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Im Bett mit meinem besten Freund

hier erhältlich:

Es gibt normale Frauen. Und es gibt Georgia Ray Miller. Ihre Strumpfhose hat garantiert immer ein Loch. Ihre beste "Freundin" ist eine Liebesfilm-tolle Tunte. Und wenn andere zur Arbeit gehen, kommt Georgia manchmal erst nach Hause. Doch sie hat den einen großen Traum: Sie will Blues-Sängerin werden. Nach einer Nacht mit dem besten Freund begreift Georgia, dass sie New Orleans - der Stadt von Jazz und Soul - den Rücken kehren muss, um ihre Bestimmung zu finden.


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955762551
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Erica Orloff

Im Bett mit meinem besten Freund

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Claudia Wuttke

Image

RED DRESS INK™ TASCHENBUCH


RED DRESS INK™ TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Diary Of A Blues Goddess

Copyright © 2003 by Erica Orloff

erschienen bei: Red Dress Ink, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by Zefa, Hamburg

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln

ISBN: 978-3-95576-255-1

www.reddressink.com

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Ich lebe in einem Haus mit einer toten Prostituierten.

Genauer gesagt: Ich lebe in einem Haus mit ihrem Geist. Das glaubt zumindest meine Grandma Nan.

New Orleans ist voll mit solchen Geistern. Wir sind so an sie gewöhnt, dass wir uns gar keine Gedanken mehr darüber machen. Nebelverhangene Friedhöfe gehören hier zu den touristischen Hauptattraktionen, und die Häuser in der St. Charles-Street sind von Gespenstern bevölkert. Halloween ist hier wichtiger als Weihnachten – den Drag Queens jedenfalls. Es gibt noch praktizierende Voodoo-Priesterinnen, und der Aberglaube ist so fest in unserem Alltag verankert wie die Sümpfe und die Flusskrebse.

Unser Haus in New Orleans ist ein ehemaliges Bordell und seit 1890 im Familienbesitz. Meine Grandma hat es selbst noch kurzfristig betrieben, bis Sadie Jones vor gut sechzig Jahren ermordet wurde. Ein Freier mit einer Vorliebe für rothaarige Huren mit Alabasterhaut und grünen Augen hat sie in einem der Zimmer im ersten Stock erstochen. Er war sehr wortkarg und hatte diesen leeren Blick eines besessenen Menschen, und meine Großmutter hat sich nie verziehen, ihn nicht abgewiesen zu haben. Ein anderer Freier, ein Senator mit schmalem Oberlippenbart, der sich jeden Freitag im Bordell vergnügte, hat den Mann mit einer einzigen Kugel aus seiner Pistole zur Strecke gebracht, als er ins Freie flüchtete. Grandma wiegte Sadies Kopf in ihrem Schoß, als die junge Frau starb. Danach machte meine Großmutter das Bordell dicht, heiratete meinen Großvater – ihren treuesten Kunden – und schickte sich an, eine der illustresten Personen in New Orleans zu werden, einer Stadt, die für ihre illustren Bewohner bekannt ist.

Ich zog zu meiner Großmutter in das Haus mit den zwanzig Schlafzimmern, als ich achtzehn war. Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass Sadies Geist durchaus eigene Vorstellungen vom anderen Geschlecht hatte. Laut Nan ließ sie immer, wenn sie der Meinung war, dass man den falschen Mann mit nach Hause gebracht hatte, die Tür des Zimmers zuschlagen, in dem sie umgebracht worden war. War sie mit dem Erwählten einverstanden, herrschte friedvolle Ruhe.

Wenn ich mir meine Bilanz der letzten zehn Jahre ansehe, gab es in New Orleans eine Menge Lärm durch die zugeknallte Tür.

2. KAPITEL

„Oh mein Gott, warum musste sie sterben!“ klagte Dominique wie eine alte Griechin, die sich über die Leiche eines geliebten Menschen wirft. „Warum nur? Sag mir warum?“

„Hier! Nimm!“ erwiderte ich und reichte ihr gelassen ein Taschentuch. Mit dicken Kissen im Rücken und eingekuschelt in Dominiques pinkfarbenes Laura-Ashley-Quilt saßen wir auf ihrem Bett und sahen uns nun schon zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen Magnolien aus Stahl an, die Schale mit dem in geschmolzener Butter schwimmendem Popcorn und den Krug mit Sex on the beach auf dem Nachttisch. Man muss dazu wissen, dass Dominque eine Vorliebe für Drinks hat, deren Name das Wort Sex oder etwas ähnlich Anzügliches enthalten.

„Ich verstehe einfach nicht, wie du da so ungerührt sitzen kannst, Georgia Ray Miller. Das ist nicht normal“, schluchzte sie in meine Richtung.

„Dominique, du weißt, dass Shelby am Ende stirbt. Du weißt es, seit wir uns das Video auf der High School zum ersten Mal angesehen haben und durch jedes x-te weitere Mal, dass wir es seitdem geguckt haben. Ich kann einfach nicht mehr darüber weinen. Ich habe meine letzte Träne in dieser Sache vor fünf Jahren vergossen.“

„Aber die Friedhofszene …“ Unter Schluckauf putzte sie sich die Nase.

Drag Queens sind selten besonders subtil. Man gebe Dominique eine Federboa, Plateauschuhe und eine neue platinfarbene Perücke und beobachte sie dabei, wie sie kokett darin umherstolziert. Aber ich schwöre, eine Drag Queen im schönsten Nachtcluboutfit – und Dominique besitzt einige davon – ist nichts im Vergleich zu einer Drag Queen mit Liebeskummer.

Zum Glück war Dominique derzeit aber unser einziger Mitbewohner mit gebrochenem Herzen, denn was sie einem abverlangte, kam praktisch einem Vollzeitjob gleich. Einer der Vorzüge, in einem Haus mit zwanzig Zimmern zu wohnen, war, dass man verlorenen und einsamen Seelen jederzeit Zuflucht gewähren konnte. Nan schickte selten jemanden wieder weg. Sie hatte lediglich ein paar Regeln: keine Waffen, keine Drogen. Ansonsten war jeder meiner Freunde herzlich eingeladen, so lange zu bleiben, wie er oder sie es für nötig hielt. Die Miete ist ein Witz. Und jeder ist mal mit Kochen und Küchendienst dran. Nach dem Karneval vor zwei Jahren, als jeder, inklusive meiner Wenigkeit, nach Hause gestolpert kam und seinen oder ihren Lover in den Armen eines anderen liegen sah, kamen wir auf erkleckliche sechs gebrochene Herzen. Aber das ist der Karneval in New Orleans: Man betrinkt sich gnadenlos, rennt mit nacktem Busen durch die Gegend und versaut sich gerne mal sein Leben.

