinnern. Kein Wunder, dass Giovanna völlig unvermittelt ins Bett gegangen war.

Sie hatte sich zwar nichts anmerken lassen, als Elli ihr von Marie erzählt hatte, hatte so getan, als sei die Aussicht, die Freundin wiederzusehen, nur eine große Freude für sie. Doch in ihrem Innern musste es anders aussehen, überlegte Elli. Sie wusste, wie sehr Giovanna Marie vermisste, ihre Zweitschwester, wie sie sie immer genannt hatte, als noch alles zwischen ihnen in Ordnung gewesen war. Doch sie redete nie darüber. Elli konnte nur erahnen, was in Giovanna vorging. Wenn sie miteinander telefonierten und Giò sie fragte, ob sie wieder einmal etwas gehört habe von Marie. Die Sache mit Italien musste sie gekränkt haben. Auch ihr, Elli, hatte Marie es nicht angekündigt, sich aber immerhin auf einmal aus Italien gemeldet. Doch kein Wort zu Giò. Sicher, Elli und Marie kannten sich länger, waren schon im Kindergarten befreundet gewesen. Und doch war vom ersten Tag ihrer Freundschaft an eine besondere Beziehung zwischen Giovanna und Marie entstanden, eine Zuneigung, die sich jedem Erklärungsversuch entzog. Eine Verbundenheit, die vielleicht nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer so unterschiedlichen Charaktere über viele Jahre Bestand hatte. Elli, die beide so gut kannte wie sonst wohl niemand, hatte ihre Beziehung nie ganz verstanden.

Marie, die mit ihrem Dickkopf durch jede Wand wollte, die an Gerechtigkeit glaubte und daran, dass diese immer siegen würde. Marie mit ihren Überzeugungen und dem unbedingten Willen, sie auch durchzusetzen; mit ihrer Leidenschaft für Politik und ihrem Bedürfnis, ständig über alles zu diskutieren, Marie mit ihrer Parteiarbeit, ihren Vorstandssitzungen, Grundsatzprogrammen, ihrem SPD-Parteibuch – und ihren grünen Ideen. Marie mit den kurz geschorenen Haaren und den zerrissenen Jeans, die bei ihr nicht aus modischen Gründen Löcher hatten, sondern »weil man nichts wegwirft, bevor es ganz kaputt ist«, das hatte sie immer wieder gepredigt. Und die Freundinnen waren im Chor eingefallen, weil ja klar war, was jetzt kommen würde: »Andere wären froh, wenn sie eine kaputte Jeans hätten.«

Sicher, dieses Outfit war auch ein Zeichen, das Marie setzen wollte. Schließlich gab es ihrer Meinung nach viel wichtigere Dinge als Mode. Die Rettung der Erde war darunter vielleicht noch das Geringste. Und dagegen Giovanna. Elli drehte den Kopf und sah nachdenklich zu ihrer leicht schnarchenden Freundin hinüber. Eine Straßenlaterne draußen hinter den hellen Vorhängen lieferte ausreichend Licht, dass die elegante Form ihrer Hüften unter dem Laken erkennbar war. Giovanna scherte sich nicht um die Welt, also nicht um jene, die jenseits ihres eigenen Universums lag. Zumindest behauptete sie das, aber Elli wusste, dass das nicht stimmte. Die Welt habe sich schließlich auch noch nie um sie geschert, erklärte Giò, wenn Marie wieder mal eine ihrer Grundsatzdiskussionen vom Zaun brach. Und Elli verteidigte Giovanna im Geiste. Schließlich hatte die gebürtige Römerin erlebt, dass sie noch nicht mal in der Lage war, ihren kleinen Nukleus aus Familie und Heimat zu schützen. Wie hätte sie sich anmaßen können, sich um das große Ganze kümmern zu wollen? War es die Welt überhaupt wert, gerettet zu werden? Das waren die Fragen, die Giovanna sich stellte. Oft genug hatte sie darüber diskutiert.

»Wieso bist du so überzeugt von dem, was du tust, Marie?«, war eine von Giovannas Fragen gewesen, wenn sie zusammensaßen, nachmittags am See oder im Winter in Ellis Zimmer, wo sie die Tür hinter sich schließen konnten und viel mehr Platz hatten als bei Marie zu Hause und sich nicht so beobachtet fühlten wie bei den römischen Zwillingen im Haus ihrer Münchner Großmutter.

Giovanna wollte nichts wissen von Politik. War es nicht die Politik gewesen, die Schuld hatte am Tod ihrer Mutter? Nie hatte ihr Vater darüber sprechen wollen, so viel hatte Elli erfahren, aber nicht, was genau passiert war und warum. Keine der beiden Schwestern hatte je wirklich davon erzählt. Doch Elli hatte gesehen, wie Giovanna dichtmachte und wie Antonella ganz steif wurde, wenn es darum ging, ob die Linken oder die Rechten die Besseren waren. Als es in der Schule einmal um die Siebzigerjahre ging, in Sozialkunde, hatte die Lehrerin das Thema RAF und Rote Brigaden angesprochen. Antonella war aufgestanden und hatte mit den Worten »Kann ich zur Toilette?« einfach den Raum verlassen, ohne auf eine Antwort zu warten. Die Lehrerin hatte Giovanna hinterhergeschickt. An diesem Tag waren beide Mädchen nicht wieder in den Unterricht gekommen.

Nein, sie wolle nichts zu tun haben mit Politik, erklärte Giovanna Marie immer wieder, sie habe keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Und wenn Marie dann sagte: »Aber vielleicht solltest du, gerade du …«, dann unterbrach sie Giovanna in einem rüden Ton, den sie sonst nie anschlug. »Du weißt gar nichts, lass mich! Wenn du das tun willst, dann mach es, aber lass mich damit in Ruhe!« Darauf hatten sie sich irgendwann geeinigt. Auch wenn Giovanna in ihrer Radikalität später milder wurde, um Maries willen. Für Marie hätte sie vieles getan, das wusste Elli. Ob Marie das klar war?

