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Karin Slaughter Thriller-Bundle Vol. 2 (Kaltes Herz, blanker Hass / Blutige Fesseln)

KALTES HERZ, BLANKER HASS

Erst kommt die Liebe.
Dann der Verrat.
Nun folgt ihre bittere Rache.

Pam hat alles gegeben, um ihrem Mann eine gute Ehefrau zu sein. Dann hat sie das Grauen erlebt. Ein Grauen, an das sie nicht zu denken versucht. Heute leben sie getrennt. Doch als er unheilbar erkrankt und sie an sein Sterbebett ruft, zögert sie nicht. Sie wird zu ihm kommen. Um ihn sterben zu sehen - und um eine alte Rechnung zu begleichen …

Fesselnd und von diabolischer Schärfe - Eine Kurzgeschichte der Bestseller-Autorin Karin Slaughter ("Pretty Girls", "Blutige Fesseln")

Zusätzliche 30-seitige Leseprobe zum neuen Thriller "Blutige Fesseln" von Karin Slaughter enthalten.

BLUTIGE FESSELN

Es ist der persönlichste Fall in Will Trents Laufbahn. Das spürt der Ermittler schon in dem Moment, als er das leer stehende Lagerhaus betritt und die Leiche entdeckt - die Leiche eines Ex-Cops. Blutige Fußabdrücke weisen auf ein zweites Opfer hin. Eine Frau. Von ihr fehlt jede Spur.
Das Brisante: Gegen den prominenten Eigentümer des Lagerhauses ermittelt Will bereits seit einem halben Jahr wegen Vergewaltigung. Erfolglos!
Als am Tatort zudem ein Revolver gefunden wird, der auf Wills Noch-Ehefrau Angie zugelassen ist, ahnt er, dass dies ein Spiel auf Leben und Tod wird.

"Definitiv eine der besten Thriller-Autorinnen unserer Zeit." Gillian Flynn

"Karin Slaughters Helden sind weder strahlend noch fehlerfrei, und deswegen überzeugend." Frauke Kaberka, dpa

"Stoff für schlaflose Nächte!" buchjournal

"Karin Slaughter gebührt ein Ehrenplatz auf der großen Thriller-Bühne! Und nach drei Jahren Pause auch endlich wieder ein neuer Will-Trent-Roman. Ihre Fans werden es ihr danken." Michele Leber, Booklist

"Ein typischer Karin Slaughter-Thriller: Toll ausgestaltete Figuren und ein spannender Fall, der bis zum überraschenden Ende für den Leser undurchsichtig bleibt." Caroline Sielfang, Wochenpost

"Mit ‚Blutige Fesseln‘ zeigt sich wieder einmal, dass die Thriller von Karin Slaughter Garanten für fesselnde Lesestunden sind, aus denen man gar nicht mehr auftauchen möchte. Eine ideale Lektüre für kalte und schmuddelige Herbst- und Winterabende." Gudrun Loher, Artikeldienst Online


  • Erscheinungstag: 02.05.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 630
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678209
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Karin Slaughter

Karin Slaughter Thriller-Bundle Vol. 2 (Kaltes Herz, blanker Hass / Blutige Fesseln)

Karin Slaughter

Kaltes Herz, blanker Hass

Aus dem Amerikanischen von Fred Kinzel

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Cold, Cold Heart

Copyright © 2016 by Karin Slaughter

Published by arrangement with Witness Impulse,

an imprint of HarperCollins Publishers, LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Titelabbildung: Amy Weiss / Arcangel; cosmin4000 / ThinkstockPhotos

Redaktion: Silvia Kuttny-Walser

E-Book ISBN 978-3-95967-687-8

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Selbst jetzt noch konnte sie das Eis in ihrer Hand spüren, eine brennende, beißende Kälte, die wie eine Reihe scharfer Zähne in ihre Haut drang. War ihre Handfläche so heiß gewesen, oder lag es am kalifornischen Klima, dass das, was eben noch gefroren gewesen war, so schnell in seine Ursprungsform zurückkehrte? Sie war erschrocken, als sie vor seinem Haus stand und merkte, wie die Feuchtigkeit tränengleich von ihrem Handgelenk tropfte und eine Lache zu ihren Füßen bildete.

