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Gipfelnächte – Mein Weg durch die Alpen und wie mich Regen Demut lehrte

Als Buch hier erhältlich:

Was passiert eigentlich, wenn man den nächsten Termin einfach absagt?

Was, wenn man einfach in die Landschaft hineingeht, die bisher nur am Zugfenster vorbeigerauscht ist? – Max Heberer ist ausgestiegen, hat seinen Job als Unternehmensberater gekündigt und verschwindet für mehrere Monate in die Berge.

Von Bad Reichenhall bis zum Mont Blanc will er wandern und jeden Tag draußen schlafen. Dabei ist der Wandernovize alles andere als ein Kenner der Alpenwelt, ihrer Tücken und Gefahren.

Wie ist es, bei Dauerregen ein sicheres Lager für die Nacht zu suchen, mutterseelenallein auf einem Gipfel in der Morgensonne aufzuwachen und zu erleben, wie aus einem Traum eine Realität wird, die mit dem Traum nicht mehr viel zu tun hat?

Irgendwo hinter tausend Gipfeln und Tälern findet er Antworten. Und als seine Eltern und seine Freundin sich anschließen, wirft das noch mal völlig neue Fragen auf …

»Ich will, dass die wilden Berge mich verschlingen, mich zurechtstutzen und wieder ausspucken. Ich bitte sie geradezu darum, in der Hoffnung, den meiner Generation innewohnenden Größenwahn loszuwerden und mit einem simplen Lebensweg zufrieden sein zu können.«

»"Gipfelnächte" ist eine sehr kurzweilige und unterhaltsame Erzählung, die den sympathischen Max auf einer abenteuerlichen Reise begleitet.« Magazin Outdoor Welten, 04.11.2021

»Heberers ›Gipfelnächte‹ sind eine schonungslose Psychoanalyse, eine Apotheose der Alpinen Demut und eine Outdoor-Orientierungshilfe für die Seele und genau deshalb so ungewöhnlich gut.« BR Bayern2 Rucksackradio, 26.11.2021

»So schonungslos ehrlich, dass der Leser hautnah dabei ist, beinahe Kälte und Nässe auf der Haut spüren und Heberers Angst fühlen kann, ob der Weg tatsächlich hält.« Verena Roider, Passauer Neue Presse, 16.02.2022


  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951314
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Familie.
Danke, dass ihr bei mir seid, egal, wo ich gerade bin.

image/2.jpgIch ertrage sie nicht mehr, die Tage und Nächte in geschlossenen, künstlich beleuchteten Räumen, ohne Ausblick oder frischen Wind auf der Haut, abgeschottet von der Natur, aus der wir irgendwann mal hervorgegangen sind und die wir jetzt kaum noch kennen.image/3.jpg

PROLOG

Wenn das Wetter so bleibt, bin ich spätestens in zwei Tagen tot. In dicken Tropfen prasselt der eiskalte Regen auf meine Kapuze. Er läuft an meiner Regenjacke hinunter, durchweicht meine Wanderhose und meine dicken ledernen Stiefel und dringt mir bis auf die Haut. Ich weiß, dass ihn auch die neongelbe Hülle meines Rucksacks, der mir auf den Schultern sitzt, nicht aufhalten kann. Alles ist kalt, nass, und ich bin am Verzweifeln. Heute Abend wird es für mich keine behaglich geheizte Unterkunft geben, in der ich und meine Sachen trocknen können, um morgen früh frisch und warm wieder aufzubrechen. Ich werde heute Nacht nur die immer feuchter werdende Ausrüstung in meinem Rucksack und den penetranten Dauerregen an meiner Seite haben, mit denen ich irgendwie überleben muss. Das Gleiche gilt für die Nacht danach und die danach und noch fast einhundert weitere. Denn ich bin auf dem Weg vom Berchtesgadener Land, dem östlichsten Zipfel der deutschen Alpen, bis zum Mont Blanc, irgendwo hinter tausend Gipfeln und Tälern, an der Grenze zwischen Italien und Frankreich. Zu Fuß. Mit einem Biwaksack – quasi einer Ganzkörperregenhülle –, einem Schlafsack, einer Isomatte und nur wenig anderen Habseligkeiten in einem zum Bersten gepackten 38-Liter-Rucksack auf meinem Rücken.

Ich habe mir vorgenommen, keine einzige Nacht in einem Bett zu schlafen. Ich habe sie satt, diese Zivilisation mit ihrem ständigen Streben nach Wachstum, mehr unnötigen Dingen, mehr Konsum, mehr Produktivität. Ich ertrage sie nicht mehr, die Tage und Nächte in geschlossenen, künstlich beleuchteten Räumen, ohne Ausblick oder frischen Wind auf der Haut, abgeschottet von der Natur, aus der wir irgendwann mal hervorgegangen sind und die wir jetzt kaum noch kennen. Ich musste raus, nach draußen in die Freiheit, das spüren, was wirklich und echt ist.

An meiner Seite läuft meine Freundin Tamara durch den Regen. Sie ist der Mensch, mit dem ich am liebsten Zeit verbringe und dessen Gesellschaft mir nie zu viel wird. Ich denke, das ist Liebe. Aus irgendeinem verrückten Grund will sie mich die ersten Tage meines Vorhabens begleiten. Wir trotten schweigend auf einem erdigen Pfad durch dichten Wald, von dessen Blätterdach das Wasser beständig auf uns herunterprasselt.

Nach einer Weile beschreibt der Weg eine kleine Kurve und führt unter einer Landstraße hindurch, die zu einer Brücke über einen kleinen Fluss erhöht ist. Dadurch hat der Weg auf einmal ein Dach, ohne nach unten in eine Unterführung zu verschwinden. Ich bleibe kurz stehen und schaue abwägend den Boden an. In der Not frisst der Teufel Fliegen.

»Meinst du, wir sollten hier übernachten?«, frage ich. »Hier wären wir trocken, glaube ich zumindest. Es ist halt mitten am Weg. Und eigentlich wollten wir noch bis nach Schneizlreuth kommen heute.«

»Ich weiß nicht, lass uns lieber noch weitergehen. Das gefällt mir nicht hier.« Tamara steht neben mir, etwa anderthalb Köpfe kleiner als ich und schöner, als ich es je sein werde, auch wenn man es ihr gerade nicht ansieht. Denn ihre prächtigen dunkelbraunen Locken sind von der Kapuze verdeckt, und sie steckt in unförmigen Wanderklamotten.