Und jetzt würden sie sich wiedersehen. Elli wurde immer nüchterner, je mehr sie über diese Begegnung nachdachte, die sie da initiiert hatte. War es ein Fehler gewesen? Hatte Marie vielleicht nur ihr zuliebe zugestimmt? Sie und Giò hatten sich kaum mehr gesehen in den vergangenen Jahren, schon vor Maries Auswanderung. Wie sehr hatten diese Jahre sie einander entfremdet, hatten sie die Unterschiede verstärkt? Giò hätte eigentlich Musikerin werden sollen, sie war immer emotional, handelte instinktiv, niemals rational, Marie dagegen war sachlich, überlegt, sie wog ab, was sie tat. Normalerweise. Giovannas Argumente waren ein Lächeln, der Aufschlag ihrer graublauen Augen, die flüchtige Geste, mit der sie sich die Haare aus der Stirn strich. All das wirkte bei ihr zufällig, ungeplant, und vielleicht war es das auch, wenn auch böse Zungen behaupteten, dass sie ganz genau wisse, was sie tat.

Manchmal, wenn Elli sich an all die Jahre zurückerinnert hatte, in denen ihre kleine Clique bestand, hatte sie dem Verdacht nachgehangen, dass Marie insgeheim in Giovanna verliebt gewesen sein könnte, dass die Liebe vielleicht das Einzige war, was auch eine so rationale Person wie Marie nicht steuern konnte. Dass sie, die sich mit ihrer hageren Schlaksigkeit, ihrem völligen Fehlen weiblicher Rundungen schon früh abgefunden und ganz offensichtlich ihrer Körperlichkeit keinerlei Macht über ihr Sein und Wünschen eingeräumt hatte, doch von der unwiderstehlichen Sinnlichkeit und dem natürlichen Charisma Giovannas in einer sexuellen Art fasziniert sein könnte. Doch Elli hatte den Gedanken verworfen, spätestens als Marie Marc kennengelernt hatte und eine, wenn auch letztlich unglückliche Beziehung mit ihm eingegangen war. Nein, erotisch war die wechselseitige Anziehungskraft zwischen ihren beiden Freundinnen sicher nicht gewesen. Eher war es eine Art tiefen gegenseitigen Respekts gewesen, eine stille Bewunderung, die beide für das hegten, was ihnen selbst an der anderen fremd war. Vielleicht hatte Marie gerade die unbedarfte Gewissenlosigkeit fasziniert, mit der Giovanna – zumindest als Mädchen und junge Frau – ihre Schönheit einsetzte, vielleicht auch ihre ungefilterte, beinahe verzweifelte Lebendigkeit, weil die ihr selbst völlig fremd war. Eine Verzweiflung, die Giovanna dem Schatten des Todes entgegenzusetzen suchte. Als wäre ihr bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug schmerzhaft bewusst, dass es ihr letzter Schritt, ihr letzter Atemzug sein könnte. So sahen Elli und auch Marie mit wachsender Besorgnis zu, wie sie sich in jede neue Liebschaft wie eine Ertrinkende stürzte und auch innerhalb kürzester Zeit wieder daraus floh. Als ertrüge sie keine Grenzen, als nähmen diese ihr den Atem. Irgendwann – Giovanna hätte sicher selbst nicht genau sagen können, wann – wurden ihre Affären zum Selbstzweck. Das war die Zeit, in der Marie und Elli sich kopfschüttelnd ansahen, wenn sie über die Freundin sprachen, und sich einig waren, dass es kein gutes Ende mit ihr nehmen würde. Elli, die jetzt noch mit ihrer Jugendliebe zusammen war, ohne auch nur ein einziges Mal auf Abwege geraten zu sein – na ja, bis vor Kurzem jedenfalls – und Marie hatten in jenen Jahren keinerlei Neigung zu wechselnden Beziehungen gehabt. Marie hatte ihre Partnerschaft mit Marc viele Jahre gepflegt, an ihr festgehalten, obwohl sie betrogen und gedemütigt worden war. Elli bewunderte Marie insgeheim dafür, dass sie es schließlich doch geschafft hatte, sich nicht nur von Marc zu trennen, sondern auch, die gemeinsamen Kinder mitzunehmen und in ein anderes Land zu ziehen.

So, als hätte sie mit der Loslösung von Marc ihren gewohnten inneren Sicherheitsabstand zum Geschehen wieder eingenommen, sich wieder in die Position des Beobachters begeben, in der sie jede Regung filtern, jede Reaktion abwiegen, alles aus einer Art analytischer Distanz betrachten konnte. Bei Marc hatte sie wohl den Fehler gemacht, den Sicherheitsabstand zu missachten. Und es bitter bereut.

Elli war sich nicht sicher, ob Marie sich selbst auch so sah. Und vielleicht war da auch etwas in Marie, das sie gar nicht erkennen konnte? So plötzlich alle Brücken hinter sich abzubrechen, passte eigentlich so gar nicht zu Marie. Oder doch? Sie hatte sich von Elli nicht in die Karten schauen lassen, und ihre gelegentlichen Telefonate gezielt auf Oberflächlichkeiten beschränkt. Elli konnte es nicht verstehen; Marie hatte schon begonnen, sich abzukapseln, bevor die Ehe mit Marc in die Brüche gegangen war, als die kleine Marlene, ihre jüngere Tochter, gerade die Grundschule verlassen hatte. Danach hatte sie sich immer seltener bei Elli gemeldet. Und, wie es so ist, kaum hatten die Jahre mit einem verschlafenen ersten Januar begonnen, waren auch schon wieder die Oster-, die Pfingstferien, der Sommerurlaub vorbei. Vor Weihnachten hatte dann eh niemand mehr Zeit, sich mit alten Freundinnen zu treffen, und schon schickten sie sich zum Jahreswechsel wieder nur eine Nachricht. Die beantwortet wurde oder auch nicht.

Bis dann eines Tages ein Anruf von Marie aus den Marken gekommen war, aus dem Ort Chiesavalle, so klein, dass Elli ihn nicht mal auf der Landkarte finden konnte. Sie habe sich einer Münchner Gruppe von Umweltaktivisten angeschlossen, hatte Marie erzählt, und sich gemeinsam mit ihnen der Kultivierung alter Pflanzensorten in den Bergen südwestlich von Ancona verschrieben. Wer diese Leute seien, hatte Elli wissen wollen, aber keine richtige Antwort bekommen. Was Maries Eltern dazu sagten, hatte sie dann noch gefragt. Christel und Uwe, inzwischen in ihren Sechzigern, hatten mit den »Flausen« ihrer Tochter, wie sie es nannten, immer schon gehadert. Sie waren sicher auch nicht begeistert davon, jetzt bis nach Mittelitalien fahren zu müssen, wenn sie ihre Tochter und ihre Enkelinnen sehen wollten.

»Is’ mir wurscht«, kam von Marie.

