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Jane Austen - Jagd auf das verschollene Manuskript

Als Buch hier erhältlich:

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September 1815: Rachel und Liam, zwei Zeitreisende, landen auf einem Feld im ländlichen England. Sie tarnen sich als reiche Unternehmer, kommen aber in Wirklichkeit aus einer technologisch fortgeschrittenen Zukunft. Denn Rachel und Liam haben eine kühne Mission: Sie wollen Jane Austen treffen, sich mit ihr anfreunden und ihr verschollenes Manuskript retten - indem sie es stehlen! Über Austens Lieblingsbruder Henry infiltrieren sie Janes Umfeld und kommen der berühmten Autorin nahe. Doch je tiefer die Freundschaft wird, desto schwerer fällt es Rachel, sich auf ihren Auftrag zu konzentrieren.

"Das Buch ist ein Muss für alle Jane-Austen-Fans." Stuttgarter Nachrichten

"Clever, fesselnd und originell. Wer würde nicht gern in der Zeit zurückreisen und Jane Austen treffen? Flynns Beschreibung von Jane ist wundervoll, genauso muss sie gewesen sein. Dieses Buch bekommt einen Ehrenplatz in meinem Austen-Regal." Syrie James, Bestsellerautorin von Die geheimen Memoiren von Jane Austen

"Ein bezaubernder Austen-artiger Stil und humorvolle Dialoge."


Booklist

  • Erscheinungstag: 02.05.2018
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959671880

Leseprobe

Für Jarek

Geht, nun geht schon, sprach der Vogel: Der Mensch

Verträgt nicht sehr viel von der Wirklichkeit.

Zeit Vergangenheit und Zeit Zukunft

Was gewesen wäre und was gewesen ist

Verweisen aufs Gleiche, nämlich das, was ist.

T. S. Eliot, »Burnt Norton«

KAPITEL 1

5. September 1815

Leatherhead, Surrey

Welcher Verrückte reist denn bloß durch die Zeit?

Das sollte ich mich noch mehrfach fragen, ehe es vorbei war, nie jedoch mit solcher Vehemenz wie in dem Moment, in dem ich auf der feuchten Erde zu mir kam. Gras kitzelte mich im Nacken; ich sah den Himmel, sah Baumkronen und roch Erde und Moder. Mich überkam ein Gefühl wie nach einer Ohnmacht oder einer langen Reise, wenn man in einem fremden Bett aufwacht: Doch ich fragte mich nicht nur, wo ich mich befand, sondern auch, wer ich war.

Während ich dort lag, erinnerte ich mich, dass ich Rachel hieß. Körper und Geist fanden zusammen, und ich setzte mich auf, um blinzelnd meine Umgebung zu betrachten. Zunächst war sie unscharf und in Grautönen gehalten, weshalb ich mir irritiert die Augen rieb. In Gedanken ging ich die Nebenwirkungen von Ausflügen durch Wurmlöcher durch: Herzrasen, Arrhythmie, Kurzzeitamnesie, Stimmungsschwankungen, Übelkeit, Synkopen, Alopezie. Sichtveränderungen waren nicht aufgetreten. Vielleicht war das neu in der Wissenschaft.

Wind raschelte im Laub und lieferte einen Kontrapunkt zum repetitiven Zirpen eines Insekts, das in meiner eigentlichen Zeit längst ausgestorben sein musste. Ich bestaunte die Atmosphäre des Jahrs 1815, feucht und dichtgepackt mit Gerüchen, für die ich gar keine Worte hatte. Mich erinnerte es an die Glasgewölbe im Brooklyn Botanic Garden, wohin wir früher Schulausflüge unternommen hatten. Einst, Kinder, war die ganze Welt wie dies hier.

Liam befand sich ungefähr einen Meter von mir entfernt, genauso wie in der Luftschleuse, nun jedoch bäuchlings und unheimlich reglos. Arrhythmie kann die Herztätigkeit hinreichend stören, sodass sie vollständig zum Stillstand kommt. Und was dann? Sollte ich tatsächlich das Pech haben, meinen Kollegen gleich zu Beginn eines Einsatzes zu verlieren? Dann müsste ich mich als Witwe ausgeben, denn das wäre die Rolle, in der mir hier ein gewisses Maß an Achtung und Schutz zukäme …

»Geht es dir gut?«, fragte ich. Er antwortete nicht. Ich rutschte näher und streckte eine Hand aus, um nach seiner Halsschlagader zu tasten. Immerhin war da ein Puls. Seine Atmung ging schnell und flach, seine Haut war klamm von kaltem Schweiß. Hinter ihm schimmerten weiße Bäume, deren Namen längst vergessen worden waren, im dämmrigen Licht. Mir dagegen hämmerte das Herz in der Brust. Ich atmete langsam ein und blickte zu den weißen Bäumen.

Birken! Und noch ein Wort fiel mir ein: Zwielicht. Etwas, was man in meiner Zeit kaum noch wahrnahm, wo alles durch Elektrizität beleuchtet war. Natürliches Licht. Wir hatten die passenden Wörter gelernt, genauso wie zunehmender, abnehmender, Sichel- oder vorspringender Mond und die wichtigsten Sternbilder. Im Gedächtnis sah ich wieder die stahlgrauen Korridore des Royal Institute for Special Topics in Physics – das Königliche Institut für Spezialthemen der Physik – vor mir, und das Jahr, das ich dort verbracht hatte, rauschte wie ein Video im Schnellvorlauf an meinem geistigen Auge vorbei: die Tanz- und Reitstunden, die Bewegungs- und Musikstunden, das endlose Lesen. Unser Gang zur Zeitschleuse, die letzten Checks, der feierliche Handschlag von den anderen im Jane-Austen-Projektteam.

Ich war hier. Wir hatten es geschafft.

»Geht es dir gut?«, fragte ich wieder. Liam stöhnte, rollte sich aber herum und setzte sich auf, um die Umgebung von Feldern, Birken und Hecken zu begutachten. Die Portalöffnung war gut gewählt. Hier war niemand weit und breit.

»Es dämmert«, erklärte ich. »Deshalb sieht alles so aus.« Er drehte sich zu mir um und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Nur, falls du dich wunderst.«

»Tue ich nicht«, antwortete er leise, sehr verhalten. »Aber danke.«

Ich sah ihn prüfend an und versuchte zu erkennen, ob er sarkastisch war, was ich hoffte. Während unserer gemeinsamen Vorbereitungszeit im Institut war mir etwas an Liam immer rätselhaft geblieben. Er war zu reserviert, und man wusste nie, was mit solchen Leuten los war.

Mit einem leichten Schwindelgefühl stand ich auf, richtete meine Haube und ging steif einige Schritte, während ich mir Erde und Gras von meinem Kleid klopfte. Dabei fühlte ich die vielen Stoffschichten ebenso deutlich wie das Bündel Banknoten unter meinem Korsett.

Liam hob den Kopf und schnupperte. Er streckte sich und stand mit überraschender Geschmeidigkeit auf – meiner Erfahrung nach bewegten sich große Männer oft schlaksig –, reckte die Arme in die Höhe, rückte seine wuschelige Arztperücke zurecht, blickte nach rechts und erstarrte. »Ist das da wirklich das, wonach es aussieht?«

Als meine Augen sich angepasst hatten, sah ich eine Straße: ein Weg so breit wie ein Wagen, der sich ein Stück weiter gabelte. Und in der Mitte der Gabelung befand sich ein hoher Galgen. An dem hing ein mannsgroßer Eisenkäfig, ähnlich einem finsteren Vogelbauer, in welchem … »Oh.«

»Dann waren die wirklich überall«, sagte Liam. »Oder haben wir nur Glück?«

Nun, da ich eine Komponente dessen identifiziert hatte, was ich roch, blickte ich unglücklich zu dem Leichnam, der mir aus leeren Augenhöhlen entgegenzustarren schien. Nicht frisch verwest, aber auch noch keine ausgedorrte Hülle, sondern irgendwo dazwischen, obgleich das in diesem Licht nicht genau auszumachen war. Vielleicht war er ein Wegelagerer gewesen. Die Menschen hier stellten ihre Verurteilten nahe den Schauplätzen ihrer Verbrechen aus, was anderen eine Warnung sein sollte. Und eventuell endeten wir wie er, sollte der Einsatz schiefgehen.

Ich hatte vergessen zu atmen, doch der Gestank verharrte in meiner Nase. Seit der medizinischen Hochschule hatte ich mit Leichen zu tun gehabt, hatte sie obduziert. Aber so etwas war mir bisher nicht begegnet. Einmal nur, während meines Freiwilligeneinsatzes in der Mongolei, war jemand falsch identifiziert worden und musste exhumiert werden …

Bei diesem Gedanken wurde mir übel. Ich beugte mich vor und griff mir an den Hals, von trockenem Würgen geschüttelt. Als es vorbei war, wischte ich mir die Tränen ab, richtete mich wieder gerade auf und stellte fest, dass Liam mich stirnrunzelnd betrachtete.

»Ist alles in Ordnung?« Seine langen Hände, die blass aus den dunklen Jackenärmeln ragten, hoben sich flatternd im schwindenden Licht, als überlegte er, mich zu berühren, wüsste jedoch nicht, wo. Schulter? Ellbogen? Unterarm? Welches war der am wenigsten intime Körperteil, den man bei einer Kollegin berühren durfte, wenn diese in Not war? Da er sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, ließ er die Hände wieder sinken, und trotz des entsetzlichen Kadavers hätte ich fast lachen müssen.