Dominique seufzte und warf ihren Kopf in die Kissen wie Gloria Swanson in Sunset Boulevard. Ich betrachtete ihre kakaofarbene Haut, die langen, leicht geschwungenen schwarzen Wimpern, die sich um Augen legten, die so dunkel waren, dass man die Pupille nicht von der Iris unterscheiden konnte – fast kohlschwarz. Sie war wunderschön, mit Wangenknochen, die so hoch hervorstachen, dass sich darunter regelrecht eine kleine, spitz zulaufende Mulde bildete, und ihr Kinn war zierlich und mit einem winzigen Grübchen in der Mitte gesegnet. Selbst ohne ihren üblichen Samt-Lippenstift von Mac und den wie Schmetterlingsflügel geschminkten Augen sah sie atemberaubend aus. „Ich will nie wieder was mit einem schwulen Mann zu tun haben, Georgia. Das schwöre ich dir.“ Sie sah mich an. „Und schwule weiße Männer sind die schlimmsten.“

„Nein, verheiratete Männer sind die schlimmsten. Ach, was rede ich? Sie taugen alle nichts, Dominique. Es sind eben Männer, ob Hetero oder Homo … Dich nehme ich davon natürlich aus. Du bist ja auch eine Frau, selbst wenn … Teile von dir es nicht sind.“

„Na vielen Dank.“ Sie nahm das zerdrückte Taschentuch und tupfte sich damit über die Augen. „Ist meine Wimperntusche verlaufen?“

„Verlaufen? Schätzchen, die hast du mit den Tränen in der halben Stunde davongewaschen, die die Nierentransplantation gedauert hat. Hör mal, Dominique, zwei Tage im Bett sind genug.

Komm schon … es ist nicht das erste Mal, dass du Terrence verlässt.“

„Aber dieses Mal gibt es kein Zurück, Georgia.“

„Sag das nicht.“

Sie hob den Kopf vom Kissen und schüttelte ihn energisch. „Und ob ich das sage.“

„Aber dieses Trübsalblasen, dieses …“ Ich wedelte mit der Hand in Richtung Fernseher, „endlose Julia-Roberts-beim-Sterben-zusehen hilft auch nicht weiter. Du musst wieder raus ins Leben. Mich siehst du schließlich auch nicht im Nachthemd den ganzen Tag Trübsal blasen, oder?“

Sie hob den Blick. Ich trug eine schwarze Schlafkombination von Victoria’s Secret. „Entschuldige bitte, aber ich sehe dich sehr wohl in einem Nachthemd.“

„Das hat was mit weiblicher Solidarität und Bequemlichkeit zu tun. Zum Fernsehen. Ich meinte das im übertragenden Sinne und wollte sagen, dass ich auch nicht andauernd über mein Liebesleben jammere und klage. Weder im Nachthemd noch sonst wie.“

„Oh oh.“ Sie rollte mit den Augen. „Georgie, du ziehst die miesen Typen magnetisch an. Du könntest eigentlich gleich ein Schild an die Haustür hängen: ‚Verheiratete Kerle und Müttersöhnchen: bitte hier melden.‘“

„Sicher, aber das war mein altes Ich. Jetzt habe ich ein System.“

Sie schniefte. „System? Das nennst du ein System?“

Sie meinte Sadies Geist.

„Ja, das nenne ich ein System.“

„Eine Tür knallt, und das verstehst du als ein Zeichen. Kindchen, das ist kein System, sondern schlicht dummes Zeug.“

„Du hast gut reden, du bist ja gerade erst eingezogen. Wart nur ab. Sie wird auch für dich noch mit der Tür knallen. Aber so oder so, ich habe wenigstens ein System. Ich bin nicht diejenige, die sich heute Nachmittag durch zwei Boxen Tissues geheult hat.“ Ich sah auf den Papierkorb, der vor zerknüllten Taschentüchern fast überquoll.

„Aber darum ging es doch. Was verstehst du denn daran nicht? Das ist das Liebeskummer-ABC. Magnolien aus Stahl ist unser Herz-Schmerz-Film Nummer eins. Und wir haben ihn geguckt, um mal richtig zu heulen. Wir beide. Aber du hast nicht mal eine Träne vergossen. Du bist eine so kaltherzige Frau, Georgia Ray. Kalt.“ Sie tat, als müsste sie erschauern. „Vielleicht trifft auf dich sogar das B-Wort zu.“

„Ich bin das B-Wort.“ Ich streichelte Dominiques weiße Perserkatze Judy Garland. „Dominique, bei mir ist alles in Ordnung. Ich singe jedes Wochenende auf einer Hochzeit, und demnächst werde ich auf der zweiten Hochzeit genau derselben Leute singen, die für ein oder zwei Jahre so wahnsinnig verliebt in jemand anderes waren.

Wenn ich lange genug dabei bleibe, werde ich auch noch auf ihrer dritten oder vierten Hochzeit singen.“

„Zuckerstückchen, wenn du versuchst, mich aufzuheitern, versagst du kläglich.“

„Dafür sind beste Freunde da!“ Ich zwinkerte ihr zu. „Aber es ist doch wahr. Guck dir die Feiern an. Jedes Wochenende wird eine andere Horde Männer in die Stadt gespült – Zahnärzte, Versicherungsvertreter, Börsenmakler, Ingenieure, Proktologen. Ich sehe diese Typen mit ihren Eheringen – oder mit dem viel sagenden weißen Strich, wo der Ehering sein sollte –, und ich weiß sofort, dass sie eine Frau, 2,2 Kinder, einen Hund namens Spike, einen Zaun um ihr Grundstück und einen Minivan in der Einfahrt ihres sonstwo gelegenen Zuhauses haben, und trotzdem machen sie jeder Frau auf der Feier den Hof – inklusive der Bandsängerin. Das macht einem nicht gerade Mut, an die Kraft der Liebe zu glauben.“

„Nun, ich glaube weiter an sie“, sagte Dominique. „Und auch wenn du zu zynisch oder dickköpfig bist, um es zuzugeben, du glaubst auch noch daran.“

Judy drehte sich auf den Rücken und streckte sich, um mir auf die ihr eigene Katzenart zu verstehen zu geben, dass sie am Bauch gekrault werden wollte. Es war Dominiques zweiter Aufenthalt in unserem Haus, das von uns auch gern das Heartbreak Hotel genannt wurde. Das letzte Mal war sie zu Terrence zurückgegangen, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie es wieder tun würde, wenn er heute mit einem Dutzend malvenfarbener Rosen – ihrer Lieblingssorte – vor der Tür stehen würde.

„Nein, das stimmt nicht“, erwiderte ich wenig überzeugend.

