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Jetzt und auf ewig

All die Sehnsuchtsjahre
Einen Sommer lang hatten Leigh und John eine Affäre, doch sie beide hatten andere Vorstellungen für die Zukunft. Dennoch konnte John, sie nie vergessen. Jetzt ist Leigh zurück in ihrer Heimatstadt! Hat ihre Beziehung diesmal eine Chance?
Versprechen um Mitternacht
Vor sieben Jahren hat Jax sie verlassen und ihr das Herz gebrochen. Nun will er Kelly zurückerobern. Dafür muss er ihr aber zuerst gestehen, warum er damals so plötzlich von der Bildfläche verschwand …
Scherben bringen Glück und Liebe
Im Leben ihres Nachbarn Cole regiert das Chaos - und das ist völlig unvereinbar mit den Plänen der karriereorientierten Lauren. Trotzdem wirbelt der attraktive Witwer ihre Emotionen durcheinander und weckt unbekannte Sehnsüchte in ihr!
  • Erscheinungstag: 06.02.2017
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956499685
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Robyn Carr

All die Sehnsuchtsjahre

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Elisabeth Hartmann

1. Kapitel

John fuhr regelmäßig an Jess Wainscotts Haus vorbei und hielt Ausschau nach ihrer Tochter Leigh. Beinahe fünf Jahre waren vergangen. Dass er einen Blick auf Leigh zu erhaschen hoffte, ärgerte ihn; er wäre gern über sie hinweg gewesen. Dennoch hielt er unwillkürlich die Augen offen – und er war keineswegs über sie hinweg.

An diesem Tag fuhr er nicht einfach nur vorbei. Jess hatte einen Auftrag für ihn. John besaß eine eigene Firma in Durango – McElroy Property Services. Er bot nicht nur Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten an, sondern zu seinem Geschäft gehörten auch eine Landschaftsgärtnerei und eine sehr gute Gärtnerei. Und nun wollte Jess wissen, ob es jetzt – Anfang März – vielleicht zu früh wäre, um ein Mandelbäumchen zu pflanzen. Obwohl sein Unternehmen mehr zufällig oder versehentlich ein Erfolg geworden war, betrachtete John sich nach wie vor als Handwerker und Gärtner. Er konnte ihr nicht nur ein Mandelbäumchen bringen, sondern auch am Spülbecken den Wasserhahn auswechseln, tapezieren, einen Whirlpool installieren, Zement für eine Terrasse gießen. Oder einen seiner Angestellten mit den Aufgaben beauftragen.

„Nein, zu früh ist es nicht“, hatte er gesagt. „Nicht, wenn du bereit bist, es vor eventuellem späten Frost zu schützen und dafür zu bezahlen, dass irgendein armer Kerl den hart gefrorenen Boden umgraben muss.“

„Nur, wenn du selbst dieser arme Kerl bist“, erwiderte sie fröhlich. „Es liegt mir wirklich am Herzen, im Frühling diese Blüten vor meinem Schlafzimmerfenster zu sehen.“ Dann hatte sie geseufzt. John hatte nie zuvor eine wehmütige Äußerung von Jess wahrgenommen. Sentimentalität schien keine ihrer Charaktereigenschaften zu sein.

Jess Wainscott war sechzig und seit acht Jahren Witwe. Mit zweiundfünfzig, im besten Alter für eine Frau, hatte sie ihren Partner verloren, allerdings nicht ihre Lebensfreude. Jess war Vorstandsvorsitzende des Bibliotheksausschusses und des Frauenrats der Presbyterianischen Kirche. Zudem arbeitete sie in zahlreichen Komitees und karitativen Vereinen. Sie war auf beinahe jeder Kunstausstellung und Benefizveranstaltung, bei jedem Baseballspiel, Galadinner oder Grillfest der Stadt anzutreffen. Und sie fuhr Ski, und bei solchen Gelegenheiten begegnete John ihr am häufigsten, denn er war bei der freiwilligen Ski-Patrouille.

„Cal hat gemeint, wenn er nach seinem Tod zurückkommt, wäre er ein Kolibri und würde aus den Blüten vor meinem Schlafzimmerfenster Nektar trinken“, erklärte sie John. John brummte vor sich hin und wuchtete das Mandelbäumchen in seinem Behälter von der Ladefläche seines Pick-ups. Mit einem Knall ließ er es runter. „Deshalb muss ich dort etwas pflanzen. Ich will herausfinden, ob er mich nur auf den Arm nehmen wollte.“

„Du bist schon seit ein paar Jahren verwitwet, Jess“, gab John zu bedenken. Sie war das vierte und neueste Mitglied einer lebhaften Frauengruppe, die sich die Witwen-Brigade nannte. Sie waren beste Freundinnen, wurden ständig zusammen in der Stadt gesichtet und John war für sie alle tätig. Peg, Abby, Kate und Jess. Er hatte viele Kunden, nicht nur Witwen, doch diese vier Frauen waren seine liebsten. Sie alle zahlten ihm zu viel, piesackten ihn, wollten ihn aufpäppeln wie einen Sohn.

„Seit acht Jahren“, erwiderte sie. „Ich neige dazu, Dinge auf die lange Bank zu schieben.“ Sie lachte. „Bis jetzt wollte ich nicht von ihm gestört werden.“

Die Wagen längs der Zufahrt verrieten, dass Jess Besuch hatte. „Brigade-Treffen?“, erkundigte er sich.

„Dienstag. Gartenclub. Oder ist heute Mah-Jongg-Tag? Ich vergesse es immer. Wir machen eh selten das, was wir geplant hatten. Meistens suchen wir nur eine Beschäftigung, während wir tratschen“, antwortete sie. Sie folgte John zur Seite des Hauses, wo das Bäumchen gepflanzt werden sollte, und löcherte ihn mit Fragen, während er grub. Hatte er im letzten Winter wieder die Ski-Patrouille geleitet? Welchem Baseballteam würde er beitreten, weil sie ihn doch spielen sehen wollte? Vermietete er immer noch diese Eigentumswohnung in Purgatory? Doch sie stellte ihm nicht nur Fragen, sondern bombardierte ihn auch mit Bemerkungen. Sie brauchte neuen Rollrasen. Sie überlegte, das Klavier ins Obergeschoss zu schaffen. Leigh, ihre Tochter, würde bald da sein.

Er stockte mitten in der Bewegung, die Schaufel halb erhoben.

„Meine Tochter, Leigh. Du bist ihr doch sicher mal begegnet, wenn sie mich besucht hat. Im Sommer, als Cal gestorben ist, war sie zwei oder drei Monate lang hier. Und vor ein paar Jahren … ah ja, vor fünf Jahren, meine ich, hat sie den ganzen Sommer hier verbracht. Vielleicht hast du sie da mal getroffen.“

„Ich … ah, kann sein. Ja. Kann sein.“

„Ach, daran würdest du dich doch erinnern, John. Sie sieht umwerfend aus. Eigentlich kann man sie gar nicht vergessen.“

Ja. Man kann sie nicht vergessen. Ausgeschlossen. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Die Temperatur betrug elf Grad, und in den Ecken des Gartens, an den Rändern von Zufahrt und Bürgersteig lag hier und da noch etwas Schnee, aber John schwitzte. Vom Graben hatte er einen Puls von einhundertundzehn; bei der Erwähnung von Leigh Wainscott-Brackon stieg er auf gefühlte zweihundertsechzig.

„Du hast nie von ihr gesprochen“, erwiderte er.

„Nicht? Ach, Unsinn, du hast wohl einfach nicht zugehört. Ich rede kaum über etwas anderes.“

Doch nicht mit ihm. Sie bewegten sich nicht in denselben gesellschaftlichen Kreisen, hatten keine gemeinsamen Freunde und teilten nicht die gleichen Interessen. Ihre einzige Gemeinsamkeit bestand darin, dass sie beide stadtbekannt waren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Jeder kannte John McElroy, weil er die freiwillige Ski-Patrouille leitete und ein erstklassiger Handwerker war, und jeder kannte Jess Wainscott, weil sie jedem Club, jedem Wohltätigkeitsverein und jeder Gruppe in Durango angehörte. Eine der würdigen älteren Damen und der beste Handwerker der Stadt. Und obwohl sie sich mochten, waren sie nicht unbedingt befreundet.

Jedes Mal, wenn er bei Jess war, hing er förmlich an ihren Lippen. Leighs Name war während ihrer Unterhaltungen nie gefallen; das wäre ihm bestimmt nicht entgangen. Die paar Mal, als er im Haus beschäftigt war, hatte er jedes Zimmer nach Fotos abgesucht, und es gab nur ein altes – von Leigh Mitte zwanzig. Dieses Bild hatte er gesehen, als er Jess’ Kamin gereinigt hatte, als er ihren neuen Kronleuchter aufgehängt hatte, den verstopften Abfluss in der Küche repariert hatte. Das Foto schien zu wandern, allerdings hatte er nie ein neues gefunden. „Läuft sie Ski?“, fragte er gespielt ahnungslos.

„Leigh hat zahlreiche bemerkenswerte Hobbys, doch sie ist keine Sportskanone. Sie ist irgendwie … ungelenk. Jetzt war sie schon lange nicht mehr hier draußen. Na ja, vor zwei Jahren im Oktober, und da auch nur für ein paar Tage. Ihr ist es lieber, wenn ich sie besuche, da sie so viele Verpflichtungen hat. Außerdem hat sie eine Menge Platz. In Los Angeles kann man auch im Winter prima braun werden. Was anderes will ich dort im Grunde auch gar nicht.“

Los Angeles? Während sie an der Stanford University war, hatte sie immer von Los Altos gesprochen. Allerdings hatte sie ihm tatsächlich erzählt, dass ihr ein Job an der UCLA angeboten worden war. Er versuchte, diese Gedanken zu vertreiben. Gott, es war so lange her. Sie hatte nie zurückgeschaut; was mochte ihre Beziehung für sie gewesen sein? Ein Flirt? Eine Panikattacke? Ein Fehler? Er hatte ihr an ihre Büroadresse geschrieben, doch die Briefe waren zurückgekommen. Er hatte sie angerufen; eine Sekretärin hatte seine Nachrichten entgegengenommen. Ihre private Telefonnummer in Los Altos, die schwer zu kriegen gewesen war, hatte sich geändert. Die Schaufel in der Hand, ließ er diese Vorfälle innerlich Revue passieren, während er weitergrub, und zwar mit aller Kraft.

Er stellte das Bäumchen in das ausgehobene Loch und fing an, die Erde darum wieder zu verteilen. „Wenn sie auf einen ausgedehnten Besuch vorbeischaut, laufen wir einander bestimmt mal über den Weg“, meinte er. Er erwog, sich später zu betrinken.