»Mir geht es gut«, sagte ich. »Hervorragend. Verschwinden wir von hier.« Wir hatten uns beide von dem Galgen abgewandt. Ich bin nicht abergläubisch, doch ich hoffte, dass unser Weg zum Gasthaus nicht an ihm vorbeiführte. »Norden. Wenn die Sonne dort drüben untergeht« – in einem Bereich schien der Horizont heller –, »müsste es da entlanggehen.«

»Ja schon, denn da ist Venus, nicht wahr?«

»Venus?«

»Der helle Himmelskörper im Westen?«

Ich bemühte mich, nicht verärgert zu sein, weil ich es nicht bemerkt hatte. »Ja, stimmt!«

Wir wandten uns ab, gingen einige Schritte, dann blieb Liam stehen und wirbelte herum.

»Heilige Mutter Gottes, die Portalmarkierung!«

Ich murmelte einen Fluch, als ich mich gleichfalls umwandte. Hatten wir wirklich beinahe etwas so Wichtiges vergessen? Zwei Vertiefungen im Gras, die nur als Umrisse menschlicher Körper gedeutet werden konnten. Liam zog einen Metallmarker aus der Innentasche seiner Jacke und schob ihn so weit, wie es ging, zwischen den beiden Abdrücken in die Erde. Es war nur noch knapp die blaue Spiralspitze zu sehen. »Spectronanometer?«, fragte er.

Ich kramte nach meinem Gerät, das einem kleinen Bernstein ähnelte und an einer Silberkette um meinen Hals hing, und drückte. Vibrierend erwachte es zum Leben und meldete mit einem Piep, dass es das Signal des Markers empfing. Als ich es ausschaltete, zitterte ich. Das Portal war präzise in puncto Zeitfenster und Geopositionierung; zufällig hätten wir es nie wiedergefunden. Liam hatte sein Spectronanometer aus einer anderen Tasche geholt, und es sah wie eine kleine Schnupftabakdose aus, die allerdings nicht aufging. Nun drückte er es. Nichts geschah. Vor sich hin murmelnd schüttelte er das Gerät und versuchte es erneut.

»Gib her.« Ich nahm ihm das kleine silberne Ding ab, umfing es mit einer Hand und drückte langsam zu. Es vibrierte und piepte. Nachdem ich es wieder ausgestellt hatte, gab ich es ihm zurück. »Die sind launisch.«

»Offensichtlich.«

Es wurde dunkler und kühler; Zeit zu gehen. Dennoch standen wir schweigend da, vor der letzten Verbindung zu unserer Herkunft. Wie viel würde geschehen, bevor wir wieder hier standen, vorausgesetzt, wir schafften es jemals zurück?

»Komm«, sagte ich schließlich. »Gehen wir.«

Auf der Straße machte Liam größere Schritte als ich, sodass ich zurückfiel, obwohl ich eigentlich eine schnelle Geherin war. Doch bisher hatte ich diese Halbstiefel – handgefertigt von der Kostümabteilung – nur in Innenräumen getragen, und die Sohlen waren so dünn, dass ich jeden Kieselstein fühlte. Hinzukam die Intensität von allem um uns herum: der Geruch nach Gras und Erde, der ferne Schrei einer Eule, ja, das musste eine Eule sein. Die ganze Welt schien zu brummen vor Leben, ein schimmerndes Netz von Biomasse zu sein.

The Swan ragte als weiß getünchter Bau vor uns auf, angestrahlt von flackernden Lampen an der Fassade und mit einem Bogendurchgang zum Hof und dem Stall dahinter. Als wir näher kamen, hörte ich Männerstimmen, Pferdewiehern und Hundegebell. Angst jagte mir schwindelerregend den Rücken hinauf. Ich blieb stehen. Ich kann das hier nicht. Ich muss es tun.

Auch Liam war stehen geblieben. Er schüttelte sich und holte mehrmals tief Luft. Dann packte er meinen Ellbogen unerwartet fest und führte mich zur Tür unter dem Holzschild mit einem Schwan darauf.

»Denk dran, überlass mir das Reden«, sagte er. »Hier machen das die Männer.«

Und wir waren drinnen.

Es war wärmer, aber dämmrig. Eine holzvertäfelte Decke, die Luft rauchgeschwängert, flackerndes Licht von zu wenigen Kerzen und ein großer Kamin. Eine Männergruppe stand am Feuer, andere saßen an Tischen, wo sie Brot, Bierkrüge und Platten mit Braten, Schinken, Geflügel und anderen, weniger klar erkennbaren Speisen vor sich hatten.

»Sieh dir all das Fleisch an«, flüsterte ich. »Verblüffend.«

»Schhh, nicht gaffen.«

»Siehst du jemanden, der aussieht, als würde er hier arbeiten?«

»Schhh!«

Und da war er auch schon: ein kleiner Mann in einem kastenförmigen Anzug und einer schmutzigen Schürze wischte sich die Hände an einem dreckigen Lappen ab und musterte uns finster von oben bis unten. »Sind Sie eben angekommen? Hat sich jemand um Ihre Pferde gekümmert?«

»Unsere Freunde haben uns in ihrer Kalesche mitgenommen und ein Stück entfernt abgesetzt.« Liam hatte die Schultern gestrafft und überragte den Mann deutlich. »Wir bräuchten Zimmer für die Nacht und morgen eine Kutsche in die Stadt.« Seine Sprachmelodie hatte sich verändert, sogar die Stimme. Da war ein arrogantes Dehnen der Vokale sowie ein näselnder höherer Ton. Wir hatten bei der »Vorbereitung« weidlich improvisiert, doch noch nie hatte Liam mir dieses unheimliche Gefühl gegeben, das ich jetzt gerade hatte, als wäre er ein vollkommen anderer Mensch geworden.

»Eine Kalesche?«, wiederholte der Mann. »Ich habe hier keine vorbeikommen gesehen.«

»Wäre sie hier vorbeigekommen, hätten sie uns vor der Tür abgesetzt.«

Es schien logisch, aber der Mann beäugte uns abermals, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »À pied, ja?« Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was er meinte; nichts hätte weniger französisch klingen können. »Und nicht mal eine Tasche dabei? Nein, wir haben keine Zimmer.« Eine Gruppe von drei Männern in der Nähe – schäbige schwarze Anzüge, verrutschte Perücken – hatte das Essen unterbrochen, um uns zu beobachten. »Sie können noch essen, bevor Sie weiterziehen.« Er schwenkte seine Hand zum Raum hinter sich. »Allerdings will ich zuerst das Geld sehen.«

War unser Vergehen die vermeintliche Armut, weil wir ohne Pferde erschienen waren, oder stimmte etwas anderes nicht an unserem Auftreten, unserer Kleidung, uns? Und wenn die erste Person, der wir begegneten, es sah, wie hoch standen dann unsere Überlebenschancen, von den Erfolgsaussichten ganz zu schweigen? Liam war so blass geworden und schwankte leicht, dass ich befürchtete, er könne ohnmächtig werden. Eine bekannte Nebenwirkung des Zeitreisens.

Meine Furcht machte mich wagemutig. »William!«, jammerte ich, zog an Liams Ärmel und hakte mich bei ihm ein, um ihn zu stützen. Seine Augen wurden größer, als er zu mir herabsah. Ich hörte, wie er nach Luft schnappte. Nun verlegte ich mich auf ein Bühnenflüstern, ohne den Mann eines Blickes zu würdigen. Und obwohl mein Mund ausgetrocknet war, war mein Akzent tadellos: »Ich habe dir doch erzählt, dass Papa gesagt hat, dieses Gasthaus wäre furchtbar. Und wenn sie keine Zimmer haben, haben sie vielleicht Pferde. Draußen scheint der Mond! Ein kleiner Wagen mit vier oder auch zwei Pferden, und wir werden bis zum Morgengrauen dort sein. Ich sagte, dass ich Lady Selden umgehend besuchen würde, wenn wir in der Stadt sind. Und das hätte letzte Woche sein sollen, nur kann ich Sir Thomas nichts abschlagen, wo den Armen doch die Gicht so plagt.«

Liam sah von mir zu dem Mann und erklärte: »Der Wunsch meiner Schwester ist mir Befehl, Sir. Sollten Sie eine Kutsche und Pferde haben, zeige ich Ihnen mit Freuden das Geld und verlasse dieses Gasthaus auf Nimmerwiedersehen.« Er holte eine Goldmünze hervor, eine unserer echten Guineas aus dem späten achtzehnten Jahrhundert, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf.

Ich hielt den Atem an. Was wäre, wenn es hier weder Pferde noch überzählige Kutschen gab? Das kam vor, wenn die Tiere und die Wagen ständig von einer Kutschenstation zur anderen wechselten. Und nun, da Liam mit Gold herumspielte, waren wir auch noch begehrte Beute für Räuber.

Der Mann sah von mir zu Liam und wieder zurück zu mir. Ich richtete meinen Blick gen Himmel, was hoffentlich überhebliche Verachtung signalisierte.

»Ich rede mal mit dem Burschen draußen. Möchten Sie und die Dame sich setzen?«

Es war kälter geworden, und der zunehmende drei viertel volle Mond stand hoch am Himmel, bis wir in der Postkutsche saßen. Es handelte sich um einen winzigen gelb gestrichenen Wagen, der nach dem feuchten Stroh auf dem Boden sowie nach Schimmel und Pferd roch. Wir hatten in der Ecke des Schankraums einen muffigen Rotwein getrunken und eine Fleischpastete von unheimlich ledriger Konsistenz gegessen, die Blicke der anderen gespürt und nicht zu glauben gewagt, dass es eine Kutsche geben würde, bis ein Diener gekommen war und uns zu ihr geführt hatte.

Unser Postillion schwang sich auf eines der Pferde, und ein großer Mann mit zwei Pistolen und einem Posthorn nickte uns zu, ehe er hinten auf die Kutsche stieg. Er hatte zusätzlich gekostet, beinahe den Preis verdoppelt, doch heute Nacht sollten wir tunlichst keinen Wegelagerern begegnen.