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Wie so oft hat sie wahrscheinlich recht. Ein einladender Übernachtungsplatz ist das hier nicht. Wenn ich genauer hinschaue, ist der Boden abschüssig und uneben. Wahrscheinlich läuft das Wasser später in kleinen Rinnsalen hier lang – so, wie es weiter regnen soll. Es fühlt sich eigenartig an, unter dieser Brücke zu stehen und zu entscheiden, ob wir darunter übernachten sollten. Diesen Gedanken ernsthaft zu wälzen vermittelt mir das Gefühl eines Ausgestoßenen, eines streunenden Herumtreibers, der keinen Platz in der Gesellschaft hat. Wir sind noch fast zu Hause, keine halbe Stunde mit dem Auto vom Haus meiner Mutter entfernt. Trotzdem stecken wir in einer vollkommen anderen Realität, als würde ein undurchdringlicher Schleier unsere Dimension von der aller anderen Menschen abtrennen.

Wir entscheiden weiterzugehen, in der Hoffnung, dass noch irgendetwas kommen wird, was uns besseren Schutz für die Nacht bietet. Immerhin hat Tamara für die kurze Zeit, die sie mich begleiten wird, ein kleines Zelt dabei. Auf den Biwaksack muss ich erst zurückgreifen, wenn ich in ein paar Tagen allein weiterlaufe. Ich bin froh um diesen sanfteren Einstieg. Die Vorstellung, in diesem kalten Dauerregen in meinem Biwaksack zu liegen und zu beten, dass er dicht hält, fühlt sich eher nach Folter als nach grandiosem Naturerlebnis an.

Etwas später stehen wir auf einem alten Forstweg am Hang, der sich langsam zwischen Gestrüpp verliert. Ich schaue mich um. Schutz vor den Elementen bietet hier nichts, aber der Wald um uns herum wird schon dunkler, die Abenddämmerung setzt ein. Es ist die letzte Möglichkeit, ein Lager aufzuschlagen, bevor es ganz dunkel ist. Wenigstens wird kein Mensch hier in dieser Sackgasse vorbeikommen. Vorsichtig inspizieren wir im letzten Tageslicht den Boden und versuchen eine Stelle für unser Zelt zu finden, die sich nicht im Laufe der Nacht in eine Pfütze verwandeln wird. Während es weiter auf meine Kapuze prasselt, hacke ich mit meinem Messer kleine Zweige von ein paar jungen Nadelbäumen ab. Ich will sie unter unser Zelt legen, damit sich das Wasser im matschigen Untergrund nachts nicht durch die Plane drückt. Größere Äste wären mir lieber, aber außer vier hüfthohen Fichten stehen um uns herum nur Laubbäume, deren Blattwerk mir nicht dicht genug erscheint, um die Nässe abzuwehren. Was für ein Pisswetter. Alles, von Kopf bis Fuß, fühlt sich unangenehm und klamm an.

Es dauert nicht lange, und wir liegen im viel zu kleinen Zelt. Unsere Rucksäcke füllen den Fußraum, vorsichtig so drapiert, dass sie die nasse Zeltwand nicht berühren. Meine Beine sind angewinkelt, um die Ausrüstung nicht zu verschieben. Ich kann mich kaum bewegen.

»Schlaf gut, Tamara«, sage ich erschöpft, aber glücklich in die Dunkelheit hinein.

»Gute Nacht, Max.«

Was für ein Tag. Und das war nur der erste von einhundert. Während ich dort so liege, eingezwängt wie eine Ölsardine, und auf unruhigen Schlaf warte, muss ich unwillkürlich zurückdenken an den einen Moment, an dem all das hier begann.

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AUF DER FALSCHEN SEITE DER SCHEIBE

1

Ich sitze im ICE von Frankfurt nach Stuttgart. Vor mir, auf dem Bildschirm meines Notebooks, strahlt mein Kalender mich an. Unzählige Termine – kleine blaue Balken – pressen sich in die Spalten, über denen in penetranten Großbuchstaben die Wochentage prangen. Als ob diese Software der modernen Geschäftigkeit mich jederzeit daran erinnern wollte, dass es das Wichtigste auf der Welt ist, den Wochentag zu wissen. Jeder Balken ist irgendein Termin, eine Pflicht, die ich zu erfüllen habe, damit das Kartenhaus der Deadlines nicht zusammenbricht. Irgendetwas läuft hier falsch mit den Machtverhältnissen zwischen Mensch und Maschine. Nutze ich diesen Kalender noch, um mein Leben zu organisieren, oder diktiert er mir mein Leben?

Mein Blick schweift zum Fenster. Leicht gewölbt schmiegt sich die große Scheibe in den stromlinienförmigen Wagen. Draußen fliegt die Landschaft an mir vorbei. Die Spätsommersonne lässt ein Wäldchen im letzten, satten Laubgrün des Jahres erstrahlen. Felder liegen friedlich da. Eine entschleunigte, harmonische Welt erstreckt sich direkt neben mir bis zum Horizont. Ich rase mit 300 km / h durch sie hindurch, abgeschottet durch eine undurchdringliche Wand aus Sicherheitsglas.

Ich scrolle mich durch die nächsten Wochen voller Termine auf meinem Computerbildschirm, die die Tage von morgens bis zum späten Abend ausfüllen. Blau auf weiß zu sehen, dass der nächste Monat meines Lebens bereits detailliert vorbestimmt ist, dass jetzt schon klar ist, was ich in jeder Stunde werde machen müssen. Es schnürt mir den Hals zu. Schon seit Jahren bestimmen Termine meinen Tagesablauf, und je weiter ich die Karriereleiter hinauffalle, desto mehr werden es. Alles dreht sich um diese kleinen blauen Balken in meinem Kalender, die ich mir selbst einstelle, die ich von anderen akzeptiere und die ich täglich herumschiebe wie in einem nie endenden Tetris-Spiel. Eine halbe Stunde Telefonat mit Harald zum nächsten Teamtraining. Dann eine Stunde Angebotspräsentation überarbeiten. Anschließend eine halbe Stunde Telefonkonferenz im Leitungsteam, um eine Einstellungsentscheidung zu besprechen. Mitten im Call aus dem Zug aussteigen, orientieren und auf dem Weg zum nächsten Meeting weitertelefonieren. Mein Gehirn rast von Thema zu Thema, während ich von Kunde zu Kunde hetze. Selten bin ich innerlich dort, wo mein Körper gerade ist, mental schon auf dem Sprung oder im virtuellen Telefonkonferenzraum.