„Ich zwinge sie quasi, nach Hause zu kommen. Ich versuche schon so lange, sie hierher zurückzuholen. Jetzt hat sich eine ganz dumme Sache ergeben. Du glaubst es einfach nicht. Anscheinend habe ich Probleme mit dem Herzen.“

Ruckartig blickte er hoch und sah ihr ins Gesicht; Jess war eine wahnsinnig unverwüstliche Sechzigjährige und augenscheinlich unglaublich gesund. Ihr Haar war dicht und grau, solange er sie kannte, ihr Gesicht wies eine gesunde Sonnenbräune und nur wenige Fältchen in den Winkeln ihrer klaren, klugen blauen Augen auf. Ihre Wangen waren rosig, ihre Lippen kirschrot, und auf Skiern machte sie eine fantastische Figur. Wäre ihre silbergrauen Haare nicht gewesen, hätte man sie für vierzig, höchstens fünfundvierzig gehalten. Seinen besorgten Blick tat sie mit einem Schulterzucken ab. „Nicht ungewöhnlich in meinem Alter.“

„Das ist ja schrecklich. Was unternimmt unser Doc dagegen?“

„Du lieber Himmel! Doc Meadows weiß nicht einmal davon“, sagte sie, was auf der Stelle Johns Argwohn weckte. Tom Meadows wurde häufig in der Gesellschaft der Witwen gesichtet … mit einer einzelnen oder mit allen. Vermutlich war er eine Art verspäteter Playboy.

„Du gehst mit dieser Sache nicht zum Doc?“, fragte er. Für ihn war einfach klar gewesen, dass der Arzt sich um sie alle kümmerte.

„Tom ist ein guter Arzt, ganz sicher, aber er ist kein Kardiologe.“

„Ich mag das gar nicht hören, Jess. Bitte, gib auf dich acht. Tu, was man dir sagt.“

„Tja, ich habe lieber ein kleines Herzproblem als alles andere, was es sonst noch sein könnte. Ich habe mich schon immer ein bisschen darüber geärgert, dass Cal uns einfach so mir nichts dir nicht verlassen hat, doch alles in allem würde ich auch lieber in meinem Garten einschlafen, als lange krank zu sein. Weißt du, ich fühle mich ja gut. Ich muss nur diese teuflische Diät einhalten. Darf nichts essen, was mir wirklich schmeckt. Ansonsten muss ich meinen Lebensstil nicht ändern, abgesehen davon, dass ich nicht mehr Ski fahren darf. Ich achte jetzt besser auf meinen Cholesterinspiegel. Ich dachte, das hätte ich schon immer getan, aber jetzt passe ich richtig auf. Und ich mache lange Spaziergänge.“

„Ist es schlimm?“

„So eine kranke Pumpe kann chronisch werden, John“, antwortete sie. „Du kannst deinen Cholesterinspiegel in der Apotheke checken lassen. Seit Herzkrankheiten so gut erforscht sind, fällt anscheinend keiner mehr tot um. Alle kriegen einen Bypass oder so. Tatsache ist, wenn ich sehr gewissenhaft auf meine Gesundheit achte, kann ich lange genug leben, um lästig zu werden. Andererseits lohnt es sich für mich vielleicht nicht mehr, mich auf eine Fernsehserie einzulassen.“

„Jess!“

Sie lachte ihn aus. Es war ein dröhnendes, lautes, ausgelassenes Lachen – typisch für sie. Es ließ ihn zusammenzucken; er hatte Angst, dass sie umkippte. „Weißt du, John, auch du könntest morgen tot umfallen. Der Unterschied besteht nur darin, dass es in meinem Fall nicht völlig unerwartet geschähe. Ich will mein Mädchen zu Hause haben und ihr den Kopf zurechtrücken. Sie braucht jemand, der ein Auge auf sie hat. Herrgott, sie großzuziehen, dazu wären zehn Mütter notwendig gewesen. Komm mit rein, denn stelle ich dir einen Scheck aus. Du kannst auch noch ein Glas Wein mit den Damen und mir trinken – aus medizinischen Gründen.“

Einen Moment lang glaubte er, sie hätte seine Gedanken gelesen. Die Nachricht, dass Leigh zurückkehren würde, ließ ihn glauben, dass er ein Glas brauchen könnte – oder zehn.

„Das ist das einzig Gute an einem angegriffen Herzen – ein Glas am Nachmittag, ein Glas am Abend.“

„Beim Wein muss ich passen“, entgegnete er. „Doch den Scheck nehme ich.“

Er folgte ihr die Stufen zur Rotholzterrasse hinauf, die um ihr gesamtes Haus herum verlief, und dann durch die Hintertür in die Küche. Dort saßen, wie angekündigt, die anderen Frauen am Tisch. Was sie an diesem Tag trieben, blieb unklar; auf der Tischplatte vor ihnen befand sich nichts außer Schreibpapier und Kaffeetassen. Mochte sein, dass sie einen Kotillon planten oder Buchbesprechungen fürs Lokalblättchen verfassten. Einmal, als er die Damen mit Stift und Zettel gesehen und sich ohne zu überlegen nach ihrem derzeitigen Projekt erkundigt hatte, erhielt er die Antwort, dass sie ihre Testamente schrieben. Seitdem hatte er nicht mehr nachgefragt. „Hi, John“, begrüßten die Frauen ihn.

„Versprichst du, mal reinzuschauen, wenn Leigh und die Jungs hier sind?“

„Die Jungs?“ Seine Stimme war eine Oktave höher geklettert. Er musste sich anstrengen, damit ihm der Schock nicht vom Gesicht abzulesen war. Leigh war also Mutter geworden. Kinder, das war einer ihrer sehnlichsten Wünsche gewesen. Zu der Zeit, während John mit Leigh zusammen war, standen Kinder ziemlich weit unten auf seiner Wunschliste, aber zu erfahren, dass Leigh Söhne hatte, versetzte ihm einen schmerzlichen Stich. Würde Jess behaupten, dass sie in all den vergangenen Jahren auch über „die Jungs“ geredet hatte?

„Mitch und Ty, meine Enkel“, erwiderte Jess und kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Scheckbuch. „Ich schätze, du wirst dich gut mit ihnen verstehen. Sie sind kleine Satansbraten. Im Gegensatz zu ihrer Mutter sind sie ziemlich sportlich.“ Sie trug Johns Namen in die entsprechende Zeile ein. „Ich will nicht sagen, Leigh wäre eine schlechte Mutter. Sie vergöttert die zwei. Aber ihre Gedanken schweifen oft ab, und oft genug lebt sie in ihrer eigenen Welt. Mit ihr zu spielen ist kein Spaß für kleine Jungen. Sie ist zu zimperlich. Sie ist zwar … hochintelligent, allerdings manchmal ein bisschen weltfremd, weißt du?“

Er wusste es.

„Ich glaube, sie hat Burnout“, meinte Jess, wobei sie den Scheck ausfüllte. „Druck, Termine, Komplikationen, Arbeit, nichts als Arbeit. Ihre Haushälterin hat gekündigt und Leigh das alles überlassen, und Leigh ist so schlampig. Meine Schuld. Sie hat so viel gelernt, dass sie zu viel zu tun hat, um aufräumen zu können. Ach Gottchen. Leigh nimmt sich nie frei, es sei denn, sie ist völlig mit den Nerven am Ende.“

Wie beim letzten Mal, dachte John. „Wie alt sind deine Enkel?“, erkundigte er sich.

„Vier“, antwortete sie und zückte ihre Brieftasche. „Zwillinge.“ Sie klappte die Brieftasche auf. John schnappte zwar nicht hörbar nach Luft, aber sein Herz schien vor Panik einen Schlag auszusetzen. „Ich kann nicht fassen, dass ich nicht mit ihnen angegeben habe, doch vielleicht langweile ich andere Leute nur.“

„Sie gibt schrecklich an mit diesen Jungen“, mischte sich Kate ein.

„Wir sind es nicht unbedingt leid, von ihnen zu hören“, sagte Peg, „aber hin und wieder könnte ein Themenwechsel nicht schaden.“

John schaute die Fotos an. Ein Zwilling war blond und blauäugig, der andere dunkelhaarig. Interessant. Leigh war blond und blauäugig. Er selbst hatte zufällig sehr dunkles braunes Haar und braune Augen. Er schluckte. „Sie sehen älter aus als vier“, versuchte er, ein bisschen außer Atem, mehr aus Jess herauszulocken. Sein Herz hämmerte nicht nur, es raste. Er hoffte, dass seine Stimme nicht schrecklich unnatürlich klang.

„Aber nein, sie sind gerade erst vier geworden.“ Fast wäre er in Ohnmacht gefallen. Einen Moment lang schloss er die Augen. „Ende Januar, glaube ich. Ja, am achtundzwanzigsten.“

Er hob die Lider nicht, während er nachrechnete, aber er zählte nicht an den Fingern ab. Er war kein Mathegenie wie Leigh. Ein Genie war er in überhaupt keinem Bereich. Sieben Monate nach der Zeit ihres Zusammenseins. Ein alter Schmerz durchzuckte ihn und schmerzte noch ein wenig mehr. Oh nein. Oh nein. Sie war bereits schwanger. Und sie hatte keine Ahnung gehabt? Sie konnte keine Ahnung gehabt haben. Sie hätte sich nicht mit ihm eingelassen, wenn sie …

„Ob ich wohl von dir verlangen darf, dass du mal mit ihnen angeln gehst oder so? Hier bei uns herrscht prinzipiell Männermangel.“

„Ja. Klar“, erwiderte er, plötzlich erschöpft. Alles verschwamm vor seinen Augen, und bemerkenswerterweise drohten Tränen in ihm aufzusteigen. Herrgott, wie hatte er sie geliebt. „Lass mich wissen, wenn du sonst noch etwas brauchst“, meinte er, steckte den Scheck ein und hatte es eilig, zurück zu seinem Pick-up zu kommen. Gewöhnlich saß er gern mit den Frauen zusammen, doch dieses Mal konnte er es nicht. Er kriegte kaum noch Luft. „Und, Jess, pass um Himmels willen auf dich auf.“

„Ich brauche einen Trupp, der hier alles auf Vordermann bringt, und zwar schon bald. Mitte Juni will ich hier eine große Party veranstalten, und bis dahin sind umfangreiche landschaftsgärtnerische und bauliche Maßnahmen erforderlich. Ich will noch warten, bis Leigh hier ist – in ein paar Tagen –, und hören, was sie dazu meint. Schließlich wird sie mehrere Monate hier wohnen … wenngleich ich hoffe, dass sie jetzt für immer bleibt. Das schaffst du doch, oder? Solch einen großen Auftrag zu erledigen?“

„Für immer?“ Er erstickte nahezu. „Sie will für immer hierbleiben?“

Jess lachte, und die Frauen stimmten ein. „Tja, zugegeben, ich rede nur von einem ausgedehnten Besuch, allerdings beabsichtige ich durchaus, sie dieses Mal hier festzuhalten. Sie liebt Durango. Für mich gibt es keinen Grund, warum sie nicht bleiben sollte. Durango ist ideal für Kinder, und das ist auch klar.“

„Klar“, erwiderte John schwach. Man stelle sich vor, sie ständig hier zu wissen, ihr beim Einkaufen über den Weg zu laufen, auf der Kunstausstellung … im Steakhaus.