»Du warst gut vorhin«, sagte Liam in seiner üblichen Stimme und so leise, dass ich mich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen, als wir den Hof des Wirtshauses verließen. Die eine Sitzbank in Fahrtrichtung war breit genug für drei schlanke Menschen. Durch die zugigen Fenster sah man die Laternen zu beiden Seiten, nach vorn die Straße nach London und die muskulösen Hinterteile der Pferde. »Schnell reagiert. Zwar hatte ich dir gesagt, dass du nicht reden sollst, aber …«

»Eine aussichtslose Bitte. Du müsstest mich inzwischen besser kennen.«

Er gab einen Laut von sich, der zwischen einem Hüsteln und einem Lachen siedelte, und nach einer kurzen Pause sagte er: »Und du hast wirklich noch nie Theater gespielt? Ich meine, früher?«

Ich dachte an die Workshops, die wir zusammen bei der Vorbereitung gemacht hatten: Stell dir vor, du triffst erstmals Henry Austen oder kaufst eine Haube. »Warum sollte ich?«

Wir fuhren rumpelnd die Straße entlang, wo der Mond über den schwarzen Baumsilhouetten zu sehen war und die Welt jenseits des Laternenscheins schaurig eintönig und unermesslich tief wirkte, dafür aber reich an Gerüchen. Unsere Anweisung vom Projektteam lautete, dass wir die erste Nacht nahe dem Portal in Leatherhead verbringen sollten, um uns vom Zeitwechsel zu erholen, ehe wir uns die Stadt vornahmen. In London zu materialisieren, wo es von Gebäuden und Leben wimmelte, war riskant. Bei Nacht zu reisen gleichfalls, trotzdem waren wir hier. Ich fragte mich, was sonst noch nicht nach Plan verlaufen würde.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich fröstelnd erwachte. Liam lehnte schnarchend mit dem Kopf am Fenster, die Perücke ein wenig zur Seite gerutscht. Ich zog meinen Schal fester um mich und beneidete ihn um seine Weste, das Halstuch und den Gehrock – leicht, aber aus Wolle – und auch um die hohen Reitstiefel mit den Troddeln oben.

Auch ich trug mehrere Schichten, nur mangelte es ihnen an der Schwere von Männerkleidung: ein Hemd, dann ein kleines Vermögen in Münzen und gefälschten Scheinen nebst einigen Kreditbriefen in einem Beutel, der mir um den Oberkörper gewickelt worden war, darüber ein Korsett, ein Unterkleid, ein Kleid und ein Schal, bei dem es sich um eine synthetische Nachahmung eines Kaschmir-Paisleys handelte. Ich hatte ein dünnes Spitzentuch um die Schultern gelegt, gestrickte Baumwollstrümpfe bis über die Knie gezogen, zarte Handschuhe aus künstlichem Wildleder und eine Strohhaube an, aber keine Unterhose; die würden erst später in diesem Jahrhundert aufkommen.

Die Dunkelheit ließ nach. Ich blickte nach draußen; wann würde es städtischer werden? Wir hatten über alten Karten, Gemälden und Kupferstichen gebrütet, detaillierte Luftaufnahmen in 3-D hatten die großen Leinwände im Institut beleuchtet. Doch nichts davon hätte mich hierauf vorbereiten können: den Geruch von Kohlrauch und Vegetation, das Knarzen der Kutsche, die Hufschläge der Pferde im Takt meines Herzens. Und noch etwas, wie eine Energie, als wäre London ein fremder Planet, dessen Schwerkraftfeld mich einsaugte.

Im Regency-London konnte einem alles Erdenkliche passieren. Man konnte von einer Kutsche überrollt werden, bei der die Pferde durchgingen, sich mit Cholera anstecken, ein Vermögen bei einer Wette verlieren oder seine Tugend nach einem unklugen Durchbrennen. Wir hofften, es weniger gefährlich zu treffen, indem wir uns eine Wohnung in einer vornehmen Gegend suchten und uns als wohlhabende Neuankömmlinge ausgaben, die Rat, Freunde und lukrative Anlagemöglichkeiten brauchten – alles mit dem Ziel, uns in das Leben von Henry Austen zu Ereignissen, von denen wir wussten, dass sie sie beide diesen Herbst erwarteten, einen Weg zu schmuggeln, dem geselligen Londoner Bankier und Lieblingsbruder von Jane. Und durch ihn zu ihr zu finden.

Ich rückte näher zu Liam, der einzigen Wärmequelle in der kalten Kutsche. Meine Erleichterung, vom Swan fortzukommen, wich Nervosität angesichts allem, was vor uns lag. Von der Kutschenfahrt, dem Gestank nach Pferd und Schimmel in meiner Nase, dem Galgen, der Fleischpastete und der Unverschämtheit des Wirts war mir so gehörig mulmig, dass mir das Jane-Austen-Projekt überhaupt nicht mehr reizvoll vorkam. Was ich so dringend gewollt hatte, stellte sich jetzt wie eine längere Gefängnisstrafe dar: fürchterliche Hygienezustände, endloses Schauspielern, physische Gefahr. Was hatte ich mir nur gedacht?

Das Royal Institute for Special Topics in Physics – das Königliche Institut für Spezialthemen der Physik – war keine Einrichtung, von der jemand wie ich wissen würde. Mich trennten Welten von den Old British, dem alten britischen Zirkel aus Analysten, Wissenschaftlern und Spionen. Rein zufällig hatte ich davon erfahren, im Bett in der Mongolei.

Norman Ng, obwohl ein gewissenhafter Kollege und durch und durch Mensch, war indiskret. Er mochte es, Geheimnisse zu haben, hütete sie jedoch nie, was ich hätte begreifen müssen, ehe ich mit ihm ins Bett gegangen war und festgestellt hatte, dass ich zum Thema schlüpfrigen Klatsches im gesamten Hilfsteam geworden war. Wobei es mich eventuell nicht abgehalten hätte. Nach dem Erdbeben war die Mongolei dunkel, kalt und trostlos gewesen, der schlimmste Ort, für den ich mich je gemeldet hatte. Oder der beste, wenn man menschliches Leid lindern wollte; an dem herrschte kein Mangel.

Eines späten Abends, in friedlicher postkoitaler Stimmung, erzählte mir Norman von seinem Schulfreund, einem Dr. Ping, der heute in einem wenig bekannten Forschungszentrum der Regierung in East Anglia arbeitete.

»Willst du mir erzählen, dass die Engländer …? Nein, das ist verrückt. Das denkst du dir aus.«

»Sie haben das Zeitreisen hinbekommen«, wiederholte er. Der Wind heulte, und die Jurtenstangen knarrten. »Die sind weit voraus, Rachel. Die Leute verstehen das nicht, aber das werden sie noch. Wenn sie die Ergebnisse sehen, werden alle drängeln, bei ihnen mitmachen zu dürfen, noch mehr als jetzt schon. Die Chinesen werden uns die Opiumkriege verzeihen. Die Amerikaner … nein, ihr habt euch schon für die Unabhängigkeit entschuldigt, ich vergaß.« Norman war Engländer mit Cambridge-Abschluss und vornehmen Vorfahren, die kurz vor der Übernahme durch die Chinesen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aus Hongkong gekommen waren. Doch ihm gefiel es, den Außenseiter zu spielen.

»Das ist irre. Ausgeschlossen.«

»Kennst du den Prometheus-Server?«

Ich gähnte, denn ich war seit dem Morgengrauen auf. »Gigantische Energiequelle, Superrechner, was auch immer.« Mit anderen Worten: noch mehr von dem, womit unsere Welt schon überfüllt war.

»Wie lässig du klingst! Eine Größenordnung jenseits früherer Technologie! Mit hinreichend Energie und Daten, um alles zu berechnen, einschließlich Wurmlöcher, Wahrscheinlichkeitsfelder. Und um jedes mögliche Szenario zu simulieren. Sobald man das kann …«

»Okay, nehmen wir mal an, dass es stimmt. Was fangen sie mit dieser fabelhaften Fähigkeit an?«

»Sie forschen.«

Er sagte es so bedeutungsschwer, dass ich lachte. »Geht das auch genauer?«

»Ich weiß nicht, wie ihre einzelnen Missionen aussehen.« Im Dunkeln konnte ich sein Gesicht nicht sehen, doch er klang beleidigt. »Ich kann dir allerdings erzählen, dass sie eine planen – und wegen der komme ich darauf. Einzelheiten kenne ich nicht, aber sie hat mit Jane Austen zu tun. Die ist irgendwie wichtig für die Geschichte, warum, weiß ich nicht …«

»Weil sie ein Genie war«, unterbrach ich ihn. Norman wusste, wie ich zu Jane Austen stand. Jeder wusste es.

»Und wegen Eva Farmer. Du weißt doch, wer sie ist, oder?« Der Name kam mir bekannt vor, auch wenn ich ihn nicht sofort zuordnen konnte. »Die den Prometheus-Server mit erfunden hat? Anscheinend ist sie auch ein großer Jane-Austen-Fan. Sie sitzt in der Institutsleitung, und ich … ich weiß nicht genau. Sie ist riesig. Und sie hat ein persönliches Interesse an dieser Jane-Austen-Sache.« Ich rollte mich auf die Seite, näher zu Norman. Auch wenn es mir immer noch schwerfiel, ihm zu glauben, wurde ich neugierig. »Und da gibt es eine medizinische Komponente. Sie werden einen Arzt brauchen.«

Hierauf sagte ich längere Zeit nichts, lauschte nur dem Wind, den knarzenden Stangen und meinem Atem. Etwas in mir regte sich: ein eisiger Schauer, eine dunkle Ahnung, gleich einem kalten Finger an meinem Schlüsselbein.

