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Hot Fighters - Gegen alles, was uns trennt

Er hat alles perfekt im Griff! Tagsüber bringt Jack Daniels Verbrecher hinter Gittern, nachts nimmt der Cop an Mixed-Martial-Arts-Kämpfen teil. Doch als er die sexy Ärztin Chrissy trifft, gerät alles aus den Fugen. Denn obwohl zwischen ihnen die Funken sprühen, kann sich Chrissy keine glückliche Zukunft an der Seite eines Kampfsportlers vorstellen. Mutig kämpft Jack um ihr Herz - und ahnt, dass dieser Fight der härteste seines Lebens wird …
"Eine heiße, freche Romance, von der die Leser nicht genug bekommen können. Sidney Halston ist eine Autorin, die man im Auge behalten sollte."
New York Times-Bestsellerautorin Cherry Adair
  • Erscheinungstag: 11.04.2016
  • Aus der Serie: Worth The Fight
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495564
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sidney Halston

Hot Fighters – Gegen alles, was uns trennt

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Gabriele Ramm

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Against The Cage

Copyright © 2014 by Sidney Halston
erschienen bei: Loveswept, New York

Published by arrangement with

Jeanette Escudero

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: Büropecher, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München/Kiuikson/Robert Daly
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 978-3-95649-556-4

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Super-dämlich-klasse!“ Chrissy schlug mit der Faust auf das Lenkrad ihrer zehn Jahre alten Mistkarre. Blaulicht blinkte hinter ihr auf. Verärgert fuhr sie an den Straßenrand und hielt an. Vor knapp zwei Stunden hatte sie sich den Absatz ihrer roten Lieblingsstilettos abgebrochen, als sie aus dem Gericht gekommen und nicht gerade graziös in einem Spalt im Bürgersteig stecken geblieben war. Sie war zu ihrem Auto gehinkt, das sich leicht zu einer Seite geneigt hatte, was sie idiotischerweise ignorierte. Natürlich entpuppte sich dieses Ungleichgewicht als ein platter Reifen, was ihr schlagartig bewusst wurde, kaum dass sie den Highway erreicht hatte. Sie hatte die Pannenhilfe anrufen und eine Stunde warten müssen, bis man ihr den Reifen gewechselt hatte. Und jetzt, um diesem verdammten Tag sozusagen das Sahnehäubchen aufzusetzen, näherte sich ein Polizist ihrem Wagen. Plötzlich wurde der Strahl einer Taschenlampe direkt auf ihr Gesicht gerichtet. Völlig geblendet sah sie nur noch schwarze Punkte und die Silhouette eines großen Mannes, der vor ihrem Seitenfenster stand. Na, großartig!

Kaum begann sie, das Fenster herunterzukurbeln, da drang schon die für Florida typische Hitze und Feuchtigkeit ins Auto. Sofort rannen ihr kleine Schweißperlen über den Nacken und das Gesicht. Und, ja, sie kurbelte das Fenster wirklich herunter, denn an ihrem elenden Auto funktionierte leider noch nichts elektrisch.

„Führerschein und Fahrzeugpapiere“, ertönte eine tiefe Stimme von draußen.

Chrissy hatte noch immer schwarze Punkte vor den Augen, während sie sich laut seufzend zum Rücksitz umdrehte, um nach dem schweren, überdimensionalen Chaos zu greifen, das sich Handtasche nannte. Ihre Hände zitterten leicht, und sie musste die Augen zusammenkneifen, als sie in der Tasche, die einige vielleicht eher als Reisegepäck und nicht als Handtasche bezeichnen würden, nach ihrem Führerschein suchte. Sie spürte, dass sich ihr Puls erhöhte; sie hasste es, sich mit Cops abgeben zu müssen. Doch wer tat das nicht?

Oh Gott, wo war ihr Führerschein? Sobald ich wieder Ordnung in mein Leben gebracht habe, werde ich als Erstes mal meine Handtasche aufräumen müssen, nahm sie sich beim Anblick des heillosen Durcheinanders vor. Nachdem sie endlich ihre Fahrerlaubnis gefunden hatte, stieß sie ein triumphierendes „Ha!“ aus. Dann öffnete sie das Handschuhfach und begann auf der Suche nach dem Fahrzeugschein Papiere auf den Beifahrersitz zu werfen. Nach dem Aufräumen der Tasche stand das Handschuhfach als Nächstes auf ihrer Todo-Liste.

„Wird das heute noch was, Ma’am?“, meinte der Cop und trommelte mit den Fingern auf das Dach ihres Wagens. Er nervte.

Laut stöhnte Chrissy auf.

„Haben Sie mich gerade angefaucht, Ma’am?“

Nein, du Idiot, ich habe gestöhnt, nicht gefaucht. Erneut stöhnte sie.

„Hey, Lady, ich rede mit Ihnen.“

Nach dem heutigen Tag wollte sie nichts weiter als so schnell wie möglich raus aus diesem Kaff, das zufälligerweise der Ort war, an dem sie aufgewachsen war. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr war sie nicht mehr hier gewesen, und sie bereute es, dass sie heute Morgen ans Telefon gegangen war. Slade hatte sie nämlich angerufen, um sie zu bitten, die Kaution für ihn zu bezahlen und ihn aus dem Gefängnis zu holen.

Elf Jahre lang hatte sie einen großen Bogen um Tarpon Springs in Florida gemacht. Elf lange Jahre, die ohne Drama verlaufen waren. Und jetzt, nach den Ereignissen der letzten zwölf Stunden, wusste sie auch wieder genau, warum sie dem Ort ferngeblieben war. Diese Stadt bedeutete nichts als Ärger.

„Hier ist er!“, meinte sie erfreut und wollte dem Polizisten ohne hinzuschauen schwungvoll die Dokumente durch das offene Fenster reichen. Doch statt ihm die Papiere in die ausgestreckte Hand zu drücken, rammte sie ihm ihren Arm direkt in eine Ausbuchtung. Eine sehr große Ausbuchtung.

Es folgten ein Keuchen und dann ein „Ooh!“. Mehr hörte sie nicht, bevor er zusammensackte.

„Ach, herrje!“ Erschrocken schlug sie die Hand auf den Mund. „Oh mein Gott, Officer, es tut mir so leid. Ich wollte nicht …“

„Ssch!“, klang es gereizt von unten.

Da sie die Tür nicht öffnen konnte, weil er sich dagegenlehnte und unverständlich vor sich hin murmelte, löste Chrissy schließlich den Sicherheitsgurt und streckte den Kopf aus dem Fenster. Langsam blickte sie auf den Boden hinunter.

„Bitte, sagen Sie mir, dass ich Sie nicht gerade in die …“ Das Ganze war ihr so unglaublich peinlich, dass sie es nicht einmal aussprechen konnte.