„Ach ja, schon begriffen. Wie kommt es eigentlich, dass ich noch immer mit einer solchen Lügnerin befreundet bin?“

„Genug jetzt. Du musst an deine Show denken, du hast genug Auszeit zum Heulen gehabt. Es ist an der Zeit, dieses Zimmer hier zu verlassen und das zu tun, was du am besten kannst, meine Liebe.“ Ich stand auf und ging zu der Truhe am Fußende des Bettes, die voll war mit Accessoires für ihre Auftritte. Ich zog eine purpurfarbene Federboa hervor und legte sie mir schwungvoll um den Hals, worauf sich ein paar der Federn verabschiedeten und durch die Luft wirbelten. Ich stimmte die erste Zeile von Gloria Gaynors Klassiker „I will survive“ an, das Paradelied von Dominiques Show.

„Das ist mein Song, Herzchen.“

„Dann leg los.“ Ich drehte mich um. „Oder solltest du eventuell deine wunderbare Stimme verloren haben?“

Sie stöhnte auf, als wenn ich sie geschlagen hätte.

Man sollte einer Drag Queen niemals unterstellen, nicht mehr singen zu können. Ungeschminkt wie sie war und ohne die falschen Wimpern sprang Dominique aus dem Bett, griff nach einer anderen Boa aus der Truhe und – sich vor meinen Augen in den Bühnenmenschen verwandelnd, der sie war – stimmte sie die ersten Takte an.

„Holt diese Frau von der Bühne!“ rief ich in gespieltem Entsetzen. „Die hat ja einen Bart!“

Endlich musste Dominique lächeln. „Danke, Georgia, ich hab dich lieb!“ Sie umarmte mich und drückte dabei meinen Kopf an ihre Brust. „Mädchen, du bist so süß – und so lecker.“

„Ich habe dich auch lieb. Obwohl du dir dringend die Brust rasieren solltest.“

Panisch machte sie einen Schritt zurück. „Oh Gott! In sechs Stunden bin ich dran. Bis dahin habe ich noch so allerhand zu wachsen und zu rasieren.“ Sie stürmte in Richtung Dusche auf der anderen Seite des Flurs. Bevor sie aber aus dem Zimmer verschwunden war, drehte sie sich noch einmal zu mir um und warf mir einen Luftkuss zu.

Lächelnd sah ich ihr nach, hob die Katze hoch und gab ihr ein Küsschen auf die Nase. Dann ging ich in mein eigenes Zimmer und öffnete die Flügeltüren, die auf den Balkon führten. Er vergrößerte meinen Raum optisch und war von einem aufwändig gearbeiteten schmiedeeisernen Geländer umgeben. Für die Nächte, in denen ich bei einem Glas Wein in den Mond gucken wollte, hatte ich eine Chaiselongue darauf postiert. Und während der Faschingsumzüge hatte ich von diesem günstigen Standort Konfetti auf die unter mir vorbei defilierenden Mengen geworfen. Als ich mich heute über das Geländer lehnte, sah ich lediglich ein paar Touristengrüppchen und Schulkinder, die sich im Französischen Viertel tummelten; ansonsten war die Straße erstaunlich verlassen. Obwohl es erst Mai war, herrschte eine drückende Hitze. Die Luftfeuchtigkeit in New Orleans ist unangenehm hoch, was dem ohnehin herrschenden allgemeinen Wahnsinn nicht gerade zuträglich ist.

Um die kühle Luft nicht nach draußen entweichen zu lassen, schloss ich die Türen wieder, ging zu meinem Bett und ließ mich auf die Daunendecke fallen, die sich unter dem Gewicht rechts und links von mir so aufplusterte, dass ich fast darin versank.

Mit Dominiques Rückkehr war das Heartbreak Hotel offiziell wieder eröffnet worden.

Liebeskummer kommt stets im Dreierpack. Das ist auch so einer von Nans abergläubische Grundsätzen. Ich sah auf den Deckenventilator, der langsam seine Runden drehte. An diesem Ort war es keine Frage des Wann. Es war eine Frage des: Wer würde der Nächste sein?

3. KAPITEL

Ich musste nicht lange warten. Schon am nächsten Morgen stand Jack, der Gitarrist meiner Band, vor der Tür, seine Reisetasche in der einen Hand, den Fender-Gitarrenkoffer in der anderen.

„Es ist vorbei“, sagte er seufzend und stellte seine Tasche ab. „Ist mein altes Zimmer noch frei?“

Ich lief auf ihn zu, umarmte ihn und strich ihm mechanisch eine blonde Locke aus dem Gesicht. „Du weißt, dass das Heartbreak Hotel dir immer offen steht“, sagte ich, machte einen Schritt zur Seite und zeigte zur Geste des Willkommens mit ausladender Handbewegung auf das Treppenhaus. Er wuchtete die Tasche, die so voll war, dass sie an den Nähten spannte und offensichtlich alles enthielt, was er besaß, erneut hoch und durchschritt die Milchglastür des ehemaligen Bordells. Ich folgte ihm und klatschte innerlich in die Hände, während ich meine Hüften in einer Art Wirhassen-Sara-und-sind-so-froh-dass-sie-weg-ist-Tanz vor und zurück schwang.

„Sie hat mich betrogen“, rief er mir über die Schulter hinweg zu, ohne seinen Schritt über die mit Teppichboden belegten Stufen zu verlangsamen. „Mit dem Mann ihrer Kusine. Und du kannst deine Begeisterung über die Trennung ruhig etwas besser tarnen.“

„Ich bin nicht begeistert.“ Aus großen Augen, die meine Unschuld beteuern sollten, sah ich ihn an. „Nur leicht angenehm überrascht“, murmelte ich schwer atmend.

Als er oben angekommen war, drehte er sich um. „Ich habe dich genau verstanden.“ Darauf kehrte er mir wieder den Rücken zu und schritt den Flur hinab. „Ich weiß, dass ich ein Idiot war, mich auf sie einzulassen. Ich weiß es ja. Aber auf deinen Jack-ich-hätte-es-dir-gleich-sagen-können-Blick kannst du trotzdem verzichten.“

Ich bemühte mich, meine Gesichtszüge so weit unter Kontrolle zu bringen, dass ich mitfühlend wirkte, und nickte. Ferner unterdrückte ich den Impuls, jeweils zwei der verbleibenden Stufen auf einmal zu nehmen und frohgemut zu seinem alten Zimmer, das zwei Türen neben meinem lag, zu hüpfen. Er öffnete und stellte seine Tasche und den Gitarrenkoffer auf den orientalischen Gebetsteppich, den einer von Nans ehemaligen Liebhabern, der mysteriöse Mr. Punjab, aus Indien mitgebracht und ihr zusammen mit einem Brief, in dem er ihr seine ewige Ergebenheit schwor, überreicht hatte.