»Norman«, sagte ich schließlich. »Stellst du mich deinem Freund vor?« Bei den Old British hielt man eine Menge von Empfehlungen; da kreuzte niemand einfach auf und warb für sich selbst oder so. Und die Welt funktionierte nun mal nach ihren Regeln.

Rhythmisches Rumpeln der Kutsche, knirschender Kies, Hufgeklapper, Nachtgerüche, Schlaf. Beim Aufwachen sah ich, dass die Sonne gerade aufgegangen war – Morgengrauen – und etwas, was nur die Themse sein konnte, ein von Booten gesprenkeltes Silberband, eine Brücke weiter vorn. Auf der anderen Seite blieb die Gegend ländlich idyllisch. Wir passierten einen Obstgarten, eine Schafherde, ein großes Backsteinhaus mit einer runden Auffahrt. Dann begannen die Häuser, dichter zu stehen, die Straßen wurden enger, die Anzahl der Leute vervielfachte sich. Die staubige Luft füllte sich mit menschlichen Stimmen, und ein Durcheinander von Fuhrwerken verstopfte die Straßen zusammen mit abgerissenen Fußgängern, die sich unter ihren diversen Lasten krümmten: einem Tuchstapel, einer Kohlenladung, einem halben Schwein.

Welche Irre reiste durch die Zeit? Ich war dreiunddreißig, als ich ins Jahr 1815 ging, Single und kinderlos, hatte Hilfseinsätze nach Katastrophen in Peru, Haiti und zuletzt der Mongolei hinter mir. Zwischen diesen Einsätzen hatte ich in der Notaufnahme des Bellevue-Hospitals in New York gearbeitet und war in meiner Freizeit gern durch die Berge gewandert oder in eiskaltem Wasser geschwommen, und das in allen Winkeln der Erde, in denen so etwas noch möglich war. Meine Liebe zum Abenteuer mochte in einem seltsamen Widerspruch zu meiner Begeisterung für Jane Austens Witz und Subtilität stehen, doch zusammen ergaben sie mich. Was Norman mir in jener Nacht enthüllt hatte – Jane Austen, Zeitreisen –, war nicht mehr und nicht weniger als das, worauf ich mein Leben lang gewartet hatte. Unbewusst natürlich, denn wer könnte sich schon so etwas Verrücktes vorstellen?

»Wir sind da«, flüsterte Liam. Ich hatte nicht bemerkt, dass er wach war. »Es ist real. Unglaublich.«

Nun tauchten Gebäude auf, die ich erkannte. Wir kamen am Hyde Park vorbei, fuhren die Piccadilly hinunter, und es gab so vieles zu sehen. Wir rollten auf einen großen Platz mit einer eingezäunten Pferdestatue und zu unserem Reiseziel, dem Golden Cross Inn. Die Kutsche hatte kaum angehalten, als ein Livrierter fragte, was er für uns tun könne. Bevor wir die Treppe hinauf und einen dunklen Korridor entlang in einen privaten Kaffeesalon mit Blick auf den Platz gescheucht wurden. Hier gab es heißes Wasser zum Waschen, ausschweifende Versprechungen, dass gleich jemand käme, um Liam zu rasieren, und endlich Frühstück.

Der Kaffee wurde in einer großen silberlegierten Kanne serviert, und sein Duft ließ meinen Optimismus hinsichtlich des Lebens im Jahr 1815 aufs Neue erwachen. Er schmeckte sogar noch besser, heiß und stark wie Espresso. Vor allem spülte er den Staub von der Straße aus meiner Kehle. Ich schlang die Hände um die Tasse und erschauerte genüsslich.

Liam griff nach einem Brötchen, roch daran und nahm einen Bissen. »Hmm.« Und noch einen.

Ich probierte eines. Es schmeckte vollkommen anders als alles, was ich bisher gegessen hatte, und ich kaute langsam, hin- und hergerissen zwischen Analyse und sinnlichem Genuss: noch warm, angenehm elastisch, würziges Aroma, ein Hauch von Salz.

Ich unterdrückte ein ekstatisches Stöhnen und sagte: »Vielleicht sind wir nur in einem guten Wirtshaus gelandet. Und haben Glück, denn wer weiß, wie lange es dauert, bis wir etwas zum Wohnen finden.« Kaum dachte ich an diese und all die anderen Herausforderungen, die uns erwarteten, schwächelte meine von Brötchen und Kaffee befeuerte Euphorie. »Schwer zu sagen, wo wir anfangen sollen.«

Ich meinte es eher ganz allgemein, aber Liam sagte: »Ich denke, mit Kleidung. Das wird Zeit brauchen.« Er strich sich etwas Schmutz vom Ärmel. »Es ist schwierig, sich als Gentleman auszugeben, wenn man nur ein einziges Hemd besitzt.«

»Laut unseren Anweisungen sollen wir als Erstes zu einer Bank gehen. Das ist wichtiger.« Solange wir unser Falschgeld nicht bei einer Bank deponiert hatten, mussten wir es mit uns herumtragen. »Das war eine klare Ansage vom Projektteam.«

»Aber es steht uns frei, zu improvisieren, auf unerwartete Entwicklungen zu reagieren. So wie du es getan hast, als es im Swan keine Zimmer gab.«

»Inwiefern ist dein Entschluss, zu einem Schneider anstelle zu einer Bank zu gehen, eine unerwartete Entwicklung? Und überhaupt kannst du keine Maße nehmen lassen, wenn du all das Geld an dir hast.«

Er stand auf und zog seine Jacke aus. »Einiges ist hier in die Schultern eingenäht – aber dies hier bemerken sie sicher«, sagte er, knöpfte seine Weste auf und zog sein Hemd hoch, sodass ich flüchtig auf seinen straffen, blassen und leicht behaarten Bauch sehen konnte. Ich senkte den Blick gerade rechtzeitig, als er sich umdrehte und einen Gürtel wie meinen auf den Tisch warf: seidiger Stoff, winzige Reißverschlüsse, schwer und dick vom Inhalt aus Hadernpapier. »Macht es dir etwas aus, das vorerst an dich zu nehmen? Ein Damenschneider misst gewiss nicht deine Taille.« Das stimmte. 1815 hatten die Kleider eine nach oben versetzte Taille, direkt unterhalb der Brust. Darunter war alles weit und fließend.

»Ich kann nicht so viel mehr unter mein Korsett schnüren!«

Es entstand eine Pause, bevor er sagte: »Nur heute, bis wir bei einem Schneider waren.«

»Ich verstehe nicht, warum du es für eine solch gute Idee hältst, in diesem Punkt vom Plan abzuweichen. Mich macht es nervös, mit unserem gesamten Vermögen am Leib herumzulaufen.«

Nachdem er sich das Hemd wieder in die Hose gestopft, alle Knöpfe geschlossen und seine Kleidung glatt gezogen hatte, kehrte Liam an den Tisch zurück, setzte sich und stützte den Kopf auf eine Hand. Sein langes Gesicht war auf grobe Art unschön mit zu viel Kinn, einem immerfort grimmigen Ausdruck und einer leicht krummen Nase. Er war so etwas wie ein Schauspieler gewesen, bevor er zur Akademie gekommen war – mit ein Grund, weshalb man ihn für diese Mission ausgewählt hatte –, doch sein Aussehen konnte seine Karriere unmöglich beflügelt haben. Einzig die Augen vielleicht. Ich musste zugeben, dass er schöne Augen hatte, hübsch konturiert und von einem leuchtenden Blau. Nun waren sie direkt auf mein Gesicht gerichtet.

»Mich auch. Aber der Gang zur Bank nicht minder. Ich bin nicht bereit, mich dem heute zu stellen, Rachel. Meine Kleidung könnte falsch sein, mein Timing ist durcheinander, und ich brauche ein Bad.«

Ich schwieg. Liam war während der Vorbereitung ausnahmslos frostig formell gewesen: höflich, ohne irgendwas preiszugeben. Dies könnte das persönlichste Geständnis sein, das er je gemacht hatte, und ich schwankte zwischen Mitgefühl und Widerwillen, mir noch mehr Geld umzubinden, während er fortfuhr.

»Es ist das Schwierigste, was wir zu tun haben, zumindest bis wir Jane Austen kennenlernen, vorausgesetzt, dass wir es jemals so weit bringen. Nichts darf eine Bank misstrauisch machen. Wenn sie herausfinden, dass wir Fälscher sind, werden wir in Ketten nach New South Wales geschickt. Oder gehängt.« Flüsternd ergänzte er: »Und wir sind Fälscher.«

Ein wenig mehr Zeit, bevor wir uns eine Bank vornahmen, war eventuell keine solch schlechte Idee. Ich sah hinunter auf den Tisch mit dem Geldgürtel und ging im Geiste die Schritte durch, mit denen ich ihn an mir verbarg. Mit ein bisschen Hilfe wäre das Auskleiden leicht, doch ich zögerte, Liam zu bitten. Nur verlieh meine unangebrachte Keuschheit diesem Moment nicht ein Gewicht, das ihm nicht zukam? Als würde ich zu angestrengt vorgeben, dass wir ins Jahr 1815 gehörten? Während ich darüber nachgrübelte, löste ein Klopfen an der Tür mein Problem. »Der Barbier ist hier, Sir. Wenn Sie den Flur hinunterkommen wollen, wird es mir eine Freude sein, Sie zu rasieren.«

Liam stand auf, den Blick nach wie vor auf mich gerichtet. »Kommst du zurecht? Verriegle die Tür.« Dann war er fort.

