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Glitzern im Grün – Auf der Suche nach Kolibris

Als Buch hier erhältlich:

Eine schillernde Ode an die kleinsten Vögel der Welt

Seine große Liebe beginnt im Londoner Naturkundemuseum: Fasziniert steht Jon Dunn als kleiner Junge vor einer Vitrine ausgestopfter Kolibris – ihr Glitzern und Schimmern in allen erdenklichen Farben lässt ihn nie wieder los. Als Erwachsener macht er die Reise, die ihn durch ihren gesamten natürlichen Lebensraum führt: von Alaska bis zum südlichsten Zipfel von Argentinien. Da gibt es den Bienenkolibri in Kuba, die kleinste Vogelart, die je gelebt hat, die Rotrücken-Zimtelfen hoch im Norden, und den vom Aussterben bedrohten Juan-Fernandez-Kolibri, der auf der abgelegenen Pazifikinsel gestrandet ist, die Daniel Defoe zu »Robinson Crusoe« inspirierte.

Grandios verbindet Jon Dunn eine Welt voller Mythologie mit den Geschichten der Menschen, die, wie er, diese Vögel seit jeher verehren. Seit Jahrhunderten beflügeln Kolibris unsere Fantasie – dieses Buch nimmt uns mit auf eine unvergessliche Reise zu den bemerkenswertesten ihrer Art.

»Dunn verwebt die Kulturgeschichte dieser wundersamen Vögel, ihre überwältigende Not und Kunstfertigkeit mit seinen eigenen teils gefährlichen Berg-, Wald- und Inselexpeditionen. Außerordentlich gut recherchiert und voll faszinierender Legenden spricht das Buch nicht nur begeisterte Vogelkundler, sondern auch allgemeine Leser an.«

Wall Street Journal

»Jon Dunn nimmt uns mit auf eine wundersame Reise um die Welt, auf der Suche nach den Kolibris, deren Bestand bedroht ist. Seine lebendige Prosa, ergänzt um genau die richtige Menge Fachwissen, wird Vogelkundler und Nicht-Vogelkundler gleichermaßen fesseln.«

Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 23.08.2022
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001615
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Para mi musa de los colibríes –
sigue tu corazón, y disfruta el viaje

Für meine Muse der Kolibris –
folge deinem Herzen und genieße die Reise

EINLEITUNG

Diese Geschichte beginnt in einer unschuldigeren Zeit, einer Zeit, in der wir uns vielleicht ein paar Gedanken über Umweltverschmutzung und die Rettung der Wale machten, die meisten von uns jedoch nicht im Traum daran dachten, welche schwerwiegenden Folgen unser Verlangen nach Konsum und Bequemlichkeit für unseren Fortbestand auf diesem Planeten haben würde. Diese Zeit waren die frühen 1980er-Jahre, in denen wir Engländer beim Friseur bedauernswerte Entscheidungen trafen, die Sunday Chart Show auf Radio 1 aufnahmen und daraus Mixtapes zusammenstellten und das Busunternehmen Trathens Tagestrips nach London anbot. Einen davon unternahm ich zusammen mit meiner Mutter.

Schon der Ausflug an sich war ein Ereignis. Wir kamen so gut wie nie aus Südwestengland heraus. Andere Familien machten weite Reisen; wir fuhren, wenn überhaupt, immer nur gen Westen, zum Haus meiner Großmutter in Cornwall. London war ein unsäglich fremder Ort, der in meiner Vorstellung die Bedrohlichkeit einer Charles-Dickens-Metropole angenommen hatte. Meine Neugier galt ausschließlich der Natur. Von roten Doppeldeckerbussen, schwarzen Taxis, dem Buckingham Palace oder einer Wachablösung ließ sie sich nicht in Versuchung führen. All diese Dinge spielten während unseres Tages in der Hauptstadt eine mehr oder weniger tragende Rolle, doch was mir vor allem anderen im Gedächtnis blieb – einem Jungen, der unter freiem Himmel am glücklichsten war –, waren der London Dungeon und der Tower, die schauerlichsten Orte überhaupt, der Stoff, aus dem Albträume sind. In einer finsteren Kammer huschten Ratten in einem zu klein geratenen Vivarium umher, um die Geschichte der schwarzen Pest zu illustrieren. Ich wusste, wie sie sich fühlten. Auch ich wollte mich, so schnell es nur ging, an die frische Luft retten.

Die Kronjuwelen jedoch verschlugen mir die Sprache. Vor dieser dunklen, seelenlosen Kulisse glänzten sie beinahe unerträglich hell und leuchtend. Sie zückten ihre weißen, blauen, roten und gelben Lichtschwerter, zogen mich völlig in ihren Bann und tanzten noch lange vor meinen geschlossenen Augen weiter, als hätte mich die Sonne geblendet. Bunte Farben übten auf mich dieselbe Anziehung aus wie Licht auf eine Motte, sodass ich am späten Nachmittag, als wir das Naturhistorische Museum betraten, für das über unseren Köpfen hängende Diplodocusskelett kaum einen müden Blick übrighatte. Das Museum war der einzige Ort in London gewesen, auf dessen Besuch ich mich gefreut hatte. Ich wusste nicht, was mich dort erwartete, doch von allen Ausstellungsstücken erwies sich eines als absolut unwiderstehlich. Wie zuvor bei den Kronjuwelen brach aus einer großen, mit Hunderten von Kolibris bestückten Vitrine eine Flut von Farben über mich herein. Etwas Außergewöhnliches tat sich vor mir auf, das nicht von dieser Welt zu sein schien.

Ich war es gewohnt, einheimische Vögel in unserem Garten und der Landschaft von Somerset zu sehen, die unser Dorf umgab. Manche von ihnen, Blaumeisen und Stieglitze beispielsweise, unterschieden sich durch ihr farbenfrohes Gefieder von den unauffälligeren Spatzen oder eintönigen Waldsängern. Diese Kolibris jedoch waren in Regenbogenfarben getaucht – ihr Federkleid funkelte und schimmerte, und mit jedem neuen Blickwinkel wechselten sie ihre Färbung. Ich drückte mir die Nase am Glas der Vitrine platt und weigerte mich, in den nächsten Raum zu gehen.

Dass sie tot waren, abgeschossen von längst vergessenen Männern, die ihre Flinten mit staubkorngroßem Schrot luden, und ausgestopft von geschickten Präparatoren, die keinen Kolibri jemals in freier Wildbahn gesehen hatten, um die natürlichen Posen der Vögel nachbilden zu können … All das war mir damals herzlich egal. Zwar dämmerte mir entfernt, dass sie den mir bekannten Vögeln weder in ihrer Größe noch ihrem Aussehen ähnelten, doch ich verlor mich sogleich wieder in der Vielfarbigkeit ihrer Kehlen und Rücken, Flügel und Schwänze.

Von der Geschichte dieser Exponate blieb damals natürlich nichts bei mir hängen. Erst viele Jahre später – als mein Wunsch, meinen ersten Kolibri dort zu sehen, wo er hingehörte, nämlich in der freien Natur, derart groß geworden war, dass ich jeden noch so kleinen Informationsschnipsel gierig in mich aufsog – erfuhr ich etwas über die bewegte Geschichte der Kolibrivitrine im Londoner Naturhistorischen Museum.

Die genaue Herkunft der Exponate ist ungeklärt. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, wurden sie im frühen 19. Jahrhundert von William Bullock gesammelt, der Museumskurator in Liverpool und London war. Bullocks Karriere war so bunt und abwechslungsreich wie das Gefieder der Kolibris. Benjamin Haydon, ein Künstler und Zeitgenosse, erinnert sich, Bullock habe es geliebt, »alles auf eine Karte zu setzen«.

Bullock hatte als Juwelier und Goldschmied in der industriell geprägten Umgebung von Birmingham gearbeitet und offensichtlich ein Auge für alles Schöne und Besondere entwickelt. 1809 zog er nach London, wo er sich daranmachte, eine beachtliche Sammlung von Kunstwerken, Rüstungen, naturkundlichen Stücken und unterschiedlichster Kuriositäten zusammenzustellen. Sie kamen aus aller Welt, unter anderem wurden sie von den schicksalhaften Pazifikexpeditionen James Cooks mitgebracht. Bullock war ein fieberhafter Sammler und noch dazu fest entschlossen. Er besuchte das nordschottische Orkney, um eines der letzten Exemplare des Riesenalks zu erstehen. Um ein Haar wäre es ihm gelungen, einen der letzten noch lebenden flugunfähigen Vögel zu fangen. Zu diesem Zweck hatte er sich eigens ein Shetland Sixern geliehen, ein Sechsriemensegelboot, das in der Gegend zur Fischerei verwendet wird, doch am Ende musste er sich damit zufriedengeben, den Kadaver des unglücklichen Vogels im Jahr darauf einem erfolgreicheren Jäger abzukaufen.

Wenn es darum ging, das perfekte Exponat für eine Ausstellung zu ergattern, spielte Geld ebenso wenig eine Rolle wie Geschmack oder Moral – Bullock holte Erkundigungen darüber ein, ob es möglich sei, »das Haupt Oliver Cromwells, intakt, mit dem Fleische« auf einem Pfahl auszustellen. Allerdings übte er sich 1810 in Zurückhaltung, als ein gewisser Armeechirurg namens Alexander Dunlop ihm als lebendiges Ausstellungsstück Sarah Baartman anbot, eine Frau der südafrikanischen Khoikhoi-Nomaden. Dunlop hatte Baartman nach England gebracht, und da Bullock kein Interesse hatte, machte er sich selbst schamlos daran, sie als sogenannte Hottentottenvenus auszubeuten – wohl das extremste Beispiel für die starke Fetischierung des Exotismus, der in Europa zu dieser Zeit um sich griff.

Bullocks Ablehnung und sein Anstand in diesem Fall sind ihm anzurechnen, doch in anderen Bereichen zeigte er sich weniger zögerlich in seiner Sammelwut. Als er seine Sammlung schließlich verkaufte, zählte sie 32 000 Exponate, darunter einige überaus wertvolle ausgestopfte Kolibris. Auf seinen ausgedehnten Reisen nach Mexiko und Nordamerika war er auf kulturelle und naturkundliche Artefakte genauso versessen wie auf die Idee, am Ufer des Ohio River eine utopische Gemeinschaft zu gründen – dieses Vorhaben scheiterte kläglich, doch Bullocks neue Sammlung in London erfreute sich einiger Beliebtheit.