»Und deine Mädels?«, hatte Elli gefragt. »Was sagen die dazu?«

»Die finden es aufregend.«

»Und wo gehen sie dann zur Schule?«, hatte Elli insistiert.

»Da gibt’s ein Gymnasium im nächsten größeren Ort. Und einen Schulbus. Und, stell dir vor, sogar eine Universität ist nicht weit.«

»Und Marc? Was hält er davon, wenn seine Kinder irgendwo in den Bergen bei Wölfen und Bären sitzen?« Schweigen am anderen Ende der Leitung. Marc war nicht gerade Maries Lieblingsthema.

»Und was ist mit uns?« Das war Ellis letzte Frage gewesen.

»Wir können ja telefonieren.« Dann hatte Marie aufgelegt. Seither war es immer Elli gewesen, die angerufen hatte. Und allzu oft hatte sie Marie gar nicht erst an die Strippe bekommen.

Elli drehte sich auf den Rücken, setzte sich auf, schluckte die Bitternis hinunter, die in ihr hochstieg. Sie musste aufhören, sich etwas vorzumachen. Sie war kaum weniger enttäuscht von Maries Verschwinden als Giovanna. Monate hatte es gedauert, bis Marie sich überhaupt gemeldet hatte. Monate, in denen Elli von Maries Mutter, bei der sie schließlich auf der Matte stand, nur ein paar harsche Kommentare geerntet hatte, aber keine Details über Maries Aufenthaltsort.

Elli wälzte sich wieder auf die Seite und angelte nach ihrer Armbanduhr, die sie auf ein Tischchen neben dem Bett gelegt hatte. Viertel nach zwei. Nicht ungewöhnlich, dass sie um diese Uhrzeit wach war. In letzter Zeit passierte es ihr ständig, dass sie nicht einschlafen konnte, selbst wenn sie zu Hause in ihrem eigenen Bett lag. Ihr Bewusstsein hatte sich wohl an die ständige Habachtstellung gewöhnt, die es ihr ermöglichte, ihre beiden Leben miteinander zu vereinbaren. Wenn Toni sich neben ihr langmachte, sich mit einem letzten Kuss auf die Seite drehte und innerhalb weniger Minuten eingeschlafen war, schlug Elli die Decke zurück, suchte ihre Kleider zusammen und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Sie wusste, dass er sie am nächsten Morgen vermissen würde. Und sie hasste es, die Wärme des Betts zu verlassen, das ihr eine Zuflucht gewährte, die sie gar nicht verdient hatte. Doch gerade deshalb hatte sie von Anfang an auf diesem Deal mit dem Mann bestanden, der urplötzlich in ihr Leben getreten war. Weil sie wusste, das erste gemeinsame Frühstück mit ihm wäre der Beginn einer anderen Art Beziehung. Und dafür war sie nicht bereit, dafür gab es auch keinen Raum in ihrem Leben. Noch nicht, vielleicht.

Elli seufzte. Nur zu gut, dass sie am nächsten Tag nicht allzu lang würden fahren müssen. Sie hatte die Route nach Chiesavalle schon in ihr Navi eingegeben. Sie angelte nach ihrem Smartphone, stand vorsichtig auf und tastete sich an Giovannas Bett vorbei nach draußen. Die hätte jetzt sicher nachgefragt, was los war, wenn sie nicht wirklich schlafen würde. Und vielleicht hätte Elli ihr dann von Toni erzählt. Und von allem anderen. Doch jetzt atmete sie auf, als sie die Zimmertür hinter sich zuziehen konnte. Das mit der Ehrlichkeit konnte warten.

Zum Glück würde sie auch sonst niemandem auf dem Weg zur Terrasse begegnen, weil keine anderen Zimmer der Pension vermietet waren.

Im Speiseraum war schon alles fürs Frühstück hergerichtet, Marmelade und Nutella, in Einzelportionen verpackt, lagen am Buffet bereit. Elli widerstand der Versuchung, im Vorbeigehen eines der Päckchen mitgehen zu lassen. Toni war die einzige Disziplinlosigkeit, die sie sich leistete, und selbst dafür hatte sie ein strenges Regelwerk ersonnen, an das sie sich – und ihn – gekettet hatte. Sollte er jemals auf den Gedanken kommen, sich dagegen zu wehren, so hatte sie sich geschworen, dann müsste sie die Konsequenzen ziehen und die Affäre beenden. Zumindest war das ihr Plan gewesen. Doch jetzt war sie sich da gar nicht mehr so sicher.

Inzwischen war sie auf der Terrasse angelangt. Im Tal waren bis auf ein paar Straßenlaternen alle Lichter verlöscht und in der Ferne des Höhenzugs, der weit im Westen zu erahnen war, versackte der Blick in der tiefen Dunkelheit der Nacht. Der kurze Regenschauer des Nachmittags hatte sich längst verzogen, der Wind war zu einer leichten Nachtbrise abgeflaut. Obwohl die Pension noch im Ortsgebiet lag und eine Straße unten vor dem Haus vorbeiführte, war die Luft anders als zu Hause, mitten in der Großstadt. Lediglich Spurenelemente jener Feuchtigkeit, die der nachmittägliche Regen auf dem Straßenpflaster hinterlassen hatte, waren in einer Melange aus Gerüchen des Südens noch zu spüren. Reife Feigen glaubte Elli herauszuriechen, Pinien, Currykraut vielleicht, warme Erde. Die Luft war dicht und prall und schmackhaft, sie gab Elli das Gefühl, satt zu werden, wenn sie sie nur tief genug in ihre Lungen pumpte. Als könne sie damit einen Hunger stillen, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie ihn überhaupt empfand. Doch er war da, und der Duft weckte die Erinnerung an jene uralten Versprechen und Verheißungen, von denen sie als 17-Jährige geglaubt hatte, dass sie sich erfüllen müssten.

Elli setzte sich auf einen der bereits abgetrockneten Terrassenstühle und dachte über dieses Gefühl nach und über jene Erwartungen, die nie Realität geworden waren. Oder etwa doch? Wie konkret konnten ihre Hoffnungen und Träume damals gewesen sein?

Nun, sie hatten sicher nicht von vier Kindern gehandelt, von einer Beziehung, die sich 2016 ins 28. Jahr schleppen würde. Sicher auch nicht von der schrecklichen Veränderung ihres Vaters. Von seiner Vorliebe für Whisky. Und Schnaps. Gin. Cognac. Schließlich war es Wodka, der zu seinem Lieblingsgetränk wurde, weil man ihn in seinem Atem nicht riechen konnte. Aber seine Häme konnte man spüren. Seine Wut, wenn er nach Hause kam. Die Schläge, die er ihrer Mutter verpasste. Elli konnte sie spüren, als wäre es ihre Haut gewesen, die sich mit roten, violetten, blauen Flecken überzog, als wären es ihre eigenen Glieder gewesen, die nach solch einem Abend schmerzten.