Das Kleid war einfach. Ich erreichte die drei Knöpfe hinten und zog es mir über den Kopf. Danach wand ich mich aus dem Unterrock und löste das Korsett: mit Walknochen verstärkte Fächer vorn und hinten, die meine Brüste so fest nach oben drückten, dass sie an ein unschönes Regal gemahnten, und meinen Rücken starr hielten. Damit ich mich anfangs ohne Hilfe an- und auskleiden könnte, hatte mir das Kostümteam ein Modell entworfen, das vorn verschnürt war. Über dem Hemd umfing mein Geldgürtel meinen Brustkorb. Ich schnallte Liams darunter um und zog das Korsett wieder an. Um Platz zu schaffen, schnürte ich es lockerer, stellte dann jedoch fest, dass der Miederteil des Unterkleides nun nicht mehr über meine weniger zusammengepressten Brüste passte. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus – den vorerst letzten – und schnürte mich strammer ein.

Blinzelnd standen wir in der staubigen Luft vor dem Gasthaus. War bei unserer Ankunft halb London wach gewesen, befand sich nun die andere Hälfte gleichfalls auf den Beinen und machte so viel Lärm wie irgend möglich.

Eine Reihe von Droschken wartete in der Nähe. Auch mehrere Sänftenträger in speckigen Anzügen standen mit verschränkten Armen neben ihren Sänften. Dies waren kleine Kästen, in die man sich hineinsetzte, um von zwei Männern getragen zu werden, die den Kasten vorn und hinten auf langen federnden Stangen balancierten.

»Wollen wir gehen?«, fragte Liam. Ich beneidete ihn um seinen rosigen, frisch rasierten Schimmer. Ich hatte mir Gesicht und Hände gewaschen, roch aber immer noch wie das Innere der Kutsche. »Dann können wir uns alles besser ansehen.«

Ich stimmte zu, dass es eine gute Idee wäre, blickte in die falsche Richtung und trat auf die Straße. Liam packte meinen Arm und riss mich zurück von einem verschwommen schwarzen Streifen und einem Schwall Pferdegeruch, als eine hohe Kutsche vorbeiraste, in der ein Mann mit schimmernd heller Hose und Stiefeln so schwarz und glänzend wie sein Pferd stand.

Ein echter Regency-Junggeselle! Dann wurde mir bewusst, dass ich hätte sterben können. Ich stellte mir einen komplizierten Bruch, Amputation, Blut, Sägespäne und den Gestank von Wundbrand in einem dämmrigen Raum vor. Man würde mich hier in 1815 begraben – unter einem Kreuz, was die gerechte Strafe dafür wäre, dass ich mich als Heidin ausgab –, und später würde Liam meine betrübte Mutter besuchen und ihr meine letzten Stunden schildern. Sie war an meinen riskanten Lebensstil gewöhnt, auch wenn sie ihn nie befürwortet hatte.

Man könnte jederzeit überall sterben; warum erschien mir dies hier so viel schlimmer? Ich sah zu Liam. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

Er hatte mich losgelassen, hielt mir nun aber seinen Ellbogen hin. Zögernd blickte ich zu dem dunklen Ärmel, bevor ich näher trat und eine von einem Handschuh verhüllte Hand in die Beuge hakte. Ich kam mir albern, aber sicherer vor.

Dank der Einsätze in Katastrophengebieten und der Notfallmedizin kannte ich Chaos, dennoch hatte ich nie etwas gesehen, was mit dem hier vergleichbar war. Die Kreuzung Charing Cross und Strand war Furcht einflößend, und wir standen mit offenem Mund da, während ich zu begreifen begann, warum Menschen Sänften nahmen.

Im tiefen Morgenlicht war der Staub gut zu sehen: Partikel von Kohlenrauch und getrocknetem Pferdemist, Fragmente von Backstein, Eisen, Farbe, Porzellan und Leder. Sie weichten die Konturen der Gebäude auf, aufgewirbelt von den Rädern vorbeirauschender Gefährte – Heukarren, Postkutschen, offene Zweispänner. Zerlumpte Gestalten spielten mit dem Tod, indem sie sich zwischen den Wagen hindurchdrängten, während Straßenhändler an den Seiten standen und ihre Waren in einem Singsang anpriesen: Blumen, Bier, Schnecken, Milch, Noten zu den neuesten Balladen. Es roch nach frischem Brot, vergammelndem Essen, Kohlenfeuer und ungewaschenen Körpern. All das erfüllte mit dem Scheppern von Eisenrädern auf Kopfsteinpflaster und den Rufen der fliegenden Händler die Straßen. Die überlappenden Vibrationen von Leben auf dichtestem Raum. Das Läuten der Kirchenglocke übertönte neun Schläge lang allen anderen Lärm.

Ein Seemann mit einem Papagei auf der Schulter kam uns gesenkten Hauptes entgegengeeilt, stieß mit uns zusammen und verlangsamte kurz, um sich zu entschuldigen, wobei er moosgrüne Zähne bleckte, während der Papagei empört seine schillernd grünen Flügel spreizte. Von dem Seemann zusammengedrängt, standen wir dicht beieinander und nutzten eine Lücke im Verkehr, um uns bei den Händen zu fassen und über die Straße zu preschen. Auf der anderen Seite lehnte ich mich an die kühle Mauer des nächsten Gebäudes. Ich hielt den Kopf geneigt, da mir schwarze Punkte vor den Augen tanzten. Der Krach der Stadt wurde im Takt meines Pulses mal lauter, mal leiser.

»Geht es dir gut?«, rief Liam mir ins Ohr. Ich nickte.

Eine Dame wurde in einer Sänfte vorbeigetragen, gefolgt von einem winzigen afrikanischen Diener, Kind oder Pygmäe, dem wiederum ein nackter schmutziger Mann folgte, der in eine Wolldecke gehüllt war und etwas vom Jüngsten Gericht brüllte. Es gab mehr Bettler, als ich zählen könnte, einschließlich eines einbeinigen Armee-Veteranen in Uniform und eines Mannes ohne Arme, der einen Korb für Almosen um den Hals hängen hatte und traurig seine Stümpfe nach vorn streckte. Liam und ich wechselten einen entsetzten Blick, und ich ließ eine Münze in den Korb fallen. An den Straßenecken wichen uns alt aussehende kleine Jungen aus, die mit Fetzen von Besen den Pferdedung aus dem Weg fegten und uns ihre Hände entgegenreckten.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass hier jeder kostümiert war, als hätten wir uns zu einer gruselig realistischen Halloweenparty mit Regency-Motto eingefunden. Es gab eine Milchmagd, die ein Joch mit Milchkannen schleppte, einen Diener aus reichem Haus in blauer Livree, weißen knielangen Strümpfen und gepuderter Perücke, einen mehlbestäubten Bäcker mit einem Korb voller Brotlaibe.

Der Tuchhändler im Grafton House war eine Oase der Stille. Bogenfenster zur Straße und ein Oberlicht erhellten das Innere, wo kunstvoll abgewickelte Stoffballen auf Holztresen drapiert waren. Wir stellten uns an und beobachteten, wie die Kunden die Stoffe befühlten und Tratsch austauschten. Die Verkäufer riefen sich gegenseitig Anweisungen zu und neigten sich zu ihren Kunden. Die beiden direkt vor uns hatten Mühe, sich einig zu werden, und ich schlich mich näher, um zuzuhören, weil ich auf Tipps hoffte, wie man richtig einkaufte, und fasziniert von diesem kleinen Einblick in ihr Leben war.

»Ich weiß nicht, ob der Clarissa gefallen würde«, sagte die ältere Frau. »Sie hat sich seit der Heirat so verändert, dass ich kaum zu erraten wage, was ihr noch gefällt.«

»Sie wird ja wohl kaum einen Musselin von guter Qualität verachten, Mama.«

»Meinst du nicht, die Streifen könnten ihr zu frivol sein?«

»Es sind geschmackvolle Streifen. Sehr dezent. Man sieht sie kaum«, erwiderte die jüngere Frau leise, bevor sie etwas lauter wurde, als sich der Verkäufer ihnen zuwandte. »Sieben Meter von diesem.« Sie fuhr fort: »Und wenn sie ihn nicht mag, wird sie es sagen. Dann nehme ich ihn.«

»Sie wird es nicht sagen. Seit der Heirat vertraut sie sich mir nicht mehr an.« Ihre Tochter seufzte leise und wechselte zu dem Thema »Bänder«.

Aus dem Nichts tauchte ein Verkäufer auf und fragte Liam etwas.

»Nein, wir brauchen das und noch eine Menge anderes«, sagte er in einem ebenso überheblichen Ton, wie er ihn im Swan benutzt hatte. Der Mann begann, diverse Leinenballen aufzurollen. Es war die gängige Ware, die ballenweise für Hemden und Laken eingekauft wurde, welche dann zu Hause genäht wurden, hauptsächlich von der Dame des Hauses, und das selbst in wohlhabenden Familien. Liam ließ sich Zeit, bevor er den teuersten Stoff auswählte, zu dem ihn der Verkäufer beglückwünschte. Unterdessen beobachtete ich alles schweigend, amüsiert von seiner neuen Persönlichkeit als textilerfahrener Dandy und ein wenig beleidigt, weil ich ausgeschlossen wurde. Nach einer längeren Diskussion über die besten Materialien für Westen, Jacken und Hosen hatte sich ein beachtlicher Berg Stoff auf dem Tresen aufgetürmt, und wir konnten uns meinem Bedarf an Kleidung zuwenden. Ich wählte rasch acht Musselin-Arten für Kleider aus und war froh, endlich etwas zu tun und nicht bloß zuzuschauen.