Obwohl er seine ursprüngliche Prunksammlung 1819 verkauft hatte, ließen die Kolibris seine Sammlerleidenschaft aufs Neue aufleben. 1823 erblickte er auf dem Weg nach Mexiko auf Jamaika seinen ersten lebenden Kolibri und fing wieder an, die Vögel zu sammeln. Er schrieb: »Auf Jamaika erstand ich die kleinste bekannte Art, die noch um einiges kleiner ist als manche Bienen; und in Mexiko viele neue Spezies, deren herrliche Farben in einem Glanz und Schimmer erstrahlen, welche die uns bekannten noch um einiges übertreffen.«

Bullock hatte bekanntlich das findige Auge eines Juweliers für besonders schöne Objekte, die zahlendes Publikum anlocken würden. Doch gleichzeitig sah er in Kolibris auch die Krönung der Schöpfung. »Man darf feststellen«, sagte er 1824, »dass es, in all den Werken, welche die Natur zoologisch hervorgebracht hat, keine Familie gibt, die sich in der Einzigartigkeit ihrer Form, Herrlichkeit der Farbgebung sowie Vielzahl an Spezies mit diesen Kleinsten der gefiederten Schöpfung messen kann.«

Was Kolibris betrifft, bezeugen die Kataloge seiner Ausstellungen eine wachsende Obsession. 1805 zeigte er im Liverpool Museum ein Exponat mit »24 Spezies in ihren Nestern«. Bereits 1810 war ihre Anzahl auf 70 Kolibris gewachsen; zwei Jahre später prahlte Bullock stolz, er besitze nun beinahe 100 exquisite Exemplare, angeblich die ansehnlichste Sammlung Europas. Manch einer sei so klein, wie Bullock betonte, dass »er den Zusammenprall mit einem Maikäfer in der Luft nicht überstehen würde«.

Seine Übertreibungen erinnern an Amerikas berüchtigten Schausteller P. T. Barnum, und genau wie er war Bullock sich der Wirkung seiner Worte auf das zahlende Publikum durchaus bewusst. Er widmete sich seinen Marketingtricks mit demselben Ehrgeiz, mit dem er Kolibris sammelte, und bediente sich für seinen Museumskatalog ausführlich bei den Schriften des französischen Naturforschers Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon: »Kunstfertig geschliffene Edelsteine verblassen neben diesen Juwelen der Natur. In ihrem Gefieder glänzen Smaragde, Rubine und Topase, unberührt vom Staub des Erdbodens.«

Wie er seine wachsende Kolibrisammlung vor Ort präsentierte, stand der hochtrabenden Beschreibung in nichts nach. In Liverpool stellte er sie unter einer Glasglocke aus, die auf »einem eleganten ägyptischen Bronzedreifuß« stand. Jahre später ersann er auf seiner Mexikoreise den Plan, die Vögel als lebende Objekte zurück nach England zu bringen. Er bot den Einheimischen eine Belohnung für den Fang an und hatte schnell an die 70 Tiere in kleinen Käfigen beisammen, deren Vorderseite aus einer Glasscheibe bestand. Das Schicksal dieser bemitleidenswerten Gefangenen war besiegelt, und sie alle starben binnen Tagen oder Wochen, lange bevor man sie der Tortur einer Ozeanüberquerung aussetzen konnte. Ungerührt von ihrem Leid notierte Bullock kühl: »Der Käfig war kaum groß genug für sie, um mit den Flügeln zu schlagen, und so hockten sie stundenlang reglos beisammen.«

Im späten Frühling 1819 begann die Versteigerung von Bullocks enormer Sammlung, die sagenhafte 26 Tage andauerte. Mit dem Erlös finanzierte er seine späteren Entdeckungsreisen nach Mexiko und in die USA. Am 19. Tag kam Posten 92 unter den Hammer, Bullocks Kolibrivitrine, die »mehr als einhundert Exemplare beinhaltet, zweifellos die einzigartigste Sammlung dieser Art«.

Die großen Worte zeigten Wirkung bei den Käufern. George Loddiges, ein Ziergärtner aus Hackney, war ein leidenschaftlicher Kolibrisammler, der außerdem Orchideen aus ganz Amerika importierte, um sie an gleichermaßen besessene Sammler zu verkaufen, die zu dieser Zeit das »Orchidelirium« gepackt hatte. Seinen Mitarbeitern vor Ort trug er auf, ihm Kolibribälge zu schicken, woraufhin seine Sammlung bald über 200 Kolibrispezies umfasste. Und er war nicht nur erpicht darauf, Teile von Bullocks Sammlung zu erwerben, sondern auch in der Lage, ein fachmännisches Urteil über ihre Qualität abzugeben. An dem fraglichen Tag notierte Loddiges: »Diese Sammlung von Kolibris ist etwas Besonderes; sie übertrifft sowohl in ihrer Schönheit als auch ihrem Umfang die gefeierte Sammlung im Königlichen Museum von Paris bei Weitem.«

Vielleicht waren Bullocks Übertreibungen insofern nicht ganz unangebracht. Posten 92 wurde, entgegen Bullocks ausdrücklichem Wunsch, nicht in seiner Gesamtheit verkauft, sondern in kleineren Teilen, was mit Blick auf die aufgeladene Atmosphäre dieser besonderen Auktion sicherlich eine weise Entscheidung des Auktionators war. Bereits am sechsten Tag der Auktion klagte ein Käufer der Universität von Edinburgh, die Pferde seien ein wenig mit ihm durchgegangen: »Ich glaube, ich habe heute zu viele Affen erstanden …«

Der Ursprung der Kolibrisammlung, die derzeit im Londoner Naturhistorischen Museum gezeigt wird, ist ungeklärt, doch mit ziemlicher Sicherheit befinden sich darin Exemplare Bullocks. Schließlich landete Loddiges’ Kolibrisammlung nachweislich doch in den Händen des Museums, dem es 1819 gelang, sich Teile von Posten 92 zu sichern.

Langsam fing ich an zu verstehen, wie viele Geschichten sich um den charismatischen Kolibri rankten, Geschichten, die ebenso kunterbunt waren wie das Gefieder dieser Vögel. Jahrhundertelang zogen sie Männer wie Frauen in ihren Bann. Einige der größten Entdecker, Naturforscher und wichtigsten Figuren der Geschichte kamen mit ihnen in Berührung, manchmal ganz buchstäblich. Ihre Lebensräume waren entlang des gesamten amerikanischen Kontinents zu finden, von Alaska im hohen Norden bis hin zur südlichsten Spitze von Südamerika, an den Ufern des Beagle-Kanals von Feuerland. Sie lebten am Fuße von Gletschern und in der Hitze der Wüste, in satten, feuchten Regenwäldern und jenseits der Baumgrenze, hoch oben in einigen der dramatischsten Gebirgszügen der Welt. Zwar mochten sie klein sein, doch ihnen wohnte eine Stärke inne, die ihresgleichen suchte.

Ich musste sie einfach mit eigenen Augen sehen. Die ausgestopften Museumsexemplare hatten in mir einen Funken entzündet, der mit der Zeit ein glühendes Feuer entfachte, das durch Fotos und kurze Aufnahmen in Tierdokumentationen immer größer wurde. Erst mit Mitte 30 konnte ich meinen ersten Kolibri in der freien Natur bestaunen. Der kiefernbewachsene Madera Canyon in Arizona, in dem ich mich befand, lag eingebettet in den Gebirgszug der Santa Rita Mountains, und die Stadt Green Valley erhob sich wie ein Muttermal auf der Haut der Sonora-Wüste zu meinen Füßen. Der Anblick meines ersten Kolibris war grandios.

Grandios, oder englisch magnificent, nicht ohne Grund, denn es handelte sich um einen Magnificent Hummingbird, der durch sein effektvolles Gefieder seinem Namen alle Ehre machte. Nachdem ich ihn zum ersten Mal beobachtet hatte, wurde die Art in zwei unterschiedliche Spezies aufgeteilt. Der Vogel, den ich in Arizona gesehen habe, ist nun als Violettkron-Brillantkolibri (Eugenes fulgens) bekannt, während eine kleine Population im Hochland von Costa Rica und dem westlichen Panama nun als Talamancakolibri (Eugenes spectabilis) bezeichnet wird. Das ist ein gutes Beispiel, wie schwer sich Kolibris klassifizieren lassen: Je genauer wir sie studieren, desto deutlich erkennen wir, dass weit mehr in ihnen steckt, als für das bloße Auge erkennbar ist.

Damals im Madera Canyon war es mir unmöglich, über die schiere Schönheit des sich mir bietenden Spektakels hinauszuschauen. Der pechschwarze Bauch bildete den perfekten Kontrast zu seiner glitzernden, smaragdgrünen Kehle, seiner amethystvioletten Krone und seinem bronzebraunen Schwanz. Man hörte ihn summen, als er wenige Meter von mir entfernt in der Luft zu stehen schien, ein hängendes Kreuz, der Körper reglos, während seine Flügel schwirrten. Ich war ihm nahe genug, um in seinen schwarzen Augen mich selbst, die umliegenden Bäume und den blauen Himmel in Miniatur gespiegelt zu sehen. Ich hielt den Atem an, während diese Erscheinung, die aus dem Nichts gekommen war, gierig Nektar sog und, so schnell, wie sie aufgetaucht war, wieder verschwand.

Mein erster Kolibri. Unsere Begegnung dauerte kaum eine Minute, doch der Adrenalinkick war berauschend. Nach nur wenigen Augenblicken wurde mir klar, dass die Vitrine im Naturhistorischen Museum, die ich vor so vielen Jahren bestaunt hatte, nicht mehr enthielt als verstaubte, verblichene, leblose Schatten, die nichts mit echten Kolibris zu tun hatten. Ein bloßer Abklatsch, den der Naturforscher W. H. Hudson 1917 als »Wissenschaft toter Tiere – eine Nekrologie« beschrieben hatte.