Ich setzte mich auf das Bett, worauf Jack zu mir kam und sich langsam ausatmend neben mir niederließ. „Wie in alten Zeiten. Zwei Jahre ist es wohl her, oder? Dass ich Leigh nach dem Karneval im Bett mit ihrem Ex erwischte?“

„Ja. Das war das Jahr, in dem wir alle den Verstand verloren haben.“

„Na ja, ich kann nicht sagen, dass es mir Spaß macht herauszufinden, dass meine Freundin mich an der Nase herumführt, aber ich liebe diesen Ort. Ich bin fast erleichtert aus unserer Wohnung ausgezogen, weil ich wusste, dass ich herkommen kann. Weil ich wusste, dass du da bist. Und Nan.“

„Und Dominique.“

„Sie ist auch hier? Gott stehe uns bei. Ja … selbst Dominique. Sie sollte es allerdings bloß nicht wagen, mir mit irgendwelchen von ihren Schlammmasken oder Aromatherapien zu kommen. Dann sperre ich sie in das Zimmer mit Sadies Geist.“

„Sie glaubt nicht an Sadie.“

„Na, warte mal, bis sie einen Abend allein hier ist und die Tür zuschlagen hört.“ Jack legte einen Arm um meine Schulter und zog mich enger an sich. „Hat es außer mir jeder gewusst?“

„Was gewusst?“

„Halt mich nicht zum Narren, Georgie. Das mit Sara.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Jack. Du schienst immer verliebter in sie gewesen zu sein als sie in dich, aber es war nicht meine Aufgabe, dir das zu sagen. Und auch nicht die der anderen.“

„Hey, das nächste Mal … sofern es denn ein nächstes Mal gibt … gebe ich dir die Erlaubnis, mich aufzuhalten. Einer von euch, egal ob du, Gary, Tony oder Mike, sollte mich zu Verstand bringen. Ihr seid meine besten Freunde. Ihr habt geradezu die Pflicht, mich davon abzuhalten, Frauen wie sie zu daten.“

„Und was genau ist eine Frau wie sie?“

„Ärger. Doppelter Ärger. Ich weiß es nicht. Es ist … Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich sie erkennen kann, wenn ich eine sehe. Aber du kannst das. Das hat mit der weiblichen Intuition zu tun.“

„Weibliche Intuition. Schwachsinn. Hör mal … Sie hat mit jedem Mann geflirtet, der ihr über den Weg lief. Aber selbst wenn wir versucht hätten, etwas zu sagen, hätte es doch nichts gebracht. Leute, die verliebt sind, haben keine Ohren für so was – erst recht nicht Männer. Du schaltest den Autopiloten an. Und dein Pilot ist dein Schwanz.“

Er grinste mich spitzbübisch an. „Dann sprichst du besser mit Jack Junior da unten und hältst ihn davon ab, noch einen Fehler zu begehen.“

„Es gehört zu meinen Grundsätzen, die Schwänze meiner Freunde nicht mit ihrem Vornamen anzusprechen. Ich denke, Jack Junior kommt ganz gut allein klar.“

„Das ist aber nicht sehr nett, den Armen so orientierungslos zurückzulassen.“

„Seine Orientierung ist eindeutig: Sie zeigt nach oben – und zwar hart. Jack, du – und Jack Junior – bist immer hinter den blonden, blauäugigen Schönheitsköniginnen mit Eiswasser in den Adern her. Erkennst du da kein Muster?“ Ich schüttelte den Kopf. „Warum sollte gerade ich dich auf deinen hundsmiserablen Frauengeschmack aufmerksam machen?“

„Weil ich ein Mann bin. Wir sind dumm. Das ist ein genetischer Fehler in unserer Chromosomenstruktur. Das gebe ich gern zu.“

„Na, Gott sei Dank. Wird aber auch Zeit.“

Jack und ich waren Freunde, seit er zu unserer Band, Georgia’s Saints, gestoßen war und unseren alten Gitarristen Elvis ersetzte, der fortan lieber den „King“ channeln wollte. Kurz darauf tauchte Elvis auf einer hochkarätigen Hochzeit im Polyesteranzug anstelle des geforderten Smoking auf. Es war traurig zu sehen, wie er nach Ruhm und Reichtum in Vegas – oder wenigstens nach einem Auftritt – strebte, als er in jener kleinen Kapelle „Love me tender“ zum Besten gab. Zum Glück fand Jack schnell in unseren Rhythmus, und bald war es, als wäre er schon immer Teil der Band gewesen.

Ich ließ mich auf das Bett zurückfallen. „Das mit Sara tut mir Leid. Ich habe sie nie gemocht, aber das heißt nicht, dass ich mich freue, dass du die kleine Hexe mit einem anderen erwischt hast.“

Jack ließ sich ebenfalls neben mich in die Kissen fallen. „Du quillst vor Mitgefühl ja förmlich über, Georgia.“

„Ja. Ich weiß. Das ist eine meiner vielen Macken.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob du so viele hast, wie du denkst. Aber egal. Ich nehme an, ein Abend mit hinreichend Tequila, ein paar Bars und etwas Rock ‘n’ Roll im Heartbreak Hotel und ich bin in null Komma nichts über sie hinweg.“

Ich rollte mich zu ihm und küsste ihn auf sein eindeutig zu stoppeliges Kinn. „Die Einstellung lob ich mir … dein Gesicht ist viel zu kratzig. Du brauchst eine Dusche und eine Rasur. Ich lege mich vor der Hochzeit heute Abend noch mal ein Stündchen aufs Ohr.“

„Bist du nicht gerade erst aufgestanden?“

„Doch, aber das heißt bei uns Geschöpfen der Nacht ja nichts.“ Ich versuchte, meiner Stimme einen transsilvanischen Akzent zu geben.