Wir vereinbarten, dass der Großteil unseres Einkaufs zu unserem Gasthaus geliefert wurde, und nahmen nur einiges mit, um damit Schneider aufzusuchen. Der Verkäufer, der alles auf einem langen Bogen Papier zusammengerechnet hatte, blickte auf. »Und wie wünschen Sie zu bezahlen, Sir? Haben Sie bereits ein Konto bei uns, oder möchten Sie eines einrichten?«

Ich war so von der Aufgabe gefesselt gewesen, dass ich vergaß, Angst zu haben. Die stellte sich nun prompt ein. Liam zögerte und zog einige Banknoten aus der Innentasche seiner Jacke, löste eine davon und reichte sie über den Tresen. Es waren zehn Pfund, ausgestellt auf die Bank of Scotland. Mein Herz pochte, als der Verkäufer sie ins Licht hielt, seinen Daumen befeuchtete und an der Tinte in der Ecke des Scheins wischte, das Papier befingerte und schließlich Liam zunickte. »Einen Moment bitte.« Er verschwand durch eine Tür in ein Hinterzimmer.

Das Projektteam war sicher gewesen, dass niemand die gekonnte Fälschung erkennen würde: relativ kleine Beträge, verteilt über viele Banken, in Tinte und Papier exakt den noch erhaltenen echten Banknoten nachempfunden. Nun jedoch hing unser Leben auf eine Weise von den Artefakt-Produzenten ab, die mir bis zu diesem Moment nicht recht bewusst gewesen war. Ich blickte zu Liam auf, der zu der Tür sah, durch die der Verkäufer verschwunden war. Seine Miene gab nichts preis. Er könnte irgendjemand sein, der auf sein Wechselgeld wartete.

Während sich die Minuten dehnten, rann mir Schweiß zwischen die Brüste und wurde unterhalb von dem Geldgürtel gebremst. »Wenn er nicht wiederkommt, renne ich weg«, flüsterte ich. Wohin würde ich laufen? Käme ich überhaupt aus dem Geschäft? Inzwischen war es voller geworden, und wir waren an dem Tresen eingekeilt. Ich roch Tabak und ungewaschene Haare.

»Denk nicht mal dran«, raunte Liam und ergänzte lauter: »Denk dran, dass wir nach Schneidern fragen müssen, wenn er zurückkommt.«

Der Mann kam wieder, nicht, um uns verhaften zu lassen, sondern um sich zu entschuldigen. Sie hatten Probleme gehabt, Wechselgeld zu finden. Dann schrieb er uns die Adressen von Schneidern auf einen Fetzen braunes Einwickelpapier. Der auf Jacketts spezialisierte Schneider war berühmt; er saß in der St. James’s Street, und die Werkstatt führte kein Geringerer als Beau Brummell persönlich, der sich aus obskuren Umständen zur Instanz in Sachen Männerbekleidung emporgearbeitet hatte. Im Grunde hatte er die Herrenmode des Regency erfunden. Ein anderer Schneider, beinahe genauso berühmt, war auf Hosen spezialisiert, und dann gab es noch mehrere Schneiderinnen für mich.

»Was ist mit Hemden?«, fragte ich. »Kann jemand von diesen Leuten ein Hemd schneidern? Ich nähe nicht sehr schnell.«

Der Verkäufer sah mich an, kratzte sich am Kopf und schrieb noch etwas auf.

Bis wir zum Golden Cross zurückkehrten, waren die Lampenanzünder bereits am Werk. Wir hatten den Hemdenschneider, den Hosenschneider, den Jackenschneider und eine Damenschneiderei aufgesucht. Wir hatten Strümpfe, Hüte, Schuhe, Handschuhe und zwei Truhen gekauft, um alles darin zu verstauen. Außerdem besorgten wir Schreibfedern, Tinte, Papier, Zahnputzstöckchen aus Eibischwurzel und eine Erstausgabe von »Mansfield Park«. Dabei hatten wir mehrere Fünfpfundscheine der Bank of Ireland ausgegeben.

In meinem Zimmer stellte ich fest, dass alle Münzen aus meinem Retikül, einer Art Handbeutel, verschwunden waren. Dabei hatte ich es fest verschnürt und immer dicht bei mir gehabt, oder zumindest glaubte ich das. Es war nicht mal ein Pfund gewesen, dennoch erschreckte mich der Verlust. Ich versuchte mich damit zu trösten, dass mein Taschendieb das Geld nötiger hatte als ich, was mich indes auf einen schlimmeren Gedanken brachte: Was ist, wenn der Umstand, dass er dieses Geld hat, den Lauf der Geschichte veränderte?

Die Anweisung des Instituts lautete, dass wir so wenig Kontakt wie möglich zu irgendjemandem außer unseren Zielpersonen haben sollten, da man fürchtete, dass wir das Wahrscheinlichkeitsfeld stören und eventuell auf unvorhersehbare und schädliche Weise makrohistorische Ereignisse beeinflussen könnten. Andererseits besagte die McCauley-Madhavan-Theorie, dass das Feld einige Störungen überstehen könnte – sonst wäre unsere Mission gar nicht denkbar. Von den vorherigen sechsunddreißig Einsätzen in der Vergangenheit waren siebenundzwanzig Teams mehr oder minder unversehrt zurückgekehrt, während bei sechsen einige Erinnerungsmodifikationen erforderlich gewesen waren und drei überhaupt nicht wiederkamen. Bisher hatte keine Mission die Geschichte maßgeblich verändert. Unsere jedoch war insofern beispiellos, als sie erforderte, dass wir unseren Zielpersonen sehr nahekommen mussten.

»Ihr müsst der Versuchung widerstehen, euch zu sehr einzulassen«, hatte Dr. Ping gesagt, der Leiter des Projektteams. »Es ist eine verführerische Epoche, ungeachtet der vielen ekelhaften Aspekte.« Doch wie sollten wir unbeteiligt bleiben und trotzdem – was? Uns Geld stehlen lassen? Einen Hemdenschneider engagieren, der aussah, als wäre er kurz vorm Verhungern? Vielleicht hatten wir heute mit Liams Bestellung von einundzwanzig Hemden sein Leben gerettet.

Ich betrachtete mein Kleid im fahlen Licht und entschied, es auszuziehen. Wir waren fast wieder hier gewesen, als ein vorbeifahrendes Fuhrwerk durch eine Pfütze in der Nähe gerollt war und einen Sprühregen aus Schlamm aufgestoben hatte, der unten auf mein Kleid und das Unterkleid darunter sowie auf Liams Stiefel getroffen war. Ich konnte das nur in meinem Waschwasser ausspülen und auf das Beste hoffen.

In dem Wirtshaus hatten wir einen Salon neben unseren beiden Schlafzimmern. Ich vergewisserte mich, dass niemand auf dem Flur war, ehe ich in Korsett und Hemd nach draußen huschte. Erst als meine Hand den Türknauf berührte, fiel mir ein, dass ich meinen Schal hätte mitnehmen können, aber ich lief nicht wieder zurück. Die Aussicht, in Unterwäsche vor meinem Kollegen zu erscheinen, hatte mich heute Morgen noch erschreckt. Jetzt war ich zu müde, als dass es mich scherte. Hatte ich etwa nicht laufend im Fitnessraum des Instituts trainiert und dabei weniger angehabt? Und mir wurde klar, woher meine frühere Sorge gerührt hatte: Ich hatte die Einstellung von 1815 angenommen, mich in unserem Narrativ bewegt – oder es zumindest geglaubt. Darauf sollte ich in Zukunft achten.

»Was für ein Tag, was?« Ich musterte das Angebot auf dem Tisch neben dem Kaminofen, in dem ein Kohlenfeuer brannte: eine Scheibe Fleischpastete, ein Stück Brühfleisch, gekochter Kohl zu gekochten Kartoffeln und eine Art gekochter Pastete, mit Bacon drapiert. Und Wein, zum Glück.

Liam stand am Fenster und sah nach draußen. Von hier blickte man in eine dunkle Seitengasse. Liams Stiefel waren fort – er musste sie zum Putzen gegeben haben – und er hatte seinen Gehrock ausgezogen. Sein Halstuch und die Perücke waren gleichfalls verschwunden, und er schien seinen Kopf kurzerhand in seine Waschschüssel getaucht zu haben.

»Hier«, sagte ich und gab ihm seinen Geldgürtel. Während er ihn nahm, warf er einen Blick auf meinen Aufzug. Und einen zweiten, bevor er sich abwandte. Er sagte nichts, wurde jedoch rot und setzte sich an den Tisch, wo er den Kopf in die Hände stützte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich reumütig. Wir mussten lange Zeit eng zusammenarbeiten, da sollte ich vorsichtig sein, was Grenzen betraf, die Tabus anderer berücksichtigen. Viele der Old British sind prüde, was noch so ein wiederbelebtes Ding aus glorreichen viktorianischen Tagen ist.

Er hob den Kopf und schenkte uns Wein ein. »Es war ein recht anstrengender Tag, aber – vielleicht gewöhnen wir uns daran. Möchtest du etwas hiervon? Ich kann nicht erkennen, um welches Tier es sich handelt, aber es ist gründlich durchgekocht.«

Unsere eigene Welt ernährte sich notgedrungen vegan, und die Nahrung war Produkt der Technologie, nicht der Natur. Man konnte synthetisch etwas Fleischähnliches herstellen, doch das war unbeliebt, Teil der verlorenen Welt vor dem Großen Sterben, jener Ära von Chaos und egoistischen Fehlern, an die niemand erinnert werden wollte. Wir hatten es allerdings im Zuge der Vorbereitung gegessen, um uns damit vertraut zu machen.

Ich nahm einen Bissen von dem gekochten Pasteten-Ding, das weich und zugleich unnachgiebig war, und kaute und kaute, zwang mich zu schlucken. Das Kunstfleisch in der Vorbereitung war vollkommen anders gewesen. Mein Messer fühlte sich schwer und kalt an; meine Gabel war stumpf wie Zinn und besaß nur zwei Zinken. Trotzdem machte ich mich entschlossen über das Essen her. Und den Wein.