Mehr als 20 Jahre lang hatte ich mir gewünscht, einen lebendigen Kolibri mit bloßen Augen zu sehen. Nun kam nichts anderes für mich infrage, als noch mehr Vögel seiner Art zu entdecken, in jeder noch so entfernten Ecke des amerikanischen Kontinents.

Im Vergleich mit den Kolibris verblassten für mich alle anderen Vogelfamilien. Ihr geradezu außerirdisch schönes Gefieder, das metallisch und juwelengleich funkelt, ist genauso einzigartig wie ihre verblüffende Mannigfaltigkeit von Formen, Regenbogenfarben und Körpergrößen. Unter ihrem psychedelischen Federkleid schlummert eine Anpassungsfähigkeit, die ihr nektargetränktes, schwebendes Leben überhaupt erst ermöglicht. Ihre Brustmuskulatur, die notwendige Voraussetzung für ihre Flügelschläge, macht ein Viertel ihres Körpergewichtes aus. 50 bis 200 Schläge pro Sekunde, die für unser Auge nicht wahrnehmbar sind. Durch seine Flugkünste verbraucht ein Kolibri etwa 4000 Kalorien pro Stunde, die ein Herz antreiben, das pro Minute etwa 1200-mal schlägt. Diese wahnwitzigen Statistiken ließen mein eigenes Herz höherschlagen und zogen mich magisch an. Nun, da ich zum ersten Mal von der Kolibridroge gekostet hatte, nahm ich allzu gerne in Kauf, dass ich mein Verlangen auch in Zukunft würde stillen müssen. Ich wollte mit Haut und Haaren in die Welt der Kolibris abtauchen.

Ich plante eine Reise, die mich durch ihren gesamten natürlichen Lebensraum führen würde: von Alaska bis zum südlichsten Zipfel von Argentinien. Ich würde in jedem noch so fernen Habitat nach ihnen suchen, nach den schönsten und aufregendsten Exemplaren ihrer Art. Ich würde auf Menschen treffen, die ihrer Magie ganz genauso hoffnungslos verfallen waren wie ich. Man würde mir Geschichten über das Leben dieser Vögel erzählen und über die Orte, an denen sie lebten – und natürlich wollte ich auch als Vogelbeobachter die Spezies aufspüren, die bisher nur wenige Glückliche zu Gesicht bekommen hatten.

Mir war bewusst, dass ich sie unmöglich alle sehen könnte – insgesamt existieren über 300 Spezies, es würde ein ganzes Leben dauern, sie alle zu finden. Manche lebten in politisch instabilen Gegenden, deren Besuch gefährlich sein konnte. Außerdem ging mein Interesse über das Abhaken einer Liste weit hinaus. Ich wollte die Welt dieser Vögel erforschen, ihre Lebensräume und die Naturgewalten erleben, die sie über die Jahrtausende hinweg zu dem gemacht haben, was sie heute sind, und ich wollte verstehen, wie sie auf die jüngsten, bedrohlichen Veränderungen in ihrer Welt reagierten.

Auch jenseits ihrer Schönheit beeindruckte mich, wie weit die Evolution sie gebracht hatte, wie sie die Grenzen alles biologisch Möglichen zu sprengen schienen. Womöglich war es mittlerweile der Mensch, der sich zu rasant entwickelte: Konnten die Kolibris angesichts des immer schneller voranschreitenden Klimawandels mithalten, nun, da die Landstriche, in denen sie lebten, immer begehrter wurden? Nach meiner Kolibriodyssee würde ich hoffentlich zumindest ein besseres Verständnis von der Frage gewonnen haben, die wir den Kolibris zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellten. Meine Befürchtung war, dass sich Kolibris zu den farbenfrohsten Kanarienvögeln in der Kohlengrube entwickelten, zu Propheten von Veränderungen, die weder ihnen noch uns zum Vorteil gereichten. In meinem Eigensinn wollte ich nicht nur Zeuge der Schwierigkeiten werden, mit denen sie konfrontiert waren – ich wollte einige Spezies noch mit eigenen Augen sehen, bevor sie für immer verschwanden. Es war kein Geheimnis mehr, dass einige Populationen schrumpften und die Uhr ihres Aussterbens unüberhörbar tickte.

Es war kein unkompliziertes Vorhaben, diese in verschiedensten Formen, Größen, Farben und Verhaltensweisen vorkommenden Vögel in ihren eigenen, sehr unterschiedlichen Lebensräumen aufzusuchen. Einige Abschnitte dieser Reise ließen sich recht einfach bewerkstelligen – in Teilen von Nord-, Zentral- und Südamerika gab es in Gärten und Lodges etablierte Fütterungsstationen, welche die Kolibris zu ihren Bewunderern lockten. Die Trinköffnungen der mit Zuckerwasser gefüllten Futterspender sind mit kleinen Blumen verziert, sodass manche Kolibriarten ihre angeborene Vorsicht über Bord werfen und sich daran gewöhnen, auch in nächster Nähe zu ihrem faszinierten Publikum nach Nahrung zu suchen.

Andere Kolibriarten jedoch lassen sich nicht so leicht ausfindig machen. Sie schlagen die Gratismahlzeit aus und ziehen es vor, tief in den dichtesten Wäldern zu verharren. Manche findet man ausschließlich in abgelegenen Berglandschaften oder auf einsamen Inseln – um beispielsweise den Juan-Fernandez-Kolibri zu sehen, musste ich etwa 645 Kilometer raus auf den Pazifik fahren und auf den Spuren von Alexander Selkirk wandeln, dessen Schicksal Daniel Defoe im 18. Jahrhundert zu seinem Roman Robinson Crusoe inspiriert hatte. Ich würde so lange auf einer kleinen chilenischen Vulkaninsel ausharren, bis der langersehnte Vogel endlich auftauchte. Er gehörte zu den vom Aussterben bedrohten Arten, und BirdLife, die internationale Organisation, die Daten zu Vogelbeständen sammelt, schätzt die verbleibende Population auf der Isla Robinson Crusoe auf gerade einmal 1000 Exemplare. Andere Spezies, die mir begegneten, waren sehr viel weiter verbreitet, doch für mich wäre jede einzelne von ihnen wunderbares Neuland.

Meine Reise zog sich über mehrere Jahre hin, doch hier, im behaglichen Rahmen einer Erzählung, folgt sie der Geografie, die mir die Welt der Kolibris vom höchsten Norden bis hinunter in den tiefsten Süden eröffnete.

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Migration

Alaska, USA, 60° nördliche Breite

Alaska brennt. Das stille, spiegelglatte blaue Meer und die schneebedeckten vergletscherten Berghänge sind von weißen Rauchschwaden verhangen. Es ist, als sähe man die Welt durch einen apokalyptischen Schleier. Im letzten Monat wurden durch den Swan-Lake-Waldbrand beinahe 40 470 Hektar unberührte Wildnis vernichtet, und als ich in Anchorage ankomme, wütet es noch immer lautlos am Horizont, ohne dass ein Tropfen Regen die Landschaft benetzt. Es ist der heißeste, trockenste Sommer in Alaska seit Beginn der Wetteraufzeichnung.

Auf meiner Eisenbahnfahrt entlang des Turnagain Arms an der Spitze des Cook Inlets, eines vom Golf von Alaska aus weit ins Land reichenden Meeresarms, wird mir bewusst, dass es auf den einen Waldbrand – der offenbar natürlichen Ursprungs ist, ein Blitzeinschlag irgendwo in der Nähe des Swan Lake – gar nicht ankommt. Der Klimawandel verhält sich wie ein gelangweiltes Kind an einem heißen, langen Sommertag, das mit seiner Lupe an irgendeiner wahllosen Stelle etwas abfackelt. Ein Waldbrand, so groß wie ein Viertel der Fläche Londons, und das am Rande des Polarkreises? Ich lasse Anchorage auf dem Weg zum Hafen von Whittier hinter mir, wo ich mit der Fähre zu der kleinen Siedlung Cordova übersetzen werde, und obwohl der scharfe Feuerholzgeruch trügerisch anheimelnd auf mich wirkt, bin ich mir dessen bewusst, dass das, was hier vor sich geht, ganz und gar nicht normal ist.

Meine Reise hatte gerade erst begonnen, und schon wählte ich den schwierigeren Weg. Es wäre sehr viel leichter gewesen, mir die Rotrücken-Zimtelfe (auch Fuchskolibri genannt) im Nordwesten der USA anzusehen – doch wenn ich die nördlichsten Kolibris der Welt finden wollte, musste ich wegen meiner Rotrücken-Zimtelfen eben nach Alaska. Und so saß ich nun im Zug von Anchorage nach Whittier, von wo aus mir eine siebenstündige Überfahrt quer durch den Prinz-William-Sund bis nach Cordova bevorstand. Offiziell hatte Cordova den Status einer Stadt inne, obwohl dort gerade einmal doppelt so viele Menschen wohnten wie auf Whalsay, der kleinen Shetlandinsel, auf der ich seit etwa 20 Jahren lebe. In Cordova sind etwa 2500 Menschen beheimatet, und mit einer ganz bestimmten Einwohnerin war ich verabredet. Die Kolibriforscherin Kate McLaughlin hatte am 28. Juni 2010 in Alaska eine Rotrücken-Zimtelfe erhascht, die fünf Monate zuvor von einem anderen Kolibriforscher in Tallahassee, Florida, eingefangen worden war, ganze 5630 Kilometer entfernt. Bis heute ist dies der längste erfasste Migrationsflug eines Kolibris.

Ich freute mich darauf, Kate kennenzulernen, und als die Aurora die Stadt Whittier hinter sich ließ, saß ich in der ungewöhnlich warmen Sonne an Deck, träumte von Rotrücken-Zimtelfen und fragte mich besorgt, ob ich in meinen wenigen Tagen in Cordova wirklich das Glück haben würde, einen der Kolibris zu sehen. Eine Woche zuvor hatte Kate mir geschrieben, die männlichen Kolibris seien bereits ausgeflogen und dass sich ihre Partnerinnen und Jungtiere ebenfalls zum Abflug bereit machten. Anfang Juli endet die Paarungszeit dieser beharrlichen Vögel, sodass ich sie vielleicht um ein Haar verpassen würde.