Ich lasse mich erschöpft im Sitz zurückfallen und wende meinen Blick wieder der Landschaft zu. Die Welt draußen zu sehen, erfüllt mich mit einer Sehnsucht, die mir die Brust zusammendrückt. Ich bin auf der falschen Seite der Scheibe gefangen. Ich will nicht im Anzug hier herumsitzen! Was sind das überhaupt für Erfindungen, diese Anzüge? Sie schnüren dich ein wie eine noble Zwangsjacke, behindern mit ihren starren Fasern deine Bewegungsfreiheit und dulden keinen einzigen Dreckfleck. Als hättest du die Bedürfnisse deines Körpers irgendwo abgegeben und deinem Geist ein Kostüm angelegt.

image/2.jpgDie Welt draußen zu sehen, erfüllt mich mit einer Sehnsucht, die mir die Brust zusammendrückt. Ich bin auf der falschen Seite der Scheibe gefangen.image/3.jpg

In diesem Moment träume ich nur davon, draußen zu sein, dort in dieser Landschaft. Wie wunderschön, beinahe göttlich müsste es sich anfühlen, durch diese sonnenbeschienene Szenerie zu laufen, immer dem Horizont entgegen? Das Ticken der Sekundenzeiger wäre irrelevant, jeder Schritt frei und leicht. Statt halber Stunden könnten Tage wieder das Maß der Zeit sein. Statt der Menschheit dabei zu helfen, immer effizienter immer mehr Ramsch herzustellen, würde ich ohne Ballast, nur mit dem Minimum in meinem Rucksack die wahre Welt erkunden. Wie herrlich und entspannend wäre das? Die Sonne würde über mir lachen, und an jedem Ort könnte ich so lange bleiben, wie mir danach wäre. Eine lange Wanderung, das wäre es! Wochenlang, ja monatelang nur unterwegs sein, auf den eigenen Füßen, wohin sie mich auch tragen. Was könnte es Schöneres geben?

Es ist dieser eine Moment der unbändigen Sehnsucht nach Freiheit und Natur, der mich danach nicht mehr loslässt. Ich spüre in mir, dass ich raus muss. Dass ich einfach nur durch das Leben und die Landschaft ziehen will, von einem Tag zum anderen. In den Monaten danach kommt mir immer wieder dieses Bild in den Kopf, wie ich im ICE sitze, hinausschaue und verzweifelt spüre: Ich will dort draußen sein, nicht hier drin eingesperrt.

Nur: Wie soll ich das anstellen?

Es ist ein Dienstag, an dem ich eine Antwort finde. Von einem Hotelzimmer in Berlin verschicke ich die schwierigste E-Mail meines Lebens. Gerade habe ich meine Ferien damit verbracht, einen Vortrag für eine Gruppe von 120 Managern vorzubereiten, anstatt fröhlich und entspannt die freien Tage zu genießen. Meine vergeblichen Versuche, Nein zu sagen zu dringenden Anfragen, Druck und Verantwortung kosten mich genauso viel Kraft, wie einfach alles zu erledigen, was auf meinen Tisch geflattert kommt. Ich kann so nicht weitermachen.

Also sitze ich auf dem Hotelbett, und mein Zeigefinger schwebt über dem Mauspad. Meine ganze Hand zittert. Mit einem letzten Klick würde ich die Weichen stellen für die nächsten Jahre meines Lebens. Eine einzige simple Bewegung würde die E-Mail mit meiner ordnungsgemäßen, schriftlichen Kündigung an den Gründer unseres Unternehmens senden. Vor lauter Angst vor diesem Schritt ist mir schwarz vor Augen, und mein Herz klopft mir bis zum Hals. Es ist nicht so sehr die Angst vor einer ungewissen Zukunft – ich habe den Luxus, gut ausgebildet zu sein und Kompetenzen zu haben, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Außerdem können mich meine Ersparnisse einige Zeit über Wasser halten. Es ist vielmehr die Angst vor der Abwertung, die ich erwarte. Es sind die Szenen, die sich in meinem Kopf abspielen, die Atemnot auslösen: die enttäuschten Blicke der Kollegen, die meine Arbeit übernehmen müssen; die Standpauke meines Chefs, mit der er mir mitteilt, dass er mit meiner Kündigung nicht einverstanden ist und sie für eine unfaire, feige Flucht hält; die Klienten, die sich darauf verlassen haben, dass ich ihnen weiterhelfe.

Ich hole ein letztes Mal tief Luft, beherrsche die in mir aufsteigende Panik und befehle meiner Hand mit aller Willenskraft, sich nach unten zu bewegen. Und dann sehe ich sie, die kleine Bestätigung, die mir anzeigt, dass die E-Mail versendet wurde. Ich klappe mein Notebook zu, stelle mein Handy auf Flugmodus, stehe auf und verlasse mein Hotelzimmer. Mit den Konsequenzen gehe ich morgen um. Heute Abend bin ich ein freier Mann mitten im riesigen Berlin.

Die Monate nach meiner Kündigung sind keine leichte Zeit, doch sie weisen unausweichlich in die richtige Richtung, jetzt, da die Weichen gestellt sind. Ich schließe meine Projekte ab oder übergebe sie, rede mit Kollegen und Klienten, feiere einen kleinen Ausstand und stehe schließlich ein letztes Mal vor unserem Bürogebäude in München, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Aber um diese Zeit soll es hier nicht gehen. Hier soll es um eine Geschichte gehen, in der aus einem Traum eine Realität wird. Und zwar eine, die mit dem Traum nicht mehr viel zu tun hat.

