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In einer Nacht ein ganzes Leben

Als Buch hier erhältlich:

Was bleibt am Ende eines Lebens?

Rita ist zehn Jahre alt, als ihre Eltern sie mit ihren beiden Schwestern ins französische Exil schicken und selbst zurückbleiben. Sie lassen im Kampf gegen die Franco-Faschisten ihr Leben. Die drei Mädchen wachsen im Südfrankreich der Vierzigerjahre auf, elternlos, heimatlos, sprachlos. Viele Jahrzehnte später wird eine junge Frau in Paris auf dem Boden ihrer Wohnung sitzen und innerhalb einer Nacht neun an sie gerichtete Briefe lesen. Briefe, die Rita, ihre Großmutter, verfasst hat, und die von einer unzähmbaren Frau und ihrem Leben erzählen. Von der Entwurzelungserfahrung des Exils, von großer Liebe und schmerzlichem Verlust, von Schwesternschaft und Musik und davon, was es bedeutet, ein Zuhause zu finden.

«Ein hinreißender Roman über das Exil. Ein kleines Schmuckstück.»
Le Parisien

«
Ein zarter, poetischer und pointierter Roman.»
RTL

«
Ein bewegendes Debüt über eine Reihe unangepasster, von Entwurzelung geprägter Frauen.»
Elle

«
Dieses Epos vergisst man nicht.»
Le Figaro


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749901494

Leseprobe

Für meine Eltern, meinen Bruder
und meine gesamte Familie.

Für Nino.

Schweigen und sich verzehren ist die größte Strafe,
die wir uns auferlegen können.

FEDERICO GARCÍA LORCA

Die Entwurzelung bewirkt für den Menschen
eine Frustration, die seine Seele
auf die eine oder andere Weise lähmt.

PABLO NERUDA

Prolog

Die Möbel haben wir zur Seite geschoben, Opa und ich, und die ganze Nacht getanzt, unter Tränen, das hat uns gutgetan. Irgendwann ist meine Tochter Nina aufgewacht und hat mitgetanzt. Wir haben sie bereits heillos mit unserem Virus angesteckt. Heute Mittag mochte ich Opa dann kaum allein lassen. Jetzt, da meine Großmutter tot ist, bleibt ihm nichts mehr.

Zu Fuß, keuchend, komme ich auf dem Montmartre an, unter einem Arm meine Tasche, auf dem anderen meine schlafende Tochter. Ich bin so erschöpft von meiner Trauer, dass ich mir plötzlich vorkomme wie meine Großmutter, als sie vor achtzig Jahren die Pyrenäen überquerte. Zitternd. Verloren. Um ihre Heimat gebracht. So wie ich von nun an um ihre Gegenwart gebracht bin.

So viele Menschen sind gekommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, mein Großvater und ich kannten nicht einmal die Hälfte der Trauergemeinde. Was für Geheimnisse diese Schlawinerin wohl mit ins Grab genommen hat … Dass die beiden ersten Plätze in ihrem Herzen uns vorbehalten gewesen waren, machte Opa und mich umso stolzer.

Mir tun die Beine weh. Die Stufen zum Sacré-Cœur scheinen sich verdreifacht zu haben, so wie an den Abenden, an denen ich betrunken nach Hause komme. Ich bleibe stehen. Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht, wie Abuela immer sagte.

Ich öffne die Tür zu meiner Wohnung, schalte das Licht ein, und da steht sie. Die Kommode. Bei mir zu Hause. Mitten im Wohnzimmer. Was gleichermaßen bedeutet, mitten in der Küche. Selbst nach ihrem Tod lässt der Zauber meiner Großmutter nicht nach. Dieser Gedanke bringt mich zum Lächeln. Und zum Weinen. Dann zum Begreifen. Was soll ich mit dieser verdammten Kommode nur machen? Dreißig Quadratmeter, das reicht für Nina und mich. Aber dreißig Quadratmeter mit der Kommode zu teilen, das wird schon schwieriger.