Jon war jetzt seit fast zwei Jahren tot. Gekannt hatte sie ihn wesentlich länger, vierundzwanzig Jahre lang, um genau zu sein – seit damals, als er John noch richtig, mit einem h, schrieb und nicht im Traum daran gedacht hätte, sein gelocktes schwarzes Haar lang zu tragen und seinen Bart zu beinahe einsiedlerhaften Ausmaßen wachsen zu lassen. Sie hatten sich in einem Bibelkurs für junge Erwachsene kennengelernt, waren ein Paar geworden und dann Mann und Frau. Sie hatten mehrere Jahre lang Chemie beziehungsweise Biologie an einer Highschool unterrichtet. Sie hatten einen Sohn bekommen, ihren wunderschönen, gesunden Sohn Zachary, nach Johns Großvater benannt. Ihr Leben war vollkommen gewesen, doch dann waren Dinge geschehen – Dinge, an die sie nicht zu denken versuchte. Am Ende hatte schließlich das süße Leben gerufen, und Pam war nicht eingeladen worden.

Ihr Haar war zu lang für eine Frau ihres Alters. Pam wusste das, konnte sich aber dennoch nicht dazu überwinden, es schneiden zu lassen. Es war wie eine Versicherung, dass man sie als Mensch noch bemerkte, wenn der Zopf an ihrem Rücken schwang, und sei es auch nur des Fauxpas wegen, als zweiundfünfzigjährige Lehrerin das graumelierte Haar hüftlang zu tragen. Während andere Frauen ihres Alters sich Kurzhaarschnitte stylen ließen und Yogakurse belegten, hatte Pam rebelliert. Zum ersten Mal in ihrem Leben achtete sie nicht mehr auf ihr Gewicht. Himmel, was für eine Wohltat, sich einen Nachtisch zu nehmen, wann immer sie verdammt noch mal Lust darauf hatte. Und Brot mit Butter. Und Vollmilch. Wie hatte sie nur so lange diese lachhaft durchscheinende Flüssigkeit trinken können, die sich fettarme Milch nannte? Die schlichte Befriedigung all dieser Wünsche war lohnender als jede Freude darüber, dass man den Knopf einer Hose in Größe 36 zukriegte.

Ihre Taille.

Sie zwang sich, an die guten Dinge zu denken, nicht an die schlechten, an die ersten Jahre statt der letzten siebzehn. Wie John immer mit den Händen ihre Taille umfasst hatte – raue Hände waren es, denn damals arbeitete er gern im Garten. Das Kitzeln seiner stacheligen Schnurrbarthaare, wenn seine Lippen über ihren Nacken strichen, wie er den Zopf immer sanft über ihre Schulter schob, damit er ihren Rücken von oben bis unten mit Küssen bedecken konnte.

Während sie auf ihrer dritten – und hoffentlich letzten – Reise in den westlichen Teil des Landes durch verschiedene Kleinstädte fuhr, zwang sie sich zu angenehmen Erinnerungen. Sie dachte an seine Lippen, seine Berührungen, an die Art und Weise, wie er sie geliebt hatte. Auf dem Weg durch Alabama dachte sie an seine kräftigen, muskulösen Beine. Mississippi und Louisiana riefen ihr die Schweißströme in Erinnerung, als sie zum ersten Mal als Mann und Frau zusammenkamen. Arkansas gemahnte sie an die vollkommene Biegung seines Schwanzes, wie er sich in ihr anfühlte, wenn sie seine Hüften mit den Beinen umklammerte, wie sich ihre Lippen teilten, wenn sie aufschrie. Oklahoma, Texas, New Mexico … Es waren keine geografischen Orte für Pam, sondern Punkte in der Topografie ihrer Seele. Als sie über die Grenze zu Arizona fuhr, schwebte sie zwischen Straße und Himmel, und das Einzige, was sie auf der Erde hielt, war der Griff ihrer Hände um das Lederlenkrad.

