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Juno Browne und der Tote im Antiquitätenladen

Als Buch hier erhältlich:

Mord ist ein schmutziges Geschäft – vor allem, wenn man danach putzen muss ...

Juno Browne ist Reinigungskraft und Hundesitterin, da macht man in jedem Fall einiges mit. Doch als sie eines Morgens in den Antiquitätenladen ihres guten Bekannten kommt und diesen dort erschlagen vorfindet, hört der Spaß auf. Dass der schlitzohrige ältere Herr in nicht ganz saubere Geschäfte verwickelt war, wusste sie – aber wer würde ihn dafür gleich umbringen? Juno krempelt die Ärmel hoch und ermittelt auf eigene Faust. Doch bald schon muss sie sich selbst in Acht nehmen, denn Old Nick hat ihr den Laden vermacht – sehr zum Missfallen seiner Kinder. Schnell findet Juno sich zwischen den erzürnten Erben und der Antiquitäten-Mafia in einer äußerst misslichen Lage wieder …


  • Erscheinungstag: 22.06.2021
  • Aus der Serie: Ein Juno Browne Krimi
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749901463

Leseprobe

Zum Buch

Mr. Nickolai – oder der alte Nick – hat Juno alles über das Aufbereiten von Antiquitäten beigebracht, was er weiß, und das ist eine ganze Menge. Denn Nick, der wegen Hehlerei schon die ein oder andere Justizvollzugsanstalt von innen kennengelernt hat, versteht sein Metier wie kein Zweiter. Doch mit wem hat er sich auf unsaubere Geschäfte eingelassen? Eines Abends kommt Juno gerade rechtzeitig, um den älteren Herrn vor zwei rabiaten Eindringlingen zu beschützen. Nick beschwört sie, nicht die Polizei einzuschalten. Als er kurz darauf ermordet wird, fühlt Juno sich verantwortlich und macht sich auf Mörderjagd.

Zur Autorin

Ähnlich wie die Protagonistin ihrer Romane hat Stephanie Austin schon sehr unterschiedliche Karrieren verfolgt – einige davon dienten ihr als Inspiration für die Krimis um Juno Browne. So handelte sie beispielsweise mit Antiquitäten, arbeitete als Astrologin und Kunsthandwerkerin. Wenn sie nicht über Juno Brownes Abenteuer schreibt, treibt sie sich im örtlichen Theater herum oder gärtnert. Stephanie Austin lebt mit ihrem Ehemann in Devon.

PROLOG

Mord ist eine schmutzige Angelegenheit. Vor allem für die Leute, die den Dreck anschließend wegmachen müssen. Nicht dass wir uns hier falsch verstehen. Ich war es nicht. Ich habe die Tat nur entdeckt. Ihn. Ich habe ihn entdeckt. Den armen alten Nick, auf dem Kaminvorleger und mit eingeschlagenem Schädel. Ein Großteil dessen, was eigentlich in diesen Schädel hineingehörte, hatte sich auf den Kacheln am Kamin verteilt.

Schon als ich vor seiner Tür stand, ahnte ich, dass etwas faul war. Eigentlich hätte diese Tür fest verschlossen sein sollen, sodass ich, den Blick auf den zerschrammten schwarzen Lack gerichtet, warten musste, bis Nicks schlurfende Schritte sich näherten. Ich hätte das Quietschen hören sollen, das erklang, wenn er einen Riegel nach dem anderen zurückschob, um mich dabei zu fragen, warum der Blödmann mir nicht der Einfachheit halber einen Schlüssel gab. Sehr auf Sicherheit bedacht, so war er, der alte Nick.

Doch die Tür bewegte sich, als ich sie antippte, und schwang weit auf, bis ich freien Blick in den Flur und auf die zur Hälfte verglaste Tür hatte, die in den hinteren Teil des Ladens führte. Über die Treppe daneben erreichte man die Wohnung in der oberen Etage. An jedem normalen Tag wäre ich ihm diese Treppe hinaufgefolgt und hätte gehört, wie er beim Treppensteigen keuchte und wie in der Küche das Radio spielte. Dazu der Duft seines Frühstückstoasts.

Ich ging nach oben und rief dabei seinen Namen. Im Badezimmer auf halber Treppe plätscherte kein Wasser, und hinter der Milchglasscheibe an der Tür regte sich nichts. Trotzdem klopfte ich an die Scheibe und rief noch einmal. Als ich mich umwandte, fiel mir auf, dass im Wohnzimmer die Deckenlampe brannte, obwohl es draußen helllichter Tag war. Ich rannte die letzten Stufen empor, voller Angst, er könne einen Unfall gehabt oder einen Schlaganfall erlitten und die ganze Nacht dagelegen haben. Wobei sich Letzteres als zutreffend herausstellte.

»Was wollten Sie dort?«, erkundigte sich der Detective Inspector, als wir einander später in einem hastig improvisierten Vernehmungszimmer im Nebenraum eines Immobilienmaklers am Tisch gegenübersaßen.

»Es ist Dienstag. Dienstags arbeite ich beim alten … bei Mr. Nickolai. Eigentlich, wann immer ich kann, aber dienstags auf jeden Fall«, erklärte ich.

»Was genau?« Er war ein beleibter, freundlich wirkender Mann, vermutlich irgendjemandes Lieblingsonkel, der sein Bestes tat, um mich zu beruhigen. Ganz im Gegensatz zu seiner Begleiterin, der jungen Detective Constable neben ihm. Die schwieg und strahlte Verachtung, ja beinahe Feindseligkeit aus. Vielleicht übte sie für die Rolle der bösen Polizistin. Oder ich war ihr einfach nur unsympathisch. Sie war eine auffällig attraktive Frau. Ein pechschwarzer Pagenkopf umrahmte ein blasses Gesicht mit großen violettblauen Augen. Ihre Lippen presste sie voller Missbilligung so fest zusammen, dass man ihr Vorhandensein kaum erkennen konnte. Das Ergebnis sah aus, als sei jemand mit dem Fingernagel durch rohen Kuchenteig gefahren.

»Ich … äh … poliere Möbel und so …«, erwiderte ich. »… für Mr. Nickolai.« Irgendwie kriegte ich keinen klaren Satz zusammen.

»Sie sind seine Reinemachefrau?« Erstaunt zog der Inspector die sandfarbenen Augenbrauen hoch. »Nehmen Sie es nicht persönlich, aber Sie machen nicht den Eindruck …« Obwohl er den Satz nicht beendete, war mir klar, worauf er hinauswollte.

»Ich arbeite mich eben nach unten.«

Meine Stimme klang nicht wie meine eigene. Vom Schluchzen und lautlosen Schreien schmerzte mir die Kehle. Ich rollte das zusammengeknüllte, feuchte Papiertaschentuch über meine Wange und starrte in die Tasse mit walnussbraunem, allmählich erkaltendem Tee vor mir. Vorhin hatte ich versucht, nach der Tasse zu greifen, doch meine Hand hatte so gezittert, dass ich das Vorhaben aufgeben musste.

»Also, Miss Browne … darf ich Sie June nennen …?«, fragte der Inspector väterlich.

»Juno«, verbesserte ich ihn. »Ich heiße Juno.«

»Juno?«, wiederholte er. »Wie die Göttin?« Der Hauch eines hämischen Grinsens spielte fast unmerklich um die Lippen seiner jungen Begleiterin. Offenbar stellte sie sich eine Göttin etwas anders vor.

»Ist das Ihr Transporter auf der anderen Straßenseite, der alte Astra?« Endlich fiel bei dem Inspector der Groschen. »Der mit der Aufschrift ›Haushaltsgöttin‹? Gehört der Ihnen?«

Mir, nur mir allein. Man kann das Auto nicht übersehen, denn es ist fröhlich leuchtend gelb und trägt in schwarzen Buchstaben die Aufschrift »Juno Browne, Haushaltsgöttin – Haus und Garten, Hausmeisterdienst, Pflege, Haussitten, Haustierhüten, Hundeausführen. Gerne auch kleine Aufträge«. Die Beschriftung hatte mich mehr gekostet als das Fahrzeug selbst.