„Mir eine in die Eier verpasst haben? Ja, Lady, Sie haben einen wahren Treffer gelandet.“

„Das tut mir so leid, Officer. Es war ein Versehen. Ich hatte einen furchtbaren Tag. Meine Handtasche ist ein einziges Chaos. Ich war so nervös, weil ich meinen Führerschein nicht gleich finden konnte. Und dass Sie die ganze Zeit mit den Fingern auf dem Autodach herumgetrommelt haben, hat die Sache nicht besser gemacht. Natürlich will ich dieses nervige Geklopfe nicht als Entschuldigung vorschieben, doch es hat mich wirklich völlig durcheinandergebracht. Wie auch immer, der Pannendienst hat ewig gebraucht, und dann haben Sie mich mit Ihrer Taschenlampe geblendet, sodass ich nichts sehen konnte, und dann …“

Okay, jetzt plapperte sie hirnlos vor sich hin. Sie schüttelte hektisch den Kopf, als könnte sie damit verhindern, dass sie weiter irgendeinen verbalen Dünnpfiff von sich gab. „Na ja, was ich versuche zu sagen, ist, dass es mir sehr, sehr leidtut. Ich bin Ärztin – lassen Sie mich Ihnen helfen.“

„Nein! Nein. Bleiben Sie einfach im Wagen! Ich denke, Sie haben genug angerichtet. Geben Sie mir nur eine Minute Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen“, grummelte er, wobei seine Stimme eine Oktave höher als vorhin klang.

Mit geröteten Wangen ließ sich Chrissy in den Fahrersitz zurückfallen. Da hatte sie eben noch ganz optimistisch geglaubt, schlimmer könne es nun nicht mehr werden, und dann – zack! – rammte sie einem Cop mit Schwung ihre Hand in den Schritt. Wahrscheinlich würde er sie deswegen verhaften. Lebenslange Freiheitsstrafe. Das war nicht auszuschließen an solch einem Tag wie dem heutigen.

„Officer?“ Chrissy streckte wieder den Kopf aus dem Fenster und schob die Brille hoch, die ihr auf die Nasenspitze gerutscht war.

„Können Sie nicht wenigstens eine verdammte Minute lang den Mund halten?“, fuhr er sie an. Er kauerte noch immer auf dem Boden, den Rücken an die Autotür gelehnt. Jetzt, da keine Punkte mehr vor ihren Augen tanzten, konnte sie die Rückseite seines Khakishirts und die hochgezogenen Schultern erkennen, während er, wie sie vermutete, seine Männlichkeit umklammert hielt. Das Hemd sah aus, als würde es gleich zerreißen, so groß war die Spannung zwischen seinen ziemlich breiten Schultern.

„Sie brauchen sich ja nicht gleich wie ein Arsch zu benehmen“, murmelte sie. Doch kaum waren die Worte heraus, bereute sie sie auch schon.

„Haben Sie mich gerade einen Arsch genannt, nachdem Sie mir kurz zuvor einen Schlag in die Eier verpasst haben? Wissen Sie, dass ich Leute schon für weniger mit einem Taser schachmatt gesetzt habe?“

Das war mal wieder typisch: Ein dominantes Alpha-Männchen, das glaubte, es könne nach Lust und Laune Frauen einschüchtern! Das entsprach genau dem Bild, das sie von einem Cop hatte. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe Ihnen keinen Schlag in die Eier verpasst. Na ja, okay, hab ich. Doch das war ein Versehen. Ich versuche zu helfen. Ich habe mich bereits entschuldigt. Ach, und übrigens sollten Sie sich nicht so dicht neben der Fahrbahn aufhalten. Es ist dunkel, und Sie könnten überfahren werden.“

Er räusperte sich. „Sie haben recht. Das gehört zu den grundlegenden Dingen, die man auf der Polizeischule lernt. Obwohl ich mich nicht erinnere, dass einem korrektes Verhalten speziell für dieses Szenario beigebracht wurde, in der eine durchgeknallte Frau einem in die Eier haut. Ich frage mich, wie da wohl das richtige Vorgehen ist.“ Trotz seiner immer noch leicht nach Schmerz klingenden Stimme schien er amüsiert.

Ganz langsam erhob sich der Officer und drehte sich zum Fenster um, einen Arm auf das Autodach gestützt, sodass Chrissy jetzt sozusagen sein malträtiertes männliches Organ sozusagen direkt vor der Nase hatte. Nervös schluckte sie.

Schließlich beugte er sich vorsichtig zum Fenster hinunter, und zum ersten Mal erhaschte sie einen Blick auf sein Gesicht. Wie ein Blitz durchzuckten Chrissy Bilder aus ihrer Vergangenheit – eine Vergangenheit, die sie nur allzu gerne vergessen würde.

„Heilige Scheiße! Ich werd nicht wieder!“ Sie senkte die Lider und ließ den Kopf aufs Lenkrad fallen.

Jack blinzelte. „Chris?“

„Hallo, Jack.“

„Jetzt ergibt das alles einen Sinn. Du hast mir mit Absicht eine in die Eier verpasst!“

„Quatsch! Das war ein reines Versehen. Doch wenn ich gewusst hätte, dass du es bist, dann wäre es vermutlich auf das Gleiche hinausgelaufen.“

„Was machst du wieder hier in der Stadt?“

„Ich schätze mal, das ist dir klar“, erwiderte Chrissy.

„Dein Bruder?“

Sie nickte. „Na klar, der unvergleichliche berühmt-berüchtigte Slade Martin.“

„Er hätte dich nicht anrufen sollen. Ich hätte die Sache morgen geklärt“, meinte Jack.

„Zu spät. Jetzt bin ich schon hier. Nachdem du also weißt, dass ich es bin, wie wäre es da, wenn ich dich mit meinem Charme davon überzeuge, auf den Strafzettel zu verzichten?“

Leise lachte Jack. „Charme war noch nie deine Stärke, Chris.“

Als Slade fünf und Chrissy zwei gewesen war, war die Mutter der beiden gestorben, und ihr Vater, Richard Martin, war mit ihnen von Miami fünf Stunden weiter nordwestlich nach Tarpon Springs gezogen. Slade hatte Jack erzählt, dass sein Vater überzeugt gewesen war, dass es besser wäre, seine Kinder in einer Kleinstadt in der Nähe seiner besten Freunde, Abbot und Joan Daniels, Jacks Eltern, großzuziehen. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass das Gebäude neben den Daniels zum Verkauf stand, und innerhalb von drei Monaten nach dem Tod seiner Frau hatte Richard das kleine Haus am Ozean gekauft. Jack und Slade hatten sich im Kindergarten getroffen, wo sie beide den Sand aus der Sandkiste verspeist hatten (was natürlich prompt zu Magenschmerzen geführt hatte). Seitdem waren die beiden Jungs beste Freunde und unzertrennlich. Chrissy, die drei Jahre jünger war, hatte versucht, ihnen überallhin zu folgen, war jedoch eigentlich nur eine Plage gewesen. In den Augen der beiden Jungs war sie immer Chris, die Zicke, die Streberin und Petze. Jack und Slade hatten dagegen ständig in Schwierigkeiten gesteckt; immer kurz davor, in der Schule sitzen zu bleiben, hatten sie sich zum Schrecken der ganzen Stadt entwickelt. Es war keine Frage, dass Chrissy das heiße, feuchte und moskitoverseuchte Tarpon Springs bei der nächstbesten Gelegenheit verlassen würde. Und genau das hatte sie einige Monate nach dem Highschoolabschluss auch getan. Jack hatte nicht einmal die Chance gehabt, sich von ihr zu verabschieden – eines Tages war er aufgewacht, und Chrissy war verschwunden gewesen.