Nein, davon hatte sie bestimmt nicht geträumt. Das waren die Albträume, die sie noch jetzt manchmal plagten – jetzt, da es schon lange diesen schlichten Grabstein auf dem Münchner Ostfriedhof gab, auf dem nicht mehr stand als nur »Klaus«. Weil ihre Mutter nicht wollte, dass der Nachname, den sie und ihre Kinder trugen, noch mit dem Mann in Verbindung gebracht würden, den sie einst mehr geliebt hatte als irgendetwas sonst.

Als es noch das Gläschen Whisky war, das Klaus hin und wieder in seinem Arbeitszimmer trank, schien alles in Ordnung, zumindest für Elli, die es nicht besser wusste. Da war er noch der Vater, den sie liebte, dem sie vertraute. Dass er auch damals schon zu viel an seinem Schreibtisch saß, in den Augen ihrer Mutter jedenfalls, konnte sie nicht ahnen. Sie hatte als kleines Mädchen unter diesem Schreibtisch gespielt; er war ein geschützter Raum für sie gewesen, eine Höhle, in der sie die kleinen Plastikpferde aufbauen konnte, die Klaus ihr mitbrachte. Für jeden Fall, den er übernahm, bekam sie ein neues Pferdchen geschenkt. Bis sie schließlich ein ganzes Gestüt beisammenhatte. Und bis die Stallungen, aus Kartonagen gebaut, nicht mehr unter den Schreibtisch passten und sie selbst zu groß dafür wurde. Sie zog um in ihr eigenes Zimmer, baute ihren Stall dort ein bisschen größer. Manchmal kam Marie, um ihr dabei zu helfen, und Klaus trank statt einem Whisky zwei oder drei. Er wurde müde, wenn er mal nichts getrunken hatte, seine Gesichtsfarbe grau.

Elli räumte die Pferde irgendwann in einen grünen Karton mit einem roten Deckel und verfrachtete ihn in einen Schrank, hängte sich Poster von Pierre Cosso und Rob Lowe an ihre Zimmerwand und begann, sich hin und wieder von ihrem Taschengeld die Bravo am Kiosk zu kaufen.

Ihr Vater brachte immer mehr Unterlagen, immer mehr Arbeit mit nach Hause, gab seiner Frau nur noch selten einen Kuss, wenn er aus dem Büro kam. Elli bekam mit, dass er ihrer Mutter auch kaum mehr etwas erzählte, dass sie seine Kollegen fragen musste, wenn sie wissen wollte, warum er an manchen Abenden einfach gar nicht nach Hause kam. Sein großes Ziel war es, Partner zu werden, das wusste sie. Diesem Ziel ordnete er alles unter. Und wenn es alles kostete. Der Alkohol half ihm dabei.

Irgendwann nahm Elli Rob Lowe von der Wand und ersetzte ihn durch Tom Cruise, sie schloss für die Bravo ein Abonnement ab von dem Geld, das sie sich dazuverdiente, indem sie Nachbarn bei der Gartenarbeit half, und lud manchmal einen Jungen aus ihrer Klasse ein, der sogar dann ein bisschen länger bleiben durfte, wenn ihre Mutter abends früh zu Bett ging. Ihr Vater bemerkte den Besuch eh nicht. Er holte sich mittlerweile keine einzelnen Gläser mehr aus der Küche, sondern brachte sich Whiskyflaschen in seiner Arbeitstasche mit nach Hause, die den Weg in den Küchenschrank gar nicht erst fanden. Sie entdeckten die leeren Behältnisse unter seinem Bett, als es zu spät war, in seinen Schränken, versteckt in leeren Aktenordnern. Wenn ihre Mutter Hanni nach ihm schaute, hörte Elli, wie er sie aus dem Zimmer warf.

»Lass mich arbeiten, nie bin ich ungestört. NEIN, ich bin NOCH NICHT fertig«, hörte sie ihn brüllen. Noch später dann – da war es schon Matthias, der Elli regelmäßig besuchte und ihr die Hand hielt, wenn drüben der Lärm anhob – wurde Klaus immer aggressiver: »Geh zum Teufel! Blöde Schlampe!« Dann hörte sie erst seine Tür knallen, dann die schnellen Schritte ihrer Mutter, die die Treppe hinunterfloh. Einmal, als Hanni die Tür nicht rechtzeitig hinter sich zuziehen konnte, zerbarst ein Glas an der Brüstung der Treppe, das er ihr nachgeworfen hatte. Elli stürmte aus ihrem Zimmer, half ihrer Mutter, die Scherben zusammenzusuchen, die sich über das gesamte Treppenhaus und den Gang im Erdgeschoß verteilt hatten. Und sie bemühte sich, nicht zu sehen, dass ihrer Mutter die Tränen übers Gesicht liefen. »Ist alles gut, mein Mädchen, er fängt sich schon wieder«, murmelte sie, als Elli unbeholfen über ihren Arm strich. Hanni tätschelte ihr die Hand, offensichtlich um Gelassenheit bemüht. »Es wird schon wieder.«

Doch es wurde nicht wieder. Klaus fing sich auch nicht. Im Gegenteil. An Ellis 18. Geburtstag betrank er sich so, dass er vor dem Restaurant, in dem sie zu fünft zu Abend gegessen hatten – ihre studierenden Brüder waren extra nach Hause gekommen –, auf die Straße fiel. Der Fahrer eines Mercedes konnte gerade noch bremsen. Als er ausstieg, um Klaus auf die Beine zu helfen, revanchierte sich der mit einem Faustschlag und verbrachte die Nacht in einer Ausnüchterungszelle. Als ihn die Polizei am nächsten Morgen zu Hause ablieferte, nutzte Ellis Mutter die Gelegenheit, ihn ohne Pegel zu erwischen, und versuchte, mit ihm zu reden.