»Also putzten Sie Mr. Nickolais Wohnung?«, wandte er sich wieder seinem Mordfall zu.

Die Wahrheit war ein wenig komplizierter. »Nein, nicht seine Wohnung … Ich gehe ihm mit seinen Waren zur Hand … reinige Dinge, die er verkaufen will … also versteigern …«

»Wie lange machen Sie das schon?«

»Äh … etwa vier Monate … nein, länger … fünf oder so.«

»Sicher kennen Sie ihn ziemlich gut.«

Ich nickte. Ein Naseputzen war unumgänglich. »Ja, ich glaube schon.«

»Juno, können Sie sich einen Grund vorstellen, warum jemand Mr. Nickolai Schaden zufügen wollen würde?«

Als ich einen Sekundenbruchteil zu lange zögerte, beugte er sich mit eindringlicher Miene vor.

»Da wären zum Beispiel die Russen«, stieß ich schließlich hervor.

»Russen?«, hakte er stirnrunzelnd nach.

Ich schnäuzte mich in das in Auflösung begriffene Papiertaschentuch und nickte wieder.

Rasch blickte er zwischen seiner Begleiterin und mir hin und her. »Welche Russen?«

1

Es war der Tag, bevor ich Nick kennenlernte. Der Tag also, an dem er anrief. Es muss im Mai gewesen sein. Am Morgen war ich wie immer mit der Meute unterwegs gewesen und verlud sie gerade nach dem Auslauf hinten in meinen Transporter. Da sich die Hunde beim Herumtoben in Whiddon Scrubs ziemlich verausgabt hatten, wurde kräftig gehechelt und gescharrt.

Ich hatte den Transporter auf der Hügelkuppe geparkt, kurz bevor die Straße wieder bergab nach Ashburton führt. Die letzte Stelle, wo mein Smartphone noch sicheren Empfang hatte. Unten im Städtchen ist er nämlich, wohlwollend formuliert, unzuverlässig. Und wo ich wohne, hat man gar keinen. Ich rutschte hinters Steuer und verstaute die für Menschen unhörbare Hundepfeife in meiner Umhängetasche.

Mein Telefon versteckte sich irgendwo in deren höhlenartigen Abgründen, und so musste ich eine Weile herumwühlen, bis ich es hatte. Keine Nachrichten. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Nookie, die Huskiedame, betrachtete mich mit eisblauen Augen durch das Trenngitter, gähnte, drehte sich ein paarmal um die eigene Achse und legte sich zu den anderen.

Bevor ich den Motor anließ, genoss ich für einen Moment die Aussicht. Jetzt, am frühen Morgen, schimmerte der Himmel hell und zartgrau über den Bäumen in der Ferne. Der Turm von St. Andrews brach durch den Dunst, der wie ein Schleier über dem Tal schwebte. Als ich den Zündschlüssel drehte, ging das Radio an, und Vivaldi ließ das ländliche Devon erbeben.

Ich finde Vivaldi spannend. Man nannte ihn den roten Priester – vielleicht fallen mir andere rothaarige Menschen einfach automatisch auf. Aber die durchdringenden Triller der Geigen waren mir für diese Uhrzeit dann doch ein wenig zu heftig, und ich machte das Radio aus.

Der alte Astra ratterte den Hügel hinunter. Nun erstreckten sich links und rechts von uns Felder und Weiden, die heulenden Winde und die Ginsterbüsche im Moor hatten wir weit hinter uns gelassen. Zerzauste Schafe und struppige Ponys grasten am Straßenrand. Als wir eine Kurve umrundeten, verschwand das Schild, das Reisenden riet, mit mehr »Moorsicht« zu fahren, aus meinem Seitenspiegel. Die Straße verlief weiter bergab und schlängelte sich zwischen dichten, von weißem Wiesenkerbel durchsetzten Hecken hindurch. Inmitten von dunklen Farnen leuchteten die winzigen rosafarbenen Sterne der Feuernelke. Es war eine der Landstraßen nach Ashburton, wo das Blätterdach der Bäume einen funkelnden grünen Tunnel bildet – sehr idyllisch, jedoch in eine schmale, gewundene Straße mit wenigen Überholmöglichkeiten mündend. Zudem scheinen die Leute hier allesamt einen Traktor oder einen Geländewagen zu fahren und sind entweder mit dem Zurücksetzen überfordert oder wegen ihrer fahrzeugtechnischen Überlegenheit nicht bereit, auch nur einen Zentimeter Platz preiszugeben. Die Folge ist ein ständiges Vor und Zurück.

An diesem Morgen hatte ich jedoch Glück und musste nur einmal am Tor einer Farm links ranfahren, um einen Trecker vorbeituckern zu lassen, weshalb ich die Mitglieder der Meute ohne große zeitliche Verzögerung in ihrem jeweiligen Zuhause abliefern konnte. Sally, die arthritische Labradorhündin, wurde von ihrem nicht minder arthritischen Frauchen in Empfang genommen. Nookie hingegen musste ich in ein menschenleeres Haus bringen und sie füttern. Wenigstens hatte sie sich so ausgepowert, dass sie den Vormittag verschlafen und ihr einsames Warten auf die Rückkehr ihrer Familie somit nicht zu lange dauern würde.

Ashburton ist ein Städtchen, in dem es von verschwiegenen Winkeln nur so wimmelt, ein Labyrinth von engen Straßen und noch engeren Bürgersteigen, das sich, wie es in den Reiseführern so schön heißt, in die Hügel an der Schwelle zu Dartmoor schmiegt. Räumlich betrachtet ist es von Ashburton nur ein Katzensprung zur A38. Zeitlich gesehen sprechen wir eher von einem guten Jahrhundert. Alte Häuschen und traditionelle Pubs stehen eingezwängt zwischen eleganten edwardianischen Stadtvillen, und es gibt hübsche Ecken, verborgene Höfe und lange, ummauerte Gassen. Ein Eldorado also für Touristen und Tagesausflügler, die vor der Weiterfahrt ins Moor gemütlich Rast machen wollen. Der Ort bietet die optimale Kulisse für Cream Tea, also Schwarztee mit Scones, Clotted Cream und Erdbeermarmelade, oder ein Glas einheimisches Bier und einen gemächlichen Bummel durch die Läden, wo es teure Geschenkartikel und hausgemachte Spezialitäten gibt und die nichts im Sortiment haben, was nicht ländlich, kunstgewerblich oder folkloristisch wäre. Wir haben sage und schreibe sechzehn Antiquitätenläden, den Flohmarkt und die Auktionshäuser nicht mitgerechnet. Die meisten davon drängen sich in dem Gewirr aus Straßen rings um die große Kreuzung, wo die East Street zur West Street und die North Street zur St. Lawrence’s Lane wird.

So wunderschön es in der Altstadt auch sein mag, für eine leidgeprüfte berufstätige Frau, die nur versucht, ihrer Arbeit nachzugehen, ist sie ein Albtraum. Dauernd steckt man in Straßen, die ursprünglich für maximal eine Pferdekutsche gedacht waren, hinter einem Reisebus fest und muss aufpassen, dass man die Touristengrüppchen nicht umfährt, die, aufgereiht wie Kegel, mitten auf der Straße stehen, um die Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Als ich von der North Street abbog, waren meine Nerven nicht mehr angespannt, sondern regelrecht zerrüttet. Nachdem ich die Meute ausgeführt und heimgebracht hatte, hatte ich zwei Stunden bei einer grässlichen Frau namens Verbena Clarke geputzt. Inzwischen war es längst Mittag, und ich hatte einen Mordshunger. Sie würden mich nicht mögen, wenn ich Hunger habe.