Als er sie zuletzt gesehen hatte, war sie ein unvorteilhaft gekleideter, leicht übergewichtiger Bücherwurm mit einer Frisur gewesen, die an die eines Kobolds erinnerte. Schon immer hatte sie eine Brille getragen, ihre Klamotten waren eher praktisch gewesen und ihr Aussehen alles andere als aufsehenerregend. Nicht, dass sie hässlich gewesen wäre, nein, sie war einfach nur … Chris. Die kleine Streber-Schwester seines besten Freundes. Sie hatte nicht wirklich dazugehört, aber sie hatte immer versucht, so oft wie möglich mit ihrem Bruder und seinem Freund herumzuhängen. Sie hasste es, sich schmutzig zu machen, versuchte aber dennoch, im Schlamm zu spielen, weil Slade und Jack das machten. Sie hatte sich im Stickball versucht, war allerdings ständig verletzt worden. Sie hatte sich so sehr bemüht, ihnen zu imponieren, und war doch immer kläglich gescheitert.

Aber sie hatte auch nichts für Ballett oder Rüschenkleider übrig, so wie die anderen Mädchen. Sie las gerne und erledigte ihre Hausaufgaben. Sie war der Liebling der Stadt, und alle mochten sie. Wahrscheinlich weil sie immer freundlich war und das Wörtchen Nein nicht zu kennen schien. Genau genommen war sie jemand, der sich von allen herumschubsen ließ – man könnte auch sagen, sie war ein Schaf. Immer endete es damit, dass sie genau das tat, was Slade oder Jack von ihr verlangten. Ohne Fragen zu stellen. Manchmal hatte sie mit dem Fuß aufgestampft oder geschmollt, dennoch hatte sie immer das gemacht, was sie ihr befohlen hatten.

Die Frau, die Jack jetzt anstarrte, sah nicht so aus, als würde sie jemals Stickball spielen oder sich auch nur in die Nähe eines Schlammlochs begeben. Und ganz gewiss wirkte sie nicht mehr so, als ließe sie sich herumkommandieren. Genauso wenig wie sie versuchte, ihm zu imponieren. Stattdessen schien sie wütend zu sein, weil er sie angehalten hatte. Genauer gesagt, sie kochte vor Wut, und er konnte durch die Autotür förmlich die Hitze spüren, die ihr aus allen Poren zu dringen schien. Noch immer trug sie eine Brille, die die blauesten Augen betonte, in die er je geschaut hatte. Doch von dem, was er vom Hals aufwärts erkennen konnte, war das auch das Einzige, was sich nicht verändert hatte. Jetzt lag ein Funkeln in ihrem Blick, das damals gefehlt hatte. Plötzlich konnte er es nicht erwarten, den Rest von ihr zu sehen.

Normalerweise nutzte er seine Machtposition nicht aus, aber …

Er bemühte sich, seine Ich-bin-Cop-und-meine-es-ernst-Miene aufzusetzen, mit der er normalerweise alle Leute einschüchtern konnte, aber so ganz gelang es ihm nicht, das Grinsen zu unterdrücken. Er hoffte nur, dass Chrissy es nicht mitbekam. „Hast du was getrunken?“

„Was? Nein!“

Oh ja, sie kocht vor Wut.

„Bist du sicher? Du bist ziemlich auffällig gefahren“, log er.

„Nein, bin ich nicht. Vielleicht bin ich ein bisschen zu schnell gefahren, aber ich bin nicht auffällig gefahren.“

„Warum steigst du nicht erst einmal aus?“

„Ist das dein Ernst?“ Sie sah aus, als wollte sie ihn gleich eigenhändig erwürgen. Oh, das ist ja mal was Neues! Wenn es eins gab, woran er sich nicht erinnern konnte, dann war es eine wütende Chris.

„Es ist mein voller Ernst.“

Sie stieß ein genervtes Schnauben aus. „Soll das ein Witz sein? Oh Gott! Kann dieser Scheißtag noch schlimmer werden?“

„Du fluchst ziemlich viel.“

„Aus dem Weg, Jack Daniels, damit ich dir zeigen kann, dass ich nicht betrunken bin! Wenn ich das beweise, lässt du mich dann ohne Strafzettel davonkommen?“

„Ja. Ich verzichte auf den Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, wenn du nüchtern bist, und hör auf, mich Jack Daniels zu nennen.“

„Okay. Aber so heißt du nun mal.“

„Ja. Doch du sagst es nur, um dich über mich lustig zu machen, Chris.“

„Wieso? Ich bin nicht diejenige, die dich nach einer Whiskey-Sorte genannt hat. Gib deinen Eltern die Schuld. Und hör auf, mich Chris zu nennen, ich hasse das.“

„Na schön, ich nenne dich nicht mehr Chris, Christine.“

„Chrissy, bitte. Weder Christine noch Chris, und schon gar nicht Zicken-Chris, sondern einfach nur Chrissy. Du hast esnoch nie geschafft, mich Chrissy zu nennen, warum auch immer.“

„Weil es so viel Spaß gemacht hat, dich zu ärgern.“

„Einige Dinge ändern sich anscheinend nie. Elf Jahre später, und du bist wie früher gemein zu mir“, erwiderte sie, die Hände noch immer um das Lenkrad geklammert.

„Okay, okay. Der Fairness halber höre ich auf. Also, Chrissy. Und du weißt genau, was ich von meinem Namen halte. Da brauche ich keine Klugscheißerin, die mich damit aufzieht. Vor allem, wenn besagte Klugscheißerin sich Sorgen machen sollte, weil sie vielleicht einen Alkoholtest nicht besteht und zudem noch einen Cop angegriffen hat.“

„Ich habe dich nicht angegriffen. Es war ein Versehen. Und jetzt geh beiseite, damit ich die Tür öffnen kann.“

Er machte einen Schritt zurück, als sie die Tür aufstieß.

Ein langes, wohlgeformtes Bein mit den wohl aufregendsten roten High Heels, die er je gesehen hatte, schwang sich aus dem Wagen. Dann das nächste. Oh Mann! Ist das die gleiche schusselige kleine Chrissy Martin? Jack kam sich vor wie eine dieser Cartoon-Figuren, der die Augäpfel aus den Augenhöhlen ploppten.

Oh Gott!

Im Stillen betete er, dass ihr ein Schwanz oder ein dritter Arm gewachsen war, denn das, was er bis jetzt von ihr zu Gesicht bekommen hatte, brachte ihn völlig aus dem Gleichgewicht. Er war überzeugt davon, nicht noch mehr verkraften zu können, dabei hatte er bisher nur ihre Beine gesehen. Endlich stieg sie ganz aus dem Auto aus und wollte einen Schritt nach vorn machen. Dabei verlor sie die Balance und stolperte. Reflexartig streckte Jack den Arm aus, packte sie an der Taille und fing sie auf, ehe sie stürzte. Ihr ganzer Körper war auf einmal an seinen gedrückt. Jeder einzelne Zentimeter schmiegte sich an ihn. Er schluckte. Und verschluckte sich fast. Es folgten einige Sekunden betretenen Schweigens, ehe er nach ihrem Kinn griff und ihren Kopf anhob, damit sie ihn anschaute. „Alles okay?“

„Äh … ja. Ich hatte vergessen, dass mir ein Absatz abgebrochen ist.“ Sie winkelte ihr rechtes Bein an und blickte über die Schulter nach hinten. Jack beugte sich über ihren Körper, damit er den abgebrochenen Absatz mustern konnte, und presste sich dabei noch enger an Chrissy, sofern das überhaupt möglich war.