„Kannst du den Garten diesen Frühling im Schuss bringen, John?“

„Ja. Kein Problem. Muss jetzt los. Viel zu tun. Unmengen Anrufe. Macht’s gut, die Damen.“

„Ciao, John“, verabschiedeten ihn die Frauen.

John schlug die Hintertür zu, sprang die Terrassenstufen hinunter und lief zu seinem Pick-up. Endlich war er allein. Leigh war ausgebrannt und mit den Nerven am Ende, dachte er. Das war’s, was sie damals angetrieben hatte, während er gehofft hatte, er selbst wäre der Grund gewesen. Das war er offenbar nicht gewesen.

Jess sah ihn vom Wohnzimmerfenster aus vor dem Haus in seinem Pick-up sitzen. Abby trat hinter sie, griff über ihre Schulter hinweg und wollte die Gardine zur Seite ziehen, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen.

„Nicht doch“, wisperte Jess. „Wenn er nun mitkriegt, dass wir ihn beobachten.“

„Du brauchst nicht zu flüstern“, bemerkte Kate. „Er hört uns nicht.“

„Nun? Was meint ihr?“, wollte Jess wissen.

„Er ist beinahe in Ohnmacht gefallen, als du erzählt hast, dass sie Kinder hat, das hat allerdings nichts zu bedeuten. Wie hat er darauf reagiert, dass sie nach Hause kommt?“

„Ach, als wollte er in dem Loch versinken, dass er gerade aushob.“

„Ich glaube, Genaueres erfährst du erst, wenn du sie zusammen erlebst. Wäre es nicht einfacher, sie rundheraus zu fragen, ob sie vor fünf Jahren, als sie den Sommer hier verbrachte und danach verkündet, schwanger zu sein, zufällig in unseren Lieblingshandwerker verliebt war?“

Jess runzelte die Stirn. „So einfach ist das nicht. Sie befand sich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich hatte Angst um sie. Jetzt bin ich in Sorge um ihre Zukunft und die der beiden kleinen Süßen. Doch denkt ihr nicht auch, dass John ihnen guttun würde, auch wenn er’s nicht ist?“

„Er würde jedem guttun.“ Peg seufzte. „Ach, wenn ich nur vierzig Jahre jünger wäre.“

„Schaut ihn euch an. Er hockt einfach nur da. Er steht unter Schock. Ich würde sagen, das ist ein gutes Zeichen“, erklärte Kate. „Meint ihr nicht auch, dass das ein gutes Zeichen sein könnte?“

„Er steht unter Schock? Das könnte ein schlechtes Zeichen sein“, erwiderte Abby.

„Ach, einen Mann schockieren zu können.“ Erneut seufzte Peg. „Nur noch ein einziges Mal.“

„Ich bin mir unsicher, ob das alles so klappt“, sinnierte Jess, den Blick auf den geparkten Pick-up gerichtet.

„Logisch betrachtet, glaube ich nicht, dass jemand sich mithilfe von Tricks verheiraten lässt.“

„Natürlich nicht“, entgegnete Jess. „Das würde ich nicht einmal versuchen. Ich dachte, ich bringe sie einfach mit einem Trick wieder zusammen. Wenn sie einander noch mögen, nehmen sie das Heiraten dann schon selbst in die Hand.“

„Das haben sie damals auch nicht getan.“

„Tja … Damals lagen die Dinge anders.“

„Nicht sehr viel anders als jetzt“, wandte Kate ein.

2. Kapitel

John konnte sich nicht bewegen. Gleich würde er losfahren, aber zunächst mussten sich sein Atem und sein Herzschlag beruhigen.

Vor fünf Jahren – um den ersten Juni herum, als alles prachtvoll blühte und grünte, hatte er sie kennengelernt. Leigh, siebenundzwanzig, langbeinig, intelligent, wohlhabend, auf einem langen Besuch bei ihrer Mutter. Nach einjähriger Trennung von ihrem Mann hatte sie die Scheidung eingereicht. Eine kampflose Trennung in beiderseitigem Einvernehmen, ohne schmutzige Wäsche, ohne Getue, einfach und zügig. Eine reine Formsache, hatte Leigh ihm erzählt, zumal sie und ihr Mann, der sich immer mehr von ihr entfernt hatte, immer schon eher wie Schüler und Lehrer statt wie Mann und Frau waren.

John hatte sie im Steakhaus erblickt, wo sie allein an der Bar saß und ein Glas Weißwein trank. Sie sah aus wie Millionen anderer langbeiniger Schönheiten auf Besuch in Durango, allerdings war es Juni. Die meisten Frauen, die so attraktiv und fotogen waren, traf man hier während der Skisaison an. Dann war Durango ein regelrechtes Sammelsurium von weiblichen Reizen. John stellte sich ihr vor; er wollte nur ein wenig Zeit mit einer umwerfend schönen Frau totschlagen. Da erfuhr er, dass sie Jess Wainscotts Tochter war. Er hatte hier und da Reparaturen und landschaftsgärtnerische Arbeiten für Jess Wainscott übernommen. Also genehmigte er sich ein paar Bierchen, während Leigh hauptsächlich nur den Stiel ihres Weinglases zwischen den Fingern drehte. Sie plauderten, und John verliebte sich Hals über Kopf in sie. Auf der Stelle.

Ihr Exmann in spe war Molekularbiologe an der Stanford University, Gentechniker. Als sie ihn kennenlernte, war sie noch sehr jung gewesen und hatte gerade an ihrer Abschlussarbeit gesessen. Sie heiratete ihn und arbeitete für ihn und mit ihm an seinen Forschungsprojekten. John hatte angenommen, sie wäre seine Sekretärin gewesen. Obwohl einige Mitglieder seiner Familie sehr gebildet waren, hatte er bisher noch nie etwas mit einer Wissenschaftlerin zu tun gehabt.

Jedes Mal, so erklärte Leigh, wenn Max Brackon ein neues Projekt und ein neues Budget zugewiesen bekam, heuerte er seine Frau an. Jetzt war sie zur Erholung zu Hause; sie beabsichtigte, ihren Lebensstil zu ändern. In ihrem Leben fehlte ihr eine ganze Menge. Da lud er sie zu einer Verabredung ein.

„Ein Date? Darf ich das denn?“, fragte sie.

„Das ist in Ordnung im Trennungsjahr“, erklärte er, als wüsste er Bescheid. Dabei wusste er im Grunde nur, dass er unbedingt mit ihr zusammen sein musste.

„Ich muss unter Leute kommen“, meinte sie. „Mit Max war ich völlig isoliert und habe nie … Ja“, stimmte sie schließlich zu. Er verabredete sich mit ihr für den Freitagabend auf einen Drink, gleiche Zeit, selber Ort. „Was denkst du, soll ich meiner Mutter davon erzählen?“

„Tja, klar doch … würde ich sagen. Warum nicht? Oder du könntest ihr sagen, dass du dem Sierra Club beigetreten bist, da du eine Liebe für die Umwelt entdeckt hast.“ Das sollte ein Scherz sein. Gewissermaßen. Auch wenn er nicht viel über Leigh wusste, war er sich nicht sicher, ob Jess damit einverstanden wäre, dass sie sich mit einem Handwerker traf.

Affären nehmen vermutlich immer auf diese Art ihren Anfang, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte damit gerechnet, dass sie es sich anders überlegte, doch das hatte sie nicht gemacht. Sie erzählten sich gegenseitig von ihren misslungenen Partnerschaften – John hatte mit einundzwanzig eine ernsthafte Beziehung gehabt. Während seiner Navy-Zeit hatte er eine Frau aus San Francisco kennengelernt und zu sich nach Durango geholt. Das hatte seiner Mutter ein paar graue Haare eingebracht. Doch es hielt nicht lange. Seiner Freundin sagte das Kleinstadtleben nicht zu, und eigentlich hatte sie Rockstar werden wollen, obwohl sie weder singen noch ein Instrument spielen konnte. Zum Abschied hinterließ sie ihm nur eine Nachricht. John brauchte nicht lange, um über sie hinwegzukommen. Er erwartete, sie eines Tages auf MTV zu sehen, in Unterwäsche würde sie irgendein schräges Sonett schmettern … falsch, versteht sich. Seitdem, erklärte er ungehemmt, ließ er sich nur noch mit Touristinnen ein.

Feste Bindungen, sagte John, seien nicht sein Ding.

Leigh hatte einen sehr erfolgreichen älteren Mann geheiratet.

Einen Wissenschaftler. Ein Genie. Sie war zu jung gewesen, das war ihr klar, und er zu alt. Doch ihre Umstände wären einigermaßen ungewöhnlich gewesen – sie erklärte nicht gleich, inwiefern –, und sie hatte ihren Lehrer geheiratet, eine Vaterfigur. „Wusstest du“, fragte sie John, „dass mein Vater auf medizinischem Gebiet geforscht hat? Biochemie. Mom und Dad sind hierher gezogen, um sich zur Ruhe zu setzen, aber anscheinend konnte mein Dad sich einfach nicht bremsen. Mein Vater war ziemlich berühmt.“

Das machte keinen Eindruck auf John; er las keine wissenschaftlichen Zeitschriften. Er hatte kein College besucht und verspürte kein Bedürfnis, sich weiterzubilden.

Jetzt, hatte Leigh gesagt, erkenne ich meine Fehler. Sie wünschte sich Kinder und Freunde zum Beispiel, und ihr Mann verspürte in seinem Alter kein Verlangen danach. Seine Arbeit forderte ihn genauso wie ein ungezogenes Kind, und er konnte kein gesellschaftliches Leben aufrechterhalten. Leighs Mann war nicht einmal so schrecklich daran interessiert, eine Frau zu haben. Assistentin, Protegé, Studentin – ja. Ehefrau? Die einzige Art von Ehefrau, die er sich vorstellen konnte, war eine mit Zielen wie den seinen, Zeitplänen wie den seinen, eine, die ihn nicht von seiner Forschung ablenkte, mit der er eigentlich verheiratet war. Im Grunde war er viel zu beschäftigt, um eine Ehe zu führen.

Selbst nachdem sie sich getrennt, auseinandergelebt hatten, bestellte Max sie immer noch ins Labor, wo sie dies oder jenes für ihn erledigen sollte; auf niemanden konnte er sich so verlassen wie auf sie. Schließlich hatte sie die Scheidung eingereicht und war nach Durango gezogen, denn: „Er schien sich für unsere Trennung genauso wenig zu interessieren wie für unsere Ehe. Es ist, als hätte er gar nichts gemerkt. Wenn ich hier bei meiner Mutter bin, kann er mich wenigstens nicht mehr zu sich rufen.“

Wie irgendwer sich Leighs so sicher sein konnte, überstieg Johns Vorstellungsvermögen. Schon die erste Verabredung hatte gereicht, dass er glaubte, verliebt zu sein. Mannomann, da war etwas zwischen ihnen. An der Bar musste er sich fast auf seine Hände setzen, um Leigh nicht ständig zu berühren. Er wusste, dass es ihm gefallen würde, ihre Haut zu spüren, zu riechen, zu schmecken.