Meine Straße ist ruhiger als die Hauptverkehrsader und bei Weitem nicht so malerisch. Von georgianischen Häusern in Zuckermandelfarben fehlt hier jede Spur. Keine Reetgrasdächer, keine Stockrosen, nur eine schmale, kopfsteingepflasterte Straße mit einem ehemaligen, inzwischen leider mit Brettern verrammelten Buchladen auf halber Höhe. Sunflowers, das vegetarische Café, ist das einzig andere interessante Gebäude. Es gehört meinen Vermietern, Adam und Kate, und befindet sich in einem ehemaligen Stall.

Dahinter verliert sich der Gehweg im Nichts. Das Kopfsteinpflaster verwandelt sich in einen vernachlässigten, mit Schlaglöchern durchsetzten Trampelpfad, eine Sackgasse, die schließlich an einer Brachfläche endet. Diese wird von staubigem Dornengebüsch und einem alten viktorianischen Laternenmast geprägt und scheint für manche Leute offenbar eine Einladung zu sein, ausgediente Einkaufswagen abzustellen, durchgelegene Matratzen abzuladen und kaputte Mikrowellen und Ähnliches zu entsorgen. Ich parke dort meinen Transporter, denn wenn ich aus dem Fenster auf dem Treppenabsatz spähe, kann ich ihn dort vom Haus aus im Auge behalten. Allerdings wäre wohl kaum jemand so dämlich, ihn zu stehlen.

Adam und Kate haben ein riesiges viktorianisches Haus geerbt, aber leider nie das Geld gehabt, es zu renovieren. Das Gebäude ist düster und feucht. Die Dielenbretter knarzen, und die Fensterrahmen sind morsch. Aber das Angebot an Mietwohnungen ist in Ashburton gering. Und die Miete ist billig. Wer finanziell klamm ist, kann eben keine großen Ansprüche stellen. Die beiden freuen sich, in der oberen Etage eine Mieterin zu haben, die sich nicht über die schimmelige Wand in der Küche, die klappernden Fenster und die Zugluft beklagt, welche wie ein Derwisch heulend unter der Wohnzimmertür hereinpfeift. Der Gerechtigkeit halber muss ich allerdings einräumen, dass sie einige Versuche unternommen haben, das Haus auf Vordermann zu bringen. Dummerweise tritt aber stets Ebbe in der Kasse ein, bevor das jeweilige Projekt abgeschlossen werden kann. Da das Sunflowers keine gute Lage für ein Lokal hat, macht es leider weniger Umsatz, als es wegen seiner ausgezeichneten Speisekarte verdient hätte.

Als ich an jenem Vormittag zurückkam, waren meine Vermieter noch im Café und mit dem Mittagessen beschäftigt. Niemand war zu Hause. Ich lief die Stufen vom Garten hinauf, betrachtete die Büsche im Vorgarten und dachte, dass es höchste Zeit war, ihnen einen ordentlichen Haarschnitt zu verpassen. Schon eine ganze Weile schob ich diese Aufgabe vor mir her, obwohl ich versprochen hatte, mich darum zu kümmern.

Ich öffnete die Haustür und ging nach oben. Der erste Stock ist offiziell meiner, allerdings existiert keine Tür, um meinen Bereich abzutrennen. Der Treppenabsatz ist gemeinsames Gebiet, weil man nur hier Zutritt zum Trockenschrank und zum Speicher hat. Offenbar war Kate heute oben gewesen. Auf dem Tisch neben meiner Wohnzimmertür stand ein Plastikbehälter, eine milde Gabe aus dem Sunflowers. »Curry mit Aubergine und Kartoffeln« lautete die zum Teil durch das Auftauen verwischte Aufschrift. Lächelnd griff ich danach. Caféinhaber als Vermieter zu haben bedeutet, dass stets genug Essen übrig bleibt, und ich leide nicht an falschem Stolz.

Meine Wohnung besteht aus einem Wohnzimmer, einer kleinen Küche, einem Schlafzimmer mit einem Bettgestell aus Messing und einem winzigen echt antiken Kamin sowie einem Bad mit zickender Therme.

Ich schloss die Wohnzimmertür auf. Bill saß, den Schwanz ordentlich um die Pfoten gelegt, auf dem Fensterbrett und spielte »Ich bin eine Vase«. Er mag die Aussicht aus meinem Wohnzimmer und betrachtet gerne das wilde Gewirr in dem seltsam geformten Garten unter ihm und die windschiefen Dachfirste und grünen Hügel dahinter. Als ich den kurzflorigen schwarzen Samt zwischen seinen Ohren kraulte, fing er an, rau und kehlig zu schnurren, wandte den Kopf und sah mich wohlwollend aus einem smaragdgrün strahlenden Auge an. Das andere hat er als Kätzchen bei einem unglücklichen Zusammentreffen mit einem erbosten Huhn verloren. Außerdem entstellen lange Kratzer seine wunderschöne schwarze Nase. Sie müssen wissen, dass Bill nicht mein Kater ist. Er gehört Adam und Kate von unten. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, vergewissere ich mich, dass ich ihn nicht eingesperrt habe. Und wenn ich zurückkehre, ist er jedes Mal wieder drinnen. Offenbar kann er nach Belieben in der Wohnung aus und ein gehen wie ein Magier. Wir rätseln alle, wie er das anstellt.

Ich machte mir eine Tasse Kaffee und ein Brot mit Erdnussbutter und Banane, ließ mich im Sessel nieder, streifte die Schuhe ab und legte meine bestrumpften Füße auf den Couchtisch. Dann fuhr ich mir mit den Fingern durch meine zerzausten Locken und kratzte mich am Kopf.

Bill streckte sich auf dem Fensterbrett und schlenderte dann zu mir herüber. Er hüpfte auf meinen Schoß und bohrte mir genüsslich seine Krallen in die Oberschenkel. »Du brauchst dich nicht häuslich einzurichten«, erklärte ich ihm mit vollem Mund. »Ich glaube, ich bleibe nicht lange sitzen.« Als mir auffiel, dass am Anrufbeantworter das rote Lämpchen blinkte, griff ich mühsam über den Kater hinweg und drückte auf PLAY.

Ich kannte die Stimme nicht. Es war die eines Ausländers mit starkem Akzent. Sie klang zögernd, und offenbar war es dem Anrufer unangenehm, mit einer Maschine reden zu müssen. Ich möchte mit Miss Browne sprechen … äh … mit Juno. Hier ist Mr. Nickolai … Nickolai Antiquitäten. Ich möchte, dass sie kommt und hier arbeitet. Er hinterließ eine Nummer. Ich schubste einen verärgerten Bill hinunter, um nach einem Stift zu greifen und sie zu notieren. Dann rief ich zurück.

»Mr. Nickolai?«, meldete ich mich, als jemand abhob. »Juno Browne. Sie haben wegen eines Jobs angerufen?«

Er lachte kehlig auf. »Kommen Sie heute?«

»Nein, tut mir leid. Ich bin den restlichen Tag bereits ausgebucht.« Gestern hatte ich einen Notruf von Ricky und Morris erhalten und ihnen den Nachmittag versprochen. Ich durfte sie nicht im Stich lassen.

Der Terminkalender lag aufgeschlagen auf meinem Schoß. »Morgen habe ich auch ziemlich viel zu tun. Aber ich könnte gegen Mittag vorbeischauen, um alles zu besprechen.«

»Sehr gut. Morgen. Nickolai Antiquitäten. Wissen Sie, wo ist?«

»Shadow Lane?«

Er brummelte zustimmend. »Kommen Sie nicht Ladentür. Wohnungstür. An der Seite.«

»Das finde ich schon. Also dann so um zwölf?«

»Wir sehen um zwölf. Ich freue mich.« Wieder ein leises Auflachen. »Habe noch nie getroffen Göttin.«

»Mr. Nickolai, suchen Sie eine normale Putzfrau …?« Aber er hatte schon aufgelegt. »… denn ich kann keine normalen Putzaufträge mehr annehmen«, fügte ich ins Leere hinein hinzu und hängte ebenfalls den Hörer ein.