Ich war vier, als das rätselhafte Objekt unserer Begierde im Haus meiner Großmutter auftauchte. Die Erinnerung an dieses Ereignis ist noch so frisch, als wäre es gestern gewesen. Wie oft haben meine Cousins und ich versucht, unsere Nase in die Kommode zu stecken, in fieberhafter Erregung, als würde der Schubladenregenbogen uns anziehen wie Quatschmagnete: die kleinen Schlüssel an jeder einzelnen Schublade, die nur danach schrien, gedreht zu werden, die vergoldeten Metallbeschläge an den Ecken, die sie für uns zu einer uneinnehmbaren Festung machten. Aber jedes Mal stieß unsere Oma einen der schrillen Schreie aus, die ich bis heute nur von ihr kenne und die uns radikal abschreckten. Dann machten wir uns blitzschnell aus dem Staub. Oft mündeten diese gescheiterten Versuche in einem großen Familienrat, bei dem wir, die junge Generation, uns unsere sagenhafte Omathologie ausdachten.

»Und wenn in der gelben Schublade ein Foto von mir und meiner siamesischen Schwester liegt, die gestorben ist, als wir getrennt wurden? Das würde meine Narbe oben am Kopf erklären …«

Mein kleiner Cousin Maxime hatte eine Theorie zur blauen Schublade: »Ich glaube, ich weiß, welches Geheimnis Abuela da drin versteckt hat: Eigentlich bin ich der Bruder von Yannick und nicht sein Cousin. Da muss doch irgendwas sein. Ich sehe ihm viel ähnlicher als dir. Und weil Mama bei deiner Geburt Komplikationen hatte, konnte sie danach bestimmt keine Kinder mehr kriegen, und deswegen hat sie mich geschenkt bekommen, als Trost.«

Unsere Fragen zur Kommode blieben jedoch unbeantwortet. Um die Abuela dazu zu bringen, mir ihren kostbaren Schatz zu offenbaren, versuchte ich meine Position als Lieblingsenkelin auszuspielen. Voller Stolz nannte sie mich ihre »Sonnenblume«. Doch da war nichts zu machen. Es war immer meine Großmutter, die bestimmte, die die Zügel in der Hand hatte. Es ist wie mit ihrem Essen: Zuerst ist die Verlockung unwiderstehlich, sie überrumpelt dich, und dann hat ihr scharfes Temperament dich in seiner Gewalt. Aber nach dem Essen hast du noch einen köstlichen Geschmack im Mund, und das ist beruhigend, denn es gibt dir das Gefühl, innig geliebt zu werden.

Auf diesen Augenblick habe ich so lange gewartet, dass ich jetzt, da ich ihn erlebe, beinahe umkomme. Nachdem meine Geduld unzählige Jahre auf die Probe gestellt wurde, erfahre ich nun endlich, weshalb Abuela so viel Aufhebens darum machte, die Geheimnisse, die in diesen zehn Schubladen schlummern, vor uns zu verbergen. Sie nannte sie ihre Erinnerungskapseln.

Ich habe meine Tochter ins Bett gebracht. Sie ähnelt ihr so sehr. Hoffentlich werde ich eine genauso gute Mutter wie Abuela es für mich war. Ich habe eine Platte von Ennio Morricone aufgelegt. Abuela. Alle nannten sie so. Mit ihren dunklen Augen und dem dunklen Teint passte das gut zu ihr: die Abuela. Il Padrino. La Abuela. In meiner Familie jedenfalls nennt man die Großmutter von Generation zu Generation Abuela.