2

Es ist der erste Januar, mitten in den Winterferien, die Tamara und ich im Berchtesgadener Land im Haus meiner Mutter verbringen. Ich sitze auf der Couch und starre auf meinen Terminkalender, der den Bildschirm vor mir ausfüllt. Er ist leer. Ich habe keine Termine, gar keine. Es gibt keine Deadlines, keine Verpflichtungen, keine Veranstaltungen, die sich am Horizont erahnen lassen. Allen Ballast habe ich abgeworfen. Es gibt nur unendliche Möglichkeiten. Wenn ich meinen Kalender öffne, erstrecken sich über Monate leere Tage – nur ab und zu der Hinweis auf einen Geburtstag oder einen Feiertag.

Jetzt ist der Zeitpunkt aufzubrechen in die stille Weite der Landschaft, die mich so in ihren Bann gezogen hat, als ich damals, vor Monaten, im Zug saß. Ohne Deadlines und Zeitdruck durch das Leben und die Welt ziehen. Endlich kann ich frei herumstreunen, alles, was ich zum Leben brauche, auf meinem Rücken tragend. Ich schaue aus dem Fenster. Zwischen den schweren Wolken sehe ich Gipfel und Felswände hervorragen. Wieso nicht einfach von hier loslaufen? Von image/4.jpg Bad Reichenhall aus durch die Alpen? Nicht so eine geplante Alpenüberquerung von Hütte zu Hütte, mit klaren Etappen. Nein, ich meine einfach loslaufen, mit Schlaf- und Biwaksack bepackt. Auf einsamen Bergen übernachten, inmitten atemberaubender Sonnenaufgänge zwischen hohen Gipfeln aufwachen. Einfach immer weiterlaufen, die Alpen zu Fuß erkunden, über Monate. Das sollte doch machbar sein, oder?

Ohne weiter nachzugrübeln, reserviere ich mir drei Monate im Kalender, öffne im Browser eine Karte der Alpen und ziehe eine grobe Route mitten hindurch, von Bad Reichenhall bis irgendwo weit nach Westen, zum Mont Blanc. Möglichst schön muss der Weg sein. Ich ziehe den Strich über beinahe jeden Gipfel zwischen hier und meinem Ziel, durch Naturparks und an Gletschern vorbei. Nachts oben auf Gipfeln nah an den Sternen schlafen, morgens absteigen und nachmittags auf der anderen Seite wieder hoch, das ist mein Plan. Dazwischen auf lang gezogenen Graten über der Landschaft wandeln und dem sanften Wind, dem Zwitschern der Vögel und dem Hufgetrappel der Gamsen lauschen. So ungefähr stelle ich mir das vor. Von hier bis zum höchsten Berg der Alpen. Was für ein Plan. Ich liebe ihn jetzt schon!

Begeistert klemme ich mein Notebook unter den Arm und renne die Treppen ins Arbeitszimmer hoch.

»Tamara, schau mal, was ich mir überlegt habe.« Begeistert platze ich ins Zimmer.

»Was denn?« Sie lächelt mich an.

In diesen Blick habe ich mich verliebt, als wir uns kennenlernten. Ein Blick, der nichts als reine Freude darüber ausstrahlt, dass ich existiere. Er scheint mir jedes Mal zu sagen: »Mach dir keine Sorgen, habe keine Angst. Komm einfach zu mir, wie du bist.«

Was auch immer wir im Leben noch vorhaben, wir versuchen nie zu vergessen, dass alles davon wenig wert ist ohne diese Geborgenheit, die wir uns gegenseitig geben.

»Ich werde ab Mai wandern gehen. Schau dir meine Route an.« Ich halte ihr meinen Laptop vor die Nase.

Eine wild gezackte Linie zieht sich über die Karte des gesamten Alpengebietes auf dem Bildschirm.

»Wow, Wahnsinn. Wird auch Zeit, dass du diesen Traum jetzt in die Tat umsetzt! Nimmst du mich ein Stück mit?«

»Na klar, du kannst mich ja ab und zu besuchen kommen und ein paar Tage mitlaufen, wann immer du Zeit hast«, grinse ich.

»Weißt du schon, was du alles brauchst dafür?« Tamaras Blick verrät ihre Skepsis. Wahrscheinlich befürchtet sie – zu Recht –, dass ich viel zu wenig Ausrüstung mitnehmen will.

»Die Ausrüstung fehlt noch«, gebe ich zu. »Ich weiß bisher nur, dass sie minimalistisch sein muss.«

Ich will so wenig tragen müssen wie möglich. Und was ich dabeihabe, muss mir trotzdem ermöglichen, allein draußen zu übernachten. Ich will nicht auf Hütten, Pensionen und Hotels angewiesen sein.

»Ich denke, ich nehme meinen alten Wanderrucksack. Da passen 38 Liter rein, das muss reichen.«

Weg mit dem Ballast.

Während wir reden, fängt es draußen in dicken Flocken zu schneien an. Es ist der erste echte Schneefall diesen Winter, zumindest hier im Tal. Und er hat es in sich.

Als ich am nächsten Morgen mit Schneeschippe bewaffnet den Gehsteig vor dem Haus freischaufele, versinke ich bis zu den Oberschenkeln in weißer, flauschiger, kalter Watte. In den nächsten Wochen wird klar: Es ist der schneereichste Winter seit vielen Jahren. Aber ich mache mir keinen einzigen Gedanken darüber, was das für mein Vorhaben heißen könnte.