2

Als ich damals nach Ashburton zog, brauchte ich dringend einen Job und eine Unterkunft. Ricky und Morris haben mir bei beidem weitergeholfen, und obwohl ich mir seitdem ein Geschäft aufgebaut habe, versuche ich, für sie da zu sein, wann immer es nötig ist.

Sie betreiben einen Theaterkostümverleih in ihrem Haus in der Druid Lane. Es ist ein prachtvolles georgianisches Gebäude, das in erhabener Abgeschiedenheit auf einem Hügel mit Blick auf das Städtchen thront. Eine Villa wie diese malt man sich aus, wenn man einen Roman von Jane Austen liest: elegante Proportionen, weißer Anstrich, bodentiefe Fenster, symmetrisch angeordnet zu beiden Seiten einer beeindruckenden Haustür, und dazu eine Lage inmitten weitreichender, geschwungener Rasenflächen.

Ricky hat das Haus von einer Tante geerbt. Er und Morris sind sich vor vielen Jahren als Mitglieder einer Tanztruppe begegnet, und sie haben beschlossen, Morris’ Ausbildung als Schneider und Rickys Auge für Design zu vereinen und sich auf Bühnenkostüme zu spezialisieren. Wie es auf ihrer Webseite heißt, versorgen sie professionelle Theater und Laienspielgruppen im ganzen Land. Mittlerweile behaupten sie ständig, sie wollten sich unbedingt zur Ruhe setzen, was natürlich absoluter Schwachsinn ist. Allein bei dem Vorschlag, als ersten Schritt einen Teil ihres Inventars zu verkaufen, wird ihnen beiden ganz blümerant zumute. Derzeit sind vier ihrer sechs Schlafzimmer von Kleidern belegt, auf dem Speicher türmen sich Hüte, Perücken und Schuhe.

Offenbar hatte Ricky den Transporter in der Auffahrt bemerkt, denn als ich mich näherte, öffnete sich schon die Haustür. »Die Göttin vom Arsch der Welt!«, rief er aus und verbeugte sich tief, als ich an ihm vorbei in die Vorhalle ging. »Ein Segen, dass du gekommen bist, mein Engel!«, fügte er ehrerbietig hinzu.

In seiner Jugend hätte man Rickys gutes Aussehen mit dem von Lord Byron verglichen. Selbst jetzt, mit über siebzig, fallen ihm die stahlgrauen Locken dekorativ, wenn auch nicht mehr so dicht in die edle Stirn. Er hat eine Adlernase und einen markanten Kiefer, etwa so, wie ich mir Mr. Rochester vorstellte, nur dass Jane Eyre in der Hochzeitsnacht wohl bitter enttäuscht gewesen wäre.

»Worum geht es?«, fragte ich und beäugte die vier Wäschekörbe aus Weidengeflecht, die offen in der geräumigen Vorhalle standen.

»Eine Laienspielgruppe in Leicester gibt nächste Woche den Zauberer von Oz.« Seine Worte überschlugen sich. »Und ihr Ausstatter hat sie versetzt. Deshalb haben sie uns um Hilfe gebeten. Bis morgen früh muss alles fertig sein. Um neun holt ein Bote die Sachen ab.«

»Gut, dass ich den Nachmittag frei habe.« Eigentlich hätte ich bei Mrs. Berkley-Smythe putzen müssen, aber die war auf einer Kreuzfahrt.

»Maurice ist oben im Atelier«, sprach Ricky weiter. »Geh schon mal hoch. Ich drucke nur noch rasch die Unterlagen aus und komme gleich nach.«

Ich schlängelte mich zwischen den Wäschekörben hindurch und stieg die geschwungene Treppe hinauf, wo ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, mit der Hand über das glatt polierte Geländer zu streichen. Morris war im Atelier. Vor sich hin murmelnd schüttelte er einen Haufen Kunstpelze aus.

Wenn Ricky Rochester ist, dann ist Morris Pickwick. Während Rickys Gesichtszüge in Granit gemeißelt scheinen, sind die von Morris rundlich und wie aus Ton modelliert. Lächelnd wie ein Riesenbaby blickte er mich über seine kleine goldgeränderte Brille hinweg an. »Ich könnte schwören, dass dieser Löwe die Motten hat … Hallo, Juno! Schön, dass du hier bist.«

Ich beugte mich vor und küsste ihn auf die weiche Wange. »Es ist mir ein Vergnügen.« Ich sah, dass die böse Westhexe bereits an einem ansonsten leeren Kleiderständer hing. Ihr spitzer Hut baumelte an einem Gummiband.

Ricky kam, einen Papierstapel in der Hand, leicht keuchend die Treppe hinauf. Die Theatergruppe aus Leicester hatte ihm die Maße der Schauspieler gemailt. »Der Zauberer von Oz ist keine große Inszenierung«, teilte er mir mit, während er die Listen überflog. Er zog eine Augenbraue hoch. »Die Dorothy ist offenbar ein Pummelchen! Ich bezweifle, dass das blaue Baumwollkleid passt.«

»Was soll ich tun?«

»Such die Vogelscheuche Krähenschreck und den Blechmann.« Er drückte mir die Zettel mit den Angaben in die Hand. »Und achte darauf, dass beim Blechmann nichts fehlt!«

»Falls es dir nichts ausmacht, Juno«, fügte Morris höflich hinzu.

In den nächsten beiden Stunden kramten, sortierten und packten wir. Leider hatte der Blechmann seinen Trichterhut verloren, und einer von Dorothys rubinroten Schuhen fehlte auch. Hinzu kam, dass Glinda, die gute Nordhexe, wie vom Erdboden verschluckt war. Wir beschlossen, eine Teepause einzulegen.

»Hast du morgen auch Zeit, Liebelein?« Als wir alle am Tisch im Frühstückszimmer saßen, zündete Ricky sich eine seiner Mentholzigaretten an und reckte das Kinn, um die Rauchwolke über unsere Köpfe hinwegzupusten.

»Ich fürchte, nein. Morgen geht es ziemlich rund. Außerdem treffe ich mich gegen Mittag mit einem neuen Kunden. Nun, er könnte ein neuer Kunde werden. Mr. Nickolai.«

»Doch nicht etwa der alte Nick?« Ricky starrte mich mit aufgerissenem Mund an.

»Lebt der noch?« Morris runzelte die Stirn. »Er muss ja älter sein als der liebe Gott.«

»Mr. Nickolai«, wiederholte ich. »Er ist Inhaber eines Antiquitätenladens in der Shadow Lane, der allerdings immer geschlossen zu sein scheint, wenn ich vorbeikomme.«

»Er betreibt seine Geschäfte ausschließlich an der Hintertür.« Ricky verzog vielsagend das Gesicht. »Wozu braucht er dich?«

»Vermutlich soll ich bei ihm putzen.«

Morris schwenkte warnend den Zeigefinger. »Sei bloß vorsichtig, Juno.«

Obwohl ich an die dramatischen Anwandlungen der beiden gewöhnt war, konnte ich mir die Frage nicht verkneifen: »Warum?«

»Er hat schon mehrmals gesessen.«

»Wegen Hehlerei«, flüsterte Ricky theatralisch.

»Wirklich?«, hakte ich in hoffentlich angemessen empörtem Tonfall nach.

»Und dann wären da noch die anderen Sachen.« Morris nickte beifällig.