Während wir schweigend aßen, ging ich im Geiste die Ereignisse des Tages durch. Ihre Intensität verblasste dank Feuerschein, Stille und Alkohol. »Es war klug, mit dem Ausgeben der Banknoten zu beginnen. Ein Test. Hätte eine davon Verdacht erregt, hätten wir vorgeben können, selbst Opfer eines Betrugs zu sein. Was mit ein paar Tausend Pfund in einer Bank weit schwieriger sein dürfte.« Ich stocherte mit meiner Gabel in dem gekochten Ding. Warum war das so federnd? »Und du warst wunderbar ruhig.« Liam schüttelte den Kopf. »Warst du nervös?«

»Du nicht?«

»Man hat es dir nicht angemerkt.«

»Würde man alles zeigen, was man empfindet«, sagte er und machte eine Pause, solange er denselben Happen gründlich kaute, bevor er einen Knorpel ausspie und ihn auf seinen Tellerrand legte, »wäre es nicht die Welt von Jane Austen, oder?«

»Sehr richtig.« Ich erhob mein winziges Weinglas auf seine Feststellung, leerte es und schenkte uns nach. »Aber du warst früher Schauspieler, stimmt’s? Das muss helfen. Du sprichst so gut wie nie darüber.« Er sprach insgesamt nicht viel über sich. Dies war eine gute Gelegenheit, mehr zu erfahren, ehe wir ununterbrochen von Bediensteten umgeben waren und in unseren Rollen bleiben mussten. »Was ist dein Lieblingsstück von Shakespeare? Was für ein Schauspieler warst du?«

Liam sah misstrauisch aus. »Die übliche Sorte, die keine Arbeit findet.«

»Aber du warst auf einer Schauspielschule?«

»Ja.«

»In London?«

»In London.«

Ich stockte, weil ich nicht recht weiterwusste. »Und hat es dir Spaß gemacht?«

»Meistens.« Er wurde wieder rot. »Mehr Spaß als die medizinische Hochschule, stelle ich mir vor.«

»Mir hat die medizinische Hochschule Spaß gemacht.«

»Schön für dich.«

»Aber ich hätte auch gerne Schauspiel studiert. Es fasziniert mich. Ich sehe den großen Widerspruch zwischen Kunst und Wissenschaft nicht, auf den die Leute immer pochen. Warum kann man nicht beides mögen?«

»Dafür gibt es keinen Grund.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, neigte seinen langen Kopf zur Seite, sah mich an und drehte das leere Glas in seinen Händen. »Bist du deshalb hier gelandet? Aus Liebe zur Literatur?«

»Ja, die Kurzversion. Meine Liebe zu Jane Austen.«

»Sie ist ein Wunder.« Wir beide dachten einen Moment nach, und Liam fuhr leiser fort: »Und sich vorzustellen, dass sie lebt. Jetzt! Und dass wir sie treffen könnten und – Gott bewahre, dass wir es vermasseln …«

»Werden wir nicht.«

»Du klingst sehr sicher.«

»Ich mache das alles nicht durch, um zu scheitern.« Liam sagte nichts. Ich servierte uns ein Stück Fleischpastete und hoffte, dass sie besser war als die im Swan. Ginge schlechter überhaupt?

»Was ist die lange Version?«

»Wie bitte?«

»Du sagtest …« Er blickte nach unten zum Tisch. »Also …«

»Ich hatte Beziehungen, kannte jemanden. Ich meine, sonst wäre ich wohl nicht die erste Wahl gewesen, als Amerikanerin und so – aber ich war die Beste, und am Ende waren sie so klug, es einzusehen. Jane-Austen-Nerd ohnegleichen, daran gewöhnt, unter primitiven Bedingungen zu praktizieren, nachweislich mutig, was auch immer.« Ich unterbrach. »Und du?«

»Nicht nachweislich mutig, nein.«

»Wie bist du …?«

»Ich hatte Glück.«

Falsche Bescheidenheit geht mir auf die Nerven. Liam hatte eine Biografie über Beau Brummels Kammerdiener geschrieben, die bewies, dass er über einen eleganten Prosastil und einen klugen Humor verfügte, zumindest auf dem Papier. Er fuhr fort: »Herbert Briand war mein Professor. Mein Mentor eigentlich.« Ich musste verwundert ausgesehen haben. »Er fand den Brief.«

»Ah, richtig.« Nachdem alle erhaltenen Briefe von Jane Austen aufgetaucht sein sollten und der kommentierte Sammelband in seiner elften Auflage gewesen war, hatte man noch einen weiteren in einer längst aussortierten Ausgabe von Ivanhoe in einem Bibliothekslager in Croydon entdeckt. Er war 1815 an Jane Austens Freundin Anne Sharpe geschrieben worden, und der Inhalt erwies sich als explosiv. Ein angefangener und vermeintlich aufgegebener Roman, ungefähr 1804 datierend und Jahrzehnte später als Fragment mit dem Titel »The Watsons« erschienen, war tatsächlich fertiggestellt worden. In dem Brief erklärte Jane Austen, warum sie den Roman nicht veröffentlichen wollte und ihn zu vernichten plante. Zu persönlich, schrieb sie, zu düster. »Er hat dich ermuntert, dich zu bewerben?«

»Er hat es möglich gemacht.«

»Sicher spielten auch deine eigenen Verdienste eine Rolle. Aber das war sehr großzügig von ihm. Man sollte meinen, dass er selbst reisen wollte.«

»Er ist ein alter Mann und nicht gesund.«

»Trotzdem ist es nett von ihm, dich zu unterstützen. Es wird riesig für deine Karriere sein, oder?« Zeitreisen waren geheim; sollten wir Erfolg haben und mit »The Watsons« zurückkehren, würde sich das Institut eine Geschichte über eine Gelehrtenentdeckung ausdenken. Es wäre ein Riesending, denn die Old British beteten Jane Austen an und betrachteten ihr kurzes Leben und das kleine Werk als eine Tragödie von ähnlicher Tragweite wie die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria.

»Ich wäre ein gemachter Mann«, sagte Liam in solch feierlichem Ton, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste. »Das Leben kann anfangen, du weißt schon, nach dem hier.«

»Ich denke, das Leben hat bereits angefangen.« Ich schwenkte eine Hand durch den Raum. »Das ist verrückt, hier, 1815. Wenn dies nicht Leben ist, was dann?« Mein Schock von vorhin war verklungen; ich brannte darauf, dass es losging. Sie zu treffen, sie kennenzulernen. Das Jane-Austen-Projekt würde fantastisch werden. Ich erschauerte trotz des Feuers; es würde außerdem kalt werden.

»Du hast recht. Ich habe mich falsch ausgedrückt.«

»Aber du hast etwas damit gemeint. Vielleicht kannst du das Manuskript zur Veröffentlichung vorbereiten.« Ich füllte unsere Gläser nach. »Stell dir vor. Ihre Handschrift lesen! Ihre Streichungen, ihre Ersetzungen zu sehen!«

»Das hätte etwas.« Er klang, als wäre ihm die Idee nie gekommen. Dabei wusste ich, dass er irgendwann nach der Schauspielschule in Oxford gewesen war. Sein Buch war auf der Longlist für irgendeinen Preis gewesen; sein Mentor hatte ihn für das Projekt vorgeschlagen. Und da war noch etwas anderes, aber diese Erinnerung entglitt mir wieder. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich warm zu halten.

»Ist es das, was dich antreibt?« Mir wurde bewusst, dass ich ein wenig betrunkener war, als ideal wäre. Doch hier lauerte ein Rätsel, und dies war ein günstiger Zeitpunkt, es zu lösen. »Weltliche Ambitionen? Akademischer Ruhm?«

Liam sah mich an. »Möchtest du meine Jacke? Ist dir nicht kalt?«

Da mir sehr wohl kalt war, nahm ich die zu große Jacke an und krempelte die Ärmel auf, bis ich meine Hände wiedergefunden hatte. Es entstand eine Pause, in der ich hoffte, dass er keine Bemerkung darüber machte, wie klein ich war. Er tat es nicht, und ich sagte: »Ich hatte versucht, mein Kleid zu säubern. Von dem Schlamm.«

»Dann hatte ich richtig vermutet.«

»Es war nicht mein Plan, nur teilbekleidet durch 1815 zu ziehen.« Ich hatte auf ein Lachen gehofft, doch er nickte bloß.

Ich erhob mein Glas. »Auf die Mission.«

»Auf Jane Austen.«

»Auf ›The Watsons‹.«

Wir stießen an. Ein Windstoß drang durchs offene Fenster herein und wirbelte durch das Zimmer, sodass das Feuer flackerte und Schatten warf. Wieder fröstelte ich. Ich hatte das Gefühl, hier zu sein und auch wieder nicht, als würde ich die Szene von ferne beobachten, als wäre die Zeit ins Stottern geraten, ausgegangen und wieder angesprungen, wie eine vorübergehende Störung des Herzrhythmus. Manchmal sehe ich uns heute noch dort, ganz unschuldig und ahnungslos, mit allem noch vor uns.

KAPITEL 2

23. September

33 Hill Street, London

Überraschend schnell fing die Fremdheit von 1815 an, sich normal anzufühlen. Mithilfe von Zeitungsannoncen, einem Hausmakler und flüssigen Mitteln kamen wir zu einem angemessenen Haus – vollständig möbliert, Toilette im Haus, vornehme West-End-Adresse –, das wir für sechs Monate mieteten. Wir hatten drei Bedienstete eingestellt, noch mehr Kleidung in Auftrag gegeben und mit der unheimlichen Aufgabe begonnen, das Falschgeld zu deponieren. Es gab so viel zu tun, und wir durften keine Zeit verlieren.