3

Nach den Winterferien fahren wir wieder nach Hause, zurück ins Flachland, in ein graues Städtchen in der Nähe von Frankfurt am Main. Dort starte ich meine spärlichen weiteren Vorbereitungen. Sie bestehen im Wesentlichen daraus, mir zu überlegen, was ich genau mitnehmen muss. Brauche ich eine Isomatte? Vielleicht kann ich abends immer genug Gräser, Laub oder Ähnliches zusammenkratzen, um mir eine Isolation unter dem Schlafsack zu schaffen. Doch Tamara schafft es schnell, mir das auszureden: »Ernsthaft. Nimm eine Isomatte mit. Du stirbst sonst!«

Mit Schlafsack, Isomatte und Biwaksack ist mein Rucksack auch schon ziemlich voll. Viel Platz für weitere Ausrüstung bleibt nicht. Ein Problem ist das Kartenmaterial. Für die ganze Route brauche ich an die 20 verschiedene Wanderkarten. Die kann ich niemals alle auf einmal mitschleppen. Da passt es gut, dass Tamara mich ab und an besuchen will. Auch meine Eltern haben sich für eine kurze Wanderbegleitung angekündigt. Sie bringen mir die benötigten Karten und nehmen die ausgedienten wieder mit, um mir Gewicht abzunehmen. Damit bleibt gerade noch genug Platz für eine Wasserflasche und Nahrung für zwei volle Tage. Ich kann mir nicht vorstellen, länger als einen halben Tag durch die Alpen zu laufen, ohne an einem Gebirgsbach vorbeizukommen. Zur Sicherheit packe ich einen kleinen Wasserfilter ein. Und so dicht, wie diese Berge besiedelt sind, sollte ich locker alle zwei bis drei Tage in ein Dorf kommen. Zur Not muss ich den Gürtel eben mal einen Tag lang etwas enger schnallen.

Meine körperliche Verfassung ist zum Glück schon recht gut. Ich gehe regelmäßig joggen und war immer mal wieder Wandern in den letzten Jahren. Sogar den einen oder anderen Kletterkurs habe ich belegt. Ob das reicht, überall am Berg mit Gepäck weiterzukommen? Ich werde es darauf ankommen lassen müssen.

So ziehen die Wochen bis zum Frühsommer ins Land, und mich überkommen immer öfter Vorstellungen davon, wie es sein wird in den Bergen. Wenn ich aus dem Fenster schaue oder draußen bin, beobachte ich das Wetter mit ganz anderen Augen als früher. Bald werde ich ihm mit all seinen Tücken, Unvorhersehbarkeiten und möglicherweise seiner Gewalt gänzlich ausgesetzt sein. Mein Herz beginnt bei diesem Gedanken jedes Mal vor Aufregung zu pochen. Es ist keine nervöse oder ängstliche Aufregung. Sie hat eine Ruhe und Gewissheit, als wollte mein Herz mir sagen: Das und nichts anderes ist dein richtiger nächster Schritt. Es ist der Drang nach einem Leben in intensivem Kontakt mit der Natur, der mich hinauszieht, irgendwie näher an dem, was wirklich zählt.

Mitte April, ungefähr zwei Wochen bevor ich aufbrechen will, wird der Biwaksack per Post geliefert. Es ist ein 220 Zentimeter langer Goretex-Schlauch, ein bisschen breiter als ich selbst. Zusammen mit einer Isomatte und einem leichten Daunenschlafsack muss er mich durch alle Nächte bringen – seien sie warm und trocken oder kalt und nass. Der Biwaksack und der Schlafsack – meine neuen besten Freunde. Ihnen werde ich mein Leben anvertrauen müssen, bei Wind und Wetter, Sturm, Schnee und Gewitter mitten in den Bergen. Meine Intuition sagt mir, dass ich diese Ausrüstung mal testen sollte, bevor es wirklich losgeht.

An einem Frühlingsabend stehe ich mit meinem neuen Equipment draußen auf dem Feld. Riesig und dunkel türmen sich die Wolken auf. Eine graue kilometerhohe Wand zieht auf mich zu, aus der Blitze zucken. Heftige Böen pfeifen mir um die Ohren. Was zur Hölle mache ich hier eigentlich? Bei dem Wetter verzieht man sich in seine Wohnung und sucht Schutz. Schutz suchen, das habe ich ja auch vor. Aber eben draußen, irgendwo. Ich wollte den Kontakt zur Natur. Also: Hier ist er.

Als ich las, dass ein Gewitter auf die Stadt zukommt, bin ich sofort rausgegangen, um meine Ausrüstung zu testen. Seit dem ersten Schritt in der Gewissheit, diese Nacht draußen im Wald zu übernachten, ist meine Wahrnehmung anders als sonst. Der Blick in den Himmel ist relevanter als jemals zuvor in meinem Leben. Ständig schiele ich leicht beängstigt nach oben. Hier ist sie, meine erste echte Lektion darin, die Natur zu lesen. Die Wolken sagen mir eindeutig, was ich in den nächsten Stunden zu erwarten habe.

Ich überquere das Feld und bleibe dort, wo der Wald anfängt, stehen. Der Sturm lässt die großen Bäume über mir gefährlich schwanken. Was, wenn mir ein Ast auf den Kopf fällt? Bin ich eigentlich bescheuert, bei Sturm in den Wald zu gehen? Mein Herz hämmert in meiner Brust. Aber es hilft nichts. Situationen wie diese werden mir noch häufiger begegnen, weit abseits der Zivilisation. Besser, mich jetzt schon an sie zu gewöhnen. Ich nehme all meinen Mut zusammen und gehe weiter in den Wald hinein.

Meine Sinne sind so scharf wie nie. Jedes Knacken zieht meine Aufmerksamkeit sofort auf sich. Direkt neben meinem linken Ohr höre ich plötzlich ein lautes, schabendes Geräusch. Erschrocken zucke ich zusammen, bis ich verstehe, dass es nur das Reiben meines Ärmels am Rest der Jacke war. Na wunderbar, jetzt habe ich schon Angst vor mir selbst!

Wenige Minuten später trete ich auf eine Lichtung. Blitze zucken am Himmel. Der Sturm beutelt die Baumkronen. Zum Glück regnet es noch nicht stark. Wie zur Hölle soll ich hier verlässlichen Schutz vor den Elementen finden? Ich sehe mich um und entdecke etwas, was wohl meine beste Option sein wird: Ein circa anderthalb Meter hoher Baumstumpf steht am Rand der Lichtung. Unter diesen Umständen kommt er mir wie eine Trutzburg vor. Wenn ich mich in seinen Windschatten lege, gibt er mir etwas Schutz vor dem Regen, dem Wind und vielleicht vom Sturm herabgeworfenen Ästen. Gleichzeitig steht er so, dass Blitze, die in umstehende Bäume einschlagen könnten, weit genug von mir entfernt wären. Es ist eine beängstigende Vorstellung, hier ganz allein die Nacht zu verbringen. Ich ziehe meinen Biwaksack aus dem Rucksack, breite ihn am Fuß des Baumstumpfs aus und liege kurz Probe. Gemütlich genug, ist mein Urteil. Und jetzt? Es ist 18 Uhr. Ich bin noch nicht müde. Unschlüssig stehe ich im leichten Nieselregen. Soll ich mich etwa hinlegen und mit Nichtstun die Zeit totschlagen, bis ich einschlafe?