Als ich mir einen Tee kochen will, schiebe ich mich an der Kommode vorbei. Unvermittelt kommen mir die Tränen, unvermittelt legt sich ein Lächeln auf mein Gesicht, wie zwei Tischnachbarn, die sich nicht verstehen. Ich spüre es in den Fingerspitzen, ich bin wieder acht Jahre alt, diese Palette an Gefühlen, die von einem fiebrigen Sehnen bis zu dem wehmütigen Bewusstsein reicht, am Beginn eines neuen Kapitels zu stehen. In mir röhrt es wie der Motor einer Harley. Ich reiße mich zusammen. Wenn sie eines nicht ausstehen konnte, dann Gefühlsduselei. Ich habe sie niemals weinen sehen, und ich wusste, dass sie sich vor allem für mich wünschte, dass ich stark war, unerschütterlich, wie sie. Was ich auch war. Beinahe. Was ich gern gewesen wäre.

In unserer Familie redete man viel, laut und vor allem mit dem Ziel, einander nichts zu sagen. Das einzige Mal, dass sie auf eins meiner »Ich hab dich lieb« reagierte, sagte sie: »Wir haben dich auch gern.« Ein vollkommener Reinfall. Trotzdem habe ich nicht aufgehört, es ihr zu sagen. Irgendwann gefiel mir diese Einbahnstraße sogar. Es verging keine Sekunde, in der ich nicht spürte, wie ihre Liebe mir entgegenströmte. Worte und Zärtlichkeiten waren nicht nötig. Oder aber sie bedachte den Hund damit, streichelte ihn und sah dabei mich an. Er gab die Streicheleinheiten anschließend bereitwillig an mich weiter, so lag eine gewisse Logik darin.

Die riesige Kommode aus massiver Eiche hat zehn Schubladen. Drei mal drei, nicht exakt ausgerichtet, und darunter, für sich, eine kleinere rosafarbene. Meine Faszination für Verbotenes hat mit den Jahren nicht abgenommen, es kommt mir vor, als würde ich mit dem Feuer spielen. Ich betrachte die zehnte Schublade, die kleinste, die, die dort nichts zu suchen hat. Die geheimnisvollste.

Ich habe keine Kontrolle mehr über meine Hand und klammere mich an den Schlüssel wie jemand, der in einen Abgrund stürzt und versucht, sich an einem Ast festzuhalten. Mir wird schwindelig bei dem Gedanken an das, was ich gleich entdecken werde. Langsam drehe ich den Schlüssel um, ziehe die Sekunden in die Länge, ehe sich der Schleier endgültig hebt.

Die Schublade ist bis obenhin gefüllt, das spüre ich unter meinen feuchten und zitternden Händen. Von der Halskette aus Nudeln bis zum Aschenbecher aus Salzteig, keines meiner Meisterwerke fehlt. Sie hat absolut alles aufgehoben, was ich jemals für sie gebastelt habe. Ein Festival der Abscheulichkeiten, aufbewahrt, als handelte es sich um Schätze. Erinnerungen kommen hoch. Ich stehe auf und gehe im Zimmer auf und ab. Als wäre ich noch nicht bereit, die große Reise anzutreten. Die rosafarbene Schublade mag vorerst genug verraten.

Ich ziehe ein Foto von mir und meinen Cousins hervor, das uns vor dem Wohnwagen zeigt, den Opa und Abuela jeden Sommer auf dem Campingplatz von Narbonne-Plage mieteten. Unser Lausbubenlächeln und die Lebensfreude auf unseren Gesichtern beleben das vergilbte Papier. Wir waren glücklich. Wir hatten keinerlei Probleme damit, Kopf an Fuß, natürlich mit ihnen zusammen, im Bett unserer Großeltern zu schlafen. Im Gegenteil: Es war jedes Mal ein Drama, wenn einer von uns zu groß wurde und aufs Feldbett umziehen musste, um seinen Platz an einen Jüngeren abzutreten. Abuela und Opa waren unser Leben. Ganz besonders mein Leben. Als Kind fühlte ich mich bei ihnen rundum behütet. Ich hoffe, dass auch ich ihnen dieses Gefühl vermitteln konnte, als die Jahre begannen ihnen zuzusetzen.