Für den Anfang versetzte ihn allein schon ihre Stimme in einen Glückstaumel; er liebte ihre Stimme. Ihre Haut war glatt und seidig, ihre Augen funkelten und ihr Lachen war wie Musik. Er war hin und weg.

„Wenn du meinen Vater kennen würdest und wüsstest, wie ähnlich ich ihm bin“, fuhr Leigh fort, „dann wäre dir auch klar, wie chaotisch meine Beziehung in Wirklichkeit war. Meine Mutter hat mir schon vor langer Zeit prophezeit, dass Max unsere Ehe nicht mal eines flüchtigen Blicks würdigen würde; sie würde sich einfach auflösen. Mom, verstehst du, ist nicht wie mein Dad. Sie ist der sprichwörtliche Fels in der Brandung mit gesundem Menschenverstand. Sie war der Anker im tosenden Meer der enormen Intelligenz meines Vaters. Sie ist auch sehr smart, aber nicht auf die auffallende, extreme Art wie mein Vater. Schon früh hat sie erkannt, dass für mich ein Anker, nicht ein Segel, das Beste wäre. Sie hat mir davon abgeraten, jemanden zu heiraten, der meinem Vater so ähnlich ist, doch ich habe nicht auf sie gehört.“

John hatte sie bestürzt und stirnrunzelnd angeschaut und sich noch ein Bier bestellt. Er ließ sie erzählen, war fasziniert von ihrem umfangreichen Wortschatz. Danach hatten sie in seinem Pick-up rumgeknutscht, hatten in Küssen geschwelgt, die ausdauernd und beglückender waren als alle bisher erlebten. Und er hatte schon einige Frauen geküsst.

John hatte schon oft über die sogenannte Chemie zwischen einem Mann und einer Frau nachgegrübelt. Die war wie das Ineinandergreifen feiner Zahnräder, wie das Wachsen von Skiern oder wie das Tunen eines Porsches – und das sagte er auch. „Was für ein tolles Zusammenspiel von Geschmack und Geruch.“

„Pheromone“, hatte sie entgegnet.

John machte es mehr Spaß, das Phänomen zu erforschen statt darüber zu diskutieren, und er verschloss ihren Mund mit seinem. Ob es nun Pheromone waren oder einfach Glück, diese Empfindung konnte einen beflügeln. So war es mit Leigh von Anfang an gewesen, so wie es mit keiner Frau jemals zuvor gewesen war. Zwar war sie schön, aber es war nicht ihr bildschönes Äußeres, was ihn angezogen hatte. Wie er gleich zu Anfang erfuhr, legte Leigh nicht viel Wert auf ihr Aussehen. Er hatte sie auf Anhieb begehrt; er begehrte sie immer noch.

Jess hatte nie erfahren, dass Leigh sich in Durango mit einem Mann traf. Unter dem Vorwand des Sierra Clubs konnte Leigh zu tagelangen „Wanderungen“, „Wanderritten“ und „Campingausflügen“ verschwinden. John fühlte sich dem Paradies so nahe wie noch nie. Aber, überlegte er, ahnte Jess denn wirklich nichts?

„Sie gibt sich größte Mühe, sich nicht in mein Privatleben einzumischen“, hatte Leigh seine Bedenken weggewischt. „Mein Dad war ein Bohemien, viel mehr als meine Mutter … und ich bin ein verwöhntes Einzelkind. Ab meinem dritten Lebensjahr haben sie mich wie eine Erwachsene behandelt. Ich will nicht, dass sie jetzt anfängt, sich um mich zu sorgen.“

Im Lauf der folgenden paar Wochen begann John zu begreifen, dass er sich in eine eigenartige und außergewöhnliche Situation manövriert hatte. Mit einundzwanzig hatte Jess ein vierzigjähriges exzentrisches Genie geheiratet und ein hochbegabtes Kind bekommen. Cal, ein sehr erfolgreicher, preisgekrönter Wissenschaftler, war so bekannt und welterfahren, dass Leigh ein privilegiertes Leben und höchste Bildung genoss. Mit neunzehn hatte sie in Princeton ihren Abschluss gemacht, mit einundzwanzig den Master. Mathematik und Philosophie, eine einzigartige Kombination, waren ihre Spezialgebiete. Außerdem beherrschte sie vier Sprachen, malte, fertigte Skulpturen, schrieb Gedichte und Theaterstücke, spielte Klavier, ganz zu schweigen von allem, was sie gelesen hatte.

Und sie hatte zwei linke Hände und ließ sich offenbar häufig von irgendeiner ungewöhnlichen Idee ablenken; sie verlor Sachen, verpasste Abzweigungen, ließ Schecks platzen. Es brachte John zum Lachen; sie konnte jede beliebige komplexe Matheaufgabe mit mehr Buchstaben als Zahlen – und noch mehr seltsamen Symbolen – lösen, doch sie vergaß, ihr Konto auszugleichen oder Einzahlungen zu tätigen. Sie war genial. John begann allmählich zu begreifen, dass Leigh bedeutend mehr gewesen war als Max’ Sekretärin; sie selbst hatte mehrere Titel, unter anderem den eines Doktors der Physik.

John dagegen hatte die Highschool abgeschlossen und war, als er Leigh kennenlernte, ein Faulenzer und Ski-Fan, der von April bis Oktober als Mann für alles auf Abruf in Haus und Garten arbeitete, damit er gerade genug Geld fürs Skifahren im Winter hatte. Er war emotional und materiell unbelastet und führte ein lockeres, rasantes Leben. Nachdem Leigh Durango verlassen hatte, war er als Handwerker so gefragt, dass er junge Männer mit ähnlicher Lebensweise in seiner kleinen Firma einstellte, die inzwischen super erfolgreich war. Er war in Denver als jüngster von vier Söhnen eines Flugzeugmechanikers und einer Hausfrau aufgewachsen. Großstädte mochte er nicht und hatte Dinge wie Aktiendepots, Quantenphysik oder DNA nie verstanden oder verstehen wollen, und er las auch nichts Anspruchsvolleres als die Sportseite. Aber, Mannomann, er verstand, ein Mandelbäumchen zu pflanzen. Er würde mit Erde unter den Fingernägeln vor seinen Schöpfer treten, wenn er im Sommer sterben sollte.

Nur gut zwei Monaten waren sie zusammen gewesen. Den ganzen Sommer über staunte er, wie sehr er sie liebte. Er wusste, dass Leigh zwar die Welt bereist und El Cid auf Spanisch gelesen, aber noch nie tollen Sex gehabt hatte. Das hatte er daran erkannt, weil ihr Höhepunkt sie genauso sehr schockierte, wie er ihn freute. Sie beherrschte mehrere Sprachen, doch ihre Erfahrung in dieser anderen Sache war vor John ziemlich einseitig gewesen – und das sagte sie ihm auch. Atemlos brachte sie hervor: „Ich dachte immer, es gibt nur einen pro Kunde.“

„Wie viele willst du, Süße? Ich hab’s nicht eilig.“

„Oh … John … sind alle Männer so gut darin?“

„Nein“, antwortete er und küsste sie. „Nur du und ich zusammen – einzig und allein diese Kombination funktioniert so tollstens.“

„So toll“, korrigierte sie ihn. Er hörte es nicht.

Die wahre Bedeutung von Arroganz bestand, wie John lernte, in dem Glauben, man selbst wäre die Ursache für die Leidenschaft oder Lust eines anderen Menschen. Er glaubte, er hätte für Leigh den Sex neu erfunden. Sie konnte malen und bildhauern, aber er war der erste Mann, der sie unter freiem Himmel am See entkleidet und mit ihr auf einem Schwimmdock geschlafen hatte.

Anfang August, als John anfing zu denken, er könnte ohne Leigh nicht leben, verschwor sich eine Reihe von Ereignissen gegen sie, um sie zu trennen. Rückblickend begriff John, dass es einfach nur verflixtes Pech gewesen war, das eintraf, bevor er bereit war, sich den Ereignissen zu stellen.

Erstens erlitt Max Brackon einen Herzanfall, und Leigh reiste zu ihm. Obwohl es nichts an der Scheidung änderte und Leigh schon knapp nach einer Woche zurück in Durango war, wuchs Johns Eifersucht und seine Angst, dass er nicht klug genug wäre, um von ihr geliebt zu werden. Es machte ihn reizbar, unfair und überkritisch. Allmählich fand er ernsthaft etwas daran auszusetzen, sein Herz an ein Genie verloren zu haben.

Zum einen hatte Leigh kaum eine Ahnung von alltäglichen Dingen, nachdem eine Reihe von Professoren ihr ein Leben lang eingeimpft hatten, dass sie der Welt mehr zu bieten hatte als haushälterische Fähigkeiten. Sie sollte lieber ihr Zerebellum trainieren und jemand anderem diese Plagerei überlassen. Entsprechend konnte sie theoretisieren und eine Mikrowelle bauen, aber kein Gemüse darin zubereiten.

„Du bist schlicht und einfach faul“, meinte John. Vielleicht hatte er auch die Stimme erhoben.

„Ich bin nicht faul“, entgegnete sie genauso hitzig. „Jemanden, der drei Diplome und mit dreiundzwanzig den Doktortitel hat, kannst du nicht als faul bezeichnen.“

„Ich dachte, es wäre nur der Master-Titel“, hielt er dagegen.

„Das war mit einundzwanzig.“

Zum Zweiten nahm sie offenbar aufgrund ihres extrem hohen IQs an, dass ihre überdurchschnittlich hohen Ansprüche erfüllt werden müssten. Sobald sie darüber sprachen, dass sie sich niemals trennen würden, ging sie ganz selbstverständlich davon aus, dass er ihr folgen würde, wohin auch immer sie wollte. „Was soll ich in Durango?“, hatte sie gefragt. „Ich muss irgendwohin, wo ich Herausforderungen finde. Nichts schreckt mich so ab wie Langeweile. Ich habe ein Angebot von der UCLA zur Mitarbeit an einem Computertomografen, der bei Neugeborenen eine Veranlagung zum plötzlichen Kindstod nachweisen kann. Du könntest mitkommen nach L.A.“

„Und dort Rasen mähen?“, entgegnete er. „Während du den Nobelpreis für wissenschaftliche Entdeckungen gewinnst? Vielleicht sollte ich Swimmingpools reinigen.“

„Du könntest tun, was immer du willst“, erwiderte sie. Sie verstand ihn nicht und nicht, dass sie sein Ego verletzte. „Ich würde dich von Herzen gern finanziell unterstützen. Das wäre kein Problem.“

„Wäre es doch“, wandte er ein. Wie konnte eine so intelligente Frau den Gefühlen eines Mannes gegenüber so unsensibel sein? Den Bedürfnissen eines Mannes gegenüber? Es kam ihm nie in den Sinn, dass er mehr Rücksicht auf ihre eventuellen Bedürfnisse hätte nehmen können.