Und dann passiert etwas, von dem ich nicht recht weiß, ob ich darüber froh oder traurig sein soll. Das Gewitter, mitsamt Blitzen und Starkregen, zieht vorbei. Na dann, denke ich mir, dann kann ich auch nach Hause gehen. Bringt ja nichts, ohne Widrigkeiten hier draußen zu übernachten. Erleichtert packe ich meine Sachen wieder zusammen und freue mich auf eine Nacht im warmen, weichen Bett zwischen stabilen Wänden. Vielleicht wäre es besser gewesen, das Gewitter wäre in dieser Nacht über mich hinweggerollt. Dann wäre ich ein bisschen besser vorbereitet gewesen auf das, was noch kommen sollte.

4

Bevor ich den Zug nach Süden nehme, um meine große Wanderung zu beginnen, bin ich in einem Adrenalin- und Koffeinhigh. Ich tigere bis spät abends aufgeregt und ruhelos hin und her, packe, durchdenke, erledige und bin dabei aufgekratzt und vorfreudig. Erst gegen 22 Uhr beginnen die Schwere und Ernsthaftigkeit der Realität auf mich einzuwirken. Mein Puls verlangsamt sich. Es gibt nichts mehr vorzubereiten. Bald werde ich dort draußen stehen, komme was wolle, und mir meinen Weg und mein Leben täglich gestalten. Weg sein werden alle überflüssigen und doch so behaglichen Stützen der täglichen Zivilisation. Weit entfernt der Autopilot durch die Nichtigkeiten. Kälte, Hunger, Durst und Verletzungen werden ihren urtümlichen Status zurückerlangen als die Dinge, auf die es im Leben wirklich ankommt, wenn man erst einmal die Luxusprobleme losgeworden ist. Der Moment im Hier und Jetzt, an den uns all die schlauen Sprichwörter immer wieder erinnern, er wird ganz natürlich das Einzige sein, das zählt, ohne dass ich dafür Willenskraft aufbringen müsste.

In der Nacht träume ich von verpassten Fotogelegenheiten. Spektakuläre Farbspiele am Himmel und dunkle Wolken, die sich bedrohlich über Berghänge schieben, bieten eine atemberaubende Kulisse. Aber ich schaffe es nicht rechtzeitig, die Kamera richtig einzustellen und die Bilder vor meinen Augen auch digital festzuhalten.

Am nächsten Morgen fängt mein neues Leben an. Im Morgengrauen steige ich mit meinem abgewetzten Rucksack bepackt die Treppen unseres Mehrfamilienhauses hinunter. Biwak- und Schlafsack und die Isomatte füllen ihn etwa zur Hälfte. Oben drauf habe ich ein paar Outdoorbasics und Notfallausrüstung gepackt: eine Stirnlampe, ein großes Messer, ein paar Meter dicke Reepschnur, drei Karabinerhaken, einen Wasserfilter, einen Funkenstab, einen Kompass und ein Knäuel Kunstsehne. Meine Körperpflege wird sich auf ein Minimum beschränken müssen. Eine Nagelschere, ein paar Päckchen Taschentücher, eine Zahnbürste, eine kleine Tube Sonnencreme sowie einige Pflaster und Mullbinden füllen die kleinen Seitentaschen des Rucksacks. Noch nicht einmal Zahnpasta habe ich eingepackt. Damit bleibt gerade noch Platz für einen Satz frische Unterwäsche, die unverzichtbaren Regen-, Fleece- und Daunenjacken, etwas Essen und Trinken und ein paar Wanderkarten.

Es ist kurz nach fünf Uhr, und die WG aus dem ersten Stock demonstriert mir die Abnormität meines Vorhabens. Ihre Wohnungstür steht offen und gewährt mir einen Einblick in ihren Tanz in den Mai. Drinnen verabschieden sich gerade ein paar Leute in den neuen Tag. Ein Hauch von Alkohol weht durchs Treppenhaus, und ich kann ein Regal voller leerer Schnapsflaschen erkennen, als ich im Vorbeigehen kurz in den hell erleuchteten Flur schaue. Das ist also das, was normale Leute am ersten Mai um diese Zeit tun. Ich stattdessen stapfe in meinen schweren Wanderstiefeln stocknüchtern hinaus ins fahle Licht der aufgehenden Sonne.

Keine halbe Stunde später sitze ich stolzerfüllt im Zug. Gestern, beim gewaltsamen Stopfpacken, ist mein Rucksack gerissen. Jetzt sitze ich da und vernähe den Kunststoff mit Kunstsehne. Wenn ich ausblende, dass der Großteil der Materialien, mit denen ich gerade arbeite, aus Plastik hergestellt ist, komme ich mir richtig urtümlich vor. Es tut mir gut, etwas Anfassbares und wirklich Notwendiges mit meinen eigenen Händen zu werkeln. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas genäht zu haben, das so essenziell war. Ehrlich gesagt, ich kann mich nicht erinnern, seit dem Kunstunterricht in der Mittelstufe jemals wieder etwas genäht zu haben. Jeder Nadelstich ist aufregend und fühlt sich weltbewegend an! Zumindest gilt das für die ersten paar Stiche, bei denen ich wahrscheinlich wie ein Honigkuchenpferd strahle. Als sich zwischendurch meine mangelnde Nähkompetenz bemerkbar macht, der Faden immer wieder aus dem Nadelöhr gleitet oder sich irgendwo an anderen Gegenständen verheddert, erlebt meine neu entdeckte Näheuphorie einen herben Abschwung. Aber trotzdem vergeht die Zeit wie im Flug, und mein Rucksack hält eine Stunde später wieder bombenfest.