Abuela war der Zement in unserer Familie. Vielleicht tat man uns auch keinen Gefallen damit, uns alle im Café in Marseillette in einen Block aus Beton zusammenzugießen. Doch wenn die Abuela entschieden hatte, dass etwas gut für dich war, blieb dir kein Spielraum. Am besten fand man sich damit ab. Es ist schließlich nicht verkehrt, einer Sippe anzugehören.

Aus dem Augenwinkel schiele ich zur Kommode hinüber. In einer Ecke der rosafarbenen Schublade entdecke ich einen Umschlag, darauf erkenne ich die akkurate Handschrift meiner Großmutter. Und wenn es davon noch mehr gibt? Allmählich beginne ich zu verstehen.

Jetzt muss ich es angehen: bei der ersten Schublade anfangen auf die Gefahr hin, dass ich nicht aufhöre, bis der Morgen graut. Ich habe die Platte von Morricone umgedreht. Ich setze mich vor die Kommode mit den bunten Schubladen.

Nun ist es an uns beiden, Abuela. Überrasch mich. Wieder einmal.

1.
Das Taufmedaillon

Hier hast du mein Taufmedaillon, cariño, meinen einzigen Begleiter auf der Reise, der »etwas wert« war. Ich sollte es hüten wie meinen Augapfel, hatte man mir eingebläut, und so fühlte ich mich reich, weil ich es bei mir trug. Ich stellte mir vor, dass es mir aus jeder Lage heraushelfen würde, sobald ich es verkaufte.

Für die damalige Zeit war ich spät getauft worden. Meine Eltern und ihre lästige moderne Einstellung! Sie wollten abwarten, bis ich mich selbst für einen Gott entscheiden konnte. Zum Glück mischten meine Großeltern sich ein, denn ich wollte unbedingt so sein wie die anderen, wie die Menschen um mich herum, anerkannt und beschützt vom selben Gott wie sie, von keinem anderen. Am Tag meiner Taufe benahm ich mich so ernst, was sage ich, so feierlich, dass es meine Mutter unheimlich rührte und meinen Vater unheimlich erheiterte. Ich trug ein hübsches Kleid aus weißer Seide. Meine Familie besaß ein paar Felder mit Maulbeerbäumen, auf denen wir Seidenraupen züchteten, deswegen kamen die Weber uns bei besonderen Anlässen entgegen. Einmal verwüstete mein Großvater eines seiner Felder, als er sich aus den Zweigen seiner Maulbeerbäume Flügel bastelte. Er hatte uns alle zu seinem Jungfernflug eingeladen … und zu seiner Bruchlandung! Er machte keine Bekanntschaft mit dem Himmel, sondern mit fürchterlichen Schmerzen in der rechten Hüfte, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. Aber das, mi cielo, ist eine andere Geschichte.

Auf meinem Medaillon siehst du das Bildnis von Sankt Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden. Es ist schon komisch, denn das Exil war mein erster Schritt aus Spanien heraus und Frankreich mein letztes Reiseziel. Von wegen Globetrotterin! In der Woche vor unserer Abreise nähte meine Mutter winzige Taschen in jede unserer Unterhosen. »Rita, nachts bindest du dir dein Medaillon um den Hals oder um dein Handgelenk, und morgens steckst du es in das Täschchen in der frischen Unterhose. So ist das Medaillon immer bei dir, und keiner kann es dir wegnehmen. Sobald die Republikaner gewonnen haben, kannst du es wieder tragen, ganz ohne Angst.«

Angst wovor? Um das zu fragen, blieb mir keine Zeit. Mama wusste doch genau, dass ich noch nie vor etwas Angst gehabt hatte. Darin ähnelte ich ihr und meinem Vater. Und in einen Zug nach Frankreich zu steigen war auch nicht verrückter, als nachts in den Wald zu schleichen, um den Widerstand zu organisieren. In jener Zeit spielten wir Kinder nicht Cowboy und Indianer, sondern Franquisten und Republikaner. Alle wollten Kommunisten, Anarchisten oder Sozialisten sein, denn die gewannen am Ende immer. Ja, sie alle bildeten die Republikaner, sämtliche Strömungen der Linken mit demselben Bestreben in völlig relativem Einvernehmen gegen Franco vereint.