Es war ein Samstag, Elli saß bei offener Tür oben in ihrem Zimmer und lernte. Sie hörte, wie ihr Vater sich entschuldigte, wie er versprach, keinen Tropfen mehr anzurühren, sie hörte auch, wie er schluchzte. Als sie nach draußen schlich, sah sie ihre Eltern sich gegenseitig im Arm halten, und sie schöpfte Hoffnung. Tatsächlich hielt ihr Vater sein Versprechen. Er kam früher nach Hause, ließ die Arbeit im Büro, lud seine Frau zum Essen, seine Tochter ins Kino ein. Kurz nachdem Elli ihre Facharbeit abgegeben hatte, es waren noch ein paar Wochen bis zum Abitur, fand sie den Schlüssel eines Fiat Panda an ihrem Schlüsselhaken. Als sie nach draußen lief, stand Klaus schon vor der Tür und empfing sie mit einem glücklichen Lächeln auf dem gar nicht mehr grauen Gesicht. Er schloss seine Tochter in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hab’s dir versprochen, mein Mädchen.« Elli setzte sich hinters Steuer ihres ersten eigenen Wagens und fuhr los, um ihre Freundinnen abzuholen. An diesem Morgen kamen sie alle vier zu spät zum Unterricht.

Wenige Wochen später – die Mädchen hatten gerade die schriftlichen Abiturprüfungen hinter sich und feierten gemeinsam mit ein paar Freunden in einer Kneipe – setzte Klaus den neuen Wagen seiner Tochter im Vollsuff gegen einen Baum. Der Luftröhrenschnitt, mit dem ihm die Ärzte im Klinikum Harlaching das Leben retteten, war noch nicht richtig verheilt, da hatte er schon seinen nächsten Vollrausch. Während Elli und ihre Freundinnen sich dem Kolloquium stellen mussten, soff sich ihr Vater durch die Reha. Am Tag nach ihrer letzten Prüfung kam er wieder nach Hause und schwor einmal mehr, mit dem Trinken aufzuhören. Hanni glaubte ihm, weil sie es unbedingt wollte, Elli schon nicht mehr. Sie war drauf und dran, nicht mit zum Zelten zu fahren. Sie wollten das bestandene Abi am Meer feiern, alle vier Freundinnen gemeinsam, nur ein paar Tage, schließlich war Elli schon schwanger, und Marie konnte nicht viel Geld dafür ausgeben. Sie beschwor Elli, trotz ihrer Sorge um ihre Mutter mitzukommen. »Er ist nicht deine Verantwortung«, sagte sie.

»Aber meine Mutter ist meine Verantwortung«, antwortete Elli. Giovanna wog unentschlossen den Kopf.

»Was glaubst du, was passieren könnte?«, wollte sie wissen.

»Das Gleiche wie immer«, sagte Elli. »Er wird saufen, und wenn sie ihm in die Quere kommt, dann schlägt er sie.« Antonella schaute mit erschrockenen Augen von einer zur anderen. Wenn sie etwas hatte sagen wollen, dann blieb es ihr in der Kehle stecken.

Elli fuhr doch mit ans Meer, weil ihre Mutter sie bekniet hatte, es zu tun.

»Elli fahr, das kommt so nie wieder! Du weißt nicht, was aus euch wird. Ich komm schon klar. Denk nicht dauernd an mich!«

Elli blickte über das dunkle Tal und schüttelte den Kopf. Früher hatte sie das nicht gekannt, dass sie ständig die Vergangenheit einholte. Früher hätte sie in der samtigen Finsternis einer italienischen Nacht an die Gegenwart gedacht, an ihre Kinder vielleicht, die geborgen in ihren Betten in irgendeinem Hotel seelenruhig schliefen. Vielleicht hätte sie nach Matthias’ Hand gegriffen, der neben ihr gewesen wäre, wie immer gelassen, wie immer zufrieden, wenn sie nur bei ihm war. Und in seiner Zufriedenheit hätte sie sich ausgeruht, hätte es geschafft, die schlimmen Dinge jener Jahre wegzudrängen. Jetzt war das anders geworden. Nicht erst, seit es Toni in ihrem Leben gab. Doch auch er rüttelte an den Grundfesten ihres Daseins.

Elli nahm einen tiefen Atemzug und zog sich die Jacke fester um den Körper; ihr war jetzt doch ein wenig kalt geworden. Wenn sie morgen zeitig aufbrechen wollten, sollte sie versuchen, noch ein bisschen zu schlafen. Bevor sie wieder ins Haus ging, nahm sie ihr Handy zur Hand und überlegte, ob sie eine Nachricht an Toni schicken sollte, ließ es dann aber bleiben. Er sollte sich nur nicht einbilden, dass sie ihn vermisste. Stattdessen suchte sie zwei Fotos heraus, eins vom Sonnenuntergang – sie wusste, dass ihre Kleine, Lilly, es lieben würde – und ein zweites, das sie und Giovanna beim Abendessen auf der Terrasse zeigte, und schickte es mit ein paar Herzen in die Familien-WhatsApp-Gruppe. Matthias und Nick würden es beim hoffentlich gemeinsamen Frühstück lesen. Mitten in den Ferien war Nick mit seinen 16 Jahren meistens abends mit Freunden unterwegs, entsprechend spät kam er morgens aus dem Bett, während Matthias ein Frühaufsteher war. Max, der 18-Jährige, war zu einem Campingurlaub mit seiner ersten Freundin aufgebrochen und Lilly für eine Woche in ein Pfadfinderlager gefahren. Wenn Elli wieder zurückkam, würde auch der Rest der Familie wiedereintreffen, inklusive Lena, ihrer Ältesten, die einen Teil ihrer Semesterferien mit der Familie verbringen wollte. Elli schluckte; ihre Große brauchte das Familien-Nest fast mehr als die anderen.

Konnte sie ihr das wirklich nehmen? Würde sie es sich jemals verzeihen, dafür verantwortlich zu sein, dass ihre Familie zerbrach? Die Wärme ihrer Jacke reichte nicht mehr aus. Fröstelnd schlich Elli zurück durch den Frühstücksraum, die Treppe hinauf und ins Zimmer. Sie konnte Giovannas Gesicht nicht erkennen, aber sie hörte ihr leises Schnarchen und musste trotz der schweren Gedanken, die sie gewälzt hatte, lächeln. Giovanna konnte sich eben noch über die Ungerechtigkeiten ihres Lebens empört haben, darüber, dass jemand sie schief oder – noch schlimmer – gar nicht angeschaut hatte, sie konnte eben ihr Herz verloren oder das eines anderen gebrochen haben, ganz egal: Giovanna konnte immer schlafen. Unglaublich, dachte Elli. Sie war sich sicher, dass Giovannas Schlaf nicht ohne Albträume war, und doch stürzte sie sich ohne Zögern hinein. Elli kuschelte sich unter ihr Laken, musste noch einmal aufstehen, weil sie fror, suchte und fand in einem Wandschrank eine Wolldecke und breitete sie über ihr Bett. Dann fand auch sie endlich in den Schlaf.