Zum Dritten waren sie offenbar nur in einem Punkt absolut kompatibel; in allen anderen Dingen waren sie sehr verschieden. Leigh wollte Kinder, auf der Stelle, je früher, desto besser. Er wollte keine. Er trieb gern Sport; sie rannte nicht einmal zum Telefon, wenn es klingelte. Er mochte die Berge und frische Luft; sie steckte die Nase in ihre Bücher. Ihm gefiel es, sich körperlich zu betätigen, sie war vergeistigt. Er war die Nacht; sie war der Tag.

„Hier, das hier, das funktioniert“, flüsterte er ihr zu, nachdem sie sich gerade geliebt hatten.

„Ja“, meinte sie mit Tränen in den Augen, „doch wird das reichen? Mit Max hatte ich das hier nicht, aber hier in Durango, mit dir, ist hinterher nichts zu tun! Ich brauche Arbeit, Familie, Herausforderungen, intellektuelle Aktivitäten.“

Dergleichen konnte John ihr nicht bieten.

Mit dem letzten Atemzug des Sommers zerbrach ihre Beziehung. Leigh gab ihm Bücher, die er nicht las; sie redete über wissenschaftliche Forschungen, zu denen er keinen Zugang fand. Ökologie war das einzige Thema, über das sie sprechen konnten, ohne dass er sich wie ein Idiot fühlte. Er hatte Mühe, sie von irgendwelchen Papers loszueisen, um gemeinsam wandern zu gehen. Ihre Unterschiedlichkeit trat immer deutlicher zutage. Führte zu Spannungen. Häufig verlor Leigh den Überblick. Sie konnte anfangen, Kaffee zu kochen, und wenn ihr dann irgendeine mathematische Gleichung in den Sinn schoss, von der sie gelesen hatte, oder wenn ihr ein unvollendetes Gedicht einfiel, dann dachte sie nicht mehr daran, die Kanne unter die Maschine zu stellen, und überschwemmte die Küche. Einmal vergaß sie, in den Parkmodus zu schalten, weil sie über irgendetwas Kompliziertes grübelte, und Jess’ Wagen rollte einen steilen Abhang hinunter in einen Graben. Die schusseligen Eskapaden, die ihn anfangs belustigt hatten, erschienen ihm mehr und mehr unverzeihlich. Manchmal war es wie Babysitten. John war der Aufgabe noch nicht ganz gewachsen, aber auch keinesfalls bereit, Leigh aufzugeben. Schmerz und Frust glichen sich in ihrem Ausmaß der Ekstase an.

Leigh wurde mürrisch und zugleich rastlos. Sie wollte bleiben, sie wollte fort. Wollte mit ihm schlafen, weinte jedoch manchmal, während sie sich liebten. John ertrug es nicht, wegen einer dermaßen verkorksten Person selbst so durcheinander zu sein! Wo waren all die unkomplizierten Girlies? Die einen Mann mit Muskeln wollten, keine ernsten Gespräche?

In ihrer Panik vor dem nahenden Ende ihrer Affäre waren sie gleichermaßen erfüllt von Gier und Qual. Es war genau die Stimmung, die Liebende dazu brachte, Unmögliches voneinander zu verlangen und vorübergehend den Verstand zu verlieren. Er wollte, dass Leigh zugab, dass sie mit ihrer Liebe zu einem faulen Ski-Fan, der nur das Leben bis zur Neige genießen wollte, nicht zurechtkam. Sie verlangte von ihm, dass er immerhin versuchte, sich in eine Welt einzufügen, in der sie die ersehnten Herausforderungen fand, und dann konnte er mit dem Geld, das sie verdiente, angeln, jagen, skifahren, segeln und tun, was immer er mochte. Er sagte, er würde sich eher umbringen, als sich von einer Frau aushalten zu lassen, und sie meinte, sie würde ohne intellektuelle Anreize eines qualvollen Todes sterben. Sie brauchte lange Arbeitszeiten. Entspannung von der Sorte, die John bevorzugte, war schwieriger für sie als alles andere im Leben. So unmöglich es für ihn auch zu verstehen sein mochte, sie relaxte, indem sie über philosophische und physikalische Probleme las.

John behauptete, das wäre Quatsch. Und davon war er wirklich überzeugt.

Die Art, wie alles endete, war dann noch lächerlicher, als der Rest gewesen war. Sie erklärte ihm, sie würde zurück nach Stanford fahren, um sich alles durch den Kopf gehen zu lassen und wenigstens ihre Scheidung zu regeln. Und er sagte – er konnte es selbst immer noch nicht recht fassen – er sagte tatsächlich: „Gut. Dann hau ab. Es hat Spaß gemacht, aber wir stammen aus verschiedenen Welten. Ich bin dieser Sache jedenfalls nicht gewachsen.“

Als sie daraufhin weinte, nahm er sie nicht in den Arm und bat nicht um Verzeihung. Er probierte nicht, das Gesagte ungeschehen zu machen. Einen flüchtigen Moment lang glaubte er wirklich, er wollte eine „normale“ Freundin. So denkt man nun mal, wenn man siebenundzwanzig Jahre alt und dumm ist.

Dann, nachdem sie fort war, hatte er angerufen, geschrieben, sogar allen Mut zusammengenommen und Jess gefragt: „Wie kommst du zurecht? Muss irgendwas im Haus repariert werden?“

„Nein, meine Tochter war hier, doch jetzt ist sie wieder zu Hause“, hatte Jess erwidert, als ob das eine Antwort wäre.

John fühlte sich zurückgewiesen. Nach einer viermonatigen schweren Depression und noch mehr vergeblichen Versuchen, Leigh zu erreichen, heiratete er ziemlich bald eine hübsche junge Frau namens Cindy, die „normal“ war und die er, was er zu der Zeit noch nicht wusste, nicht liebte. Ihr Glück hielt nur etwa einen Monat vor, doch die Scheidung dauerte erheblich länger.

Oft wünschte er sich, irgendwie in Erfahrung bringen zu können, ob Leigh wirklich gegangen war, weil sie es wollte oder ob er sie vertrieben hatte.

Wenn er vernünftig darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass Leigh klug gehandelt hatte. Sie hätten es nicht geschafft; sie schwebte an die fünfzig Meter über dem Durchschnittsintellekt. Ganz gleich, wie gut ihre Körper zusammen harmonierten, wie sie sich mehr und mehr langweilte mit einem wie ihm und seiner überdrüssig wurde – eines einfachen Mannes, der nicht viel Geld verdiente und nicht mit ihr über wissenschaftliche Theorien diskutieren konnte. Leider war er nicht oft dazu fähig, vernünftig nachzudenken.

Doch jetzt wusste er, dass sie Zwillinge hatte, und er begriff, was sonst noch im Argen gelegen hatte. Am Abend ihres Kennenlernens hatte sie gesagt, ein Teil ihres Ehefrusts beträfe Kinder. Sieben Monate nach diesem ersten gemeinsamen Drink, nachdem sie zum ersten Mal intim waren, hatte sie Zwillinge geboren. So streng getrennt von ihrem Mann war sie dann wohl doch nicht. Sie musste festgestellt haben, dass sie schwanger war, und danach war sie schuldbewusst zu Max zurückgekehrt und hatte ihre Sommer-Affäre hinter sich gelassen. John fühlte sich ein kleines bisschen besser, da er nun herausgefunden hatte, dass ihr enormer IQ-Abstand nicht der einzige Grund für ihre Abreise gewesen war. Ein ganz kleines bisschen.

Er hatte Angst davor, sie wiederzusehen, und gleichzeitig sehnte er sich danach, sie unbedingt wiederzusehen. Er war nicht mutiger geworden. Auch nicht klüger.

Jess topfte auf ihrer Terrasse eine Pflanze um. Sie konnte ihre Enkel Mitch und Ty beobachten, die unter den dichten Bäumen hinter dem Hof und dem Garten ein Fort bauten. Sie hatten abwechselnd geschaukelt; sie hatten in einem traurigen Versuch, eine Leiter an den krummen Stamm eines perfekten Baumhausbaumes anzubringen, Bretter zusammengenagelt. Jess war sich sicher, dass sie noch vor dem Wochenende darum betteln würden, im Garten im Zelt schlafen zu dürfen. Sie würde Nein sagen. Aber es war großartig zu wissen, dass sie ganz normale Jungen waren. Tatendurstige, neugierige, gesunde, sportliche Jungen … Wie wunderbar. Sie konnten sich selbst beschäftigen und suchten Herausforderungen. Sie gerieten in den gleichen Schlamassel wie alle Kinder – schossen einen Ball in eine Fensterscheibe, klauten Süßigkeiten, zankten.

Leigh großzuziehen war schwierig gewesen; mit zwei konnte sie lesen; sie hatte zwei Klassen übersprungen und während der gesamten Schulzeit Hochbegabtenförderung genossen. Leighs Wissensdurst war so unstillbar gewesen; sie hatte einmal Putzmittel mit Dünger gemixt, nachdem sie das Schloss zum Gartenschuppen geknackt hatte. Es war schon erstaunlich, dass sie sich nicht umgebracht hatte; sie hatte immerhin ein Loch durch den Fußboden hindurch gebrannt.

Sie daheim zu haben war, als wäre Cal zurückgekommen. Fünfundneunzig Prozent der Zeit war Leigh eine helle Freude und wie eine beste Freundin – klug, witzig, hilfreich. In den restlichen fünf Prozent der Zeit war sie wie eine ziellose Zweijährige. Während dieses Besuchs hatte Jess sie noch nicht als Zweijährige erlebt; Leigh schien Fortschritte zu machen und sich zusammenzureißen.

Das Erste, was geklärt werden musste, war Jess’ Herzproblem.

„Ich möchte mit deinem Arzt reden“, hatte Leigh verkündet.

„Nein. Mein Zustand geht nur mich etwas an. Ich will nicht, dass du dich einmischst. Ich habe eine ganze Reihe von Untersuchungen hinter mir, und ich achte auf meinen Cholesterinspiegel und treibe Sport. Man hat mir gesagt, dass ich nicht gleich tot umfallen würde, und ich kann immer noch auf die Kinder aufpassen. Wenn ich mich gesund ernähre, habe ich wohl noch jahrelang Gelegenheit, dich verrückt zu machen. Im Herbst steht noch ein Check-up an. Du kannst froh sein, dass ich dir überhaupt davon erzählt habe. Und der einzige Grund dafür ist der, dass ich dich und die Jungs unbedingt mal längere Zeit bei mir haben will. Für alle Fälle.“

„Handelt es sich um eine Angina Pectoris?“

„Was?“

„Mom“, meinte Leigh, „ich könnte recherchieren, bei deiner Behandlung helfen …“

„Auf keinen Fall. Mir ist durchaus klar, wie intelligent du bist, aber in diesem Fall ist ein gesunder Instinkt erforderlich. Du wirst doch nur allzu technisch, pragmatisch und strapazierst meine Nerven. Halte dich da raus.“

„Aber ich bin nach Hause gekommen, weil …“

„Ich hoffe, du bist gekommen, weil du hier sein willst, nicht nur, weil du Angst hast, ich könnte nicht mehr lange da sein.“

„Mutter“, setzte Leigh an.