Er rekelte sich. „Sara und ich haben die ganze Nacht gestritten. Etwas Augenpflege könnte mir auch gut tun.“

Ich stand auf und ging zur Tür. „Ruh dich aus. Und pass auf, dass Sadie dich nicht erwischt.“

„Ich fürchte mich mehr vor der herumwandelnden Drag Queen und ihren Schlammmasken.“

Stunden später hämmerte Jack wie wild gegen meine Tür. „Bist du fertig?“

„Natürlich nicht.“

Er kam in mein Zimmer und sah in seinem schwarzen Frack ausgesprochen gut aus. „Ach du lieber Himmel, du bist ja noch nicht mal angezogen!“

„Du weißt ganz genau, dass ich aus genetischen Gründen unfähig bin, pünktlich zu sein.“

Das ist meine Standardantwort. Ich benutze sie auch im Zusammenhang mit Strumpfhosen. Und Paillettenkleidern. Beides zusammen ist eine tödliche Kombination. Paillettenkleider sind unerbittlich. Wenn man sich etwas anziehen will, das förmlich in die Welt hinausschreit, dass man sich mit Unmengen von Schokoriegeln, gefolgt von eimerweise Heavenly-Hash-Eis verwöhnt hat, dann entscheide man sich für Pailletten. Und wenn man die Welt daran erinnern beziehungsweise demonstrativ zur Schau stellen möchte, dass man das Laufband in seinem Schlafzimmer maximal als Garderobenständer nutzt, auch dann sollte man Paillettenkleider tragen. Wenn man den Beweis antreten will, dass Gott im Himmel einen höchst fragwürdigen Sinn für Humor hat, dann werfe man einen Blick in meinen Kleiderschrank. Der Witz ist nämlich, dass ich jedes Wochenende Paillettenkleider trage. Ich lebe förmlich in Pailletten.

Und so stand ich also in meinem besten Slip – was lediglich heißt, dass meine beiden Katzen keine Löcher reingebissen hatten – und einem Body vor dem Schrank und starrte auf die sechs Paillettenkleider wie auf einen glitzernden Regenbogen – in dem Wissen, das ich keins von ihnen anziehen wollte.

„Gary bringt uns um“, sagte Jack, dessen Haare noch nass vom Duschen waren.

„Du hast dich rasiert. Dein Gesicht wirkt jetzt viel jungenhafter. Süß.“

„Sara stand auf das leicht verruchte Musikeroutfit inklusive Drei-Tage-Bart, also ist damit jetzt Schluss. Und sie hat Ohrringe gehasst …“ Er zeigte auf den kleinen Diamanten in seinem linken Ohr. „… also ist er jetzt wieder da. Aber hör jetzt auf zu reden, Georgia, und zieh dich an.“

„Ich hasse diese verfluchten Kleider. Jedes einzelne von ihnen“, jammerte ich. „Toll, ihr könnt schön den klassischen schwarzen Smoking tragen, aber ich muss mich zurechtmachen wie ein Relikt aus den Siebzigern.“

„Was würdest du denn sonst anziehen? Willst du im BH auf die Bühne?“

„Nein, aber das hier will ich nicht.“ Ich hielt ihm ein silbernes Paillettenkleid hin. Sängerin in einer Hochzeitsband zu sein oder in der DiscoÄra stecken zu bleiben, lief so ziemlich auf das Gleiche hinaus. Man erinnere sich an sämtliche Lieder, die man je von ABBA gehört hat, und stelle sich vor, sie jedes verflixte Wochenende des Jahres zu singen, während Grandmas und Tantchen, oft selbst in Paillettenkleidern, die Tanzfläche betraten, meistens mit ihren präpubertären Enkeln und Neffen im Arm, die ihrerseits die Augen verdrehten und sich wünschten, die Hölle ihrer Privatschule endlich hinter sich zu lassen. Noch schlimmer ist es allerdings, auf gesellschaftlichen Empfängen zu spielen. Wenn sich etwa zweitausend Zahnärzte auf der Tanzfläche des großen Ballsaals drängeln und zur Luftgitarre den Text mitschmettern. Da sieht man eine ganze Menge Goldkronen. Jetzt muss man nur noch bedenken, dass man selbst kein Privatvergnügen hat, weil man zum Privatvergnügen anderer Leute singt, und dann hat man eine Ahnung, wovon ich spreche.

Georgia’s Saints ist die bekannteste Hochzeitsband in New Orleans. Auf Empfängen spielen wir gern auch ein paar Zydecos – ein dem Blues verwandter Musikstil aus der Region. Aber die meisten weißen Männer können sowieso nicht tanzen, und den Zydeco kriegen sie einfach nicht hin, egal wie unverschnörkelt wir ihn auch spielen mögen; so gesehen ist unser Repertoire relativ anspruchslos, obwohl die Jungs exzellente Musiker sind und meine Stimme selbst einen Ballsaal voll mit Bestattungsunternehmern dazu animiert, aufzustehen und das Tanzbein zu schwingen. Mit Gary, dem Keyboarder, bin ich seit meinem ersten Jahr auf dem College befreundet, und die Band haben wir vor sieben Jahren gegründet, noch im Studium, zuerst, um uns ein bisschen Geld dazu zu verdienen, aber als wir dann ein Jahr im voraus gebucht wurden, haben wir uns ganz der Musik verschrieben. Gary bewegt sich allerdings in anderen Sphären. Er mag ABBA. Er macht gern den Ententanz vor, er singt gern vor Grandmas in Paillettenkleidern, und er bringt einen Laden voll mit Computerfreaks aus dem Silikon Valley gern dazu, sich in einer Reihe aufzustellen und zur gleichen Zeit die gleichen Drehungen zu vollführen. Als dieser ganze Macarena-Irrsinn begann, gab es für ihn kein Halten mehr. Ansonsten verliert Gary immer mehr Haare, ist kaum größer als einssechzig, inzwischen verheiratet und mit drei Kindern gesegnet, die in schlappen vier Jahren geboren worden sind – weiß er am Ende nicht, was das bedeuten mag? –, ständig in Geldnot und von daher offen für jeden Job, der sich uns bietet. Daneben ist er aber auch ein hervorragender Keyboarder und ein talentierter Entertainer, wenngleich seine Art der Unterhaltung sich auf Songabende der „KC and the Sunshine Band“ beschränkt. Ich vergebe ihm seine Ticks, die zum Beispiel in der strikten Weigerung gipfeln, dem Tod der Discomusik endlich ins Auge zu sehen – das Hippste, was er musikalisch gerade noch zulässt, ist die gute alte Madonna. Ebenso vergibt er mir allerdings auch meine Macken.

Er akzeptiert, dass ich immer zu spät komme, regelmäßig eine Laufmasche in der Strumpfhose habe, für Schokoriegel sterben könnte, nicht selten mit abgeblättertem Nagellack die Bühne betrete und, um noch einen draufzusetzen, Lippenstift auf den Zähnen habe und dass ich auf Hochzeiten immer weine … nein … laut schluchze. Irgendwas überkommt mich einfach, also habe ich immer ein Taschentuch im Ausschnitt parat. Außerdem benutze ich nur wasserfesten Mascara. Dominique macht da was falsch. Erstens nimmt sie entgegen meiner Ratschläge noch immer Wimperntusche, die verläuft. Und zweitens will sie mir den Glauben an die wahre Liebe zurückgeben, obwohl ich ihn – entgegen meiner Behauptung – noch gar nicht verloren habe. Ich weiß nicht, ob ich weine, weil ich die Liebe zwischen zwei Menschen, die zum ersten Mal als Mann und Frau den Tanzboden betreten, so großartig finde oder weil ich nicht sicher bin, ob sie wirklich ewig hält. Oder weil einer der fantastischsten Männer in meinem Leben genau wie ich lieber Strumpfhosen und Wimperntusche trägt und sich meine Kleider ausleiht. Oder weil mir noch nie jemand einen Antrag gemacht hat.