Routine stellte sich ein; Gewohnheiten entstanden. Ich setzte mich täglich unten mit Mrs. Smith zusammen, unserer Köchin und Haushälterin, um die Speiseplanung und die Einkäufe durchzugehen und alle Kosten zu prüfen. Sie war eine stämmige Frau mit sanften dunklen Augen und Pockennarben, und sie hatte eine behutsame Art, mir Dinge zu erklären, die ihr sehr offensichtlich scheinen mussten.

Eines Morgens allerdings präsentierte sie mir eine neue Herausforderung, kaum dass ich mich in ihrer kleinen Kammer auf halbem Weg zur Küche hingesetzt hatte. »Grace sagte mir, dass der Kamin im Salon qualmt, Miss.«

»Tut er das? Nun, vermutlich wird sie es wissen.« Grace war das Mädchen.

»Ist es Ihnen nicht aufgefallen?« Ich hatte keine Ahnung. Kohlenrauch war eines der Dinge, nach denen das Haus roch, neben Bienenwachskerzen, dem Terpentin und Essig in den Reinigungsmitteln und dem Lavendelduft, mit dem die Bettlaken beträufelt waren. »Als Sie mit dem Hausmakler sprachen, hat er Ihnen da gesagt, wann die Schornsteine zuletzt gereinigt wurden? Ich glaube, das Feuer in der Küche zieht auch nicht so, wie es sollte.«

»Müssen wir die reinigen?« Ich dachte an Oliver Twist und die Szene, in der Oliver nur knapp dem Schicksal entging, der Helfer eines Schornsteinfegers zu werden, der in die Schornsteine klettern musste.

Mrs. Smith blinzelte langsam, was ihre Art war, ihre Verwunderung ob meiner Unwissenheit zu unterdrücken. Das Institut hatte sich überlegt, weil wir uns in einem England bewegen würden, in dem sich in den feinen Kreisen jeder zu kennen und alle nicht allzu entfernt miteinander verwandt wären, wäre die Lösung, weshalb wir keine Familie, keine Freunde und keine Bekannten aufweisen würden, uns zu verwaisten Geschwistern zu machen, den Kindern eines jamaikanischen Plantagenbesitzers. Es war keine ideale Biografie, könnte aber eine Menge erklären, wie etwa, dass ich nichts über Schornsteine wusste.

»Wenn Sie wünschen, Miss, schicke ich Mr. Jencks los, einen Schornsteinfeger zu holen.« Ich musste immer noch verwirrt ausgesehen haben, denn sie fügte hinzu: »Um diese Zeit sind sie draußen unterwegs und bieten ihre Dienste an.«

»Aber sagen Sie ihm, er soll einen holen, der Bürsten benutzt, nicht einen kleinen Jungen in den Schornstein schickt.«

Sie blinzelte. »Bürsten?«

»Einige haben diese Bürsten mit langen Stielen, mit denen sie von oben alles erreichen.«

»Das habe ich ja noch nie gehört.«

»Dennoch gibt es sie.« Da war ich mir sicher. »Vergessen Sie es nicht, wenn Sie mit Jencks sprechen.« Ich selbst redete so wenig wie möglich mit Jencks, dem Diener. Meine Begegnungen mit ihm waren immer unerfreulich. »Er mag mich nicht«, hatte ich mich bei Liam beschwert. »Wenn ich ihn bitte, irgendwas zu tun, sieht er mich nur spöttisch an und findet einen Grund, weshalb es nicht geht.« Liam hatte skeptisch ausgesehen. Ihm gegenüber war Jencks stets kriecherisch höflich.

Später im Green Park dachte ich über Jencks und die seltsame Notwendigkeit nach, Bedienstete zu haben. Der Morgenspaziergang war zu einer festen Einrichtung geworden, denn dann konnten wir Dinge besprechen, ohne fürchten zu müssen, dass wir belauscht wurden. An jenem Tag jedoch hatten wir nicht viel geredet, waren nur schweigend eine Platanenallee hinuntergegangen. Es war sonnig, aber kalt mit einer leichten Andeutung von Herbst in der Luft. Eine Windböe hatte fallendes Laub eingefangen und verwirbelte es in der Luft über uns.

»Es wird Zeit, dass ich Henry Austen schreibe«, sagte Liam unvermittelt. »Meinst du nicht?«

Ich sah ihn staunend an. »Äh, doch.«

Dazu drängte ich ihn beinahe schon, seit wir hier angekommen waren, allemal seit wir das Haus in der Hill Street bezogen und eine vornehme Adresse hatten, von der aus wir schreiben konnten. Liam hatte mich immer wieder vertröstet, behauptet, wir müssten noch mehr recherchieren. Wir hatten lange Spaziergänge in Parks oder eleganten Einkaufsstraßen unternommen, waren zu Kunstausstellungen und ins Theater gegangen, besessen davon, das Benehmen und die Haltung der vornehmen Leute zu studieren, welche Worte sie benutzten und wie sie die aussprachen.

In gewisser Weise verstand ich Liams Zögern. Wir hatten eine einzige Chance, einen guten Eindruck auf Henry Austen zu machen; ein Scheitern würde den Verlust unserer besten Chance bedeuten, seine Schwester kennenzulernen. Und in gewisser Weise machte es mich rasend. Es war keine Zeit zu verlieren, und leider war Liam für diesen Teil zuständig, nur weil er ein Mann war. Ich konnte nicht an Henry Austen schreiben.

»Na gut.« Liam nickte mir zu, und erst jetzt fiel mir ein, wie nervös ihn dieser Schritt machen musste. Sogar ängstigen.

Doch wir durften keine Zeit an Furcht vergeuden. Mitte Oktober sollte Jane Austen in London bei Henry sein, und dann würden sich Dinge ereignen, in die wir eingebunden sein mussten. Es war, als wollten wir auf einer bestimmten Welle surfen und waren schon spät dran.

»Es wird schon. Du kannst das«, sagte ich zu ihm. Ich fragte mich jedoch, ob er es wirklich konnte.

Wir waren eben wieder im Haus, als wir einen Schrei, gefolgt von einem Knall hörten. Wir sahen einander an und gingen dem Geräusch nach die Treppe hinauf und in den Salon, aus dem der Lärm gekommen war. Ein schwarzer Lappen hing vor dem Kamin, aus dem ein nackter menschlicher Fuß lugte. Hinter dem Tuch fand ich einen kleinen Jungen, reglos und schmutzig. Ich kniete mich hin, um ihn mir genauer anzusehen. Seine Atmung war schnell und flach; er stank nach Ruß. Ich rüttelte an seiner Schulter.

»Kannst du mich hören?«

Er öffnete die Augen und sah zu mir auf. Die Iris war von einem warmen Braun, und das Weiße bildete einen krassen Kontrast zum rußgeschwärzten Gesicht. »Kannst du mich hören?«, fragte ich wieder. Er nickte und versuchte, sich zu bewegen, doch ich hielt ihn fest. »Fühlst du das?« Ich drückte erst einen, dann den anderen Fuß. »Und das?«

»Ja, Ma’am«, sagte er würgend und hustete rasselnd.

»Kannst du bitte mal mit den Zehen wackeln? Was ist mit deinen Fingern?«

Er konnte. Ich tastete seine Wirbelsäule durch die Lumpen ab und fand keine Anzeichen von einer Verletzung.

Ich hockte mich auf die Fersen zurück, betrachtete den Jungen und zog an der Klingelschnur neben dem Kamin. Doch Jencks stand bereits in der Tür und sah erstaunt aus. »Könnten wir etwas Tee bekommen?«

Er grinste spöttisch. »Woher sollen wir heißes Wasser nehmen, wenn der Schornsteinfeger da ist und alle Feuer aus sind?«

»Ich fange an zu verstehen, was du meinst«, murmelte Liam, der hinter mich getreten war, ohne dass ich es bemerkt hatte. Er fuhr lauter fort: »Dann eben Porter, Jencks! Bringen Sie uns ein halbes Pint. Wenn wir keines dahaben, holen Sie welches.«

»Ja, Sir.« Und er war fort.

Der Junge hatte sich aufgesetzt und rieb sich die Augen mit seinen schmutzigen Händen.

»Lass das«, sagte ich strenger als beabsichtigt. Er erstarrte, und ich hielt ihm mein Taschentuch hier. »Hier, nimm das. Du darfst nicht noch mehr Ruß in deine Augen bekommen. Das macht sie nur schlimmer.«

Doch er starrte das Tuch nur an. Ich bemühte mich, einen sanfteren Ton anzuschlagen. »Es macht nichts, wenn es schmutzig wird. Ich habe mehr. Tut dein Kopf weh?«

»Nee.«

»Wie heißt du?«

»Tom.« Es war kaum ein Hauchen.

Ich stand auf. »Ich bin Miss Ravenswood. Kommst du mit mir in die Küche, Tom? Vielleicht können wir dich ein bisschen waschen.« Ich hielt ihm meine Hand hin, und er überraschte mich, indem er sie nahm. Als er aufstand, wobei schwarzer Staub von ihm rieselte, ging er mir kaum bis zur Taille, und ich fühlte, wie sich etwas in meiner Brust verkrampfte.

Ich fand Mrs. Smith in der befremdlichen kühlen Küche, wo sie die Gewürzbestände prüfte; Grace polierte Silber.

»Ich hatte um einen Schornsteinfeger gebeten, der keinen Jungen in den Rauchfang schickt.« Beide Frauen drehten sich erschrocken um und blickten von Tom zu mir und zurück zu Tom.

»Miss, ich hatte Ihre Anweisung weitergegeben.«

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