Die ersten Kolibris, die nach der Überwinterung nach Alaska zurückkehren, sind die männlichen Rotrücken-Zimtelfen, und das zu einer Zeit, in der es noch nicht ausreichend Nektar gibt. Alle Kolibris bewegen sich nahrungstechnisch auf Messers Schneide, sie müssen täglich genügend Nektar finden, um ihren rasanten Metabolismus zu befeuern. Aus einem hungrigen Kolibri kann sehr schnell ein verhungerter Kolibri werden. Die männliche Rotrücken-Zimtelfe muss früh ins Brutgebiet, um vor Ankunft der Weibchen ein geeignetes Territorium zu finden, sie muss sich in einer Landschaft über Wasser halten, die den kalten Klauen des Winters gerade erst in Ansätzen entkommen ist – und die noch nicht blüht. Die männlichen Pioniervögel müssen mit List und Tücke vorgehen, ja sogar zu Dieben werden, um zu überleben. Hierzu müssen sie die ortsansässigen Saftlecker finden.

Saftlecker sind kleine Spechte, die sich hauptsächlich – wie der Name schon sagt – von dem Pflanzensaft der Bäume ernähren. Sie klopfen kleine Löcher in die Rinde, die sich nach einer Weile mit süßem Saft füllen. Immer weder kehrt der Saftlecker zurück, um die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Gelegenheit macht Diebe, und so haben die männlichen Rotrücken-Zimtelfen gelernt, blitzschnell die Speisekammern dieser Gattung anzusteuern, vor dem mühsam ausgehöhlten Brunnen zu schweben und sich an ihnen gütlich zu tun, als handelte es sich um nektargefüllte Blüten. Rotrücken-Zimtelfen gehen jedes Wagnis ein, ganz besonders, wenn der Hunger sie antreibt.

Während ich in einer Ecke auf dem Oberdeck meinen Gedanken nachhing und mit halbem Auge aufs Meer schaute in der Hoffnung, auf unserer Überfahrt nach Cordova ein paar pazifische Seevögel beobachten zu können, sprach mich ein junger Mann Mitte 20 an. Neben mir lag mein Fotoapparat, falls sich ein Schnappschuss ergeben sollte.

»Hey. Das ist ein ziemlich großer Apparat.«

Ich hob den Blick und bemerkte, dass ich nicht mehr allein war. Der Mann, der sich als Daniel vorstellte, ein Yup’ik aus Hooper Bay, lächelte mich freundlich-verschmitzt an. Er war mit ein paar anderen Yup’ik auf dem Weg nach Cordova, um dort für ein paar Wochen in Fabriken zu arbeiten, in denen der Lachsfang verarbeitet wurde, der das Leben der dortigen Fischer und ihrer Familien sicherte. Mit seinem quietschpinken T-Shirt, der zerrissenen Jeans und ein paar Crocs an den Füßen, die genauso blau wie das Meer waren, über das wir gerade fuhren, fiel Daniel unter den anderen Passagieren an Deck durchaus auf. Genau wie ich – ich war der Einzige mit Fotoapparat und Fernglas. Wir unterhielten uns eine Weile über Cordova und die Arbeit, die auf Daniel und die anderen Yup’ik wartete. Er lachte: »Tja, die anderen, die denken, dass wir fischen gehen. Die werden sich noch wundern. Ich, ich weiß, was mich erwartet. Ich werde gutes Geld verdienen, und wenn die Arbeit getan ist, zahlt mir die Firma die Rückfahrt nach Hooper Bay. Meine Frau wartet auf mich mit den Kindern. Sie kümmert sich um unsere Finanzen.«

Er fragte mich, weshalb ich nach Cordova führe. Ich erzählte ihm von den Rotrücken-Zimtelfen und dass ich sie in ihrem nördlichsten Brutgebiet sehen wollte. Daniel wurde lebhafter. »Klar, die kenne ich! Die sind cool. Die einzigen Vögel auf der Welt, die rückwärtsfliegen können, richtig? Wie ein Hubschrauber?«

Sein Enthusiasmus freute mich. Hooper Bay war einer der abgelegensten Orte in Alaska, und dass ein junger Einheimischer auf das Thema Kolibris fasziniert und mit so viel Interesse reagierte, stimmte mich, gelinde gesagt, hoffnungsvoll. Vor Antritt meiner Reise hatte ich mich gefragt, ob Kolibris nur für mich und eine Handvoll Vogelliebhaber ein solches Faszinosum darstellten.

Daniel fragte mich, wo ich herkäme.

»Ich lebe auf einer Shetlandinsel. Es gibt etwa 100 davon, auch auf dem 60. Breitengrad, aber nur weniger als ein Dutzend von ihnen sind bewohnt. Meine Heimat ist Whalsay – eine Insel mit etwa 1000 Bewohnern. Sie liegt ziemlich weit nördlich, aber dort sieht es anders aus. Wir haben zum Beispiel nicht viele Bäume. Und auch keine Gletscher.«

Gerade fuhren wir an der zerklüfteten Zunge des Billings-Gletschers vorbei, die sich zu unserer Linken hinunter zum Prinz-William-Sund schlängelte. Hinter uns verschwand Whittier zwischen dunklen Baumgruppen in der Ferne. Daniel sah nachdenklich aus.

»Keine Bäume also. Hm. Genau wie in Hooper Bay. Da ist hauptsächlich … wie sagt man noch … Tundra?«

Wir fanden Gemeinsamkeiten. Daniel erzählte weiter: »Und auf deiner Insel leben nur 1000 Leute? Tja. Genau wie in meiner Heimatstadt.«

Er hielt inne.

»Gibt es Bären auf deiner Insel?«

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet, und als ich amüsiert entgegnete, nein, auf den Shetlands gebe es keine Bären, blieb Daniel sehr ernst.

»Hier gibt es Bären«, sagte er eindringlich. »Wo du hinfährst, gibt es Bären. Hast du schon mal einen gesehen? Alter, du musst aufpassen. Die sind riesig. Und schnell. Wenn du in den Wald gehst, um Vögel zu finden, solltest du dich vor Bären in Acht nehmen.«

Ein Freund von Daniel, ein Yup’ik Mitte 20 namens David, hatte sich zu uns gesellt, und auch er nickte finster.

»Ja, Mann, mit den Bären ist nicht zu spaßen. Mein Vater war Jäger. Der hatte Jagdhunde, denen hat er immer die Hölle heiß gemacht. Er hat uns immer eingetrichtert, uns vor den Bären in Acht zu nehmen. Am besten hat man eine Knarre dabei. Ich nehme mal an, Sie haben keine Waffe? Nein? Besorgen Sie sich Bärenspray, Mann.«

David, der ebenfalls unterwegs war, um für einige Wochen in der Fischfabrik zu arbeiten, erzählte noch ein wenig von der Jägervergangenheit seiner Familie. Er klang bedrückt über den Verlust dieser ursprünglichen Lebensart. Schließlich wurde unser Gespräch von der Lautsprecherdurchsage unterbrochen, man könne nun von der Reling aus eine Gruppe Schwertwale beobachten. Meine neuen Yup’ik-Freunde schien die Nachricht kaltzulassen.

»Die bringen Unglück, hat mein Vater immer gesagt«, erzählte David. »Er konnte Schwertwale nicht ausstehen. Man kann ihnen nicht vertrauen.«

Ich verabschiedete mich für den Moment von Daniel und David und gesellte mich zu der kleinen Passagiergruppe, die gen Osten aufs weit entfernte Ufer blickte. Ab und an ragte die schwarze Rückenflosse eines Schwertwals aus dem Wasser, die Tiere schwammen schnell an uns vorbei, in die entgegengesetzte Richtung der Aurora. Ich fühlte mich wie zu Hause – im Sommer zogen die Schwertwale auch an den Shetlands vorüber.

Doch die Parallelen zwischen Alaska und den Shetlandinseln reichten tiefer als ein gemeinsamer Breitengrad oder der gelegentliche Orcabesuch. Beide Orte waren in jüngster Vergangenheit auf schlimmste Art und Weise vom Schicksal und den Tücken der Ölindustrie getroffen worden. Am 24. März 1989 war der Öltanker Exxon Valdez am Bligh Reef des Prinz-William-Sunds gesunken, und 37 000 Tonnen Rohöl ergossen sich in die unberührte Meeresnatur, auf die so viele Alaskaner für ihren Lebensunterhalt angewiesen waren. Die Folge war eine Naturkatastrophe ungeahnten Ausmaßes. Wenige Jahre später, am 5. Januar 1993, wurden die Shetlandinseln von einem ähnlichen Albtraum heimgesucht, als die MV Braer in Garth Ness unterging und etwa 85 000 Tonnen Rohöl ins Meer gelangten.

Beide Regionen haben sich mit der Zeit davon erholt – und ich verdankte dieser gemeinsamen Geschichte meine Unterkunft in Cordova, wo ich Kate McLaughlin treffen und nach meiner Rotrücken-Zimtelfe suchen wollte. Dr. Jonathan Wills, ein befreundeter Journalist aus Shetland, der damals über das Braer-Desaster berichtet hatte, untersuchte auch die tragischen Folgen, die das Ganze für unsere Uferregionen hatte. In diesem Zusammenhang hatte er David Lynn Grimes kennengelernt, sein alaskisches Gegenstück. Jonathan hatte mir David liebevoll als »komplett durchgeknallt« beschrieben und sprach nur gut von ihm. »Er ist Ornithologe, Wildnisführer und Singer-Songwriter, berühmt für seine Barfußgletschertouren und Raftingabenteuer auf dem Copper River. Im Jahr 1990 war er Teil der Oil-Pollution-Act-Kampagne, zusammen mit Rick Steiner, der damals Professor für maritimen Umweltschutz an der University of Alaska war – die beiden sind zusammen auf den Potomac zu einem Schiff rausgeschwommen, auf dem ein PR-Event für einen Ölkonzern veranstaltet wurde. Die reguläre Teilnahme hatte man ihnen verweigert. Er ist einer der Besten da drüben.«