Meine Eltern liebten einander ebenso sehr, wie sie ihre Partei und ihre Heimat liebten. Sie waren der Sprache, der Lebensweise, den Bräuchen verpflichtet, aber auch dem Kampfgeist, der an Wahnsinn grenzenden Radikalität und dem Mut. Niemand hätte ihnen das nehmen können. Meine Mutter wiederholte ständig, dass jeder Herr über sein Schicksal sei. Bei jeder Gelegenheit brachte sie diesen Leitspruch an. Es konnte eine angeregte Diskussion beenden und den Zuhörern die Sprache verschlagen oder ebenso gut eine Tischgesellschaft beleben, wenn es an Gesprächsstoff mangelte. Und weil sie bei ihrem berühmten »Jeder ist Herr über sein Schicksal« immer einen ganz besonderen Ton anschlug, fühlten meine Schwestern und ich uns unbesiegbar.

Seit einigen Wochen schien die Unverwundbarkeit der Sippe erschüttert. Mama und Papa gingen nicht mehr auf die Straße, ohne sich nach allen Seiten umzusehen. Wir zogen nach Barcelona zu Angelita und Jaime, zwei alten Freunden. Meine Eltern arbeiteten nicht mehr, verließen kaum noch das Haus, sondern verbrachten immer mehr Zeit damit, Schriften zu verfassen und Versammlungen zu organisieren. Mehrmals täglich brachten Straßenkinder für ein oder zwei Münzen Dokumente vorbei und holten andere ab. Meine Schwestern und ich gingen nicht mehr zur Schule. Einige Kinder waren entführt und in Indoktrinierungslager im Schandviertel von Alicante gebracht worden, wo man ihnen das Gehirn zermalmte und ihnen ein neues, das im Dienste des »Führers« stand, einsetzte. Lieber sterben!

Eines Abends im Januar, wir kamen gerade mit den Taschen voller Bonbons vom Umzug zum Día de los Reyes nach Hause, schaltete Papa, kaum war er zur Tür herein, das Radio an, so wie immer. Die Stimme aus dem Apparat sprach von einem Projekt, von einem Massaker, von Blut, von Barcelona, und Papa sagte, es sei an der Zeit, uns in Sicherheit zu bringen. So wie er die Lage einschätzte, blieben uns keine drei Wochen, um zu handeln. Wir sollten uns keine Sorgen machen, wir würden zurückkommen, sobald Papa und Mama Francos Regime gestürzt hätten. Wir würden nach Frankreich gehen, das sei nicht weit, und dort gebe es weder Bombenangriffe noch einen Diktator, es werde uns gut gehen. Angelita und Jaime würden uns auf der Reise begleiten und uns bis zu unserem Onkel, unserem tío Pepe bringen, der seit zwanzig Jahren in Narbonne lebte, am Meer. Wir hatten nie zuvor von tío Pepe oder von Narbonne gehört. Nie zuvor von Frankreich oder gar Französisch. Nie zuvor unser Land verlassen. Und all diese Nie-zuvors schreckten mich nicht, denn trotz der Dringlichkeit der Lage hatten sich meine Eltern bemüht, das Szenario, das uns erwartete, zu beschönigen. Ist es nicht besser, man glaubt an den Weihnachtsmann und ist traurig, wenn man erfährt, dass es ihn nicht gibt, als dass man niemals in den Genuss kommt, endlos von ihm zu träumen? Das hier war vergleichbar. Es war eine Lüge aus Liebe, zu unserem Schutz, damit wir zumindest durchhielten, bis wir in Narbonne ankamen.

Die müden Mienen unserer Eltern auf dem Bahnsteig hätten uns warnen sollen. Auf sie war im ganzen Land und darüber hinaus ein Kopfgeld ausgesetzt worden. Verurteilt hatten sie entschieden, ihrem Leben gemeinsam ein Ende zu setzen. Wer weiß, ob noch andere je so eine Liebe erlebt haben.