»Was für andere Sachen?«

»Nickolai ist gar nicht sein richtiger Name.« Mit einem eleganten Schulterzucken, um das ihn jede Hollywood-Diva beneidet hätte, schnippte Ricky die Asche von seiner Zigarette. »Sondern die Abkürzung für … Nickoloviza oder so … etwas Längeres jedenfalls.«

»Am Telefon klang er ein wenig wie ein Russe«, räumte ich ein. »Irgendwie osteuropäisch. Was für andere Sachen?«, wiederholte ich.

Als die Antwort ausblieb, wuchs mein Verdacht, dass es sich mal wieder bloß um eine Übertreibung der schöneren Dramatik wegen handelte. Bis Morris mit den Lippen das Wort Erpressung formte. »Pass auf, dass er dich richtig bezahlt.« Als er in einen Keks biss, verzog er das Gesicht. »Früher war er ein richtiger alter Halunke.«

»Ich habe ihm ja noch nicht zugesagt«, stellte ich fest. »Morgen treffe ich mich erst mal nur mit ihm.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Wann ist euer Konzert?«

»Oh, mein Gott, schon halb sechs!« Hastig drückte Ricky seine Zigarette aus. »Und wir sind noch nicht fertig!«

»Ich stelle die Kostüme selbst zusammen«, erbot ich mich. »Falls ihr noch üben wollt.«

»Wir müssen wirklich einige Dinge durchgehen«, entschuldigte Morris sich verlegen. Rasch sammelte er die Tassen ein und trug sie zum Spülbecken. »Schaffst du das allein, Juno?«

»Keine Sorge. Macht nur.« Seit Jahren schon treten Ricky und Morris als Duo namens Giftspritze auf, und an diesem Abend spielten sie ein Benefizkonzert zugunsten des Hospizes am Ort. Zu Anfang gab es einige Operettenmelodien und witzige Dialoge, die dann in bissige Satire übergingen und schließlich im Absurd-Zotigen mündeten. Die zwei sind beim Publikum unbeschreiblich beliebt.

Ricky war bereits im Musikzimmer verschwunden. Aus dem Flügel erklangen fordernde Akkorde. »Los, Maurice, beweg deinen fetten Hintern hierher!«

Morris grinste mir zu und eilte zu ihm hinüber.

»Take a pair of sparkling eyes …«, folgte mir seine einschmeichelnde Stimme, als ich wieder die Treppe hinaufstieg. »… take a pretty little palm, fringed with dainty fingerettes …«

Operetten von Gilbert und Sullivan sind nicht mein Fall. Ich widerstand der Versuchung, mir die eigenen zarten Fingerchen in den Hals zu stecken, und widmete mich der Suche nach dem rubinroten Schuh. Als Ricky und Morris ihr Repertoire abgearbeitet und sich genug vorbereitet hatten, hatte ich die fehlenden Sachen entdeckt und die meisten Kostüme eingepackt. Jedes hing an einem Bügel, war mit dem Namen des jeweiligen Schauspielers versehen und in eine dünne Zellophantüte gehüllt. Anstatt alles hinunter zu den wartenden Wäschekörben zu schleppen, griff ich auf die bewährte Methode zurück, die Kleidungsstücke über das Geländer auf den blitzsauberen Marmorfußboden der Vorhalle zu werfen und sie anschließend einzeln aufzuheben und ordentlich zu verstauen.

»Alles ist gepackt«, teilte ich den beiden mit, als sie mit Kummerbund und Fliege in der Vorhalle erschienen, während ich mich gerade mit den Lederriemen der Körbe abmühte. Zum Glück hatten die Körbe selbst Räder. Sobald ich sie fertig beschriftet hatte, konnte ich sie also, bereit für morgen früh, zur Haustür schieben. Ricky und Morris brauchten sie dann nur noch zum Transporter des Kurierfahrers zu befördern.

»Wo hast du Glinda gefunden?«, erkundigte sich Morris.

»Bei den Kostümen für Cinderella. Weißt du noch, letztes Jahr, als die Dame nicht in das Kostüm der Patenfee passte und wir ihr stattdessen Glinda gegeben haben?«

»Juno, du bist fantastisch!« Das Bündel Geldscheine, das Ricky mir in die Hand drückte, entsprach etwa meinem doppelten Stundensatz. »Keine Widerrede!«, befahl er, ehe ich protestieren konnte.

»Ihr braucht mir nicht so viel zu bezahlen …«, begann ich.

»Was sollen wir sonst tun, solange du dich nicht von uns adoptieren lässt?«

Ich lachte laut. Sie hatten mir schon öfter eine Dauerstellung angeboten, doch sosehr ich Ricky und Morris auch liebte, hätte ich nie ständig mit ihnen zusammenarbeiten können. Eine halbe Stunde in ihrer Gesellschaft reicht normalerweise, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Ich schaute auf die Uhr. »Ihr geht jetzt besser. Ich schließe hinter mir ab, wenn ich alles erledigt habe.«

Morris stellte sich auf die Zehenspitzen, um mich zu küssen. »Leg einfach den Riegel vor. Und sei morgen vorsichtig mit Mr. Nickolai. Man nennt ihn nicht umsonst den alten Nick!«

Als ich nach Hause kam, hatte ich einen Mordshunger. Das Magenknurren wurde noch dadurch gesteigert, dass mir im Flur wie immer Essensdüfte entgegenwaberten. Kate steckte den Kopf zur Küchentür hinaus. Der dunkle Zopf fiel ihr über die Schulter. Sie hat genau die Haare, von denen ich seit jeher träume: lang, dunkel und glatt. Haare, die man tatsächlich kämmen kann.

»Hat das Curry geschmeckt?«, fragte sie lächelnd.

»Das werde ich gleich wissen.«

»Nun, sag mir, wie du es findest. Es ist ein neues Rezept«, bat sie und verschwand mitsamt Zopf.

Ich trat in mein Wohnzimmer, wo Bill im Sessel schlief. Als ich die Tasche von der Schulter nahm, hörte ich, dass Adam unten nach ihm rief. »Klingt, als wäre es auch für dich Zeit zum Abendessen«, meinte ich zu ihm und hob ihn hoch. »Du gehst jetzt besser.«

Als ich die Tür öffnete, stand Adam bereits davor. »Schaff dir selbst eine Katze an, Juno«, sagte er streng und nahm mir den zappelnden Bill ab.

»Mein Vermieter erlaubt es nicht.«

Er nickte traurig. »Das muss hart sein.« Bill wand sich in seinen Händen, worauf er ihn fest unter den Arm klemmte und mit ihm nach unten marschierte.

Das Curry war das Warten wert. Nach dem Essen klappte ich den Laptop auf, in der vagen Hoffnung, dass das Hub funktionieren würde. Und das tat es. Das Geschwätz in den sozialen Medien bestärkte mich mal wieder in meiner Überzeugung, dass ich im falschen Jahrhundert lebe. Vermutlich wäre ich mit Kriegen, Seuchen und Pestilenz besser zurechtgekommen als mit den Ärgernissen der Moderne. Ich verschickte einige verspätete Geburtstagsgrüße, bejubelte brav die neuesten Babyfotos und erinnerte eine Freundin, die sich darüber beschwerte, dass ich nie erreichbar sei, an das launenhafte Mobilfunknetz in Ashburton und daran, dass ich tatsächlich noch einen Festnetzanschluss besitze. Alle meine alten Freundinnen aus der Schule oder der Uni bekamen entweder Babys oder lebten in aufregenden Städten, wo sie traumhafte Karrieren hinlegten. Ich tat weder das eine noch das andere. Nun, ich wünschte ihnen viel Glück. Mir ist es egal, denn mir gefällt mein Leben so, wie es ist.

Brian, mein einziger lebender Verwandter und ein Onkel zweiten Grades, war Diplomat in Südkorea, hatte gemailt und fragte, ob ich noch immer die Omas und Haustiere anderer Leute versorgte und ob ich genügend Geld hätte. Es war schön, von ihm zu hören, und ich antwortete, alles sei bestens.