3.
MATTINA.

Giovanna

Marie, war Giovannas erster Gedanke, als sie die Augen aufschlug. Mein Akkordeon, der zweite. Eine Frühaufsteherin war sie noch nie gewesen, aber diesmal hielt sie nichts im Bett, auch, weil von draußen die frühe Morgensonne durch einen Spalt zwischen den flüchtig zugezogenen Vorhängen fiel und ihr Gesicht in Helligkeit tauchte. Sie streifte das Laken von den Beinen und schüttelte lächelnd den Kopf, als sie sah, dass Elli sich unter einer Wolldecke zusammengerollt hatte. Eigentlich hätte doch sie, die sie aus dem Süden stammte, die Kälteempfindliche von ihnen beiden sein müssen, doch es war genau andersherum.

Leise, um die Freundin nicht zu wecken, die nun endlich tief schlief, schlich Giovanna zu dem großen Instrumentenkoffer hinüber und strich liebevoll mit der Hand darüber. Kurz zögerte sie. Soll ich? Soll ich es mit runternehmen? Soll ich es ausprobieren? Dann zog sie die Hand wieder zurück. Es wäre viel zu laut, das Haus schläft ja noch.

Sie wusste, dass das nur eine Ausrede war. Sie waren allein in der Pension. Und der Hauswirt, ein Künstler, der die zwei Appartements als Zusatzerwerb führte, schlief gegenüber, jenseits des alten Wasserturms in einem der Gebäude, die, eng aneinandergedrängt, den kleinen Platz umstanden. Nein, es war einfach noch zu früh, zu früh für sie. Sie war bereit gewesen, sich auf den Weg zu machen, sie war bereit gewesen, das Instrument zu kaufen und es abzuholen, aber sie war noch nicht bereit, es zu spielen. Morgen vielleicht. Eins nach dem anderen.

In ein paar Stunden würde sie Marie wiedersehen, damit musste sie sich zuerst befassen, und es war ihr noch ganz und gar nicht klar, was sie davon halten sollte.

Giovanna ließ das Akkordeon stehen, schlich leise hinüber ins Bad. Sollte Elli ruhig noch ein bisschen schlafen, sie würde es nötig haben. Als ob Giovanna nicht mitbekommen hätte, dass ihre Freundin die halbe Nacht auf den Beinen gewesen war. Irgendetwas beschäftigte Elli, irgendetwas in ihrem Leben war anders als sonst, das war Giovanna klar. Sonst hätte Elli niemals zugestimmt, spontan zu Hause alles stehen und liegen zu lassen und sie nach Italien zu begleiten. Elli hatte keine Sekunde gezögert, als Giovanna ihr ihren Plan eröffnet hatte, nach Castelfidardo zu fahren und das Akkordeon abzuholen. Das ihr zurück zur Musik helfen sollte, nach all den Jahren, in denen sie keinen Finger mehr auf eine Taste gelegt hatte. Den Deckel ihres Klaviers, das im Haus der Münchner Großmutter zurückgeblieben war, hatte sie seit Antonellas Tod nie wieder aufgeklappt.

Als Giovanna ihre Freundin abends angerufen hatte, war Elli sofort aufgesprungen vom Schreibtisch, wo sie noch an der Vorbereitung für die Eröffnung einer Drogeriefiliale saß, Adressen von Caterern heraussuchte, wie sie erzählte. Sie war nach unten gelaufen, das Telefon noch in der Hand, und hatte Matthias geweckt, der auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen war. Giovanna hatte mitgehört, wie Elli ihrem sicher noch leicht benommenen Mann eröffnete, dass er eine Woche allein verbringen müsse, weil sie ihre Freundin begleiten werde. »Sieh’s mal so, da hast du endlich mal deine Ruhe«, hatte sie Elli sagen hören. Die Kinder seien just in dieser Woche alle ausgeflogen, erklärte die Freundin ihr später. Giovanna konnte sich gut vorstellen, wie sich Matthias vergeblich mühte, passend auf die unerwartete Situation zu reagieren, wie in seinem großen, flächigen Gesicht unter dem mittlerweile angegrauten Vollbart die Verwirrung zu sehen war. Sie konnte auch Elli vor sich sehen, wie sie eine Hand in die leicht eingeknickte Hüfte stemmte, wie immer, wenn sie ihrem Gegenüber eine Entscheidung, die sie für sich selbst längst getroffen hatte, als nicht diskussionswürdig verkaufen wollte. Was sie vor allem dann tat, wenn sich eine Diskussion geradezu aufdrängte. Giovanna jedenfalls wäre an Matthias’ Stelle sicher nicht zu dem »Ja und Amen« bereit gewesen, mit dem er reagierte. Zumindest hätte sie sich ausgebeten, die Angelegenheit im ausgeschlafenen Zustand besprechen zu können – doch schien es ihr, als habe Elli genau das vermeiden und Matthias erst gar keine Zeit zum Nachdenken geben wollen.

Da kann doch irgendwas nicht mit rechten Dingen zugehen, so was hat sie noch nie gemacht, sinnierte Giovanna. Das passte einfach nicht zu ihrer Freundin. Gab es auch für Elli etwas, das sie hinter sich lassen wollte? Worüber nicht mal sie, ihre beste Freundin, informiert war? Vielleicht interpretierte sie zu viel hinein in Ellis rasche Zusage, vielleicht sollte sie nicht von sich selbst ausgehen, die sie die Fahrt auch brauchte, um Abstand zu gewinnen. Abstand von ihrem Vater vor allem, gut siebenhundert Kilometer. Mehr wären besser gewesen. Um eine angemessene Reaktion auf seinen Verrat zu finden und die passende Haltung. Nein, überhaupt eine Haltung. Die war ihr nämlich abhandengekommen, in dem Augenblick, in dem sie davon erfuhr, und das ausgerechnet von Regina und Aldo. Sie hatte nicht gewusst, wie sie mit ihrem neuen Wissen umgehen sollte. Hatte sie überhaupt das Recht, ihn zu verurteilen?