Meine Schwestern und ich schlugen uns so gut es ging durch. Erst in Narbonne schloss deine Großtante Leonor als Älteste den Koffer auf und fand den Brief von Papa und Mama. Während sie ihn las, spiegelte sich eine Flut von Emotionen auf ihrem Gesicht. Ich werde ihren Ausdruck niemals vergessen; erst die Wut meiner Mutter, dann die Undurchdringlichkeit meines Vaters. Leonor behielt das Geheimnis für sich, bis Carmen alt genug war, um es zu verstehen. Oder besser gesagt, bis Leonor befand, dass Carmen und ich alt genug waren, um es zu verstehen. Erst jetzt, da ich es dir erzähle, kann ich ermessen, wie zäh meine Schwester war. Sie war so streng zu uns und ich so gefangen in meiner jugendlichen Wut, dass ich es ihr oft verübelte, und das war ungerecht von mir. Leonor war sechs Jahre älter als ich, Carmen vier Jahre jünger. Ich war zehn. Ja, ganz genau, als wir unsere Eltern zum letzten Mal umarmten, waren wir sechs, zehn und sechzehn Jahre alt.

Der Zug brachte uns nicht ganz bis nach Narbonne. Wir wurden in Girona abgesetzt, den Rest sollten wir zu Fuß zurücklegen. Unsere Plätze mussten wir für die Milizen räumen, die auf Razzia in die Grenzdörfer fuhren. Aktive Republikaner, die versuchten, das Gebiet zu verlassen, wurden verfolgt, verraten und verkauft. Und wenn im Gefängnis Platz geschaffen werden musste …

Damals verstand ich das alles nicht. Als Leonor bemerkte, wie beunruhigt Carmen und ich waren, erinnerte sie uns daran, dass das Ganze nur vorübergehend war und die bösen Franco-Anhänger schon bald von den guten Republikanern zurückgedrängt werden würden. Und weil schließlich am Ende immer die Guten siegen … Zack, Problem gelöst, »tranquilo, nenas, gute Nacht.« – »Na gut, wenn es bald vorbei ist … Gute Nacht.« Es ist so leicht fortzugehen, wenn man nicht weiß, dass es womöglich für immer ist.

Wie sehr es sich zu Beginn nach Freiheit anfühlte! Wie euphorisch Carmen und ich waren! In diesem Februar schien die Sonne, als wäre schon Sommer. Wir begaben uns auf Entdeckungsreise in eine neue Welt, und Hunderte von Kindern in unserem Alter liefen mit uns zusammen über die Pyrenäen. Für Leonor war es natürlich etwas anderes. Sie war konzentriert, sie wusste, was uns erwartete, oder ahnte es zumindest. Die anderen ebenfalls. Der Kontrast zwischen den Erklärungen meiner Eltern und den von Sorge gezeichneten Gesichtern, aus denen sich unser Zug zusammensetzte, brachte mich zum Grübeln.

Auf halber Strecke hatte sich Carmens und meine Aufregung zu einem großen Teil wieder gelegt. Die Kälte machte sich bemerkbar, genau wie die Erschöpfung, und manch ein Schuh hatte keine Sohle mehr. Das Röcheln der Prozession, ein Summen aus dem Weinen der Säuglinge und unterdrückten Klagen, hallte von allen Berghängen wider.

In Le Boulou wurden die Männer von den Frauen und Kindern getrennt. Der Abschied von Jaime war fürchterlich. Angelita war schwanger und schrie verzweifelt. Wir hielten sie mit aller Kraft, um sie zu beruhigen, aber vergeblich. Carmen weinte ebenfalls, ohne dass sie eigentlich wusste, weshalb. Sämtliche Familien um uns herum wurden auseinandergerissen, lösten sich in Tränen auf und bemerkten die beißende Kälte nicht mehr, so heftig stach es ihnen ins Herz.