Ich würde später gern heiraten. Aber nach allem, was ich als Sängerin auf Hochzeiten gesehen habe – Bräutigame, die sich mit einer Brautjungfer in die oberen Stockwerke davonstehlen, Verwandte der Braut, die sich am Ende mit den Verwandten des Bräutigams eine wüste Schlägerei liefern, sogar Bräutigame, die am großen Tag einfach nicht auftauchen, waren schon dabei – denke ich eher, dass ich wohl wie Nan alt werde und weiterhin im Kreis meiner Freunde und ein paar Katzen in unserem Haus lebe. Ich werde die ‚verrückte Katzenfrau‘ von New Orleans sein. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass in dieser Stadt mit all ihren exzentrischen Menschen ein so begehrter Titel längst vergeben ist.

„Georgie! Nun entscheide dich schon! … Na los! Was ist denn mit dem roten?“ Unsanft brachte Jack mich zu der akut peinigenden Frage zurück, was ich auf einer Hochzeit tragen sollte, bei der ich schon vor zwanzig Minuten hätte erscheinen müssen. Er nahm das rote Kleid vom Bügel und warf es mir entgegen.

„Gala-Outfit!“ Ich hängte es wieder in den Schrank. „Spießige Brauteltern wollen keine Sängerin in Rot. Sie bevorzugen Silber, Hellblau … oder auch Lavendel!“

„Dann nimm das silberfarbene. Silber ist super!“

„Mit dem silbernen habe ich aber ein kleines Problem.“

„Welches?“

„Rate mal.“

„Deine scheiß Strumpfhose.“

Ich nickte. „Das silberne hat einen hüfthohen Schlitz.“ Strumpfhosen sind der Fluch meines Lebens. Die Menschheit ist in der Lage, Leute auf den gottverdammten Mond zu schicken, Proben vom Mars zu nehmen, aber sie schafft es nicht, laufmaschensichere Strumpfhosen zu erfinden.

Wenn Männer Seidenstrümpfe tragen würden, dann schwöre ich, dass sie eine ganze Abteilung des Pentagons darauf ansetzen würden, welche zu erfinden. Ich weiß, dass es ach so sexy ist, gar keine zu tragen, aber ich mag den Bauch-weg-Effekt des Höschens. Es sind die Laufmaschen, die mich umbringen.

„Georgie … bei allem, was recht ist, aber wir haben keine Zeit, in einer Drogerie anzuhalten und ein neues Paar zu kaufen.“

„Ich weiß.“ Ich schüttelte den Kopf. Dank der Tatsache, dass ich nicht genug Muße hatte, um mein Haar glatt zu fönen, rollte es sich langsam zu Kringellocken auf. Meine Haare führen ein Eigenleben. Ich sehe aus wie eine Weiße – mehr oder weniger jedenfalls. Die Leute fragen mich, ob ich Spanierin sei „oder so was“. Das „oder so was“ trifft es ziemlich genau. Nans Mutter war Schwarze, mein Vater hatte mütterlicherseits einen Kubaner im Stammbaum, und mein Großvater väterlicherseits war ein halber Cherokee. Was sich von der Seite meiner Mutter durch die Generationen hinweg vererbt hat, ist neben der Liebe zu New Orleans und der Musik, eine gehörige Portion Stolz, ein ausgeprägter Starrsinn und vor allem sehr eigenwilliges Haar.

„Mach endlich, Georgie“, drängte Jack. „Zieh einfach das silberne an, und wir überlegen auf der Fahrt, was wir mit der Strumpfhose machen.“ Es ist gut möglich, dass Jack mehr über Strumpfhosen weiß als der Chefeinkäufer von Hanes or L’eggs. Was sage ich? Jedes einzelne Bandmitglied ist in einer Spielpause schon das ein oder andere Mal losgerannt, um mir eine neue Strumpfhose zu besorgen. Und Jack und Gary haben mir im Notfall auch schon mal Tampons besorgt. In einer Band mit vier Jungs zu spielen ist, als hätte man vier Brüder.

Ich warf mir das silberne Kleid über, Jack machte den Reißverschluss zu, klemmte ein paar Haare mit ein und erreichte damit, dass ich vor Schmerz aufschrie. Nachdem wir meine Locken befreit und Jack die ausgerissenen Haare aus dem Reißverschluss gezogen hatte, griff ich nach meinem Kosmetiktäschchen und der einzigen Strumpfhose mit Laufmasche, die noch so klein war, dass ich mit Tipp-Ex Schlimmeres eventuell verhindern konnte. Ja, mir ist auch klar, dass durchsichtiger Nagellack die bessere Variante wäre, aber wenn keiner zur Hand ist, tut es Tipp-Ex auch. In gewisser Weise verklebt es das Loch mit dem Bein. Ich habe es auch schon mal mit Sekundenkleber versucht, dabei aber meinen Finger beinahe nicht mehr vom Oberschenkel abbekommen.

Jack und ich nahmen die Treppe im Flug, winkten und schickten Nan Luftküsse, die auf ihrem Balkon saß und uns dabei beobachtete, wie wir uns in Jacks alten Buick quetschten. Wenn ich eigenwillige Haare habe, dann besitzt er ein eigenwilliges Auto. Ich rutschte auf den Beifahrersitz und begann, mich zu schminken, während er den Schlüssel ins Zündschloss steckte. Betend, der Wagen möge anspringen, bekreuzigten wir uns gleichzeitig. Er tat es. Wenn das kein Beweis für die Macht von Wundern und der Schutzheiligen von Jacks Auto war, die wir die Heilige Mary Emmanuel der Buicks getauft hatten. Jack steuerte den Wagen aus der Stadt in Richtung des Grundstücks, auf dem die Hochzeit stattfinden sollte.

In dem kleinen Spiegel auf der Sonnenblende konnte ich zusehen, wie mein dunkelroter Lippenstift über meine Wange schmierte, da ich ihn in genau dem Moment auftragen wollte, als wir ein Schlagloch erwischten. Ich seufzte. Was zum Teufel tat ich eigentlich? Wie war aus mir eine Hochzeitssängerin in einem Paillettenkleid mit löchrigen Strumpfhosen und von Katzen zerkauten Slips geworden? Was ich wirklich will, hat beileibe nichts mit Zahnarztversammlungen oder Hochzeiten zu tun. Oder mit zwei Dutzend dreizehnjähriger Jungs, denen ich auf ihrer Bar Mitzvah-Feier den Limbo beibringen soll (was sie dazu animiert, mir unter das Kleid zu gucken). Oder den Macarena.