„Was für eine Schande! Das waren doch so hübsche Schuhe“, erklärte er … nur Zentimeter von ihrem Ohr entfernt.

„Wem sagst du das.“ Sie löste sich ein wenig von ihm, und er hob die Hand, um mit dem Zeigefinger ihre Brille wieder hochzuschieben. Noch nie hatte er so auf eine Frau reagiert. Sie zupfte ihr schwarzes Kleid zurecht und strich sich mit den Fingern durch ihr langes dunkles Haar. Anschließend richtete sie sich auf und drückte die Schultern durch. Kampfbereit, wie es schien. Na gut, eine Sache hatte sich nicht verändert – sie war noch immer selbstgerecht und stolz. Aber die kleine Göre, die sich hatte herumschubsen lassen, war verschwunden. Und ihm gefiel diese neue herangewachsene Teufelin.

„Na schön, wo hättest du mich gern?“, fragte Chrissy, während sie ihre Schuhe auszog.

Völlig nackt, ausgestreckt auf der Haube meines Streifenwagens und dieses winzige schwarze Kleid über deine Hüften geschoben. Fast hätte er das tatsächlich laut herausposaunt. „Wie bitte?“, brachte er stattdessen hervor.

„Der Alkoholtest. Ich musste noch nie einen machen. Was soll ich tun?“

„Weißt du was? Vergiss es. Du kannst mit einem abgebrochenen Absatz keinen Alkoholtest absolvieren, und ich will nicht, dass du hier auf dem Seitenstreifen barfuß herumläufst.“

„Bedeutet das, dass ich jetzt doch ein Ticket bekomme?“

„Nein. Hau einfach ab!“, blaffte er.

„Was verdammt noch mal ist mit dir los? Du warst schon immer so ein Arschloch. Wie ich sehe, hast du dich nicht verändert.“

„Tut mir leid, Chris. Es war ein langer Tag. Ich wollte mich nicht wie ein Mistkerl aufführen. Wo übernachtest du, solange du hier in der Stadt bist?“

„Chrissy“, stieß sie verärgert hervor.

„Was?“

„Du hast mich schon wieder Chris genannt. Ich habe dich lediglich korrigiert.“

„Oh, verdammt. Entschuldige. Ist einfach Gewohnheit, nehme ich an.“ Sie war nicht länger Chris. Von dem kleinen Streber-Mädchen war nichts mehr zu erkennen. Sie war ganz Frau, angefangen bei den höllisch sexy Schuhen bis hin zu den Spitzen ihrer glänzenden schwarzen Haare.

„In Slades Haus“, meinte sie. Er sah sie verwirrt an, und sie schnippte mit den Fingern, sodass er wieder in der Gegenwart landete. „Du hast mich gefragt, wo ich schlafen will. Darauf habe ich geantwortet. Ich wohne bei Slade. Allerdings muss ich wohl einbrechen.“ Sie beugte sich ein wenig zu ihm vor und flüsterte: „Erzähl das nicht den Bullen“, und fing dann an zu lachen. Ihr Lachen hatte er ganz vergessen. Sie war schon immer eine Kichererbse gewesen, aber heute war das richtiggehend ansteckend. Früher hatte er das nur nervig gefunden. Was war er doch nur für ein Idiot!

„Warum?“

„Ich habe keinen Schlüssel. Dir ist ja bekannt, dass ich ihm das Haus nach Dads Tod überlassen habe, und es ist Jahre her, seit ich zuletzt hier war. Rein formell gesehen gehört es zur Hälfte noch mir, also ist es kein wirklicher Einbruch.“

„Komm, fahr mir hinterher. Ich habe einen Ersatzschlüssel“, sagte Jack.

„Hast du?“

„Ja. Er ist für mich wie ein Bruder, das weißt du doch. Er hat ja auch einen Ersatzschlüssel für mein Haus.“

„Oh, okay. Wo wohnst du denn?“

„Noch immer im selben Haus.“

„Soll das heißen, dass du noch bei deinen Eltern lebst?“, fragte sie erstaunt. Ihre Miene verriet, dass sie ihn dafür sowohl verachtete als auch bemitleidete. Das war typisch für sie – schon früher war sie höllisch schnell mit einem Urteil zur Hand gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, ob ihm das vor elf Jahren etwas ausgemacht hatte, aber verdammt, jetzt störte es ihn gewaltig, und er wurde auf einmal ziemlich sauer. Dabei war er sich gar nicht so sicher, warum er den Drang verspürte, sie zu korrigieren.

„Nein, Chris, ich wohne nicht mehr mit meinen Eltern zusammen. Ich habe ihnen das Haus abgekauft, bevor sie in eine Seniorenanlage ein paar Meilen von hier gezogen sind.“

Sie trat einen Schritt auf ihn zu und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. „Hör. Auf. Mich. Chris. Zu. Nennen. Und es ist toll, dass du das Haus gekauft hast. Es war lediglich eine Frage, also entspann dich. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht. Da musst du nicht gleich so übellaunig werden.“

Er schnappte sich ihren Finger. „Ich bin nicht übellaunig. Du bist nur einfach so vorschnell mit deinen Urteilen.“

„Bin ich überhaupt nicht“, antwortete sie. Er schaute sie ungläubig an, woraufhin sie die Schultern hängen ließ. „Na gut, vielleicht ein bisschen. Als ich dich jetzt wiedergesehen habe, habe ich mich wohl an das Mädchen erinnert, das du und Slade immer herumgeschubst habt, und wahrscheinlich hat mich das in die Defensive gedrängt. Tut mir leid. Hör zu, es war ein schrecklicher Tag. Ich brauche ein schönes heißes Bad und eine ordentliche Portion Schlaf, damit ich morgen früh zu Slades Anhörung im Gericht gehen und ihn aus dem Gefängnis holen kann.“

„Okay, dann lass uns losfahren. Komm schon, fahr mir hinterher!“ Er wartete, bis sie in ihr Auto gestiegen war, ehe er zum Streifenwagen lief.

Vor ein paar Stunden war er zu einer Barschlägerei gerufen worden und hatte vier Typen in Handschellen abführen müssen. Das war am Ende einer langen Schicht gewesen, und eigentlich hatte er direkt nach Hause fahren, ein kühles Bier trinken und die nächsten vierundzwanzig Stunden schlafen wollen. Sich mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung abzuplagen war wirklich das Letzte gewesen, womit er sich noch befassen wollte, aber sein Pflichtbewusstsein hatte wieder einmal gesiegt. Er hatte den Wagen angehalten – ohne zu wissen, dass ihn ein Paar blau funkelnder Augen erwartete. Auf dem Heimweg musste er daher einige Male seine Hose zurechtzupfen, und das lag nicht an dem Schlag in die Eier, den Chrissy ihm verpasst hatte.