image/2.jpgIn einer Welt, in der das, was ich dabeihabe, alles ist, auf das ich zurückgreifen kann, wird jeder Gegenstand zu einer kleinen Kostbarkeit.image/3.jpg

Irgendwie besorgniserregend ist aber die Tatsache, dass ich es bei dieser ersten Nähaktion schaffe, eine meiner beiden Nadeln beim Umsteigen im Zug zu vergessen und auch die zweite fast durch Schusseligkeit verlege. Ich glaube, ich muss mich an den gestiegenen Wert meiner einzelnen Besitztümer noch gewöhnen. In einer Welt, in der ich alles einfach jederzeit nachkaufen kann, gibt es wenig Anreiz, eine einzelne Nähnadel als kostbares Gut wahrzunehmen. Doch in einer Welt, in der das, was ich dabeihabe, alles ist, auf das ich zurückgreifen kann, wird jeder Gegenstand zu einer kleinen Kostbarkeit. Diese Erkenntnis fühlt sich wie ein kleiner erster Erfolg darin an, zu den relevanten Dingen im Leben zurückzufinden. Und das, bevor ich überhaupt losgelaufen bin. Ich lasse mich zufrieden in den Sitz zurückfallen und schaue aus dem Fenster, wie damals, im ICE nach Stuttgart. Die freundliche Frühlingslandschaft saust vorbei, in der Ferne sind die ersten Ausläufer der Berge zu erahnen. Nur noch wenige Stunden, dann werde ich auf der richtigen Seite der Scheibe stehen.

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MAI-SCHNEE

5

»Meinst du, wir sollten umkehren?«, frage ich schwer atmend. Ich stehe am Steilhang auf einem Pfad, der gerade breit genug ist, um mich umdrehen und nach hinten schauen zu können.

»Nein, es geht schon«, höre ich Tamara antworten. Sie balanciert gerade Schrittchen für Schrittchen über eine halb aus der Verankerung gerissene, von der Nässe glitschige Holzleiter, die über einen kleinen Riss im Fels führt. Vom freundlichen Frühling ist nichts mehr zu spüren. Die Wolken hängen tief und grau über uns, jederzeit bereit loszuregnen. Es ist eisig kalt. Der Steig, auf dem wir uns mühsam voranplagen, ist schmal und in sehr schlechtem Zustand. Links von uns geht es steil in den Abgrund. In meinem Kopf rattert es. Tamara kämpft sich voran, weil sie mich nicht aufhalten will, das kann ich ihr ansehen. Wie ironisch, ist mir doch selbst nicht wohl in meiner Haut bei dem, was wir hier tun. Wir zweifeln beide, ob wir es schaffen können. Geben wir zu früh auf, wenn wir jetzt umkehren? Oder verunglücken wir, wenn wir es nicht tun? Vielleicht wird der Steig weiter geradeaus einfacher? Wenn wir umdrehen, müssen wir die schon geschafften kniffligen Passagen dieses Steigs noch einmal überwinden und danach den halben Weg, den wir heute schon zurückgelegt haben, zurückgehen, um eine neue Route einzuschlagen. Dann war all diese Mühe umsonst. Das hier ist erst der erste Tag einer monatelangen Wanderung. In was für eine Lage habe ich uns bereits manövriert?

Der Wetterbericht war schon nicht besonders ermutigend heute Morgen. Die ganzen nächsten Tage sollte es regnen und sogar schneien, selbst im Tal. Aber wir wollten natürlich unbedingt trotzdem aufbrechen. Tamara war kurz nach mir nach Bad Reichenhall gekommen, um mich die ersten Tage zu begleiten. Wir waren hungrig nach Aufbruch und Abenteuer! Außerdem muss sie in vier Tagen wieder zu Hause sein. Sie ist schließlich nicht zum Warten gekommen. Die erste Tagesetappe sollte uns nur über einen 900 Meter hohen Sattel nach Schneizlreuth führen. Ein sanfter Einstieg, schließlich liegt der Große Arber im Bayerischen Wald mehr als 500 Meter höher als das. Da kann ja gar nichts schiefgehen. Dachten wir.

Stattdessen stehen wir ein paar Stunden später auf diesem teilweise gesicherten Steig über einem steilen Abgrund. Neben unseren Füßen zieht sich die Böschung schwindelerregend in die Tiefe. Wer hier ausrutscht, der stürzt ziemlich weit ab. Das Biest des Winters hat dem Steig übel mitgespielt. Es liegen immer wieder ganze Bäume quer über dem schmalen, schlüpfrigen Pfad. Stellenweise sind sogar die langen Metallstreben, die das Sicherungsseil an besonders gefährlichen Stellen im Fels verankern, aus dem Boden gerissen. Die Holztritte, die an einigen Passagen montiert sind, sind rutschig und manche locker. Hier müssen heftige Stürme gewütet haben. Und in mir kommt dieses Gefühl auf, das wir als Gesellschaft kollektiv zum Erzfeind erklärt haben: Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, das intensive Erleben des Moments, in dem du spüren kannst, wie dein eigener Tod nur einen kleinen Fehltritt entfernt ist. Es ist das Gegenteil von Sicherheit. Gleichzeitig ist dies der letzte Weg vorwärts, der uns bleibt. Wir sind vor einer halben Stunde erst umgekehrt, als sich der Pfad, der auf der Karte den Hang bis nach Schneizlreuth hinunterführte, im Dickicht verlor. Seitdem schwebt über uns die Unsicherheit, ob die Realität hält, was die Karte verspricht.

Ich schaue wieder zu Tamara.

»Warte kurz!«

Sie ist gerade auf der anderen Seite der Holzleiter angekommen und bleibt stehen.

»Wir müssen das hier nicht machen. Ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll ist«, füge ich hinzu.