Ihre Tante und deren Mann hatten sie eines Tages in ein kleines Haidhauser Café gebeten. Die Schwester und der Schwager ihrer Mutter waren ziemlich schnell zur Sache gekommen und hatten nicht lange gebraucht, um das Bild zu zerstören, das sich Giovanna vom Anteil ihres Vaters am Tod ihrer Mutter gemacht hatte. Sie waren gut darin gewesen, die Vorstellung ins Wanken zu bringen, in die Giovanna von klein auf gebettet war, seit jenem schlimmen Tag.

Als die Tür des Cafés hinter ihren römischen Verwandten ins Schloss gefallen war, hatte das Glöckchen darüber leise geklingelt. Giovanna hatte eine ganze Weile ins Leere gestarrt, bevor sie ihr Handy aus der Jackentasche gezogen, ihren Vater angerufen und ihn beschimpft hatte. Ohne den anderen Besuchern des Cafés und deren bestürzten Mienen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu zollen, war sie immer lauter geworden. War noch wütender geworden, weil er ihren Vorwürfen nichts entgegensetzte. Nichts entgegensetzen konnte.

»Du hättest sterben sollen. Nicht sie! Ich hasse dich!« Das waren die letzten Worte gewesen, die sie ins Telefon gebrüllt hatte, bevor sie das Gespräch beendete. In ihrer Wut hatte sie den roten Button nicht gleich gefunden, um aufzulegen, und mit dem Zeigefinger auf dem Smartphone wild herumgedrückt. Eine ganz große Geste wäre ihr lieber gewesen für ihren Zorn, ein altertümlicher Hörer, den sie auf eine ausladende Telefongabel hätte knallen können.

Doch da war nur die lautlose Ödnis, die zurückblieb. Eine weitere Leerstelle in ihrem Herzen.

Auf die römische Verwandtschaft ihrer Mutter konnte sie noch nicht einmal wirklich wütend sein. Sie war ihr nicht wichtig. Was hätte sie von ihnen schon erwarten sollen? Regina, die ältere Schwester ihrer Mutter, und auch Aldo hatten ihren Vater von Anfang an abgelehnt. »Il Tedesco, den Deutschen«, nannten sie ihn in einem Ton der Verachtung, der Giovanna schon als kleines Mädchen erschreckt hatte, wenn sie mit ihrer Schwester im zurechtgestutzten Garten der römischen Großeltern spielte und zufällig den Unterhaltungen der Erwachsenen lauschte. Das Adjektiv »deutsch« hatte für die Mädchen seither immer einen etwas schalen Beigeschmack gehabt. Als ihre Mutter gestorben war und ihr Vater ihnen eröffnete, sie würden nach Deutschland ziehen, hatte sich Antonella in dem Loch in der Wand ihres Zimmers versteckt, von dessen Existenz außer ihr nur Giovanna wusste. Die auf keinen Fall ohne ihre Schwester nach Deutschland wollte und ihren Vater zu dem Versteck führte.

»Traditrice, Verräterin«, hatte Antonella ihrer Schwester ins Gesicht geschrien, mit all dem Stimmvolumen, auf das sie als gute Sängerin zurückgreifen konnte, als ihr Vater sie aus ihrem Loch gezogen hatte. Und es brauchte viel, um Antonella laut werden zu lassen. Also zog die kleine Giovanna den Kopf ein und schlich aus dem Raum, während ihr Vater seine um sich tretende und weinende jüngere Tochter an seine Brust drückte und Antonellas Tränen das schwarze T-Shirt durchnässten, das er an diesem Tag trug. Eines von vielen schwarzen T-Shirts. Seit dem Tod seiner Frau war sein Schrank voll damit, und er brachte jede Woche einen Rucksack davon in die Wäscherei in der Via Luciano Manara. Manchmal nahm er die Mädchen mit und kaufte ihnen ein Eis, ein paar Hausnummern weiter. Während sie mit der Süßigkeit beschäftigt waren, konnten sie sehen, wie er langsam zur Wäscherei zurückging, und sie maßen das drückende Gewicht seiner Schritte an der Enge ihres eigenen Brustkorbs. Meist lehnte er sich dann an ein Auto und wartete. Regungslos, als wäre er in eine sonderbare Trance verfallen, starrte er gegen die mit Parolen beschmierte Hauswand und wartete. Vielleicht auf eine Morgendämmerung, die nicht kommen wollte. Vielleicht hätte ja das Warten eines Tages ein Ende gehabt. Vielleicht hätte ihr Vater irgendwann aufgehört, Schwarz zu tragen, auch wenn sie in Rom geblieben wären.

Doch Christian Michelis entschied, diesen Moment nicht abzuwarten. Schließlich musste das Leben weitergehen, wenigstens für seine beiden Mädchen. Er verkaufte die Wohnung in Trastevere und kündigte seiner Mutter in München an, dass er mit den Kindern zu ihr ziehen würde. Das elterliche Haus, seit dem Tod seines Vaters zur Hälfte verwaist, war groß genug, um den Sohn und die Enkelinnen aufzunehmen.

Tante Regina war damals Sturm gelaufen gegen die Entscheidung ihres Schwagers, hatte mit allen Mitteln verhindern wollen, dass er ihre Nichten außer Landes brachte. »Wie kannst du das tun?«, hatte sie so laut geschrien, dass sich die Tür der Hausmeisterin im Hintergrund öffnete, die jedes Wort sicherlich brühwarm in der Panetteria, beim Gemüsehändler und beim Friseur ums Eck weitertratschen würde.

»Wie kannst du ihnen die Heimat nehmen? Sie in die Kälte bringen? Weg von ihrem Volk!« Doch sie konnte nichts ausrichten gegen Christians Entscheidung. Er war schließlich der Vater. Das Verhältnis zwischen ihnen war seither von räumlicher und, mehr noch als zuvor, von emotionaler Distanz geprägt. Christian schlug alle Einladungen der Verwandten an die Mädchen aus. Und die Zwillinge verstanden das. Bei aller Sehnsucht nach ihrer Heimat, den Straßen ihrer Kindheit, dem schönen Garten in der großelterlichen Villa in Parioli, erschreckte sie doch die Gefühlskälte, die sie bei Mamas Verwandten empfanden.

Später dann, als sie selbst hätte entscheiden können, nach Rom zu fahren, war Giovannas Angst vor den Erinnerungen viel zu groß geworden, so gern sie auch ihre beiden Schulfreundinnen aus der Grundschulzeit in Trastevere gesehen hätte, mit denen sie Briefkontakt hielt. So gern sie mit ihnen am Tiber entlang gebummelt wäre oder einen Strandtag mit ihnen verbracht hätte, mit einer abendlichen Pizza am Meer vielleicht sogar.