Sie sah fantastisch aus! Aus dem einst unsicheren, leicht übergewichtigen Mädchen war eine selbstsichere, wohlgerundete, schöne Frau geworden, die einen im wahrsten Sinne des Wortes umhaute. Er war froh, dass sie wenigstens noch ihre Brille trug. Bei jemand anderem würde dieses klobige schwarze Gestell vermutlich albern wirken, aber Chrissy verlieh es den Look einer unartigen Krankenschwester, die Männerfantasien beflügelte. Während er fuhr, stellte er sich Christine vor, die schamlose Schwester im weißen Kittel. Der würde am Oberkörper eng anliegen und dadurch die für ihre schmale Figur außergewöhnlich großen Brüste besonders betonen und so kurz sein, dass er einen Blick auf ihr Strumpfband erhaschen könnte. Dazu würde sie eine kleine weiße Haube tragen, die im Kontrast zu ihrem streng zurückgekämmten rabenschwarzen Haar stand. Jack stellte sich vor, wie sie sich vorbeugte, um seine Reflexe zu überprüfen, und die Hand ausstreckte, um ihm ein Thermometer in den Mund zu schieben. Natürlich wäre sie eine gute und gründliche Krankenschwester, die ihn mit sanfter, verlegener Stimme dazu auffordern würde, doch bitte die Hosen herunterzulassen, damit sie ihn …

Fuck! Reiß dich zusammen, Daniels! Hast du etwa gerade aus der kleinen Chris eine Porno-Krankenschwester gemacht? Was ist los mit dir, Alter? Hör auf damit!

Sie war nicht einmal eine Krankenschwester, sondern Ärztin. Nach dem, was er gehört hatte, war sie als Helferin in Dritte-Welt-Ländern tätig gewesen. Sie war so weit außerhalb seiner Liga, dass er nicht einmal das Spielfeld sehen konnte. Aber verdammt, ihr unerwartetes Verhalten machte ihn total an. So war sie früher nie gewesen. Klug und schusselig, ja. Aber kratzbürstig und heißblütig? Nein, niemals kratzbürstig und nie im

Leben heißblütig. Wenn sie etwas getan hatte, was Slade und ihm missfiel, hatten sie an ihr herumgemeckert, und sie hatte das akzeptiert, ohne jemals dagegen zu rebellieren. Und dennoch war sie ihm und Slade wie ein Welpe stets gefolgt. Er hatte es gehasst, wenn sie zusammen mit seinen und Slades Freunden rumgehangen hatte. Das waren alles Rowdys gewesen, etwas, was ihm durchaus bewusst gewesen war. Bei denen hatte sie nichts verloren gehabt, schon gar nicht, wenn sie wieder irgendeinen Unfug ausgeheckt hatten. Aber dann, während der letzten Monate, ehe sie verschwand, hatte sie ihn gemieden wie die Pest. Schon immer hatte er sie fragen wollen, warum, aber sie war weg gewesen, ehe er Gelegenheit dazu gehabt hatte.

2. KAPITEL

Himmel, war er immer schon so … so … Gibt’s dafür Worte? Männlich! Genau, das ist es! Ich fasse es nicht, dass ich ihm eine in die Eier gehauen habe. Wie peinlich!“ Chrissy schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Blöd! Blöd! Blöd!!“

Als Teenager hatte Chrissy immer für Jack geschwärmt, aber häufig genug hatte sein idiotisches Verhalten ihr die Schwärmerei ausgetrieben. Jedes Mal, wenn sie Jack angehimmelt hatte – und sie hatte ihn oft angehimmelt! –, hatte er etwas gemacht, was sie daran erinnert hatte, was für ein Blödmann er war.

Slade hatte sie ignoriert und weggeschubst. Aber während ihr Bruder sie total übersehen hatte, hatte Jack das nie getan. Er war immer derjenige gewesen, der sie schnurstracks nach Hause gebracht hatte, wenn sie sich zu einem ihrer heimlichen Kämpfe geschlichen hatte. Geschimpft hatte er mit ihr, wenn sie etwas unternommen hatte, was er als waghalsig ansah, so wie damals, als sie ins Mädchen-Basketball-Team eingetreten war. Er hatte ihr erklärt: „Da verletzt du dich doch nur, Chris. Du bist ein Knirps. Was weißt du schon über Basketball?“ Oder als sie im Abschlussjahr an der Highschool auf eine Party gehen wollte, die vom Cheerleader-Captain veranstaltet wurde. Der Plan war, aus dem Haus zu schleichen, nachdem ihr Vater ins Bett gegangen war. Ihre beste Freundin Veronica hatte ihr ein paar Klamotten geliehen und ihr beim Make-up und mit der Frisur geholfen. An dem Abend hatte Chrissy sogar beschlossen, auf ihre Brille zu verzichten – es war ihr egal, dass sie keine zwei Schritte weit sehen konnte. Sie war so aufgeregt gewesen! Es war eine Party mit coolen Leuten, und sie und Veronica hatten vor, heftig mit Roger und Nick zu flirten, die zum Wrestling-Schulteamchef gehörten. Sie war sich sicher, dass Roger sie endlich bemerken würde, schließlich trug sie einen superkurzen Jeansrock. Es sollte der Abend ihres ersten Kusses werden, und Roger war das Ziel ihrer Sehnsüchte. Kaum waren sie auf der Party angekommen, bemerkten sie, wie die Menge laut johlend an einem Tisch stand, wo Beer Pong, eines dieser pubertären Saufspiele, im Gang war. Ein Team, das von der Menge angefeuert wurde, bestand aus niemand anderem als Slade und Jack.

Nachdem sie große rote Becher Bier leer getrunken hatten, blickten Slade und Jack sich um und entdeckten Chrissy. Beide Jungs funkelten sie böse an. Slade verdrehte die Augen, sichtlich verärgert, und fuhr sie an, sie solle nach Hause gehen. Sie schüttelte den Kopf und stampfte mit dem Fuß auf. Ja, genau, sie hatte mit dem Fuß aufgestampft. Wie ein Kleinkind. Jack machte sich gar nicht erst die Mühe, etwas zu sagen, er packte sie am Handgelenk, zog sie zu seinem Wagen und fuhr sie nach Hause, während er sie die ganze Zeit über belehrte, warum sie auf dieser Party nichts zu suchen hatte. Die Ausreden, die er fand, gründeten im Grunde alle darauf, dass sie einfach nur störte und ihm und Slade es vermasselte, ein Mädchen flachzulegen. Das Schlimmste an der Sache war, dass Veronica, seit sechs Jahren ihre beste Freundin, nach diesem Abend kein Wort mehr mit ihr sprach.

Seitdem hatte sich viel verändert. Chrissy war nicht länger das naive, wehrlose kleine Mädchen. Sie war eine Frau. Eine Frau, die eine Menge durchgemacht hatte. Sie hatte sich an den schlimmsten Orten der Welt aufgehalten und es überlebt. Sie hatte, was ihr Privatleben anging, die Hölle durchgemacht und war davongekommen. Der dumme, liebeskranke Teenager war längst Vergangenheit. Und wenn Jack ihr jetzt dieses Lächeln schenkte, bei dem man schlichtweg dahinschmolz, weil zu allem Überfluss noch seine Grübchen sichtbar wurden, dann würde sie sich daran erinnern, wie gemein er früher zu ihr gewesen war und wie er die Beziehung zu ihrer besten Freundin zerstört hatte. Dass er nie etwas anderes in ihr gesehen hatte als Zicken-Chrissy, eine blöde kleine Schwester, die einen großen Bruder brauchte, der sie beschützte. Dass er sie immer bevormundet und sie nie das hatte tun lassen, was sie hatte tun wollen. Aber während der letzten elf Jahre hatte sie ihr Leben gut gemeistert, und sie brauchte auch jetzt keinen Mann, der auf sie aufpasste. Wenn Jack glaubte, dass er sich nach so langer Zeit wieder einmischen und sie so herumschubsen konnte, wie er es früher getan hatte, dann hatte er sich aber gründlich getäuscht!