Ich möchte Bluessängerin sein.

Aber ich bin die Gefangene einer Angst, die so erdrückend ist, dass sie mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt – und ich mich dabei ertappe, wie ich mit Sadie rede. Das Publikum auf einer Hochzeit ist dankbar. Die Hälfte der Leute sind vermutlich so betrunken, dass sie ein schiefes C nicht von einem geraden A unterscheiden können. Sie sind glücklich mit Discomusik und schmalzigen Standards. Auf den Empfängen ist es mehr oder weniger das Gleiche. Die Leute tun für ein Wochenende so, als hätten sie weder Frau noch Kind und lassen in den großen Ballsälen die Sau raus. Echte Blues- oder Jazzliebhaber dagegen sind ein ganz anderer Schlag. Sie sind besessen vom Jazz, darum wird aus dem einen ein Musiker in einer Hochzeitsband und aus dem anderen ein John Coltrane. Und die großen Frauen, die den Blues gesungen haben, sind zu Legenden geworden, die ihre Schatten weit vorauswerfen. So habe ich mich also vor langer Zeit für den einfachen Weg entschieden – vor so langer Zeit, dass ich mir manchmal schon einrede, ich sei zufrieden mit dem, was ich erreicht habe. Zufrieden damit, ABBA zu singen statt Billie Holiday.

Manchmal denke ich, ich habe es nicht verdient, Bluessängerin zu werden. Ich hatte ein Dutzend Beziehungen, die allesamt zu Bruch gegangen sind. Den Einen aber habe ich nie getroffen. Ich habe noch nie einen Mann so geliebt, dass ich mir das Herz aus dem Leib reißen würde für die Chance, ihn wiederzusehen. Ich habe noch nicht genug gelitten.

Ich bin auch nicht wie Michelle Pfeiffer in Die fabelhaften Baker Boys, die sich auf dem Piano rekelt, ohne sich dabei so plump anzustellen, dass sie gleich runterfällt. Ebenso wenig bin ich wie Nicole Kidman in Moulin Rouge, die kopfüber auf einer Schaukel hängt und damit einem Saal voller Männer ein Seufzen abringt. Ja, Kaugummipop zu singen ist das eine, wie eine echte Chanteuse im Rampenlicht zu stehen jedoch etwas vollkommen anderes.

Während ich also auf den richtigen Zeitpunkt warte, um mich in eine Bluesgöttin zu verwandeln, die Nerven zu haben, im gleißenden Licht zu stehen und ein Lied zu interpretieren, das zu den Leuten spricht und die Luft mit einer Energie auflädt, dass jede Berührung einen elektrischen Schlag auslösen würde, singe ich Texte von Liedern, die ich am liebsten gar nicht kennen würde.

„Get into the Groove“ von Madonna. Ich kenne es.

„My Heart Will Go On“ von Celine Dion. Ich kenne es.

„Oops! I Did It Again“ von Britney Spears (ich kenne es und hasse es ganz besonders).

„Celebration“ von Kool & The Gang. Das kann ich im Schlaf …

Es sei denn – natürlich –, wir sind auf der Hochzeit des Jahres, und ich erlebe den Schock meines jungen Lebens.

An jenem besonders sonnigen – ungewöhnlich trockenen – Tag im Mai, der geradezu so schön war, dass man glauben konnte, der Brautvater hatte das Wetter bei Gott persönlich bestellt, was sogar sein konnte, denn wenn Gott käuflich war, dann würde Roger Winthrop ihn kaufen, an jenem Tag also sollte Cammie Winthrop Dr. Robert Carrington III heiraten, seines Zeichens plastischer Chirurg, der einen im Nu von dem Fett im Heavenly-Hash-beschwerten Oberschenkel befreien konnte. Cammies Vater war der König unter New Orleans Großgrundbesitzern, und das Fest, auf das Jack und ich in seinem Buick zurasten, sollte in dem Ballsaal auf der familieneigenen Plantage der Winthrops stattfinden. Das ist die andere Seite von New Orleans: Plantagen und von moosbewachsenen Eichen umgebene Herrenhäuser im Kolonialstil. Da beschleicht einen das Gefühl, es könnte jeden Moment jemand kommen und einen in ein Korsett und einen Reifrock zwängen.

Endlich erreichten Jack und ich das Anwesen der Winthrops. Gary kam uns entgegen, als wir den Festsaal betraten.

„Müsst ihr mich immer so quälen?“ fragte er, um sogleich die Hände abwehrend in die Höhe zu heben. „Ich will gar keine Antwort. Ich weiß schon … bevor ihr mal pünktlich seid, würden eher die vier Reiter der Apokalypse durch das Französische Viertel galoppieren.“ Er sah auf mein Bein. „Tipp-Ex? Bitte … bitte, ich flehe dich an, sag mir, dass das kein Tipp-Ex ist. Georgia … wenn du unterwegs bist, um Strumpfhosen und Tampons zu kaufen, warum kannst du dir nicht angewöhnen, gleich mehrere Monatsrationen zu erstehen? Nimm bei den Strumpfhosen zum Beispiel einfach immer gleich alle in deiner Größe. Ich meine, warum kenne ich mich besser mit dem Bauch-weg-Effekt aus als du? Warum? Sag es mir!“

Gary war völlig außer sich, und seine Stimme schwang sich zu Höhen auf, die normalerweise nur von Dominique erreicht wurden. Hatte ich schon erwähnt, dass die Winthrop-Hochzeit das gesellschaftliche Ereignis des Jahres war? Wenn wir gut spielten, was uns nach der Zeit, die wir bereits zusammen waren, mühelos gelingen sollte, würden wir uns in den nächsten zwei Jahren vor Hochzeiten und Bällen nicht retten können. Aber Gary war drauf und dran durchzudrehen. Meine Unzuverlässigkeit und ABBA ließen ihn regelmäßig ausrasten. Ihn so ausflippen zu sehen, tröstete mich ein wenig über die Pailletten hinweg.

„Du solltest eine Valium nehmen, ernsthaft. Geh an die Bar und genehmige dir einen.“

„Georgie, du bist der Grund, warum ich von Tranquilizern lebe“, fauchte Gary. „Siehst du das?“ Er zeigte auf die Schweißperlen, die sich an seinem schmalen Haarkranz gebildet hatten. „Die hast du zu verantworten.“

„Schön. Aber dafür bin ich der einzige Mensch in der Band, der ein Paillettenkleid voll ausfüllen kann.“

Ende der Durchsage.