„Tochter“, erwiderte Jess.

Jetzt sah Jess, wie Mitch an dem Seil, das von einem hohen Ast hing, mächtig Schwung holte. Dieser Bengel. Und dann roch sie etwas Ekliges und fluchte leise. Die fünf Prozent! Sie hastete die Stufen zur Küche hinauf und fand in der Pfanne verbrannte Makkaroni vor. Dann hörte sie ein Geräusch und hob den Blick; an der Decke breitete sich ein feuchter Fleck aus. Wieder fluchte sie. Cal fehlte ihr, allerdings nicht so sehr, dass sie all dies noch einmal durchstehen wollte.

„Wenn ich wirklich einen ernsten Herzfehler hätte“, stieß sie grummelnd hervor, während sie die Treppe hinaufrannte, „würde dieses Mädchen mich im Handumdrehen ins Grab bringen. Und falls ich wirklich irgendwann Probleme mit dem Herzen kriege, ist sie die Letzte, die davon erfährt!“

Die Badewanne lief über. „Leigh!“, rief Jess. Doch natürlich erhielt sie keine Antwort. In Gedanken versunken, Ohren zu. Jess drehte den Wasserhahn zu und zog den Stöpsel. Der Teppich war durchnässt, und ihre Schuhe wurden so nass, dass das Wasser darin schwappte. Sie suchte den Speicher auf, den Cal als Arbeitszimmer genutzt hatte, und entdeckte Leigh im Bademantel vor dem Computer sitzen. Blitzschnell huschten ihre Finger über die Tastatur. Jess rüttelte Leigh leicht an der Schulter. „Du hast das Essen anbrennen lassen und das Badezimmer überschwemmt.“

„Oh, Mom“, meinte Leigh erschrocken und erschüttert. „Ach, das tut mir so leid! Das geschieht eigentlich nicht mehr so oft, ehrlich! Verdammt, ich mache alles sauber, es tut mir so leid … Ich …“

„Lass nur.“ Jess seufzte matt.

„Wo sind die Jungs?“, fragte Leigh über die Schulter hinweg.

„Den Jungen geht’s gut. Auf dich muss man besser aufpassen als auf sie!“ Ach, Leigh, dachte sie, wo bist du mit deinen Gedanken?

Viel später, während sie ihr nachmittägliches Glas Wein auf der Terrasse trank, sagte Jess zu ihrer Tochter: „Ist dir bewusst, wie viel besser du drauf bist, wenn du ein geselligeres Leben führst? Damals im Sommer, nachdem du dem Sierra Club beigetreten warst, sind dir nicht so viele Missgeschicke passiert. Ich glaube, frische Luft trägt dazu bei, dass du einen klaren Kopf bekommst.“

„Mir sind in dem Sommer durchaus Missgeschicke unterlaufen. Schon vergessen?“, fragte Leigh.

„Die waren nicht so drastisch.“

„Für dich vielleicht nicht“, widersprach Leigh. Und dann sagte sie zum Thema von Missgeschicken, die jetzt vier Jahre alt waren: „Etwas Wunderschönes ist geschehen, Mom. Max hat an Mitch und Ty gedacht. Ist das nicht lieb von ihm?“

„In seinem Testament?“, erkundigte sich Jess erstaunt.

„Ja. Ich habe keine Ahnung, warum. Er hat sie kaum jemals gesehen. Er muss es für mich getan haben, weil ihm klar gewesen war, wie sehr ich mir Kinder wünschte. Was meinst du, könnte das bedeuten, dass er mir endlich verziehen hat? Vielleicht hat er mich mehr geliebt, als ich dachte. Bin ich jetzt sentimental?“

Jess berührte Leighs goldenes Haar, das zu Zöpfen geflochten über ihre Schultern fiel. Manchmal versuchte Jess, sich Leighs Schmerz vorzustellen, ihr Gefühl der Unzulänglichkeit oder wie sie unter Zurückweisung litt. Männer hatten Angst davor, etwas mit ihr anzufangen; Freundinnen gab es auch kaum. Das Leben auf der Überholspur konnte sehr einsam sein. „Ach, Leigh, die Jungs brauchen einen Vater.“

Leigh wandte doch tatsächlich den Blick ab. Sie gestattete es sich nur selten, Gefühle zu zeigen, im Grunde übte sie noch immer, überhaupt Gefühle zuzulassen. Nach Jess’ Meinung hatte dieser Umstand eine Menge mit ihrer Rückkehr nach Durango zu tun. „Lass uns nicht wieder davon anfangen, Mom. Ich kann ihnen keinen Vater bieten und ich kann es nicht ändern.“ Tja, ich aber, dachte Jess. „Ich benötige mal deinen Rat, mein Schatz. Ich möchte in diesem Sommer eine Riesenparty geben, teils um dich und die Jungen zu Hause willkommen zu heißen und euch mit all meinen Freunden bekannt zu machen, und teils, weil ich keine Ahnung habe, ob es mir je wieder so gut geht wie jetzt. Ich möchte den verflixten Garten nun schon seit Jahren umgestalten – ihn in eine Art Wunderland verwandeln. Du hilfst mir doch, oder?“

„Seit wann liest du so etwas?“, fragte Leigh und hielt ein Brautmagazin hoch. Was um alles in der Welt tat ihre Mutter mit einem Brautmagazin?

„Das da? Ach, Peg und Abby haben einen ganzen Stapel davon hiergelassen. Wir haben die Hochzeiten ihrer Töchter gemeinsam geplant … Das war ein Spaß. Abbys Tochter hat sogar ihr Brautkleid noch hier. Du hast in etwa die gleiche Größe. Du solltest es mal anziehen. Also. Ich will Plattenwege, einen Pavillon und eine große Grillanlage. Ich hätte gern ein paar Vogelbäder oder Statuen … vielleicht sogar einen Springbrunnen. Kannst du mit deinem Maschinchen etwas in der Art entwerfen?“

„Ich schätze schon … ja. Ich probier’s mal in den nächsten paar Tagen.“

„Wenn du ein paar Pläne fertig hast, möchte ich gern, dass du sie diesem Mann vorlegst, der manchmal für mich arbeitet – John McElroy. Er ist ein großartiger Handwerker und ein toller Landschaftsgärtner. Außerdem ist er ein hervorragender Skiläufer und leitet die Ski-Patrouille. Diesen Winter will ich ihn fragen, ob er es den Jungen beibringt.“

Leigh konzentrierte sich ungewöhnlich intensiv auf die Zeitschrift und gab ihrer Mutter keine Antwort.

„Warum erleichterst du mir meine letzten Tage nicht ein bisschen und heiratest ihn? Ich denke, er kann für dich und die Jungs sorgen, wenn ich nicht mehr bin. Er sieht Mitch sogar ein bisschen ähnlich.“

Leigh verharrte lange Zeit in Schweigen. „Du hast vielleicht eine lebhafte Fantasie“, meinte sie schließlich, trank von ihrem Wein und blätterte in dem Magazin.

3. Kapitel

„Hallo, John.“

Er ließ einen fünfundzwanzig Kilo schweren Sack Kompost auf einen Stapel identischer Säcke fallen und drehte sich zu Leigh herum. All die Erwartung und Vorfreude, die er beim Gedanken, sie wiederzusehen, empfunden hatte, schienen sich zu verflüchtigen, jetzt wo es tatsächlich passierte. Da war sie. Schön wie eh und je. Kaum gealtert. Auf der Stelle war er unsicher, fürchtete, dass er womöglich nach Schweiß und Kuhmist roch. So hatte er es nicht geplant. Er hatte gewusst, dass er ihr irgendwann über den Weg laufen würde, hatte sich allerdings nicht darauf vorbereiten können. „Leigh“, begrüßte er sie ruhig. „Dr. Brackon.“

Sie lächelte verhalten, als er ihren Namen aussprach, zuckte jedoch leicht zusammen, da er sie mit ihrem Titel anredete. „Ich … äh … wollte dich nicht erschrecken. Verzeih. Ich bin …“

„Nein, schon gut. Ich bin nur überrascht. Es ist so lange her.“

„Ich bin schon seit ein paar Wochen wieder hier. Erst einmal wohne ich bei meiner Mutter, vielleicht bleibe ich aber auch für immer. Sie braucht mich, und ich brauche einen neuen Lebensstil. Jess … meine Mom … sie leidet an …“

„Sie hat’s mir gesagt.“ Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Sie hat gesagt, sie hätte ein Herzproblem und würde dich zwingen, heimzukehren.“

„Sie musste mich eigentlich nicht zwingen. Ich war so weit, dass ich kommen wollte. Ich wollte gern kommen. Ich hatte es seit Jahren geplant. Ich habe es nur immer wieder verschoben.“

„Dein Mann kann darüber wohl nicht sehr …“

„Hat sie dir nicht von Max erzählt? Ach, du liebe Zeit … Ich habe mich schon vor einiger Zeit von ihm scheiden lassen, und Max … tja, er ist vor einem halben Jahr verstorben. Er war sechzig, so alt wie Mom … viel zu jung.“

„Ich hatte keinen Schimmer“, erwiderte er gedehnt. „Tut mir leid.“

„Ich habe keine Ahnung, warum ich dachte, du wärst darüber im Bilde“, erklärte sie auf ihre typische leicht verwirrte, geistesabwesende Art.

„Wie hätte ich es wissen sollen?“, fragte er ein bisschen gereizter als beabsichtigt. Leigh hatte schon immer allen das Gefühl vermitteln können, sie müssten in der Lage sein, mit ihren Gedanken Schritt zu halten. Vermutlich habe ich gedacht, wir hätten darüber gesprochen, und ich wollte es nicht für selbstverständlich halten, dass du es bereits wusstest, obwohl du nichts wusstest. Doch auf all das wollte er sich jetzt nicht noch einmal einlassen. „Ich will nur sagen, wir arbeiten hin und wieder für Jess, doch sie hat dich nie erwähnt. Nicht ein einziges Mal. Ich bin sogar ganz sicher, dass sie von deinen Kindern das erste Mal geredet hat, als ich ihr ein Bäumchen bringen musste. Herzlichen Glückwunsch. Mir war ja bekannt, dass du dir unter anderem Kinder gewünscht hast.“

„Das ist völlig unmöglich, dass sie die Jungs nie erwähnt haben soll. Sie spricht unablässig von ihnen. Es muss dir entgangen sein.“

„Es wäre mir niemals entgangen!“

„Mhm“, erwiderte sie nervös.