Jonathan hatte den Kontakt zwischen uns hergestellt, und David bot mir auf der Stelle einen Schlafplatz im Eyak Lake Compound an, eine Wohnsiedlung etwas außerhalb von Cordova. Als wir am späten Abend mit der Fähre dort ankamen, wurden wir von wirbelnden Wolken lauthals schreiender Beringmöwen begrüßt, die schaumschlagend aus dem stillen Hafenbecken aufstiegen. David holte mich ab. Er hatte mir aufgetragen, auf dem verwaisten Parkplatz neben dem Kai nach einem großen, sandfarbenen Van Ausschau zu halten, und das Gefährt war tatsächlich nicht zu übersehen. Ich war nicht darauf vorbereitet, was mich im Innern erwartete: Der Künstler in David war offensichtlich mit ihm durchgegangen, denn das Interieur sah aus wie eine liebevolle Mischung aus altem Flussdampfer und Hippiecamper. Die holzverkleideten Wände und sogar die Decke waren mit Kunstwerken behangen, und überall um uns herum baumelten mit Federn verzierte Schnüre. Auf dem Armaturenbrett prangte ein geschnitzter und bemalter Buntfalke, daneben klebte ein Marmeladenglas voller Weidenröschen und anderer Wildblumen. Sofort stellte David sich als freundlicher, gesprächiger Gastgeber heraus, die Muscheldekoration in seinem Van war genauso abwechslungsreich wie die Gesprächsthemen, die geradezu aus ihm strömten. Nach wenigen Minuten hatte er vom Universum, dem Schicksal und Karma gesprochen und uns alle in Anlehnung an den theoretischen Physiker Richard Feynman als »menschliche Moleküle« beschrieben. Feynman hatte sich selbst sowohl als ein Universum an Atomen als auch ein einziges Atom im gesamten Universum betrachtet. Ich mochte David sofort. Während wir die wenigen Straßen in Cordova passierten und am Ufer des Lake Eyak entlangfuhren, fiel es mir nicht leicht, die Umgebung in mich aufzunehmen und gleichzeitig der ersten von vielen Kolibrigeschichten zu lauschen, die David aus dem Ärmel schüttelte.

»Vor über 40 Jahren bin ich zum ersten Mal mit ein paar anderen jungen Naturforschern nach Cordova gekommen, und ein außergewöhnlicher Vogelbeobachter, Pete Isleib, nahm uns unter seine Fittiche. Für Roger Tory Peterson war Pete der beste Vogelkundler an der gesamten nordamerikanischen Pazifikküste – ›unerreicht und unermüdlich‹ hat er ihn genannt.«

Wenn dieser Mann bei Roger Tory Peterson, dem Vater der modernen Vogelbeobachtung in den USA, so hoch in der Gunst stand, musste es sich um einen bemerkenswerten Ornithologen gehandelt haben. Unterdessen fragte ich mich, was David in den 1970er-Jahren nach Alaska verschlagen hatte und ob es vielleicht ein weiterer Ölteppich war. Die Santa-Barbara-Ölpest von 1969 verschmutzte die kalifornische Küste mit etwa 14 000 Tonnen Rohöl, eine Umweltkatastrophe, die Gaylord Nelson, den Senator von Wisconsin, dazu bewegte, den ersten Earth Day ins Leben zu rufen. Zu dieser Zeit war der Vietnamkrieg noch in vollem Gange, und die überwiegende Mehrheit der Studentenschaft im ganzen Land protestierte dagegen. Ihr Widerstand gab Nelson Hoffnung, dass ein zaghaft aufkeimendes Bewusstsein über Luft- und Wasserverschmutzung in ähnlich starke Bahnen gelenkt werden könnte, um den Umweltschutz auf die nationale politische Agenda zu zwingen.

Am 22. April 1970, dem ersten Earth Day, gingen etwa 20 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner auf die Straße. Es war der erste landesweite Akt der Solidarität, der unterschiedliche Stimmen der Umweltbewegung zusammenbrachte. Am Ende des Jahrzehnts wurde die Umweltbehörde EPA gegründet, und der »Clean Air, Clean Water and Endangered Species Act« hatte deutliche Fortschritte gemacht. »Das Ganze war eine riskante Aktion, aber es hat sich gelohnt«, stellte Nelson im Nachhinein fest.

Der Earth Day stieß auch eine Zurück-aufs-Land-Bewegung an, die viele junge, unzufriedene Menschen aus den Städten in die freie Natur trieb, von der sie sich ein besseres, umweltbewusstes, einfacheres Leben versprachen. Einige gründeten Hippiekommunen in Kalifornien, während es andere weiter gen Norden zog, denn in Alaska, dem Staat, der schon immer einen gewissen Pioniergeist erfordert hatte, vergab die Regierung noch immer umsonst Land an Siedler.

Ich reiste mit leichtem Gepäck nach Alaska, nur das Nötigste hatte ich um meine Kameraausrüstung in meine Tasche gestopft. Doch neben meiner Kulturtasche und einem Regenmantel hatte ich auch den Roman Drop City von T. C. Boyle dabei, die fiktive Geschichte einer idealistischen Gruppe Hippies, die von Kalifornien nach Alaska kommt, um in der dortigen Wildnis eine Gemeinschaft aufzubauen. Boyle ließ sie glorreich scheitern, doch im wahren Leben hatte der Weg nach Alaska für manch einen tatsächlich ungeahnte Möglichkeiten und Momente stiller Offenbarung mit sich gebracht.

»Pete führte mich und ein paar Freunde in den industriellen Lachs- und Heringfang im Prinz-William-Sund und dem Copper River Delta ein«, erzählte David, »und weckte unser Interesse an der örtlichen Flora und Fauna. Anfang der Achtziger waren einige von uns bei Pete zum Abendessen eingeladen, und später fragte er uns, ob einer von uns schon einmal einen Kolibri aus nächster Nähe gesehen habe. Dann streckte er seine Hand aus. Darin hockte reglos ein kleines zahmes Vögelchen.

In den Jahren danach habe ich den einen oder anderen Kolibri aus dicken Spinnweben zwischen Dachsparren gerettet, und natürlich habe ich manchmal einen festgehalten, wenn Kate McLaughlin Hilfe bei ihren Fängen brauchte.«

Der Zufall wollte es, dass David und Kate gut miteinander befreundet waren.

»Doch damals mussten wir Petes Frage alle verneinen, worauf er den tiefenentspannten Vogel in meine ausgestreckte Hand setzte und mir angesichts dieses Wunders ein Schauer über den Rücken jagte.

Eine Woche später fragte ich Pete endlich, wie er den Vogel gefangen hatte – bei Pete hätte man sich vorstellen können, dass er ihn einfach mit der bloßen Hand aus der Luft gepflückt hatte. Doch Pete machte eine effektvolle Pause und sagte dann mit einem schelmischen Funkeln in den Augen: ›Ein bisschen Alkohol im Zuckerwasser, dann sind sie eine Weile ganz ruhig …‹.«

Wir erreichten den Eyak Lake Compound, auf dem ein riesiges, fantastisches Holzhaus stand, von dem aus man den Blick auf den See genießen konnte. Auf der Veranda zum See hing ein Kolibrifutterspender. Ich nahm an, dass er keinen Alkohol enthielt und ich insofern statt eines heimlichen Beruhigungsmittels scharfe Augen und jede Menge Glück bräuchte, um meine erste alaskische Rotrücken-Zimtelfe zu sehen. David erzählte in aller Seelenruhe, dass das Holzhaus vor ein paar Jahren beinahe von einer Lawine mitgerissen worden wäre, die nur wenige Meter davor zum Stehen gekommen war.

»Alle Scheiben sind geplatzt, und alles, was sich zwischen Haus und Berg befand, hat sie plattgemacht«, berichtete er. »Da oben am Hang sieht man den Weg, den sie genommen hat.«

Über uns ragte der Berg empor. Zwar war es an diesem Sommerabend nicht leicht, sich die mit Tiefschnee bedeckten Hänge vorzustellen, doch tatsächlich führte eine baumlose Schneise geradewegs auf den Eyak Lake Compound zu und ließ keinen Zweifel daran, wie risikoreich das Leben hier war. Die Wildnis hatte mich von jeher angezogen, doch ich musste mir ehrlicherweise die Frage stellen, ob ich an einem Ort leben könnte, der von einer derart mächtigen Gefahr überschattet wurde.

Als David mich herumführte, riet er mir, einmal die Lachsbeeren zu probieren, die um die gesamte Holzhütte wucherten.

»Die sind gerade herrlich reif«, sagte er. »Am besten schmecken sie, wenn man noch eine Blaubeere findet und hineinsteckt.«

Lachsbeeren, so stellte ich fest, sahen aus wie vielfarbige Himbeeren, manche waren zitrusgelb, andere granatrot. Die meisten leuchteten orange, und alle schmeckten, wie David gesagt hatte, einfach herrlich.

»Den Bären schmecken sie auch«, erzählte er weiter, dann wirkte er plötzlich nachdenklich. »Wenn du in den Wäldern wandern willst, solltest du dir Bärenspray besorgen. Zu dieser Jahreszeit, wenn die Elchjungtiere zu schnell für die Bären werden, dann essen sie Lachsbeeren, bis die echten Lachse endlich den Fluss hochgeschwommen kommen.«

Ich hatte gesehen, wie eine Elchmutter mit ihrem Kalb durch ein Tal getrabt war, aufgeschreckt von dem Zug, der mich von Anchorage nach Whittier gebracht hatte. Ihre Flinkheit rief mir deutlich vor Augen, wie schnell ein hungriger, fest entschlossener Bär sein könnte.

Am nächsten Morgen traf ich mich mit Kate McLaughlin. Wenn sie nicht mit Kolibris beschäftigt ist, arbeitet sie im Büro des Chugach-Nationalparks. Obwohl wir in den vergangenen Wochen einige E-Mails ausgetauscht hatten, machte Kate auf mich den Eindruck, als hätte sie nicht so ganz geglaubt, dass ich tatsächlich den ganzen Weg nach Alaska reisen würde, um eine Rotrücken-Zimtelfe zu sehen, doch sie verbarg gekonnt ihre Überraschung über mein plötzliches Auftauchen und hieß mich in Cordova herzlich willkommen. Ihr Enthusiasmus für Kolibris, die sie seit Jahren studierte, war ansteckend.