Der Wagen.

Alles, was ihr von ihm geblieben war, war der Wagen.

Vor zwei Jahren hatte er spätabends angerufen – nicht spät für ihn, aber durch die drei Stunden Zeitunterschied fiel das Läuten des Telefons bereits in jene Stunden, in denen es Panik hervorrief. Törichterweise dachte sie sofort an ihren Sohn Zack, aber beim zweiten Läuten war sie schon klarer im Kopf, und ihr gebrechlicher Vater fiel ihr ein, der sich weigerte, in ein Pflegeheim zu ziehen, obwohl er zu kaum noch etwas anderem fähig war, als den ganzen Tag in seinem Fernsehsessel zu hocken und History Channel zu gucken.

„Dad?“, hatte sie gerufen, als sie den Hörer beim dritten Läuten ans Ohr riss. Ein Brand. Ein Sturz auf der Treppe. Eine gebrochene Hüfte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte den Satz schon so oft gelesen, aber bis jetzt nicht gewusst, dass es physisch tatsächlich möglich war. Sie spürte das Hämmern unter der Speiseröhre, bis hinauf in die Kehle nahm sie den Druck ihres schlagenden Herzens wahr.

„Ich bin’s.“

„John?“ Sie stellte sich seinen Namen richtig geschrieben vor, als sie ihn aussprach, das H blinkte wie ein Neonschild vor einem Striplokal.

Passend zu seinem neuen kalifornischen Lebensstil hatte er es so nüchtern und sachlich gesagt, als würde er über das Wetter sprechen. „Ich sterbe.“

Sie hatte schlagfertig mit einem Spruch geantwortet, den er oft auf Dr. Phil oder bei Oprah gebracht hatte: „Wir alle müssen sterben. Und genau deshalb sollten wir jetzt das Beste aus unserem Leben machen.“

Leicht gesagt für ihn. Wer aufgrund seines Reichtums unabhängig war, neigte zu einer weniger negativen Sicht auf das Leben, als Leute, die jeden Morgen um fünf aufstehen mussten, um bescheuerten Teenagern das Periodensystem der Elemente beizubringen.

„Ich meine es ernst“, hatte er gesagt. „Es ist Krebs.“

Ihr Herz schlug nicht mehr bis zum Hals, stattdessen steckte dort jetzt etwas, das ihr das Sprechen schwer machte.

„Was ist mit Cindy?“, brachte sie schließlich heraus. Die zierliche, dunkelhaarige Pilates-Lehrerin, mit der er seit einem Jahr zusammenlebte.

„Ich möchte, dass du dabei bist, wenn es so weit ist“, hatte er gesagt. „Ich brauche diese Unterstützung.“

„Dann komm nach Georgia.“

„Ich kann nicht fliegen. Du wirst nach Kalifornien kommen müssen.“

Pam verfluchte immer noch den Tag, an dem sie zum ersten Mal zu einem Lehrerseminar nach Kalifornien geflogen waren. Es war eine nette Möglichkeit gewesen, aus Atlanta herauszukommen, ein spannendes Abenteuer, ihre erste Reise in den Westen. Ihr Trauerberater hatte angeregt, sie sollten etwas unternehmen, was „Spaß machte“, um nicht ständig an das Geschehene zu denken, und John hatte eifrig diese Konferenz vorgeschlagen. Pam hatte während des Flugs die meiste Zeit aus dem Fenster geschaut und war entsetzt gewesen über das riesige und so verschiedenartige Terrain unter ihnen. Dichte Wälder, in die Schneisen wie die Hiebe einer Peitsche schnitten, wechselten sich mit kahlen Wüsten und blankem Nichts ab. Wie konnten Menschen nur an so trostlosen Orten leben, hatte sie sich gefragt. Wie konnte man überleben, wenn man vor dem Fenster nichts als Kakteen und dürres Gestrüpp sah?

„Schau“, hatte John gesagt und aus dem ovalen Flugzeugfenster auf einen Fleck roter Erde gedeutet, der für Arizona stand. „Dort unten ist Ted Williams.“

Ted Williams, der Baseballspieler, dessen abgetrennten Kopf seine durchgeknallten Kinder kryogenisch eingefroren hatten.