An der Grenze bekamen wir alle eine Ladung Spritzen verpasst. Niemand fragte nach, was man uns da verabreichte, alle waren inzwischen zu betäubt von Kälte und Hunger. Wir sollten es auch nie erfahren. Meine Schwestern und mich hatte es bei Weitem nicht am schwersten getroffen, Mama hatte vorsorglich dicke Wollsachen in unseren Koffer gepackt und ein neues Paar Schuhe für jede von uns. Doch auch in uns wuchs die Angst vor dem sich nähernden Unbekannten, vor allem jetzt, da der einzige Mann aus unserer Gruppe nicht mehr da war, um uns zu beschützen. Wenn wir doch alle schon bald wieder zurückkehren sollten, warum wurde unsere Truppe von solcher Furcht und Traurigkeit ergriffen? Im Grunde wäre es treffender, von uns als »Herde« zu sprechen, denn die Behörden, französische wie spanische, behandelten uns wie Vieh.

Auf den hundert Kilometern, die wir zurücklegten, brachten uns zweimal Konvois des Roten Kreuzes Wasser und Verpflegung. In Le Boulou überreichte eine alte Frau Carmen eine kleine Schachtel mit mantecados und dedos de bruja. Seltsamerweise ähnelten sie dem Gebäck meiner Abuela, die ein paar Monate zuvor an Magenkrebs gestorben war. Jedes Mal, wenn meine Mutter gefragt wurde, was die Abuela dahingerafft hatte, antwortete sie mit unterdrückter Wut: »Meine Mutter konnte es nicht verdauen, dass ihr Volk einen solchen Mistkerl ihr Land übernehmen lässt.« Das war alles.

Dieses Argument erschreckte so manchen, denn niemand hätte vermutet, dass man an so etwas sterben konnte. Unsere Abuela war an ihren Überzeugungen gestorben und nicht an etwas, das – ähnlich wie dieser malparido Franco – ein immer größeres Gebiet erobert und schließlich, trotz aller Gegenwehr, einfach gewinnt.

Der Glanz der Keksdose spiegelte sich in den freudestrahlenden Augen meiner Schwester. Es war schön, das inmitten dieser Katastrophe zu sehen. Leonor und ich blickten uns mit einem wissenden Lächeln an. Es war das erste und einzige auf der Reise. Sie wollte nicht, dass ich ihre Angst bemerkte, ich wollte mich ihr nicht unterordnen. Schließlich war sie nicht meine Mutter. Carmen weigerte sich zuerst zu teilen. Es war ihr Geschenk. Ganz allein ihres. Und Hunger hin oder her, man musste es hinnehmen. Sie rührte ihren Schatz erst einmal gar nicht an, trotz ihres knurrenden Bäuchleins. Seit Tagen waren wir unterwegs, die bocadillos von Mama lagen weit zurück, genau wie die Kekse vom Roten Kreuz.

Während dieser hundert Kilometer alterten wir allerdings um mehrere Jahre, und Carmen teilte ihren Schatz letztlich von sich aus gerecht auf. Leonor und ich bestanden darauf, dass sie ein wenig mehr für sich behielt, unter dem Vorwand, dass sie noch wachsen müsse, so wie Mama es immer sagte, und weil wir ohnehin keinen Hunger hätten. Sie sperrte sich dagegen. Zwei Monate zuvor hätte ich meiner kleinen Schwester schamlos die Hand zerquetscht, um ihr die Leckereien abzuluchsen, und sie hätte sich Unglaubliches ausgedacht, um sie vor meinen gierigen Fingern in Sicherheit zu bringen. Jetzt aber …

Wir waren etwa zu Hundert, doch nur ein paar Meter vor uns wogte ein Meer aus Menschen vorwärts, jeder einzelne davon mutig und verletzlich, behindert von der eisigen Kälte und dem Gewicht des Gepäcks und doch mit einem unbezwingbaren Willen.

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