»Ich bin eine der wenigen zugelassenen Expertinnen für Kolibriberingung in den Vereinigten Staaten«, sagte sie stolz, bevor sie mir die ganze Geschichte ihrer unglaublichen Entdeckung von H82779 erzählte, einem Rotrücken-Zimtelfen-Weibchen, das ein gewisser Fred Dietrich am 13. Januar 2010 in Tallahassee, Florida, mit einem Ring versehen hatte. Fünf Monate später, am 28. Juni, fand sich H82779 in Kates kundigen Händen wieder, und zwar in Chenega Bay, Alaska, etwa 5630 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem sie der letzte Mensch gesehen hatte. Für jeden Vogel wäre ein derart langer Migrationsflug eine gewaltige Herausforderung gewesen – doch für einen Vogel, der gerade einmal 3,5 Gramm wog, also weniger als eine Fünfcentmünze, kam die Leistung einem Wunder gleich.

Schon seit Jahrtausenden ziehen Vögel in mildere Winterquartiere gen Süden und wieder zurück, um in den Frühlings- und Sommermonaten geeignete Brutstätten zu finden. Erst in den letzten 100 Jahren konnten wir Menschen diese weiten Reisen einigermaßen präzise nachverfolgen, und es ist der Vogelberingung zu verdanken, dass wir einen Einblick in das Leben dieser nomadischen Kreaturen gewinnen konnten. Am 6. Mai 1911 beringte John Masefield, ein 61-jähriger Anwalt aus der englischen Grafschaft Cheshire, ein Schwalbenjunges, das er in einem Nest auf seiner Terrasse in Cheadle gefunden hatte. In den Ring aus leichtem Aluminium war B830 eingraviert, und anhand dieser Nummer identifizierte sie der Farmer J. Mayer am 23. Dezember 1912 in Utrecht, einer Stadt in der ehemaligen südafrikanischen Provinz Natal, wo er die Schwalbe eingesperrt in einer seiner Scheunen entdeckte. Von ihrem Geburtsort war sie etwa 9656 Kilometer entfernt, was für die Ornithologen der damaligen Zeit einen unvorstellbaren Akt der Wanderung darstellte – niemand hatte gewusst, dass Zugvögel so weit reisten. Inzwischen hat die Beringung auch Klarheit über den längsten Migrationsflug aller Vogelspezies gebracht: Die Küstenseeschwalben ziehen jährlich von der Arktis in die Antarktis, wobei sie vom Sommer auf der einen Hemisphäre in den Sommer auf der anderen wechseln.

Doch bei ihnen handelt es sich um hartgesottene Vögel. Schwalben und Seeschwalben sind kraftvolle Flieger, Meister der Lüfte und Ozeane. Kolibris hingegen sind Winzlinge, die zur Energiegewinnung größtenteils auf Zucker angewiesen sind. Für einen Kolibri müssen sich 5630 Kilometer mindestens so lang wie die Reisen der Schwalben anfühlen, wenn nicht sogar noch länger.

Auch ich müsste einige Kilometer hinter mich bringen, wenn ich eine Rotrücken-Zimtelfe mit eigenen Augen sehen wollte. Ich hatte gehofft, Kate bei der Beringung einiger Kolibris zusehen zu können, doch die Saison war bereits vorbei, wie sie mir sagte.

»Die Vögel sind nun dabei wegzuziehen. Die Kolibrisaison war in diesem Jahr äußerst dürftig, und die Männchen sind schon weg. Allerdings ist es durchaus noch möglich, ein Weibchen oder einen Jungvogel zu sehen, wenn du im richtigen Moment an einem blühenden Fliederbusch wartest oder an einem gefüllten Futterspender oder vielleicht einem Akeleifeld in der Nähe eines Baches.«

Kate empfahl mir ein paar Wanderwege, auf denen ich Glück haben könnte, wobei sie eine altbekannte Warnung aussprach. »Du musst vor Bären auf der Hut sein. Die sind gerade nicht gut drauf – die Lachse kommen erst jetzt die Flüsse hoch, um ihre Eier abzulegen, die Bären haben nichts als Beeren gegessen und sind hungrig. Du hast Bärenspray, oder?«

Vor Kate wollte ich nicht wie ein Anfänger wirken.

»Ja, klar, Bärenspray hab ich.«

Am Morgen hatte ich auf dem Weg nach Cordova am Straßenrand eine Frau gesehen, die Lachsbeeren pflückte und dabei eine Pistole am Gürtel trug, sodass mir noch deutlicher bewusst wurde, wie viel Respekt die Einheimischen ihren viertatzigen Nachbarn entgegenbrachten. Kaum hatte ich einen Fuß aus Kates Büro gesetzt, beschloss ich, Bärenspray zu besorgen, bevor ich den Rest des Tages entlang des Heney Ridge Trails wandern würde.

Cordova war klein, bis zum nächsten Gemischtwarenladen war es nicht weit. Ich fragte eine Verkäuferin nach Bärenspray, doch sie führte mich zum Regal mit Insektenspray. Vermutlich war das Missverständnis auf meinen britischen Akzent zurückzuführen. Ich wiederholte mein Anliegen und verdeutlichte es obendrein mit ein wenig Pantomime.

»Bärenspray? Grrr!«

Ich hob die Arme über den Kopf und ahmte den wütenden, hungrigen Bären nach, dem ich im Grunde gar nicht erst über den Weg laufen wollte. Am Gesicht der Verkäuferin erkannte ich, dass der Groschen gefallen war.

»Ach so, Sie meinen Bärenspray. Das führen wir hier nicht. Da müssen Sie in den Whiskey Ridge Cycle Store gehen.«

Ein Fahrradladen war nicht gerade der Ort, an dem ich erwartet hätte, Bärenspray kaufen zu können und auch nicht all die anderen Jagdutensilien, die dort in Hülle und Fülle angeboten wurden. An der Wand hinter dem Tresen hingen Gewehre, die Regale darunter waren mit Munitionsschachteln gefüllt. Offenbar war Fahrradfahren hier genauso gefährlich wie Beerensammeln. Ich fragte den freundlichen bärtigen Mann hinter dem Tresen nach Bärenspray, und er deutete auf einige große blau-gelbe Dosen. Der Preis schockierte mich etwas – 50 Dollar –, sodass ich mich kurzzeitig fragte, ob das wirklich nötig sei.

»Gab es hier in letzter Zeit viele Probleme mit Bären?«, fragte ich. Seine Antwort ließ mich den Preis vergessen.

»Sicher, wenn die Hunger haben, kommen sie in die Stadt und machen den Leuten im Garten Ärger. Im letzten Sommer haben wir hier um die 20 abgeschossen.«

Nachdem ich bezahlt hatte, zeigte er mir, wie ich das Spray im Fall des Falles anwenden sollte.

»Sie tragen es am Gürtel. Ziehen Sie die Sicherung, bevor Sie es benutzen wollen. Und zielen Sie mit der Öffnung auf den Bären, nicht auf Ihr Gesicht. Sie sollten was sehen, wenn ein angepisster Bär auf Sie zurennt.«

Ich konnte mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als blind von einem Bären zerfleischt zu werden, weil ich mich zuvor eigenhändig mit Chiliextrakt eingenebelt hatte. Ich folgte der Einweisung des Verkäufers aufmerksam und fuhr anschließend mit Spray ausgerüstet zum Heney Ridge Trail, der etwas außerhalb der Stadt lag. Mittlerweile war es früher Nachmittag, und die Temperatur stieg merklich an. Ich hatte nicht erwartet, dass es in Alaska derart heiß sein würde. Die Bäume, die tiefe Schatten über meinen Wanderweg warfen, der sich an der Hartney Bay entlangwand, waren eine willkommene Abwechslung. Der glitzernde Fluss schmiegte sich an die Bucht. Ich pflückte wieder Lachsbeeren, die üppig am Wegesrand wuchsen, und hielt mich etwas unbeholfen an einen weiteren Bärenratschlag, der mir zuvor erteilt worden war: In regelmäßigen Abständen klatschte ich in die Hände, ganz besonders vor Anhöhen und blinden Kurven. Zwar würde jeder Bär auf diese Art vor meiner Anwesenheit gewarnt werden und hätte genug Zeit, um sich zu trollen, doch Vögel würde ich so nicht zu Gesicht bekommen. Ich war gewohnt, mich so unauffällig wie möglich durch die Landschaft zu bewegen, und mein auffällig lärmendes Verhalten widersprach diesem Instinkt.

Durch einen riesigen Dunghaufen, der direkt vor meinen Füßen auf der Mitte des Weges lag, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Er war größer als ein Fußball und mit winzigen Beerenkernen übersät, und ich konnte mir schon denken, welches Tier dafür verantwortlich war. Nervös sah ich mich um und klatschte zur Sicherheit ein paarmal in die Hände. Zwischen den moosüberzogenen Bäumen regte sich nichts. Als ich mich auf den Boden kniete, um mit dem Handy ein Foto von dem Haufen zu machen, spürte ich, dass er noch warm war. Er war frisch. Sehr frisch.

Plötzlich hörte ich platschende Geräusche, die vom etwas unterhalb des Weges verlaufenden Fluss zu kommen schienen. Mit klopfendem Herzen versuchte ich durch das Dickicht der Bäume zum Wasser zu spähen. Ich konnte sehen, wie die dunkelgrauen, torpedoförmigen Lachse, die gegen den Strom schwammen, in dem klaren Fluss hingen. Ab und an durchbrach einer von ihnen die Oberfläche und peitschte das Wasser mit seinen Körperbewegungen lautstark auf. Gerade hatte ich mir gesagt, dass ich nur die Fische gehört hatte, da bemerkte ich hinter den Bäumen das unverwechselbare Geräusch von etwas Großem, das sich ins Wasser stürzte. Durch die Äste der Hemlocktannen erkannte ich den verschwommenen, aber unverwechselbaren Umriss eines Bären, der von mir weg in den Fluss watete.

Ich erstarrte. Der Bär verschwand genauso schnell aus meinem Blickfeld, wie er gekommen war, und ließ mich vollgepumpt mit Adrenalin zurück. Ich hatte nicht damit gerechnet, einem Bären so nahe zu kommen, und schon gar nicht so schnell. Ich fragte mich, ob es wirklich ratsam sei, unter diesen Umständen weiterzuwandern und Kolibris zu suchen, doch am Ende sagte ich mir, dass es genauso wahrscheinlich war, auf dem Rückweg zum Auto auf einen Bären zu stoßen, als den Wald hinter mir zu lassen und in die sumpfigen Tundramoorgebiete jenseits davon zu gelangen. Also entschloss ich mich dazu, weiterzuwandern – noch vorsichtiger und vor allem noch lauter.