»Aber ich will dich nicht aufhalten.« Sie klingt entschlossen. »Das hier ist deine Wanderung. Wenn du weitergehen willst, gehen wir weiter.«

»Du hältst mich nicht auf.« Ich überlege. »Vielleicht ist es das Beste, wenn wir umkehren. Ich fühle mich hier auch nicht sicher. Ganz abgesehen davon habe ich noch Monate Zeit, um mich in gefährliche Situationen zu bringen. Wir müssen nicht unbedingt am ersten Tag damit anfangen!« Mein Scherz ist halb ernst gemeint.

Ich kann die Erleichterung in Tamaras Gesicht sehen, ausgelöst durch die Hoffnung, keinen einzigen weiteren Schritt auf diesem Höllenpfad mehr machen zu müssen. Mein Blick fällt auf den nassen, rutschigen Fels, der vor uns liegt. Ich verspüre wenig Drang, mich auf ihm weiterzukämpfen. Damit ist die Entscheidung gefallen. Wir kehren um und suchen uns einen Weg durchs Tal. Zuerst aber müssen wir über den Teil des Steigs zurück, den wir schon bewältigt haben. Angespannt und vorsichtig balancieren wir auf dem schlüpfrigen Untergrund wieder bergab. Jetzt bloß keinen leichtsinnigen Fehler machen, es ist noch nicht vorbei.

Schließlich stehen wir wieder am Eingang zum Steig. Ich kämpfe noch mit meinem Frust, jetzt wieder den breiten Forstweg ins Tal hinunterstapfen zu müssen. Aber es dauert nicht lange, bis ich einsehe, dass alle anderen Optionen unsinnig gewesen wären.

Zwei Stunden später wandern wir auf einem schmalen Weg ein wenig abseits der Straße weiter nach Süden. Weit vor uns sehe ich ab und zu zwischen den Wolken die weiß bedeckten Loferer Steinberge wie majestätische, unerreichbare Eisriesen aufragen. Leicht ungläubig muss ich daran denken, dass ich da drüberwandern wollte, damals, als ich am ersten Januar unbedarft eine Route durch die Landkarte gezogen habe. Diese Route habe ich längst wieder begraben und durch eine ersetzt, die mich ein paar Wochen später tiefer ins Hochgebirge führen soll. Es wird noch über einen Monat dauern, bis ich auch nur darauf hoffen kann, so weit in die Berge hinaufzusteigen, so verschneit ist alles noch. Doch dann verschwinden die Felsriesen aus unserem Blickfeld. Die Wolken werden dunkler und senken sich tief über die Landschaft. Der angekündigte Regen setzt ein.

Plötzlich zweigt vor uns ein Pfad in Richtung Berg ab. Er ist mit Baustellenband abgesperrt und auf einem kleinen Schild steht:

»Steig wegen Sturmschäden gesperrt. Lebensgefahr!«

Diesen Weg hatten wir versucht herunterzukommen, bevor wir umgedreht sind. Nett von ihnen, ihn nur von unten abzusperren. Sehr zuvorkommend, wirklich. Wir marschieren weiter durch den Regen. Langsam plagt uns der Hunger. Wir haben ein paar Müsliriegel im Rucksack, die wären jetzt genau das Richtige. Können wir vielleicht irgendwo unsere Rucksäcke öffnen, ohne dass das Wasser hineinläuft? Hast du irgendwas im Angebot, Universum? Da sehen wir am Wegrand ein Jesusbildchen stehen. Damit der Arme an seinem Kreuz nicht so nass wird, schützt ihn ein ungefähr 40 Zentimeter breites und 15 Zentimeter tiefes Dach. Das muss reichen. Ich versuche irgendwie meinen Rucksack so auf den Knien zu balancieren, dass neben Jesus auch der Inhalt so gut es geht vor Nässe geschützt ist. Mit spitzen Fingern ziehe ich die tropfende Regenhülle ab, und Tamara wühlt die Müsliriegel hervor. Schweigsam kauend stehen wir danach im Regen und stopfen ein paar Kalorien in uns hinein, um die Kraft zu haben, weiterzugehen. Wird uns heute irgendwann noch mal warm sein?

Der kalte Dauerregen begleitet uns immer noch, als wir ein paar Stunden später in der Nähe von image/4.jpg Schneizlreuth bei jeder Brücke überlegen, ob wir nicht darunter schlafen sollten. Der Ort selbst bietet nicht viel. Er besteht aus kaum mehr als fünf Gebäuden. Aber eines davon ist ein Wirtshaus. Ich habe mir noch am Morgen vorgenommen, so bald keine Türschwelle mehr zu passieren. Aber das war nicht ganz so ernst gemeint. Schließlich muss ich auch in Supermärkte, um mir Nahrungsmittel zu kaufen. Und jetzt ist uns kalt, wir sind nass und haben Hunger. Inmitten der grauen, dunklen Landschaft verheißen die hell erleuchteten Fenster des Gastraums eine dringend nötige Pause. Ich sehe meine Hand die massive Stahlklinke der Eingangstür herunterdrücken, und ein paar Minuten später sitzen wir, immer noch frierend, an einem Tisch in der Ecke.

»Ich tu mal den gelben Verhüterli hier ein bisschen zur Seite«, scherzt die Wirtin und schiebt die gelbe Regenhülle meines Rucksacks unter den Tisch, während sie sich ihren Weg zu uns herüber bahnt. »Sonst fällt ja jeder drüber.«

»Tut mir leid, ist so eine Angewohnheit von mir, meine Verhüterlis überall herumliegen zu lassen«, scherze ich zurück. Tamara verdreht die Augen.

»Wo gehts ihr denn hin?«, bohrt die korpulente Wirtin im Dirndl nach. »Wieso seids ihr überhaupt unterwegs bei dem Wetter? Wenn mein Mann mich mit so viel Gepäck bei der Witterung nach draußen ziehen würde, dem würd ich was erzählen. Keine zehn Schritte würd ich machen.« Ihr Blick schweift halb kritisch, halb neugierig über unsere seltsame Ausrüstung. Es ist offensichtlich, dass sich in unseren Rucksäcken Zeug für eine längere Wanderung befindet, unter Tamaras graugrünes Exemplar ist ein Zelt geschnallt. Ihr Rucksack ist dadurch schwerer als meiner, was nicht ganz fair ist, da sie mir nur bis zur Brust reicht und fast halb so viel wiegt wie ich.

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