Ein alter Songtitel von Helen Reddy schoss ihr durch den Kopf: I am woman, hear me roar! Grrr! Genau, sie würde brüllen!

Sie hatte sich in Rage geredet, und kam erst in die Realität zurück, als sie sich ihrem Haus näherten. Jack fuhr noch immer vor ihr. „Er ist ein Arsch! Vergiss das niemals, Christine! Lass dich von seinem tollen Aussehen nicht beeindrucken. Arsch! Arsch! Arsch …“

Oh Gott, sie würde diesen Arsch zu gern sehen!

Nackt.

In ihrem Bett.

Nein, halt! Das geht gar nicht.

Einen Augenblick später bog sie in die Auffahrt von Slades Haus ein, während Jack vor seinem Haus vorfuhr.

„Hast du Selbstgespräche geführt?“, rief er über den Rasen, als sie aus dem Wagen stieg.

„Was?“

„Ich konnte es wegen der Dunkelheit zwar nicht genau erkennen, aber ich hatte das Gefühl, dass ich dich im Rückspiegel Selbstgespräche habe führen sehen. Du bist ziemlich lebhaft, wenn du redest, und hast mit den Händen herumgefuchtelt, so als würdest du dich mit jemandem unterhalten.“

Sie lachte, doch selbst in ihren Ohren klang es ein wenig unecht. Würden die Peinlichkeiten heute denn nie ein Ende nehmen? „Ich habe nur gesungen. Ich singe manchmal“, log sie.

Forschend sah er einen Moment lang zu ihr herüber, entschied sich dann aber offenbar, nichts weiter dazu zu sagen. „Komm rein. Ich muss den Schlüssel erst suchen. Ich habe ihn seit Jahren nicht benutzt.“

Sie lehnte sich gegen das Auto. „Ist schon okay. Ich kann hier warten.“

„Sei nicht so stur! Komm schon rein.“

Sie stieß sich vom Auto ab, holte tief Luft und ging – na ja, hinkte, da der eine Absatz ja fehlte – über den Rasen in Slades Vorgarten hinüber zu Jack. Der schloss seine Haustür auf und trat zur Seite, um sie hineinzulassen.

„Stört es dich, wenn ich die Schuhe ausziehe? Es ist nicht so einfach, sich mit einem zwölf Zentimeter hohen Absatz an dem einen Fuß und einem flachen Schuh an dem anderen fortzubewegen.“

„Nein, überhaupt nicht. Mach es dir gemütlich. Ich bin gleich zurück.“

Chrissy konnte es sich nicht verkneifen, Jack heimlich zu beobachten. Es erstaunte sie, wie sehr er sich in all den Jahren verändert hatte. Er war schon immer hochgewachsen, und das hatte sich naturgemäß auch nicht geändert – sie schätzte, dass er jetzt mindestens einen Meter neunundachtzig war –, aber früher war er schmaler gewesen. Regelrecht mager. Und während er als Jugendlicher langes dunkelblondes Haar gehabt hatte, das ihm immer ins Gesicht gefallen war, wenn er es nicht zurückgebunden hatte, war sein Kopf jetzt rasiert. Es war keine Glatze, aber die Stoppeln waren nur millimeterkurz. Chrissy stellte sich vor, dass es sich wie Schmirgelpapier anfühlte. Es war die Art von kahlem Kopf, der bei Frauen den Wunsch hervorrief, darüberzustreichen. Sie war sich sicher, dass er es aus ästhetischen Gründen so kurz geschoren hatte, wahrscheinlich um sein Image als harter Kerl zu festigen.

Er war extrem gut gebaut, und sie war überzeugt davon, dass sich Muskeln über Muskeln unter seiner Uniform verbargen. Breite Schultern, kräftiger Hals und ein riesiger Bizeps. Die weichen, jungenhaften Züge waren verschwunden, und härtere und markantere Linien, die man nur mit zunehmendem Alter bekam, prägten jetzt sein Gesicht. Auf andere mochten seine dunkelbraunen Augen und die wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen vielleicht einschüchternd wirken, auf sie nicht; Chrissy wusste, dass sich unter der harten Schale ein weicher Kern verbarg. Okay, manchmal konnte er auch ziemlich unnachgiebig sein. Andererseits machten die Grübchen auf seinen Wangen, die immer dann erschienen, wenn er – leider viel zu selten – lächelte, den aufgesetzten Ich-bin-ein-knallharter-Typ-also-nimm-dich-in-Acht-Ausdruck wieder zunichte.

Im Augenblick bedeckte ein Bartschatten sein Gesicht, der von der Länge her ganz gut zu seiner Kopfrasur passte. Chrissy stellte sich vor, wie sich das wohl an der Innenseite ihrer Schenkel anfühlen würde. Wie kommst du auf solch einen absurden Gedanken? Passend zum Khakishirt bestand seine Polizeiuniform aus hässlichen Khakibermudas. Allerdings wirkten sie an Jack alles andere als hässlich. Die Bermudas spannten sich über seinen kräftigen Oberschenkeln. Du meine Güte, einer seiner Schenkel hatte fast den Umfang ihrer Taille! Okay, nicht ganz, denn sie war auch nicht gerade zierlich, aber wenn sie neben ihm stand, kam sie sich winzig vor.

Während Jack nach oben ging, zog Chrissy die Schuhe aus und sah sich um. Der Grundriss seines Hauses glich dem, in dem sie aufgewachsen war. Aber es sah hier längst nicht mehr so aus wie früher. Jacks Mom hatte, was die Inneneinrichtung anging, einen ausgeprägten Hang zum Kitsch gehabt. Überall hatte Schnickschnack herumgestanden, nichts war undekoriert geblieben. Aber jetzt stand Chrissy in einem schlicht, aber gemütlich eingerichteten Junggesellendomizil. „Gemütlich“ und „Junggesellendomizil“ waren eigentlich ein Widerlspruch in sich, aber das traf auf Jacks Zuhause nicht zu. Auch wenn eine weibliche Note fehlte, waren die Möbel leicht und hell, eigentlich typisch für die Häuser an Floridas Küste. Der Fernseher war groß, nahm aber nicht, wie sonst bei Männern üblich, die ganze Wand ein. Und statt ihn an die Wand zu hängen und einen Gartenstuhl davorzustellen, hatte Jack ihn auf eine hübsche hölzerne Kiste vor ein weißes Leinensofa mit blauen Kissen platziert. In der Nähe der Küche stand ein runder Holztisch mit passenden Stühlen. Sie ging um die Ecke in die Küche, die inzwischen ebenfalls renoviert worden war. Es gab neue, in Schränke aus dunklem Holz eingebaute Edelstahlgeräte, darüber eine Arbeitsplatte aus Granit. Alles war schlicht und sehr geschmackvoll. Die dem Meer zugewandte Wand war verglast worden. Wäre es nicht schon Nacht, könnte man vom Wohnzimmer aus den Ozean sehen. Sie stellte sich ans Fenster und blinzelte nach draußen. Das Meeresrauschen drang leise herein, und sie konnte vage das sich leicht im Wind wiegende Dünengras erkennen.