Natürlich war das gelogen. Ich habe nie genügend Geld. Ich weiß, dass ich Brian nur darum zu bitten bräuchte, aber ich möchte seine Großzügigkeit nicht ausnützen, solange der böse Wolf nicht meine Tür aufbricht und mir seine Reißzähne ins Bein schlägt.

Ich schleppte mich ins Bett. Wir Hundesitterinnen müssen früh aufstehen. Bevor ich das Licht ausmachte, warf ich noch einen Blick in meinen Terminkalender, wer eigentlich morgen auf dem Programm stand. Da sich mein Geschäft ganz allmählich entwickelt hat, sehe ich manche meiner Kunden wöchentlich, andere alle zwei Wochen, einige einmal im Monat und den Rest, wenn sie mich brauchen. Ohne Terminkalender wäre ich eine tote Frau. Der morgige Tag verhieß zudem etwas Neues – die Begegnung mit Ashburtons Meisterverbrecher: mit Mr. Nickolai.

3

Auf den ersten Blick wirkte Nickolai Antiques nicht sehr vertrauenerweckend. Der Laden befand sich eindeutig abseits der von den sommerlichen Touristen ausgetretenen Pfade. Sobald diese nämlich ihren Wagen abgestellt haben oder auf dem ausgesprochen schäbigen Busparkplatz hinter dem Rathaus abgesetzt worden sind, ist der Ablauf immer gleich. Zuerst benutzen sie die öffentlichen Toiletten. Darauf folgt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein gemächlicher Spaziergang von der Teestube zum Antiquitätenladen und dann vom Pub zum Museum und schließlich zum Café. Ein Schaufensterbummel zu den Läden, die einheimisches Kunsthandwerk, Keramik, selbst gefertigten Schmuck, mundgeblasenes Glas, Honig aus dem Moorland und sogar Schokolade und Gin, ebenfalls aus dem Moorland, verkaufen, ist natürlich ein Muss. Wenn die Leute zu guter Letzt zu ihren Fahrzeugen zurückkehren, haben sie das enge Straßengewirr der Altstadt nie verlassen.

Nickolai Antiques liegt, versteckt und hinter zu vielen Häuserecken, entfernt vom geschäftigen Treiben und außer Sichtweite, in der Shadow Lane. Diese ist eine schmale, kopfsteingepflasterte Straße, in die kaum je ein Sonnenstrahl fällt und die bis auf einen Münzwaschsalon und ein Bestattungsunternehmen nichts Interessantes zu bieten hat. Ich spähte durch die mit Schutzgittern verrammelten Fenster, deren Scheiben aber so schmutzig und mit Kondenswasser beschlagen waren, dass ich drinnen nichts erkennen konnte. Eine graue Schicht überzog das eigentlich cremefarben gestrichene Mauerwerk, die seit Jahren nicht mehr abgewaschen worden war. Ein mit Wachskreide bekritzeltes Stück Pappe an der Tür verkündete, dass der Laden geschlossen war. Ich konnte mir sowieso keinen Grund vorstellen, ihn betreten zu wollen.

Seitlich vom Laden verlief eine enge Gasse zwischen hohen Gebäuden. Keiner der berühmten ummauerten Wege von Ashburton, sondern nur ein zweckmäßiger Durchgang, der die Shadow Lane mit der Sun Street verband. Ich hatte diese Abkürzung noch nie genommen.

Etwa auf halber Höhe stieß ich auf die Tür zur Wohnung über dem Laden. Ich drückte auf den Klingelknopf, worauf ein asthmatisches Keuchen erklang. Dann wartete ich und starrte auf das zerschrammte, schwarz lackierte Holz. Ich habe immer noch manchmal Albträume, in denen ich vor dieser Tür stehe, sie mit den Fingerspitzen anschubse und beobachte, wie sie weit aufschwingt. An diesem Morgen fragte ich mich jedoch nur, warum das so lange dauerte. Nach einer vollen Minute hörte ich endlich schlurfende Schritte. Mehrere schwere Riegel wurden zurückgeschoben, und Mr. Nickolai öffnete die Tür.

Mir wurde klar, dass ich ihn vom Sehen kannte. Ein schäbiger kleiner Mann in einer viel zu weiten grauen Strickjacke. Er war nicht groß, dafür aber kräftig gebaut und muskulös, vielleicht war er früher einmal Ringer gewesen. Ich schätzte ihn auf mindestens achtzig. Ein Rest drahtiges graues Haar umrahmte einen ansonsten kahlen Schädel, und er trug einen schlaffen sandfarbenen Schnurrbart. Die Hand, die er mir hinhielt, um meine zu schütteln, hatte kräftige, dicke Finger und wies rings um die Nägel Flecken auf. Nicht von Nikotin, sondern eher von einer Holzbeize oder Lasur. Außerdem roch er ganz leicht nach Möbelpolitur und, so wie manche allein lebenden alten Menschen, nach mangelnder Körperpflege. Doch sein Handschlag war fest, und seine blauen Augen funkelten lebendig und schalkhaft.

»Miss Browne.« Er hatte einen starken Akzent.

»Juno bitte.«

Er lächelte, und unter dem buschigen Schnauzer schimmerten weiß leuchtende dritte Zähne.

»Kommen Sie nach oben.« Er winkte mich zu sich. »Dann reden wir.«

Ich folgte ihm in die obere Etage. Vom Treppenabsatz ging ein Raum ab – offenbar das Badezimmer. Einige weitere Stufen führten ins Wohnzimmer. Es war mit dunklen Möbeln vollgestellt. Auf dem Fußboden bildeten ausgeblichene, gemusterte Teppiche ein Mosaik, in den hübschen viktorianischen Kamin mit seinen grünen Kacheln war ein modernes Gasfeuer eingebaut. Auf dem Kaminsims drängten sich Krimskrams, Figürchen und ein vermutlich einen Monat zurückreichender Stapel Briefe. Auf einem kleinen Tisch zwischen zwei Lehnsesseln war ein Schachspiel aufgebaut. In der Ecke stand der älteste Fernseher, der mir je untergekommen ist. Ein Zwölf-Zoll-Bildschirm untergebracht in einem massiven Holzgehäuse.

Mr. Nickolai blickte in dieselbe Richtung wie ich. »Geht nicht«, bestätigte er meinen Verdacht und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Egal. Nur Mist im Fernsehen. Ich höre Radio.«

Auf einem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers befand sich ein Laptop, der aussah, als käme er von einem anderen Planeten und hätte auf dem Weg hierher mehrere Zeitzonen durchquert. »Ich mag das Internet«, vertraute Mr. Nickolai mir an. »Ich sehe mir Internetauktionen an, um die Preise zu kennen.«

»Aber Sie öffnen Ihren Laden nicht?«

»Laden?« Er zuckte die Achseln. »Laden voller Krempel.«

Er wies auf den Tisch, der die Mitte des Raums dominierte. Auf der braunen Tischdecke aus Chenille türmte sich eine dicke Schicht Zeitungen. Offenbar war hier ein Restaurierungsprojekt im Gange. Ein abgetragenes Paar Gummihandschuhe, die gelben Finger geschwärzt wie bei überreifen Bananen, lag zwischen einer Ansammlung von Flaschen und alten Marmeladengläsern. Lederfetzen, Knäuel aus Stahlwolle und etwa sechs Zahnbürsten mit struppigen Borsten umringten eine schimmernde Holzschatulle mit wunderschönen Intarsien. »Boulle-Technik«, sagte er.