Kurz darauf legte ich all mein Herzblut in meine Stimme und hoffte, wie ich es lächerlicherweise so oft tat, dass an einem der Zehnertische, die die Tanzfläche umgaben, ein Aufnahmeleiter nur darauf wartete, mich zu entdecken – ich sagte doch: immer der einfache Weg. Ich weiß ja, dass es nicht gerade wahrscheinlich ist, auf diese Weise entdeckt zu werden, aber unmöglich ist es auch nicht. Genau wie die Erfindung von laufmaschensicheren Strumpfhosen.

Auf besonderen Wunsch sang ich an diesem Tag den berühmten, die Massen begeisternden Hochzeits-Muss-Song „Celebration“. Hat schon mal jemand darüber nachgedacht, mit wie wenig Text dieses Lied auskommt? Im Grunde muss man nichts weiter tun, als unablässig die Wörter „Celebrate good times“ und „Come on“ zu wiederholen. Man muss nicht Billie Holiday sein, um das zu schaffen. Aber Cammie Winthrop bestand darauf, mit ihrer blonden Schwesternschaft zu tanzen (es war keine einzige Brünette mit von der Partie, obwohl wir vorher Wetten abgeschlossen hatten, wie viele echte Blonde dabei waren, was die Anzahl deutlich reduzierte). Und was immer Cammie wollte, bekam Cammie auch. Einschließlich eines Fünftausend-Dollar-cremeweißen-Vera-Wang-Kleids und eines Diamantdiadems.

Ich stand auf der kleinen Bühne, die am Rand der Tanzfläche aufgebaut worden war, und funkelte in meinem silbernen Kleid, unter dem ich nicht eine, sondern zwei Strumpfhosen trug. Na ja, das ist nicht ganz richtig, denn eigentlich steckte jedes Bein in einem der beiden Paare. Angekommen war ich in dem mit Tipp-Ex verarzteten, in das ich mich auf der Fahrt zur Plantage gezwängt hatte und das eine weiß verschmierte Laufmasche im linken Bein zierte. Gary, der mein Talent bezüglich zerschlissener Strumpfhosen von jeder verdammten Hochzeit kannte, hatte fast immer eine neue Strumpfhose Größe B mit Bauch-weg-Effekt dabei, die er in seinem Instrumentenkoffer deponierte. Darauf hatte ich die ganze Zeit spekuliert. Ich hatte sie ihm aus der Hand gerissen, als er sich damit über die feuchte Stirn wischen wollte und war direkt auf die Toilette gerannt, inzwischen auch schon so schweißgebadet, dass sich meine Haare schneller und entschiedener lockten als sonst. Als ich mir das neue Paar anzog, riss ich mir mit dem Nagel ein Loch in das andere Strumpfbein. Wie schon so oft verfluchte ich die Genies, die Gesteinsproben vom Mars holen, aber keine laufmaschensichere Strumpfhose erfinden konnten. Dennoch gelang es mir mit wenigen kreativen Schnitten mit einem Steakmesser, das ich mir in der Küche geliehen hatte, eine nach meinem Dafürhalten perfekte Strumpfhose zu basteln. Das rechte Bein in der einen Strumpfhose, das linke in der anderen, trug ich zwei Höschen mit Bauch-weg-Effekt, die mich entsprechend einschnürten.

Und ich sang das eingangs bereits erwähnte, ziemlich idiotensichere „Celebration“.

Und ich sah über die tanzenden Paare.

Und vergaß den Text zu „Celebration“.

Weg. Vergessen. Als hätte ich anstelle meines Gehirns nur noch ein schwarzes Loch im Kopf. Nichts mehr außer „la, la, la“. Gary warf mir einen fragenden Blick zu. Jack sah mich verzweifelt an, als wollte er mir die Worte allein durch seine Willenskraft ins Gedächtnis beamen. Aber es war hoffnungslos. Denn dort, auf der anderen Seite der Tanzfläche, stand, etwas älter zwar, aber noch genauso souverän und gut aussehend, Casanova Jones.

Der einzige Mann, bei dem ich, wenn auch nur kurz, hätte glauben können, dass er Der Eine wäre.

4. KAPITEL

Den Schrei konnte man einmal rund um die Welt hören. Oder zumindest im gesamten Französischen Viertel.

Am Tag nach der Hochzeit und meinem kurzfristigen Befall von akutem Gedächtnisverlust kam meine Freundin Maggie vorbei, um mir die Haare zu schneiden und Dominiques Augenbrauen passend zu ihrem neuen Platin-Outfit zu färben. Sobald ich ihnen erzählt hatte, dass ich über Casanova Jones gestolpert war, stieß Dominique diesen Schrei aus und fing an, mich zu umarmen und auf und ab zu hüpfen.

„Hast du es auf der Herrentoilette mit ihm getrieben?“ rief sie.

„Nein, das habe ich nicht.“

„Bei den Damen?“

„Hör schon auf.“

„Du hast also daran gedacht.“ Sie trat einen Schritt zurück und wedelte wie vor einem ungezogenen Kind mahnend mit dem Zeigefinger.

„Herrgott steh mir bei, du bist unmöglich.“

„Der Kerl muss was haben, wenn du darüber nachdenkst, ihn in den Waschräumen zu nehmen“, sagte Maggie und schob mich in Richtung des Waschbeckens. „Ich will Details hören. Wie ist er? Und was zum Teufel ist das für ein Name: Casanova Jones?“

„Das kann ich euch jetzt noch nicht sagen. Ich stecke noch im Haarschock. Was hast du denn damit angestellt?“

Maggie arbeitet in einem ziemlich angesagten Salon im Garden District. Sie verdient ihr Geld eimerweise – und zwar bar auf die Hand. Mit dem, was sie an Geld macht, kann keine Hochzeitssängerin mithalten – obwohl ich annehme, dass das bedauerlicherweise rein gar nichts sagt. Und sie muss noch nicht mal Paillettenkleider dafür tragen. Maggie gilt als eine der besten Stylistinnen der Stadt, und sie schneidet sogar einigen bekannten Schauspielerinnen die Haare, wenn sie mal wieder auf Dreharbeiten im Lande sind. Aber obwohl sie alles über Schnitte, Strähnchen und Farbkontraste weiß, trägt sie eine Frisur, die man wohlmeinend vielleicht mit „experimentell“ umschreiben würde. Sie hält es für Kunst. Was für eine Art Kunst, kann ich allerdings nicht sagen. An diesem speziellen Sonntag würde ich bei der Farbe am ehesten auf Himbeer tippen, wenngleich es sich eigentlich eher um eine eigenwillige Mischung aus Rot und Purpur handelte. Und die Haare waren schief geschnitten. Ich meine ungleich.

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