Was Regina und Aldo jetzt, nach Jahrzehnten, getrieben hatte, Giovanna in München aufzusuchen und die Lüge ihres Vaters ihr gegenüber aufzudecken, konnte sie sich nicht wirklich erklären. Ging es Regina wirklich nur darum, dass Giovanna endlich die ganze Wahrheit über den Tod ihrer Mutter erfuhr? Oder wollte sie vielmehr doch ihrem ungeliebten Schwager eins auswischen? Sie musste gewusst haben, was sie damit anrichtete. Es musste ihr, die sie selbst auf die 70 zuging, klar gewesen sein, welchen Keil sie damit zwischen Christian Michelis und seine Tochter treiben würde, jetzt, ein halbes Leben später. Aber falls sie Giovanna damit doch noch auf die italienische Seite der Familie hatte ziehen wollen, weg von ihrem Vater, der in ihren Augen immer nur der hässliche Deutsche gewesen war, auch wenn er einen italienischen Nachnamen trug, dann hatte sie damit das Gegenteil erreicht.

Trotz der Tatsache, dass Giovanna sich immer ein bisschen mehr als Italienerin gefühlt hatte denn als Deutsche. Sie war in Italien Kind gewesen. Und ist es nicht so, dass die Jahre der Kindheit Spuren in uns hinterlassen, die gerade deshalb so unauslöschlich sind, weil wir sie als Erwachsene nicht mehr zu deuten wissen? Oder weil es uns nur selten gelingt, sie bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen? Aber sie sind da, selbst, wenn wir gar nichts von ihnen wüssten. Giovanna hatte den Rhythmus der italienischen Sprache ebenso in sich aufgenommen wie jenen des pulsierenden, anarchischen Lebens in den Gassen ihrer Heimat, wie die Hitze im römischen August, die so allumfassend ist, dass sie jeden Gedanken zum Schmelzen bringt, und wie den Geschmack von verbrannter Zweitaktmischung auf der Zunge und das ohrenzerfetzende Geräusch unzähliger Motorroller, die ihn verursachten. Sie trug das alles in sich. Das Knattern der dreirädrigen Karren, mit denen die Händler in den frühen Morgenstunden unter ihrem Fenster in Trastevere vorbeizuckelten, um frisch geerntete Aprikosen, aromatische Oliven oder dicke Wassermelonen zum Markt zu bringen – all das gehörte zu ihr. Auch die Tiberschleife gehörte zu ihr, genauso das Gefühl der harten Steinstufen unter den Oberschenkeln, die zum Lungotevere hinunterführten, und wie die Kälte durch den dünnen Stoff eines kurzen Kleidchens drang, wenn sie neben Antonella dort saß und ein Schokoladeneis schleckte. Das keuchende Brummen der Autos, die eins an der Stoßstange des anderen über die Ponte Garibaldi tuckerten, war ebenso selbstverständlich ein Element ihres jungen Lebens gewesen, wie es später das Getöse geworden war, das in München die Isar machte, wenn sie über das Wehr unter dem Münchner Flauchersteg fiel, der beißende Geruch nach Mist und Ammoniak, der manchmal vom nahen Tierpark Hellabrunn herüberwehte, oder das Glockengeläut von St. Georg Bogenhausen am frühen Sonntagmorgen. Und ganz ähnlich wie sich die Römer gerne über einen einzelnen vormittäglichen Schauer beschwerten – der in den Wochen der Gluthitze immerhin für etwas Abkühlung in der italienischen Hauptstadt sorgte –, jammerten die Münchner über die Hitze im Sommer, zu viel oder zu wenig Schnee im Winter und den Regen während des übrigen Jahres.

Und Giovanna tat es ihnen allen gleich.

Fast zehn Jahre hatte sie in Rom verbracht, gut dreißig bereits in München, in der Stadt der geordneten Vorgärten und geputzten Hausfassaden, der japanischen Touristen vor dem Glockenspiel am Marienplatz und der dröhnenden Dauerbaustellen, in jener Stadt, die so stolz auf ihre bayerisch freistaatliche Tradition war und so kleinlich in ihrer deutschen Korrektheit. Und so war sie Römerin geblieben und Münchnerin geworden.

Von beiden Orten und den Ländern, zu denen sie gehörten, trug Giovanna ihren Teil in sich – und fühlte sich von beiden gleichermaßen ausgeschlossen. Vielleicht lag es daran, dass sie an beide Länder auch einen Teil von sich selbst verloren hatte. Es hatte viele Momente in ihrem Leben gegeben, in denen sie sich gewünscht hätte, ganz eindeutig zu einer Seite zu gehören.

Manchmal ging es ihr so, wenn sie Marie beobachtete, wie sie so entschlossen war, so eindeutig, wie sie für ihre Überzeugungen eintrat. Manchmal fragte sich Giovanna, wie es eigentlich um ihre eigenen Überzeugungen stand. Um ihre Ideale. Sie bewunderte Marie unendlich um ihre entschiedene Haltung in jeder Frage, während sie selbst oft zauderte und schwankte, den Weg des geringsten Widerstands ging, um sich auf nichts festlegen zu müssen. Und dann war da noch Elli. Auch sie eine starke Person, die zeitlebens einen klaren Kurs verfolgt hatte, trotz allem, was ihr passiert war, die ein Studium gemeistert und zugleich ein Kleinkind versorgt hatte, die als Eventmanagerin einen abwechslungsreichen und verantwortungsvollen Beruf ergriffen und ihr Leben in geordnete Bahnen gelenkt hatte. Und neben diesen beiden Frauen stand Giovanna. Was hatte sie schon vorzuweisen? Eine Menge gescheiterter Beziehungen, einen Job, den man mit etwas gutem Willen immerhin halbwegs interessant nennen konnte, der sie aber nicht wirklich forderte, eine musikalische Begabung, die sie vergeudet hatte, eine tote Schwester, eine kaputte Familie und herausgerissene Wurzeln, die danach dürsteten, sich endlich wieder irgendwo verankern zu können.

Nachdem sie die Stätte und die Stadt ihrer Kindheit verlassen hatten, war ihre Schwester für Giovanna der Hort ihrer gemeinsamen Erinnerungen gewesen. Solange Antonella an ihrer Seite war, war auch noch ein Rest der Geborgenheit existent, die sie aus ihrer Kindheit in Trastevere kannte. Durch Antonellas Gegenwart hatte sie die Liebe ihrer Mutter um sich gespürt wie eine Schne...

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