»Wie bitte?«

»André-Charles Boulle«, wiederholte er und berührte liebevoll den Deckel der Schatulle. »Messing, Ebenholz, Schildpatt.« Mit dem dicken Zeigefinger wies er auf kunstvolle Details im Muster. »Boulle-Technik.« Er bedachte mich mit einem forschenden Seitenblick. »Interessiert Sie?«

»Ja, ich liebe alte Dinge. Restaurieren Sie sie?«

»Für besonderen Kunden«, erwiderte er mit einem geheimnisvollen Nicken, und mir fielen Rickys Worte ein, seine wahren Kunden kämen an die Hintertür. »Nicht anfassen«, fügte Mr. Nickolai hinzu. »Die Sachen auf Tisch nicht anfassen.«

»Natürlich nicht«, entgegnete ich ein wenig empört.

»Sie verstehen nicht.« Er deutete auf die Flaschen und Gläser. »Das da – Gifte, Säuren, ätzende Mittel – brauche ich für Arbeit. Unter der Spüle dasselbe. Die Chemikalien nicht anfassen. Sie sich sonst verletzt.«

»Oh, na klar! Vielleicht sollten wir jetzt besprechen, was genau Sie von mir …«

»Tee.« Er unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Ich mache Tee. Kommen Sie.«

Ich trottete hinter ihm her in die Küche, wo ein abgestoßener emaillierter Gasherd auf stämmigen Beinen stand. Es gab ein original antikes tiefes Porzellanspülbecken, ein Abtropfbrett aus Holz und einen Tisch mit Resopalplatte, so altmodisch, dass er schon beinahe wieder Retro war.

»Sie bitte setzen.« Er füllte einen Kessel mit kurzer Tülle und stellte ihn auf den Gasherd, den er mit einem Streichholz anzündete. Als zischend eine blaue Flamme emporschoss, schüttelte er das Streichholz aus, kippte Teeblätter aus einer alten Porzellankanne ins Spülbecken und holte eine Dose Kondensmilch aus dem gedrungenen Kühlschrank in der Ecke.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, hauptsächlich um das Schweigen zu überbrücken. Bang beobachtete ich, wie er die dickflüssige gelbliche Milch in zwei Porzellantassen goss. Bei der Vorstellung, diesen Tee trinken zu müssen, wurde mir mulmig.

»Nein, nein«, versicherte er mir. »Sie sitzen. Ich bin langsam. Habe mir an Weihnachten Hüfte gebrochen. Sechs Wochen Krankenhaus.«

»Ach herrje!«, rief ich wie von mir erwartet. War das wirklich der verurteilte Verbrecher, von dem Ricky und Morris mir erzählt hatten? Dieser alte Mann, der in Hauspantoffeln herumschlurfte und Tee für mich kochte?

»Als ich wieder zu Hause war, sie mir haben Frau geschickt.« Er verzog angewidert das Gesicht. »Sozialdienst.«

»Eine Ergotherapeutin?«, mutmaßte ich.

Er nickte. »Die Teppiche müssen weg, hat sie zu mir gesagt. Teppiche Stolperfalle. Das sind meine Teppiche, hauen Sie ab, habe ich ihr geantwortet!« Als er kicherte, musste ich auch lachen. Er musterte mich eingehend. »Warum Sie machen diesen Job? Sie hübsches Mädchen, könnten Mannequin sein.«

Ich lachte auf. »Ganz sicher nicht.«

»Warum nicht? Sie groß … wunderschöne rote Haare, wie als wäre der Herbst verrückt geworden.«

An dieser Stelle ist es wichtig, einiges geradezurücken. Ja, ich bin groß. Ich habe langes rotes Haar, das sich lockt wie wild und das alle – außer mir – offenbar schön finden. Vielleicht würde ich diese Ansicht ja teilen, wenn es nicht auf meinem Kopf wachsen würde. Zugegeben, ich habe hübsche Zähne. Doch abgesehen davon bin ich in keinerlei Hinsicht bemerkenswert. Ich habe im Laufe meines Lebens zwar gelernt, dass es ein Vorteil sein kann, eine hochgewachsene Rothaarige zu sein, aber zum Model eigne ich mich auf keinen Fall. Erstens bin ich zu kräftig gebaut, und zweitens würde ich mir eher selbst die Augen auskratzen.

Zu meiner Erleichterung gab der Kessel, der im Hintergrund vor sich hin gemurmelt hatte, ein schrilles Pfeifen von sich, weshalb Mr. Nickolai sich wieder mit dem Teekochen beschäftigen musste. Er ging dabei sehr methodisch vor, wärmte die Kanne an und gab vier gehäufte Löffel pechschwarzer Teeblätter hinein, bevor er Wasser darübergoss und die Kanne mit einer gestrickten Haube abdeckte.

»Sie arbeiten für alte Tunten in Druid Lodge?« Er warf mir einen verschlagenen Blick zu. »Die Judenbuben?«

»Ja«, erwiderte ich unangenehm berührt und fragte mich angespannt, was da womöglich noch an antisemitischen und homophoben Äußerungen kam.

»Ich habe Wohltätigkeitskonzert gesehen.« Er kicherte. »Sehr klug, sehr witzig!«

Ich wurde wieder lockerer. »Ja, das sind sie.«

»Sie verheiratet?«, erkundigte er sich mit einem spitzbübischen Funkeln in den blauen Augen.

»Wollen Sie mir einen Antrag machen?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht.«

»Mr. Nickolai, ich …«

»Nick. Nennen Sie mich Nick.«

»Also, Nick. Was genau soll ich tun?« Ich hob meine Umhängetasche vom Boden auf und verzog wegen des Gewichts ein wenig das Gesicht. Was, zum Teufel, schleppte ich nur mit mir herum, das so schwer sein konnte? Ich förderte meinen Terminkalender zutage. »Ich bin im Moment nämlich ziemlich ausgebucht. Wie oft soll ich denn kommen?« In dieser Wohnung war eindeutig Großreinemachen angesagt. Der Tisch, auf den ich mich stützte, fühlte sich ekelhaft klebrig an, und in den Ecken des Linoleumbodens hatte sich jahrealter schwarzer Schmutz eingefressen. »Den Rest der Wohnung kenne ich nicht, aber sie ist vermutlich nicht groß. Ich könnte sie sicherlich im Nu auf Vordermann …«

»Wohnung putzen?« Verdattert runzelte er die Stirn. »Ich will nicht, dass Sie putzen Wohnung.«

»Oh. Dann einkaufen?«

»Nein. Wenn ich will einkaufen, ich rufe an Mr. Singh vom Laden an der Ecke. Er bringt mir Sachen.« Er kicherte. »Wir trinken Tee, spielen Schach. Wenn er zurück in den Laden kommt, schreit Mrs. Singh ihn an, weil er so lange weg war.« Der Tee, den er einschenkte, war so stark, dass man eine Maus hätte darüberlaufen lassen können. Er schob eine Tasse zu mir hinüber. »Sie möchten Zucker?«

»Nein!«, rief ich ein wenig zu hastig aus und beobachtete mit Grauen, wie er welchen in seine eigene Tasse löffelte. »Nur der Neugier halber.« Ich wies auf die antike Waschmaschine mit integrierter Mangel. »Funktioniert das Ding noch?«

Er nickte. »Ja, es funktioniert. Aber Waschsalon drei Türen weiter ist einfacher.«

»Aha. Was soll ich also tun?«

»Ich zeige Ihnen. In einer Minute. Trinken Sie Ihren Tee.«

Im Inneren des Ladens war es dunkel und roch nach Vergangenheit, abgestandenem Staub und Möbelpolitur wie in einer alten Kirche. Es war auch genauso still. Die Uhren hatten längst zu ticken aufgehört. Massive dunkle Möbelstücke versperrten den Weg zur Ladentür. Wir waren die Treppe von der Wohnung hinuntergestiegen und hatten den Laden durch eine Hintertür, einen Flur und vorbei an einem Lagerraum betreten. Ich schaute mich um und schlängelte mich vorsichtig zwischen Glaskästen mit ausgestopften Vögeln und anderen Tieren hindurch: tote Federn, totes Fell, Glasaugen, die mich anstarrten. Hier gab es keine Spitzendeckchen oder Fächer, keine bunten, nett anzusehenden Schätzchen aus Porzellan, keinen Nippes aus grauer Vorzeit, um die düstere Stimmung aufzuhellen. Nur Pappkartons voller in Zeitungspapier, nicht auszumachender Gegenstände, die sich überall türmten. Eine ausgestopfte Eule glotzte mich böse an.