„Du bist also zurückgekehrt, um Jess beizustehen und dir einen neuen Lebensstil anzueignen“, meinte er mit unüberhörbar scharfem Unterton. „Hast du das nicht bereits gemacht?“

„Hör zu, John, meine Mom möchte den Garten umgestalten lassen. Und sie will, dass du den Auftrag übernimmst. Offenbar hat sie keine Ahnung, wie leicht reizbar du manchmal bist, sonst hätte sie einen umgänglicheren Gärtner angeheuert.“ Leigh zog ein Blatt Papier mit einer langen Liste von Aufgaben aus der Tasche. „Dieser Job würde es mit sich bringen, dass wir einander ziemlich oft über den Weg laufen, denn zufällig wohne ich jetzt dort. Wenn du ihn lieber nicht annehmen willst, dann sag es mir, und ich beschäftigte jemand anderen.“ Sie zwang ihn mit ihrem Blick, die Lider zu senken. Mochte sein, dass sie nicht älter erschien, aber irgendwie war sie härter geworden. Selbstsicherer. „Nun?“

Nach langem ernsten Blickkontakt riss John ihr grob den Zettel aus der Hand. Er betrachtete ihn konzentriert. Gemauerter Pavillon, Grill, Plattenwege, Vogelbad mit Springbrunnen. Er pfiff durch die Zähne. „Nicht gerade wenig“, stieß er hervor. Wie es aussah, gingen diesen Leuten niemals die großartigen Ideen, der Verstand oder das Geld aus. Manchmal war es regelrecht ärgerlich.

„Tja, nun, mir ist klar, es ist ziemlich viel. Meine Mom ist immer so spontan. Wenn sie sich so was wie das hier in den Kopf gesetzt hat, dann will sie es haben, und zwar auf der Stelle.“

„Wozu? Sie will doch nicht verkaufen, oder?“

„Nein, nein. Nach ihren Plänen soll ich das Haus eines Tages kriegen. Sie hat mir gesagt, sie will ein großes Sommerfest veranstalten und die halbe Stadt einladen. Aus zwei Gründen. Der erste Grund: weil ich mit den Jungs nach Durango zurückgekommen bin. Der zweite – der mir nicht sonderlich behagt: weil sie keine Ahnung hat, wie gut es ihr im nächsten Sommer gehen wird. Was weißt du über ihr Herzproblem?“

„Woher soll ich etwas darüber wissen?“, fragte er und schritt zu der Arbeitsplatte, die ihm als Schreibtisch diente. „Ich bin der Handwerker, Leigh, nicht ihr Seelsorger.“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, erwiderte sie genauso unwirsch. „Ich will nur so viel wie möglich darüber in Erfahrung bringen. Sie erzählt mir ja nichts, und ich mache mir Sorgen.“

John war ein wenig zerknirscht. „Verzeih.“ Das Letzte, was er wollte, war, eklig zu ihr zu sein. „Ich weiß nichts, obwohl ich nachgefragt habe. Doc Meadows hat nicht mal einen Schimmer davon. Was vermutlich bedeutet, dass sie einen anderen Arzt konsultiert, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wer das sein könnte. Ich dachte, Doc würde sich um sämtliche Witwen kümmern. Anscheinend allerdings nicht in seiner Eigenschaft als Arzt.“

„Sie sagt, sie nimmt Toms ärztliche Hilfe nicht in Anspruch, weil sie eng befreundet sind. Doch als ich ihn angerufen und mich erkundigt habe, ob er ihr einen Kardiologen empfohlen hat, zögerte er lange, bevor er verneinte. Und dann schlug er mir vor, die Witwen-Brigade über dieses angebliche Herzproblem auszufragen. Angeblich? Sie benimmt sich höchst sonderbar. Ich glaube, sie hat mehr als nur ein Problem mit dem Herzen, doch ich bekomme absolut nichts aus ihr heraus. Ich habe heimlich sämtliche Schränke durchsucht, konnte allerdings nicht ein einziges verschreibungspflichtiges Medikament, Rezept oder sonst was finden. Sie ist einfach unmöglich; sie möchte nicht, dass ich mich einmische.“

„Was hast du von den Witwen erfahren?“

Leigh zuckte die Achseln. „Ich soll mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern und Jess ausnahmsweise mal ihren Willen lassen. Abby West fing mit dieser Mutter-Tochter-Sache an. ‚Sieh mal, Liebes, deine Mutter hat viele Opfer für dich gebracht, als du erwachsen wurdest. Verwöhne sie doch einfach mal eine Zeit lang.‘ Um einem Riesenkrach vorzubeugen, hat Mom mir versprochen, mir später, vor ihrer nächsten Untersuchung, alles zu erzählen, wenn ich sie jetzt in Ruhe ließe und mich eingewöhnen würde. Sie weigert sich strikt, diesen Sommer über ihren Gesundheitszustand zu sprechen.“

Unwillkürlich musste er lächeln. „Verflixt dickköpfig, wie?“

Leigh tippte auf die Liste. „Ich glaube, sie will ein paar von diesen Reparaturen und Neuerungen erledigt haben, damit sie keine – du weißt schon – unfertigen Sachen hinterlässt.“ Sie schluckte und wandte den Blick ab.

„So was“, presste er hervor.

„Jess ist nun mal so – tüchtig, mitfühlend. Ich hoffe nur, dass sie total auf dem Holzweg ist, was ihre Herzgeschichte betrifft. Ich glaube, ohne sie kann ich nicht leben. Sie ist mein Fels in der Brandung. Diejenige, dich mich erdet. Weißt du … ich habe einfach niemanden, der so für mich da ist wie Jess.“

„Wir reden, als wäre sie schon tot. Lass uns lieber über ihren Garten nachdenken, nicht über ihr Grab. Hier muss eine ganze Menge umgebaut werden und auch landschaftsgärtnerisch ist viel zu tun. Das wird teuer.“

„Schaffst du das alles? Einen Pavillon mit einem Schindeldach? Eine gemauerte Grillanlage? Plattenwege? Wenn ich dir einen Bauplan gebe?“

Er verzog das Gesicht. „Nein, Leigh. Ich bin der Baumeister und Landschaftsgärtner. Ich gebe dir die Pläne, und du stimmst ihnen zu oder änderst sie. Verstehst du, das ist meine Sache.“

„Es ist mein Garten.“

„Du liebe Zeit“, platzte er heraus, „müssen wir wirklich über die Luft zum Atmen streiten?“

Sie holte tief Luft. Zwei Mal.

„Okay“, lenkte sie ein. „Du machst die Pläne, ich rege Veränderungen an. Schaffst du das?“

„Du hast Glück. Wir machen dir ein Sonderangebot.“

„Was für ein Sonderangebot?“

„Nach dem Motto: Für Geld tun wir alles.“

Sie lächelte nachsichtig.

„Es wird verflixt teuer, wenn es gut aussehen soll.“

„Mom guckt nicht aufs Geld. Sie ist gut abgesichert und bezieht immer noch Tantiemen für die Bücher meines Vaters. John? Hat meine Mutter … könnte sie … hast du …?“ Sie verstummte und fragte dann: „Weiß sie von jenem Sommer?“

„Ich hätte keinen Schimmer, woher. Warum?“

„Sie hat mich gebeten, dich zu bitten, die Arbeiten entweder zu überwachen oder weitgehend selbst auszuführen. Zufällig hat sie mich auch gefragt, ob ich dich nicht einfach heiraten und ihr das Leben erleichtern könnte.“

Das fand er nicht lustig. „Hast du ihr erzählt, dass wir das alles längst durchgekaut haben?“

„Natürlich nicht“, antwortete sie. „Das wäre ja auch nicht wahr. Wir haben niemals wirklich über eine Heirat gesprochen. Wir haben nur davon geredet, zusammenzubleiben, und auch das war schon zu viel.“

„Na ja, einer von uns war verheiratet, schon vergessen?“, schleuderte er ihr ins Gesicht.

Gereizt verdrehte sie die Augen. Genau das hatte sie befürchtet, nämlich, dass er sie richtig auf die Palme bringen würde. Sie versuchte, das Thema zu wechseln. „Du hast wirklich etwas aus deinem Unternehmen gemacht. Als ich es das letzte Mal gesehen habe, war es nichts weiter als eine von einem hohen Maschendrahtzaun umgebene Garage.“

„Wann war das?“

„Ach, an das Datum erinnere ich mich nicht mehr“, schwindelte sie. Sie wusste es noch ganz genau. „Du warst nicht da. Du warst in den Flitterwochen.“ Verrückt. Es war längst nicht mehr allein seine Schuld, wenn aus wahllosen Schüssen aus dem Hinterhalt eine ausgewachsene Schlacht wurde. So viel zu ihren guten Absichten.

„In den Flitter …! Du warst hier? Niemand hat mir erzählt, dass du hier warst.“

„Na ja, ich habe keine Nachricht hinterlassen. Du warst nicht hier. Du warst sozusagen indisponiert. Da bin ich wieder gegangen. Zurück zum Garten – die ganze Sache ist typisch für Jess’ spontane …“

„Warum warst du da?“, ließ er nicht locker.

„Ich hatte es dir doch gesagt. Ich habe zu dir gemeint, dass ich alles zwischen uns klären würde. Du erinnerst dich nicht einmal daran?“

„Das hast du nicht gesagt. Du hast mir zu verstehen gegeben, dass du nicht mit mir leben könntest – dass ich deinen Ansprüchen nicht genügen würde.“

„Du doch nicht. Hier gab es keine Arbeit für mich. Ich brauchte aber irgendetwas, was …“

„Du hast gemeint, du wolltest zurück nach Stanford, weil …“

„Weil ich dort lebte. Dort hatte ich meine Arbeit. Meinen Kram. All meine Sachen waren in Los Altos. Man hatte mir ein Stipendium angeboten. Ich musste ein Stipendium annehmen, damit ich Arbeit hatte. Einer von uns musste doch einen Job haben. Du hattest nichts anderes als Ski im Kopf und hast gelegentlich anderer Leute Rasen gemäht. Außerdem hast du mir erzählt, du wärst froh über meinen Umzug.“

„Ski-Patrouille, bitte. Ski-Patrouille und Landschaftsgärtnerei. Das war vielleicht kein großartiger, hochtrabender Job, doch hierbei handelte es sich um anständige, gewöhnliche Arbeit, die normale Menschen tun. Und dass ich froh wäre, habe ich nur gesagt, weil ich zu stolz war, um zuzugeben, dass ich es nicht ertragen könnte, wenn du einfach so gehst.“ Er schnippte mit den Fingern. „Ohne einen Blick zurück.“

„Ohne einen …“ Sie strich sich übers Haar. „Verzeih, wenn ich dich gekränkt habe“, erwiderte sie sarkastisch. „Ich brauchte irgendwo einen bezahlten Job. Ich war schwanger! Die UCLA bot mir ein Stipendium an. Ich musste fort, John.“