Weitere Bären ließen sich nicht blicken, doch auch Kolibris fand ich nicht, obwohl ich an etlichen orange blühenden Akeleifeldern vorbeikam, ihrer bevorzugten Nektarquelle in der Wildnis. Viele in Nordamerika heimische Akeleispezies, oder Aquilegia, wurden von Biologen untersucht, die herausfanden, dass die Pflanzen mit orangefarbenen und roten Blüten hauptsächlich von Kolibris bestäubt werden, bei weiß und gelb blühenden Arten dagegen erledigen dies Schwärmerschmetterlinge.

Über Jahrtausende hat diese Beziehung sowohl die Form der Kolibris als auch der Blüten verändert. Irgendwann in der Kreidezeit haben Blumen Farben und Gerüche ausgebildet, um den Insekten zu signalisieren, dass sie Pollen tragen. Diese Insekten, die viele Blüten aufsuchten, befruchteten sie unabsichtlich. Mit der Zeit bildeten Blumen als zusätzliches Lockmittel den Nektar aus – während Insekten wiederum besseres Werkzeug ausbildeten, um die Blumen zu finden und anschließend Nektar und Pollen aufzunehmen. Diese zusammenhängenden evolutionären Prozesse führten schließlich durch Zufall dazu, dass ein sehr viel größerer Organismus, der Vorläufer heutiger Kolibris, die reichhaltige Nahrungsquelle nutzen konnte. Um den Nektar aus den Blüten saugen zu können, entwickelten Kolibris genau wie die Schwärmer die Fähigkeit, eine Zeit lang direkt vor der Blüte zu schweben – eine biomechanische Innovation, die zuvor für Wirbeltiere undenkbar gewesen wäre: Während des Fluges rotierten sie ihre Flügel, sodass mit jedem Schlag sowohl bei der Aufwärts- als auch der Abwärtsbewegung Auftrieb erzeugt wurde. Unterdessen veränderten sich die Blumen ebenfalls. In ihrer Form unterscheiden sich die meisten Akeleispezies nicht voneinander – sie alle haben lange Sporne, durch die ausschließlich Bestäuber mit besonders langen Zungen oder Rüsseln an den Nektar gelangen können –, doch die Farbe ihrer Blüten hat sich durch die Evolution bestimmten Bestäubern angepasst. Allen Kolibriarten signalisiert die Farbe Rot eine Nahrungsquelle. Für Insekten, die UV-Licht sehen können, sind Weiß und Gelb deutliche Signalfarben für Nektar und Pollen.

Es gibt sogar einen eigenen Ausdruck für diesen Prozess, durch den ein bestimmtes Ereignis in einer Folge kausaler Zusammenhänge zu einer scheinbar davon unabhängigen Innovation führt, genau wie die neuen Vermehrungsstrategien von Pflanzen zur außergewöhnlichen Evolution der Kolibris beigetragen haben. Der Autor Steven Johnson bezeichnete dies als Kolibrieffekt. Viele technologische Fortschritte, die für uns heutzutage selbstverständlich sind, nahmen so ihren Anfang. Johnson nennt als Beispiel die Erfindung der Druckerpresse mit beweglichen Bleilettern durch Johannes Gutenberg. In der Folge stieg in Europa die Nachfrage nach Brillen, da durch die größere Verbreitung von Druckwerken viele des Lesens mächtige Menschen merkten, dass sie in der Regel weitsichtig waren. Der aufkeimende Lesebrillenmarkt führte zu mehr Forschung, was die Gestaltung und die Herstellung von Linsen anging. Diese Experimente führten zur Erfindung des Mikroskops und schließlich zu der Erkenntnis, dass der menschliche Körper aus mikroskopisch kleinen Zellen besteht. Die Verbesserung des Buchdrucks hat uns also die Augen bezüglich der Welt auf molekularer Zellebene geöffnet – der Zusammenhang war zwar nicht offensichtlich, aber für jeden spürbar. In etwa so verhielt es sich auch mit der Evolution der Pollen und dem Flug der Kolibris, einer unerwarteten biomechanischen Veränderung, die durch eine scheinbar unabhängige Neuerung ausgelöst wurde.

Zurück im weichen, moosbewachsenen Tundramoor lenkten mich andere botanische Schätze ab – ich riskierte feuchte Knie, um mir den rubinroten Rundblatt-Sonnentau aus der Nähe anzusehen, genau wie die zartvioletten Blüten des Gemeinen Fettkrautes. Beide Pflanzen schienen derselben mir bekannten Spezies anzugehören, die auch zu Hause auf den Shetlands beheimatet war. Ich fand grüne und weiße Orchideengewächse an frischen Stängeln – Sumpf-Weichorchis und Platanthera stricta (eine Art der Waldhyazinthen), um genau zu sein –, und obwohl ich diese Arten noch nie zuvor gesehen hatte und sie den latenten Orchideenjäger in mir begeisterten, halfen sie wenig gegen meinen Frust und die Angst, dass ich zu spät gekommen war, um eine Rotrücken-Zimtelfe in diesen nördlichen Breitengraden zu Gesicht zu bekommen.

Meine Zeit in Cordova richtete sich nach dem Zeitplan der Fähre, die an die Bedürfnisse der Bewohner angepasst war. Mir blieb nur noch ein Tag, dann musste ich zurück nach Whittier und weiter nach Anchorage. Genug Zeit, um einen anderen, längeren Wanderweg zu nehmen, trotzdem kehrte ich als mutloser Naturforscher zum Eyak Lake Compound zurück. Dort war ich unterdessen nicht mehr allein: Pete und Tim, zwei Fischer um die 50 aus den »Lower 48«, den US-Bundesstaaten südlich von Kanada, waren nach einer Woche auf See die Neuzugänge in der Anlage. Sie hatten für eine der kleineren Lachsfabriken in Cordova Lachse gefangen. Bester Laune feierten sie eine erfolgreiche Arbeitswoche mit einem steten Nachschub an Tequila mit Grapefruitsaft. Tim erzählte von einem vergangenen Fischereinsatz, bei dem ein Buschpilot mit einem neuen Deckhelfer und ein paar Kästen Bier zu ihnen geflogen war.

»Wir saßen gerade am Strand, als der feine Herr Pilot mit seiner Piper Cub angeflogen kam«, erinnerte er sich. Diese kleinen Leichtflugzeuge waren auf dem Lake Eyak allgegenwärtig, entlang der Küste parkten sie in geschützt liegenden Häfen auf Schwimmkörpern. »Über das Bier haben wir uns mehr gefreut als über den Neuen. Wir hatten gerade LSD eingeworfen. Das war ein Trip.«

Ich fühlte mich geradewegs in die Kommunengeschichte von Drop City versetzt. Da ich mir erst einen einzigen Tag in Alaska auf die Fahnen schreiben konnte, wusste ich nur zu berichten, dass ich statt Kolibris einen Bären gesehen hatte. Tim wurde ernst.

»Du warst auf dem Heney Ridge Trail? Genau da hat ein verdammter Bär vor ein paar Jahren Thea angesprungen. Die Verletzungen machen der heute noch das Leben schwer, Mann.«

Für den nächsten Tag hatte ich mich zu einer Wanderung auf den Mount Eyak mit einem jungen Amerikaner verabredet, Mitch Kochanski, den ich auf der Fähre von Whittier kennengelernt hatte. Der Berg ragte, von der Wohnanlage aus betrachtet, eindrücklich auf der gegenüberliegenden Seite des Sees empor. Nach meiner ungewollten Bärenbegegnung vom Vortag und Tims Warnung, die mir noch lange durch den Kopf ging, fühlte ich mich wohler damit, die Suche nach Kolibris in Alaska in Begleitung statt auf eigene Faust wieder aufzunehmen. Ganz besonders, weil Mitch eine Bärenglocke am Rucksack trug – sie war klein und aus Metall, einer moderaten Kuhglocke nicht unähnlich –, die unsere Anwesenheit bei jedem Schritt lautstark ankündigte.

Am Ende waren meine Sorgen unbegründet, denn ein Kolibri fand mich, noch bevor ich meine Unterkunft wieder verließ. Ich stand gerade mit einer Tasse Kaffee in der Hand in der Küche und betrachtete über den See hinweg den wolkenverhangenen Berg und brauchte einen Moment, bevor ich begriff, was direkt vor meiner Nase in der Luft zu stehen schien: ein Rotrücken-Zimtelfen-Weibchen, das seinen Schnabel in Davids Futterspender steckte, der vom Terrassendach baumelte. Kurz sahen wir einander in die Augen, dann war es wieder verschwunden. Mir war kaum Zeit geblieben, es zu bemerken. Zurück blieb nur der Hauch einer Erinnerung an sein gedecktes, grün-weißes Gefieder. Männliche Rotrücken-Zimtelfen erstrahlen in viel auffälligerem sienarotem und dunkelorangefarbenem Federkleid, dessen Feuer ihrem angriffslustigen Temperament in nichts nachsteht.

Mein Fotoapparat lag nutzlos hinter mir auf dem Tisch, doch das schien in diesem Moment nicht wichtig. Das Zimtelfen-Weibchen kam mir vor wie eine Botin, die den Beginn meiner Kolibriodyssee verkündete, genau hier, in der abgelegensten Heimat ihrer Art. Und ich stellte mir vor, dass es eine Nachfahrin von H82779 war, ganz gleich, wie weit hergeholt dieser Gedanke auch sein mochte.

Dass ihr Besuch so kurz ausgefallen war, war typisch für Kolibris. Ihre Futtersuche ist von kurzer, intensiver Aktivität geprägt, unterbrochen von Ruhephasen, in denen die Vögel stillsitzen oder sich putzen. Erst kürzlich wurde der Mechanismus hinter ihrem Fressverhalten verstanden. Über 150 Jahre lang, seit die Theorie 1833 aufgestellt wurde, haben Forscher angenommen, dass bei der Nahrungsaufnahme der Kolibris der Kapillareffekt zum Tragen komme. Ihre dünnen Zungen – die so lang sind, dass sie sich im eingezogenen Zustand um die Innenseite von Schädel und Augen legen – sind an der Spitze gespalten, wobei sich die Ränder nach innen stülpen und feine Tunnel bilden, die parallel zueinander verlaufen. Wissenschaftler glaubten lange, der Nektar würde durch diese beiden Röhren nach oben steigen. Nektar ist jedoch dickflüssig wie Sirup. Kolibris können ihre Zunge 18-mal pro Sekunde in die Blüte schnellen lassen. Für den Kapillareffekt blieb da nicht genügend Zeit, falls er überhaupt einsetzte.