„Hungrig?“ Die schroffe Stimme erschreckte sie.

Sie drehte sich um und sah Jack im Türrahmen stehen. „Nein danke. Ich genieße nur die Aussicht. Oder besser gesagt, ich versuche es. Aber es ist zu dunkel. Dein Haus ist hübsch geworden. Hast du das hier alles so eingerichtet?“ Sie machte eine ausladende Handbewegung.

„Ja.“ Er nickte stolz. „Als meine Eltern ausgezogen sind, habe ich Moms Stühle mit dem Leopardendruck, die goldenen Vasen und alles, was rosa oder mit Zebramuster versehen war, entsorgt.“

Chrissy lachte. „Sie hatte schon immer einen interessanten Geschmack.“

„Den hat sie immer noch. Du solltest ihre Wohnung sehen. Schrecklich! Ich weiß nicht, wie Dad das aushält. Wie auch immer, ich bin auf Einkaufstour gegangen und habe mich mehr oder weniger für ein Komplettpaket entschieden, in dem alles farblich und auch anderweitig schön aufeinander abgestimmt war. Island-Design nannte es sich.“ Er machte Anführungszeichen in die Luft. „Da brauchte ich mir keine großen Gedanken mehr über die Einrichtung zu machen. Das hatte man schon im Möbelhaus für mich getan.“

„Trotzdem hast du guten Geschmack bewiesen. Du hättest dich ja auch für so etwas wie Space-Age-Chic aus den Sechzigerjahren entscheiden können, hast aber stattdessen etwas Schlichtes und Klassisches genommen.“ Sie kicherte nervös. Plötzlich hatte sie ihre Nerven nicht mehr richtig unter Kontrolle.

„Ist das ein Kompliment? Ich glaube, das ist das erste Mal in zwanzig Jahren, dass du etwas Nettes zu mir gesagt hast.“

„Na ja, es ist ja auch schwierig, jemandem etwas Nettes zu sagen, wenn er sich immer wie ein Arsch benimmt.“

Er wirkte ein wenig reuevoll, woraufhin sie ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie ihn – wieder einmal – beleidigt hatte. Sie hatte sich noch nie in einer solchen Situation mit Jack befunden. Es machte sie nervös. Langsam kam er auf sie zugeschlendert, und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sein Blick wanderte zu ihrem Mund, und Chrissy hatte das Gefühl, dass er sie gleich küssen würde. Das war das Letzte, was sie wollte. Küss mich nicht! Küss mich nicht! Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, als er die Hand über ihren Kopf hob und einen Schalter betätigte, bevor er wieder zurücktrat. Verdammt, wieso hat er mich nicht geküsst? Er nickte zum Fenster, und sie drehte sich um.

„Was mir aber wirklich wichtig war, ist, dass ich das Meer jederzeit vom Haus aus sehen kann. Das ist doch der Grund, warum man am Meer wohnt, oder?“

„Wow, Jack! Das ist unglaublich! Wunderschön. Das hast du toll gemacht. Wirklich toll!“ Sie musste lächeln. Jetzt, nachdem die Außenbeleuchtung angeschaltet war, konnte sie den Strand erkennen. Es war fast unheimlich, ihn so verlassen daliegen zu sehen. Sie war an die Strände von Miami gewöhnt, wo immer etwas los war. Aber das hier war anders. Es gab einen schmalen Holzsteg, der von Jacks Garten über die niedrigen Dünen mit dem Seegras hinunter zum leeren Strand führte.

Die Tatsache, dass Jack nur Zentimeter von ihr entfernt stand, verunsicherte sie, deshalb machte sie schnell einen Schritt zur Seite und wechselte das Thema. „Was ist jetzt mit dem Schlüssel?“

Er blickte sie verschämt grinsend an und streckte ihr einen mit Schlüsseln gefüllten Schuhkarton entgegen. In der Kiste klimperte es. „Einer davon ist es.“

„Mist.“ Sie ließ sich auf den direkt vor ihr stehenden Stuhl fallen.

„Ich weiß. Es sind eine Menge Schlüssel da drin. Lass uns nach nebenan gehen und ausprobieren, welcher passt.“

„Ich will dir nicht zur Last fallen. Bist du noch im Dienst?“

„Nein. Ich war auf dem Weg nach Hause, als ich dich gestoppt habe.“

„Na ja, ich bin sicher, ich halte dich von irgendeinem Date ab oder so. Ich kann das auch allein tun.“ Sie griff nach dem Karton, doch er entwand ihn ihr.

„Kein Problem. Ich hatte lediglich vor, mir ein Sandwich zu machen und mich zusammen mit Drogo für die nächsten achtundvierzig Stunden vor den Fernseher zu setzen. Aber wenn es dich nicht stört, kurz zu warten, dann würde ich gern schnell duschen gehen. Ich hatte eine Zwölf-Stunden-Schicht und fühle mich verschwitzt.“

„Drogo?“, fragte sie und runzelte die Stirn.

„Mein Chihuahua“, erklärte er. Er öffnete eine Tür, und heraus kam der kleinste Hund, den Chrissy je gesehen hatte.

„Ach, du meine Güte!“, quietschte sie und klatschte in die Hände. Sie liebte Tiere und streckte sofort die Finger nach dem winzigen Hund mit dem Stachelhalsband aus, doch Jack nahm den Kleinen hastig hoch, ehe sie die Gelegenheit hatte, ihn zu berühren.

„Er beißt. Er hat mindestens ein Viertel Pitbull in sich“, meinte Jack trocken.

„Oh, bitte. Wie kann so ein winziger süßer Hund beißen?“ Chrissy streckte erneut die Hand nach dem Tier aus, doch Jack versteckte ihn hinter seinem Rücken. Seine Hand war größer als der ganze Hund. „Das ist doch ein Witz, die Sache mit dem Pitbull, oder?“ Chrissy lachte.

„Glaub mir. Er beißt und knurrt. Er zieht das volle Programm ab. Ich schätze, er hat einen Napoleon-Komplex. Daher auch der Name Drogo.“

Verwirrt schaute Chrissy ihn an. „Äh … tut mir leid. Ich glaube, ich weiß nicht, wer oder was Drogo ist.“

Jack wedelte mit der Hand. „Macht nichts. Khal Drogo ist nur der Name eines Charakters aus einer Fernsehserie, die ich mir gern angucke. Der Typ ist groß und tough, und ich war gerade dabei, mir die Sendung anzuschauen, als dieses kleine Monster vor meiner Tür auftauchte und bellte und knurrte. Eben genauso wie dieser Kerl aus der Serie. Ich habe die Tür geöffnet und eigentlich einen Schäferhund erwartet.“

„Hm. In den Orten, in denen ich mich in den letzten Jahren aufgehalten habe, gab es nicht viele Fernseher.“ Sie legte die Hände auf den Rücken und trat ein wenig vor, um mit dem kleinen schwarz-braunen Hund mit den großen hervorstehenden Augen zu sprechen. Das Tier war das komplette Gegenteil seines Besitzers. „Ich bringe dich dazu, dass du mich magst, wart nur ab, kleiner Drogo“, sprach Chrissy auf den Hund ein.