„So. Oh, ich verstehe. Dann bist du also nur zurückgekehrt, um mal eben Guten Tag zu sagen. Nicht etwa, weil du mich sehen wolltest oder so.“

Leigh schaute ihn sekundenlang starr an und öffnete schon den Mund zu einer Antwort, brachte allerdings nur ein Schnauben hervor. Sie versuchte es noch einmal. Wieder nur ein Schnauben. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. „Ich war gekommen, um meine Mom und dich zu sehen. Meine Scheidung war durch. Ich wollte noch einmal fragen, ob du’s in L.A. probieren wolltest. Aber … Ich dachte, falls du es nicht versuchen wolltest, könnten wir eine andere Lösung finden.“

„Eine andere Lösung finden?“

„Eine Fernbeziehung. Ich weiß nicht. Was soll’s, John? Du warst nicht da. Du warst auf Hochzeitsreise!“

„Ich war auf Hochzeitsreise, da ich geheiratet hatte, und geheiratet habe ich vier Monate nachdem du es nicht mal für nötig gehalten hattest, auf meine Anrufe und Briefe zu antworten.“

„Anrufe und Briefe? Du Idiot! Ich habe keine Anrufe und keine Briefe bekommen!“

„Ich habe Nachrichten hinterlassen. Ich habe dir geschrieben!“

„Tja, ich bin zurück nach Los Altos gefahren, habe meine Sachen gepackt und bin umgezogen. Mir war nicht klar, dass es meine Aufgabe sein sollte, dich vor einer Hochzeit zu bewahren. Die meisten Leute heiraten, weil sie es wollen, nicht, weil irgendwer nicht auf ihre verdammten Anrufe reagiert!“

„Niemand hat mich darüber informiert, dass du umgezogen warst! Und nenn mich nicht Idiot! Ich fühle mich ohnehin wie ein Idiot, wenn ich mich in derselben Stadt wie du aufhalte, da du einen IQ von viertausendnochwas hast! Also, gab es irgendeinen besonderen Grund, warum du nicht schreiben oder anrufen oder sonst was konntest?“

„Nein, es gab keinen besonderen Grund“, schrie sie zurück. „Außer dass ich zu tun hatte. Ich arbeitete an einem wissenschaftlichen Projekt, war schwanger mit Zwillingen und in Psychotherapie, um herauszufinden, warum ich trotz meiner Intelligenz mein Leben derart versauen konnte! Und jetzt, so gern ich noch bleiben und mit dir streiten würde, habe ich einiges zu erledigen! Machst du nun den verdammten Garten für meine Mutter oder nicht?“

„Ja!“, brüllte er. „Ich komme morgen zu euch raus!“

„Prima!“, schrie sie zurück und drehte sich so schwungvoll um, dass ihr Haar herumwirbelte und Johns Nase streifte. Sie stapfte aufgebracht davon.

John spürte, wie die Zornesröte seine Wangen glühen ließ. Junge, Junge, er erinnerte sich noch gut an ihre hitzigen Debatten. Er haute zweimal auf seinen Schreibtisch, so heftig, dass sämtliche Bleistifte hüpften.

Er stützte den Ellenbogen auf die Platte, legte die Stirn in die Hand und holte tief Luft. Junge, wie gut sie aussah. Mit siebenundzwanzig ist eine Frau hübsch, aber ein paar Jährchen mehr, das hat was. Ein paar Kinder, ein bisschen Reife und ein bisschen mehr Busen und runde Hüften. War sie früher schön, so war sie jetzt an den richtigen Stellen kurvig. Wie dumm musste man sein, um mit ihr zu streiten? Er hätte nett sein und sie vielleicht einladen können. Schließlich waren sie inzwischen beide Single.

War er denn verrückt geworden? Hatte es nicht genau damit angefangen? Mit Verabredungen? Sie kamen aus völlig verschiedenen Welten.

„John?“

Er hob den Blick.

„Ich … ähm … habe die Schlüssel im Auto eingeschlossen … Ich habe wohl nicht … Du weißt schon.“

Ihm entschlüpfte ein kurzes Auflachen. Es hätte ihm klar sein müssen. „Du warst mit deinem Kopf woanders. Du hast über das Paarungsverhalten der Schreikraniche oder über jambische Fünfheber gegrübelt.“ Oder über mich. Warst du mit deinen Gedanken womöglich bei mir, Leigh? „Keine Angst, es gibt nichts, was ich nicht knacken kann.“

„Und was gerade passiert ist, tut mir leid. Unser Streit. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass so etwas passieren kann“, sagte sie. „Immer noch“, fügte sie hinzu.

„Es war nicht allein deine Schuld“, erwiderte er. „Leigh, vielleicht sollten wir uns zusammenraufen, uns auf einen Drink, zum Essen oder so treffen. Wir haben dieses total verkorkste Karma, du und ich, und wenn wir nicht das eine oder andere klären, stehen wir uns im nächsten Leben als Todfeinde gegenüber. Wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn wir in gegnerischen Football-Teams spielen würden, aber wenn wir Zwillingsschwestern wären oder so, könnte es zur Katastrophe werden. Vielleicht sollten wir uns gründlich aussprechen, damit wir als … Freunde weiterleben können. Hm?“

„Ja“, stimmte sie zu und atmete erleichtert auf. „Ja, das hatte ich von Anfang an vor – dass wir uns vertragen und irgendwie befreundet sein können. Doch jetzt bist du derjenige, der verheiratet ist.“

„Ich? Nein, ich bin auch geschieden. Ich bin praktisch seit meiner Hochzeit geschieden.“

Sie war unübersehbar schockiert. „Ich hatte keine Ahnung. Tut mir leid.“

„Es war vorbei, bevor es angefangen hatte. Wir haben nur ein paar Monate zusammengelebt. In der Skisaison“, fügte er leise hinzu, immerhin anständig genug, um beschämt zu sein.

„Kinder?“

„Nein.“

„Ach. Na ja, du sagtest ja, dass du keine Kinder willst. Dann ist es wohl gut so.“

„Damals wollte ich keine. Da war ich siebenundzwanzig und völlig ichbezogen. Du liebe Zeit, ich war ein Skiläufer ohne Ehrgeiz. Ich habe an nichts und niemanden außer an mich selbst gedacht. Das hast du doch bestimmt nicht vergessen.“

Beinahe hätte sie gelächelt. So nahe war John einem Eingeständnis seiner mangelnden Unfehlbarkeit oder einer Entschuldigung noch nie gekommen. „In der Liebe haben wir anscheinend beide kein Glück, wie?“

„Tja, wie wär’s, wenn wir zwei Unglücksraben uns später treffen?“

„Ich weiß nicht …“

„Gibt es da jemanden? Irgendeinen Kerl?“

Unwillkürlich musste sie lachen. Einen Kerl hatte es nie gegeben. Kollegen, Projektleiter. Der einzige Grund dafür, dass sie versehentlich Max geheiratet hatte, war wahrscheinlich Erschöpfung; sie hatten so hart und so lange zusammengearbeitet, dass die Ehe die selbstverständliche Fortsetzung zu sein schien. John war praktisch der einzige „Kerl“, den sie je hatte. Kurz. „Ich habe zwei Kerle. Vier Jahre alte Kerle“, meinte sie.

„Wie wär’s, wenn es zunächst einmal nur um dich und mich ginge?“

Leigh seufzte. „Ich bin nicht sonderlich gut in diesen Dingen, John. In Beziehungssachen stelle ich mich so unbeholfen an. Das ist keine Absicht, ich will das nicht … Mathematische Probleme löse ich im Handumdrehen. Ich bin einfach – ach – ich bin jetzt Mutter. Ich muss vorsichtiger sein, denn wenn ich mit der Situation nicht zurechtkomme, könnten die Jungs darunter leiden.“

„Wir hatten eine Affäre, die uns beide verkorkst hat“, entgegnete er. „Da wir uns immer noch zanken wie früher, haben wir unser Liebesverhältnis vielleicht noch nicht überwunden. Sollten wir nicht darüber sprechen? Vernünftig miteinander reden?“

Sie schaute in seine dunkelbraunen Augen. Er hatte Augen wie Bambi. Augen, in die man versinken, in denen man ertrinken konnte. Arme wie Adonis, ein Gesicht wie ein Märchenprinz, ein Temperament wie Attila der Hunne. Sie lächelte ihn an. „Du hast einen Pferdeschwanz.“

Er musste kurz überlegen. „Ach, ja. Kein schlechter Pferdeschwanz. Oder?“

„Nein“, antwortete sie. Pferdeschwänze waren wieder in, doch was John betraf, blieb unklar, ob er trendbewusst oder nur faul war. Soweit sie sich erinnerte, hatte er mit Mode nicht viel am Hut. Nicht mit Mode, Kindern und festen Bindungen. Aber er war ein so süßer Rebel. „Im Steakhaus?“

„Ja. Komm, wir holen deine Schlüssel.“ Er hob die Hand an ihren Ellenbogen und ließ sie dort unschlüssig verweilen. Dann, mit einem zerknirschten, hilflosen Blick, berührte er sie kurz. Sie spürte einen Schauer. Sie wusste, dass sie jetzt bis über die Ohren drinsteckte. Wenn er sie noch einmal anfasste, würde sie dahinschmelzen.

4. Kapitel

Leigh traf um sieben ein, und John war bereits da. Sie trug einen seidenen Jumpsuit mit einem dekorativ über eine Schulter geworfenen Schal, Ohrringe aus Muscheln und beige Ballerinas. Laut Jess, die sie munter – vielleicht zu munter – in Augenschein genommen hatte, bevor sie zur Tür hinausging, sah sie modisch-chic aus. Dieses Mal gab Leigh nicht vor, dem Sierra Club beizutreten. „Du bist doch sicher entzückt, wenn du hörst, dass dein Lieblingshandwerker mich zu einem Glas Wein eingeladen hat“, hatte Leigh gesagt.

John trug Jeans, doch seine gute Jeans ohne Löcher, und etwas Ähnliches wie ein Polohemd mit einem Pullover darüber. Wenn man sie anschaute, ahnte man nicht, wie viel Angst beide vor dieser Verabredung hatten. Und sie fürchteten sich beide vor derselben Sache, nämlich dass ihre Liebesgeschichte offiziell zu Ende sein würde – und dass sie dort wieder anknüpfen würden, wo sie aufgehört hatten. Sie bestellte ein Glas Wein, er ein Bier. Sie waren bei der zweiten Runde, als sie endlich Worte fanden.

„Also“, begann John, „was ist geschehen?“

„Wann?“

„Du sagtest, du bist zurückgekommen und hast erfahren, dass ich verheiratet bin. Ich erzähle dir, was mit mir passiert ist, wenn du mir erklärst, was dir passiert ist. Also, was ist vorher in Los Altos vorgefallen?“

„Ach, es war schrecklich. Max, der sich von einer Herzattacke erholte, hätte beinahe eine zweite erlitten. Er war wütend auf mich.“

„Warum?“, fragte sie.

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