Erst kürzlich folgte Margaret Rubega, Professorin an der University of Connecticut, ihrer Überzeugung, dass dies unmöglich der Mechanismus hinter der Nahrungsaufnahme der Kolibris sein konnte, und gab Forschungen an durchsichtigen Kunstblüten mit Highspeed-Kameras in Auftrag, die 1200 Aufnahmen pro Sekunde machten. So kam schließlich die Wahrheit ans Licht: Die gespaltenen Zungenspitzen der Kolibris öffneten sich, wenn sie mit Flüssigkeit in Berührung kamen, und an ihren Rändern zeigten sich eine Reihe winziger Taschen. Ihre Zungen blühten sozusagen auf, genau wie die Pflanzen, die sie besuchten. Schnellt die Zunge zurück, so schließen sich Taschen und Gabelung und speichern den Nektar. Wird die Zunge wieder ausgestreckt, wird der eingeschlossene Nektar in die Kehle gedrückt. Der gesamte Vorgang ist passiv; alles, was der Kolibri tun muss, ist, seine Zunge rauszustrecken und wieder einzuziehen. Da ich die Studie kurz vor meiner Reise nach Alaska gelesen hatte, eröffnete sich mir in diesem Moment nicht nur ein herrlicher Einblick in die Welt der Kolibris, dieses Wissen führte mir ebenso eindringlich vor Augen, wie wenig wir noch immer wussten: von ihnen oder von dem, was sie von der Erde brauchten, damit es ihnen gut ging.

Kate hatte mir erzählt, dass die Bestände an Rotrücken-Zimtelfen insgesamt abnahmen. Ihre gewohnten Überwinterungsorte in Mexiko wurden zunehmend von Dürren bedroht. Genau wie H82779 überwinterten sie nun häufiger in Florida. Kate vermutete, dies sei der starken Ausweitung freier Landflächen und blütenreicher Gärten zu verdanken, die jetzt anstelle von Hartholz- und Kiefernwäldern die Landschaft prägten, und manche dieser Gärten waren nun auch mit gut gefüllten Futterspendern wie auf unserer Terrasse ausgestattet, an dem soeben mein erstes flüchtiges Treffen mit einer weiblichen Rotrücken-Zimtelfe stattgefunden hatte.

Doch nicht nur in ihrem mexikanischen Überwinterungsquartier änderten sich die Bedingungen, vielleicht angetrieben vom Klimawandel, sondern auch in ihrem Sommerquartier. Kate erzählte mir, dass sich auch die Nistplätze einer anderen Kolibriart veränderten, die des Annakolibris. Diese hartgesottene, in Höhenlagen ansässige Kolibrispezies sah man früher nur selten im mittleren Süden von Alaska; vor 1930 brüteten sie ausschließlich in Baja California, doch mittlerweile kommen sie auch im nördlichen Golf von Alaska und nahe dem Prinz-William-Sund vor.

»Ich habe mal im Oktober ein ausgewachsenes Weibchen und ein Jungtiermännchen beringt. Das deutet auf brütende Annakolibris im Süden von Zentralalaska hin. Die meisten migrieren im Herbst vermutlich in die Lower 48, die nicht durch Meere getrennten Bundesstaaten, genau wie die Rotrücken-Zimtelfen, doch da sie gut mit Kälte umgehen können, bleiben manche von ihnen vielleicht auch in den milderen Küstenregionen. Einen habe ich hier Mitte Januar gesehen, an einem Nektarspender. Kolibris im Schnee – wer glaubt denn so was?«

Als die Fähre an meinem letzten vollen Tag in Alaska von Cordova ablegte und in den Prinz-William-Sund hinausfuhr, dachte ich über Vorzeichen nach, ob nun real oder nicht, die zwar bewiesen waren, aber noch nicht vollends verstanden wurden. Ich war am Ende eines für Alaska absolut untypisch warmen Frühjahrs und Sommers hergekommen. Im März lagen die Temperaturen in Alaska elf Grad über dem gewöhnlichen Durchschnitt. In der Arktis war die Abweichung sogar noch extremer, das Thermometer zeigte am 30. März 22 Grad mehr an als sonst üblich. Die Heftigkeit und das Ausmaß des Swan-Lake-Waldbrandes waren eine sichtbare, omnipräsente Warnung davor, dass Alaska trocken wie Zunder geworden war. Andere, noch schädlichere Veränderungen blieben dem bloßen Auge verborgen.

Ende Mai war das Wasser im Golf von Alaska um 1,5 Grad wärmer als sonst. Das klingt wenig, spricht jedoch dafür, dass sich ein komplettes Ökosystem erwärmt. Der Energieaufwand, der notwendig ist, um so große Massen an kaltem Wasser zu erhitzen, ist schier unvorstellbar. Rob Campbell, ein Meeresbiologe am Prince William Sound Science Center, hatte bereits vor dem Dominoeffekt gewarnt, den eine anhaltende Erwärmung auslösen würde und dessen Folgen wir erst Jahre später zu spüren bekämen.

Dass sich der Annakolibri von einem seltenen Zaungast zu einem offenbar in Alaska brütenden Dauerbewohner gewandelt hat, erscheint vielleicht wenig bedrohlich. Was wäre ungefährlicher als ein Kolibri? Trotzdem dachte ich an David Lynn Grimes’ Worte zurück, mit denen er die schrecklichen Ereignisse von 1989 beschrieb: »Die Exxon-Katastrophe war eine schreckliche Krise zu einer Zeit, in der vieles auf der Welt im Wandel begriffen war. In Berlin fiel die Mauer, die Sowjetunion zerfleischte sich selbst. In China wurden die Proteste am Tian’anmen-Platz niedergeschlagen, in Südafrika wurde der Apartheid erfolgreich entgegengetreten, und Nelson Mandela stand kurz vor der Freilassung. Dass all die Wildtiere im Öl von Alaska für unsere Sünden starben, war ein globales Symbol für das Schwinden des Gartens Eden.«

Als sich die Fähre an jenem Morgen über das spiegelglatte Wasser des Prinz-William-Sunds gen Norden auf den mit Rauchwolken verhangenen Himmel zuschob, schien mir die Erwähnung von Exxon, 30 Jahre nach der Valdez-Ölpest, besonders bedeutsam. 1989 waren die unmittelbaren Folgen des Unglücks nicht zu übersehen gewesen, Tausende Tiere waren am Öl erstickt. Doch wer konnte heute sagen, welche Auswirkungen der Klimawandel auf lange Zeit gesehen in Alaska haben würde? Ich fürchtete, dass keine von ihnen diesem wunderschönen Flecken Erde guttun würde.

Es mochte eine Handvoll Profiteure geben, Spezies, die ihren Lebensraum nun auf die erwärmten nördlichen Gefilde ausdehnten – doch gleichzeitig geht Unersetzliches verloren: Subarktische Spezies und deren Habitate können nicht wandern, und wenn sie erst einmal fort sind, kommen sie auch nicht mehr wieder. Noch einmal ging mir Steven Johnsons Kolibrieffekt durch den Kopf. Dieser beschreibt zwar ursprünglich die schrittweisen, unvorhergesehenen Folgen von Erfindungen, doch ich fragte mich, ob er nicht ebenso herangezogen werden könnte, um die ersten unvorhersehbaren Folgen tiefschürfender Veränderungen in einem Ökosystem zu bezeichnen. Kolibris sind so stark an ihre Umwelt angepasst, sie könnten durchaus eine der ersten Spezies sein, die auf Veränderungen reagieren, die wir Menschen noch nicht wahrnehmen oder verstehen. Die neuen Migrationsrouten der Rotrücken-Zimtelfen, die vergrößerten Nistgebiete der Annakolibris – sie entstanden nicht über Nacht, wir erkennen und verstehen diese Tatsachen nur langsam, wie wir erst jetzt die unbequeme Wahrheit anerkennen, dass sich unser Klima weltweit verändert.

Einige von uns wussten bereits von diesen Veränderungen, lange bevor sie an die Öffentlichkeit kamen und als wissenschaftlich bewiesen galten. In den letzten Jahren sind Informationen ans Licht gekommen, die nahelegen, dass der Ölkonzern Exxon bereits in den späten 1970er-Jahren von der Möglichkeit eines anthropogenen – also menschengemachten – Klimawandels wusste. Als die Exxon Valdez 1989 sank, behauptete die Firma zumindest in der Öffentlichkeit noch immer, die wissenschaftlichen Daten, auf denen der Klimawandel beruhe, seien fragwürdig. Im selben Jahr hatte Exxon allerdings dabei geholfen, die mittlerweile in Verruf geratene Global Climate Coalition zu gründen, einen Lobbyverein mit dem Ziel, wissenschaftliche Daten zu diskreditieren, die auf die Gefahren des Klimawandels hinwiesen.

Auf die eine oder andere Art wirkt sich das Erbe der Ölindustrie noch heute auf Alaska aus. Die Ölpest mag nur noch eine entfernte Erinnerung sein, doch der Jahreszeitenwandel und seine Folgen für die hiesige Wildnis sind überaus präsent und spürbar.

Einige Stunden später erreichte die Fähre das Land, und ich stand am Flughafen von Anchorage in der Check-in-Schlange. Vor mir wartete eine gut gelaunte Gruppe Angler, die gemeinsam zu einem Angelurlaub aus Europa hierhergereist waren. Helmut, ein Schweizer Hotelier, erzählte mir, dies sei bereits seine zweite Alaskareise gewesen.

»Diesmal war das Wetter sehr viel besser!«, rief er glücklich, sein von der Sonne verbrannter roter Nasenrücken war der Beweis. »In den Flüssen gab es nicht so viele Lachse, aber ein paar können wir mit nach Hause nehmen.«

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