Jack lachte. „Nenn ihn bloß nicht klein, das hasst er. Und sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte. Er hat schon diverse Leute gebissen. Die hatten ihn alle unterschätzt, dein Bruder eingeschlossen. Genau genommen beißt er deinen Bruder ziemlich oft“, meinte er grinsend, als er den Chihuahua wieder auf den Boden setzte.

„Okay, okay. Ich passe auf. Na los, geh schon duschen! Ich mache dir ein Sandwich, während ich warte.“

„Bist du sicher?“, fragte er.

„Natürlich. Magst du immer noch Schinken, Käse und Butter, oder bist du inzwischen erwachsen geworden und nimmst Mayonnaise, Senf, Salat und Tomaten?“

„Bloß nicht. Noch immer Butter. Gemüse ist für Mädchen. Schinken und Käse ist Männeressen“, erklärte er, wobei er die Augenbrauen hochzog. „Ich fasse es nicht, dass du dich daran noch erinnerst.“

„Wie sollte ich das je vergessen? In dem Sommer, bevor ich auf die Highschool kam, habe ich dir und Slade jeden Tag Sandwiches geschmiert, damit ihr groß und stark werdet und den anderen im Ring in den Hintern treten konntet.“

„Stimmt. Das wusste ich gar nicht mehr. Das war das Jahr, in dem wir mit dem Kämpfen im Cage, im Käfig, angefangen haben. Wie kam es eigentlich, dass du dich damit abplagen musstest, uns Sandwiches zu machen?“

„Dad hat mich dazu verdonnert. Er meinte, bei dem vielen Training braucht ihr zwei ordentlich Kalorien, und er wollte nicht, dass ihr vor Hunger umkippt. Er war bei der Arbeit, genauso wie deine Eltern, und da ich in dem Sommer nicht viel zu tun hatte, wurde mir die Ehre zuteil. Ich habe immer mal versucht, den Belag zu variieren, aber du wurdest immer sauer, wenn da nicht Schinken, Käse und Butter drauf waren. Slade wollte immer Erdnussbutter und Marmelade.“

„Tja, Schinken, Käse und Butter findest du im Kühlschrank, und das Brot ist in der Speisekammer. An die Arbeit, Weib.“ Er zwinkerte ihr zu und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.

„W…was tust du da?“, stotterte sie.

„Oh, entschuldige. Reine Gewohnheit. Ich werfe mein Hemd immer in den Korb im Hauswirtschaftsraum.“ Er deutete auf eine Tür hinter Chrissy. „Einmal die Woche kommt eine Hilfe und wäscht und bügelt sie für mich.“

Unsicher, wohin sie blicken sollte, obwohl sie nichts lieber tun würde, als seine nackte Brust anzustarren, beeilte Chrissy sich, nach den Zutaten für das Sandwich zu suchen, während Jack seine Waffe und den Waffengürtel auf die Arbeitsplatte legte, das Hemd in einen großen Korb schmiss und nach oben verschwand. Während sie das Sandwich zubereitete, legte sie für Drogo ein paar kleine Bissen Schinken und Käse neben ihre Füße. Vorsichtig kam der Hund näher und näher, bis er schließlich die Bissen erreichte, an ihnen schnüffelte und dann, ohne sie anzurühren, davonstolzierte. Chrissy lachte. Sie kannte Tiere, und mit ein paar leckeren Happen konnte man sie immer für sich einnehmen. Sie würde schon noch herausfinden, was der Kleine gerne mochte, und ihn dazu bringen, sie zu mögen. Es würde ihr bestimmt gelingen, Drogos Zuneigung zu gewinnen, selbst wenn das alles war, was sie während ihres Aufenthaltes hier in ihrer Heimatstadt erreichen konnte.

Nachdem sie Jacks Sandwich fertig hatte, legte sie es auf einen Teller, tat noch ein paar Kartoffelchips dazu, die sie in der Speisekammer gefunden hatte, und holte ein Bier für ihn heraus. Anschließend ließ sie sich auf die Couch fallen. Es war ein langer Tag gewesen.

Heute Morgen, nachdem sie fast ein Jahr lang mit ihm zusammen gewesen war, hatte Gary per SMS mit ihr Schluss gemacht. Ja, per SMS! Die Trennung hatte sie verletzt, aber sie war nicht am Boden zerstört. Was ihr am meisten zusetzte, war die beiläufige Art und Weise, wie er ihr den Laufpass gegeben hatte. Dabei hatte sie in Gary durchaus Potenzial gesehen. Er war ein netter Typ. Genau wie Chrissy, war auch er Arzt. Aber anders als sie war er ein unanständig reicher Schönheitschirurg, der nicht verstehen konnte, wieso sie sich in „gottverlassenen Ländern herumtreiben“ musste. Er wollte eine Frau, die zu Hause blieb, seine Babys bekam und ihm das Essen servierte, wenn er abends aus der Klinik kam. Was glaubte er eigentlich, in welcher Zeit er lebte? In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts? Er hatte gehofft, sie würde es bald leid sein, ständig durch die Welt zu gondeln, und stattdessen bei ihm in Miami bleiben. Was sie ihm nicht erzählt hatte, ehe er die unsensible SMS geschickt hatte, war, dass sie ihren Vertrag mit der Non-Profit-Organisation, für die sie in die Länder der Dritten Welt gereist war, nicht verlängert hatte. Stattdessen hatte sie ein Jobangebot im Miami-West-Krankenhaus annehmen wollen. Gerade einmal zwanzig Minuten lang hatte sie nach der SMS Zeit gehabt, in Selbstmitleid zu baden, zu toben und Rache zu schwören, als sie einen Anruf von Slade erhalten hatte. Ihr Bruder hatte ihr erzählt, dass er wegen Körperverletzung verhaftet worden war und jetzt Geld für die Kaution brauchte. Kaum eine Stunde später hatte sie sich also notgedrungen auf dem Weg gen Norden nach Tarpon Springs befunden.

In ihrer Heimatstadt eingetroffen, war sie direkt zum Gefängnis gefahren, wo sie mit Officer Ramos gesprochen hatte, der sich um den Fall kümmerte. Er hatte sie informiert, um welche Zeit Slades Anklageerhebung am nächsten Morgen stattfinden sollte, und ihr geraten, einen Kautionsagenten zu engagieren. Sie hatte darum gebeten, Slade kurz sehen zu dürfen. Officer Ramos erlaubte ihr einen fünfminütigen Besuch. Natürlich war Slade wie immer gewesen, lässig und entspannt. Als wäre es keine große Sache, dass seine Schwester eine fünfstündige Autofahrt hinter sich hatte und viel Geld hinblätterte, um ihn aus dem Gefängnis zu holen. Kein „Danke, Schwesterchen, dass du alles stehen und liegen gelassen hast, um meinen Arsch aus dem Gefängnis zu retten.“ Nicht einmal ein „Wie geht es dir, Schwesterchen? Wir haben uns ja jahrelang nicht gesehen.“ Nichts. Aber sie war es ihm und ihrem Dad schuldig, dass sie ihm half. Er war schließlich ihr Bruder. Er würde das ja auch für sie tun.

Vielleicht.

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