»Sehen Sie? Laden nur Krempel«, verkündete Nick vergnügt. »Ich werfe weg. Kommen Sie nach hinten ins Lager. Ich zeige Ihnen.« Er führte mich zurück in den Flur und in einen Lagerraum, in dem sich Möbel bis zur Decke stapelten. Schreibtische, Hocker, Stühle und Tische – alles chaotisch aufeinandergeschichtet. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und drehte mich dann zu Nick um. »Und was genau soll ich machen?«

Mit einem Auflachen klopfte er auf den Deckel einer dunklen Kiste, die aussah wie ein kleiner Sarg mit Beinen. »Wissen Sie, was das ist?«

»Ein Schrein?«, riet ich.

»Barschrank.« Als er den Deckel aufklappte, konnte ich sehen, dass die Kiste mit blauem Moiré gefüttert und mit Messinghaltern und Kristallkaraffen bestückt war. »Verstehen Sie? Das muss alles poliert werden.« Er wies auf die löwentatzenförmigen Messingbeine des Barschranks. »Ich schlechte Knie. Kann mich nicht mehr so tief bücken, um zu polieren.«

»Sie möchten, dass ich das poliere?«

»Ja, aber kein Spritzen.«

»Spritzen?«, wiederholte ich verständnislos.

»Nicht mit Politur spritzen. Nur Wachspolitur. Sehr vorsichtig. Ich zeige Ihnen.« Sanft schloss er den Deckel der Kiste und strich zärtlich mit der Hand darüber.

»Was ist das für ein Holz?«, fragte ich.

»Walnuss.« Er deutete mit einem dicken Zeigefinger darauf. »Das Kreuzstreifenfurnier aus Ebenholz.«

»Wollen Sie es verkaufen?«

Er wies mit dem Kopf auf die Stapel um uns herum. »All das muss weg.« Kichernd zeigte er auf sich selbst. »Inzwischen zu alt. Mein Herz nicht in Ordnung. Ich weiß nicht mehr, was hier ist. Sie mir helfen, gute Sachen zu finden und bei einer Auktion oder im Internet zu verkaufen.«

»Aber Nick. Ich kenne mich überhaupt nicht damit aus …«

»Sie lernen. Ich bringe Ihnen bei.«

»So eine Arbeit mache ich normalerweise nicht.«

»Warum nicht?«

Ich zögerte. Etwas in mir hatte große Lust, in diesem Kram herumzuwühlen, ihn mir gut anzuschauen, alle Deckel hochzuklappen und sämtliche Schränke zu öffnen, um zu erfahren, was sich darin verbarg. Außerdem gefiel mir der alte Nick mit seinen funkelnden Augen und dem amüsierten Kichern trotz seines schlechten Rufs.

»Warum ich?«, sagte ich, worauf er ein ratloses Gesicht machte. »Warum fragen Sie mich?«, führte ich weiter aus.

»Ah!«, antwortete er, als der Groschen fiel. »Ich gesehen Ihren Wagen. Außerdem hat Mr. Singh Ihre Karte im Fenster. Kein Auftrag ist zu klein, steht da.«

Lachend wies ich in den Lagerraum hinein. »Nick, das hier ist kein kleiner Auftrag! Wie oft soll ich kommen?«

»Jeden Tag.« Bei ihm klang das, als sei es selbstverständlich. »Ich bezahle.«

»So einfach ist das nicht. Ich kann meine anderen Kunden nicht im Stich lassen. Es sind Leute und Hunde, die auf mich angewiesen sind. Ich komme, wann immer ich kann. Was halten Sie davon?«

»Wann?«, hakte er stirnrunzelnd nach.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Nick verzog das Gesicht und ging aufmachen. »Paul!«, rief er aus und winkte jemanden herein. »Komm rein, komm rein.«

»Ich bin hier, um die Stühle abzuholen, über die wir gesprochen haben.« Ein Mann erschien im Flur und erschrak sichtlich bei meinem Anblick.

»Das ist Juno«, verkündete Nick. »Meine neue Assistentin«, fügte er stolz hinzu.

»Wirklich?« Er zog eine dunkle Augenbraue hoch. Paul war etwa in meinem Alter oder ein bisschen älter. Ich war groß genug, um ihm in die Augen schauen zu können, aber daran war ich gewöhnt. Außerdem waren es ausgesprochen schöne Augen, sehr dunkel unter langen, geraden Brauen und von schwarzen Wimpern umrahmt. »Paul«, sagte er und hielt mir die Hand hin. Ich schüttelte sie. Fester Händedruck, hinreißendes Lächeln. Ich spürte ein Flackern, eindeutig ein Vibrieren, und ich erkannte daran, wie er den Blickkontakt mit mir hielt, dass es ihm ähnlich erging. »Und Sie arbeiten für Nick?«, fragte er. Seine Stimme klang angenehm, sein Akzent ließ auf Bildung schließen. Überhaupt hatte er etwas von einem ehemaligen Eliteschüler an sich. Vielleicht lag es an seinem Selbstbewusstsein. Er strahlte gute Laune und Lebenskraft aus.

»So lautet der Plan«, erwiderte ich.

»Ganz gleich, wie Sie sich entscheiden«, warnte er mich leise, »trinken Sie bloß nicht seinen Tee.«

»Zu spät.«

»Na, dann viel Glück!« Er wandte sich wieder Nick zu. »Also, wo sind die Stühle?« Sie verschwanden hinter einem Wall aus Möbeln am anderen Ende des Raums und tauchten wieder auf, nachdem sie eine Weile Gegenstände umhergewuchtet hatten. Paul trug zwei schwere, dick weiß lackierte Holzstühle, deren Sitzflächen in einem kitschigen Blumenmuster bezogen waren. Obwohl ich nichts von antiken Möbeln verstand, erkannte sogar ich, dass hier ein Frevel geschehen war.

»Nett, Sie kennenzulernen, Juno«, rief er über die Schulter gewandt, als Nick ihm die Tür aufhielt.

»Kunde?«, fragte ich, nachdem er fort war.

»Paul?« Nick schüttelte den Kopf. »Er restauriert Möbel. Bei diesen Stühlen macht er ab Lack, lasiert sie und bezieht sie anders. Bringt sie so gut wie neu zurück. Sie werden sehen.«

Tja, dachte ich. Mit ein wenig Glück vielleicht. »Wäre Ihnen der Samstag recht?«, schlug ich vor, obwohl ich am Wochenende eigentlich nur ungern Verpflichtungen eingehe. »Ich könnte am Samstag nur für einen Tag kommen, und wir sehen, wie es klappt.«

»Wie es klappt«, wiederholte Nick lächelnd, und wir gaben uns darauf die Hand.

»Und kein Spritzen«, fügte ich feierlich hinzu. »Ich schwöre.«

4

Als ich drei Jahre alt war, wurde ich in London in einer Unterführung aufgefunden. In einem mit Graffiti beschmierten, nach Pisse stinkenden unterirdischen Gang. Offenbar hatte ich mir dort schon stundenlang, in meinen Buggy festgeschnallt, die Lunge aus dem Hals geschrien, während meine junge Mutter neben mir auf dem Boden an einer Überdosis starb. Ich erinnere mich nicht daran. Eigentlich erinnere ich mich an kaum etwas, das vor meinem fünften Geburtstag geschehen ist. Auch nicht an meine Mutter. Ich habe das alles ausgeblendet, so hat man es mir zumindest erklärt.

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