„Flüssiger Stickstoff“, hatte John erklärt. „Sein Körper schwimmt in einem Fass daneben.“

Pam hatte zum ersten Mal den Blick vom Fenster abgewandt und rasch zu John hinübergeschaut, zu seinen stahlblauen Augen mit den langen Wimpern, die fast wie die einer Frau waren. Sie liebte ihn innig, sah jedoch nicht, wie sie den Graben überwinden sollte, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Sie hätte gern seine Hand berührt und es genossen, wie sich seine Stimme veränderte und tiefer wurde, wenn er jemandem etwas Neues beibrachte.

Stattdessen fragte sie: „Warum mussten sie ihn enthaupten?“

John hatte mit den Achseln gezuckt, aber sie sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen.

„Weißt du eigentlich“, fing er an, „dass das einzige andere Organ im Körper, das dem Gehirn chemisch und seiner Zusammensetzung nach ähnelt, die Gedärme sind?“

Pam hätte lachen sollen. Sie hätte eine flapsige Bemerkung darüber machen sollen, etwas wie: Wir haben eben doch alle nur Scheiße im Kopf. Aber sie hatte nur „Ich weiß“ gesagt und sich die Ohren auf dem Flug ins Unbekannte vom tiefen Brummen der Motoren füllen lassen.

Zachary war nie geflogen. Sein Leben war um Decatur gekreist, den Vorort von Atlanta, in dem Pam und John gewohnt hatten, solange er auf der Welt war. Dort hatte er Baseball gespielt, dort hatte er sich in der Shopping-Mall herumgetrieben, und dort hatte er, den Kondomen nach zu urteilen, die Pam in seinen Taschen fand, wenn sie seine Jeans wusch, so ziemlich jedes Mädchen in seiner Klasse gevögelt.

Mit sechzehn war er so groß wie sein Vater gewesen, sarkastisch wie seine Mutter und süchtig wie sein Großvater. Der Obduktionsbericht offenbarte einen Blutalkoholspiegel, der beinahe das Sechsfache der erlaubten Obergrenze betrug. Der amtliche Leichenbeschauer glaubte offenbar, Pam würde es tröstlich finden, dass Zack so betrunken gewesen war, dass er wahrscheinlich keinen Schmerz gespürt hatte, als sein Wagen von der Straße abkam, eine Schlucht hinunterstürzte und sich um einen Baum wickelte.

„Ich sterbe, Pam“, hatte John am Telefon gesagt. „Bitte. Ich möchte dich hier bei mir haben.“

Ein Hirntumor. Keine Schmerzen, weil es im Gehirn keine Nerven gibt. Sie war versucht, einen Scherz zu machen, ihn daran zu erinnern, was er über Ted Williams, das enthauptete Eis am Stiel, gesagt hatte, aber John brachte es selbst zur Sprache. „Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal nach Kalifornien geflogen sind?“ Als wäre sie nach dieser Konferenz jemals wieder dort gewesen. Sie konnte von Glück reden, wenn sie sich im Sommer einen Urlaub in Florida leisten konnte, und selbst dann musste sie sich mit einigen anderen Lehrern zusammentun, wenn sie nicht gezwungen sein wollte, in einem von Kakerlaken verseuchten Motel zehn Kilometer vom Strand entfernt zu schlafen.

„Ich möchte konserviert werden“, hatte er zu ihr gesagt. „Ich möchte kryogenisch eingefroren werden, damit ich eines Tages wiederbelebt werden kann.“

Sie hatte so heftig gelacht, dass sie buchstäblich Bauchkrämpfe bekam. Die Tränen in ihren Augen kamen vom Schmerz, hatte sie sich gesagt, nicht von irgendeinem Verlustgefühl.

Und doch hatte sie das Flugticket nicht weggeworfen, als es eintraf, hatte ihm nicht gesagt, er solle sich zum Teufel scheren mit seinem Erster-Klasse-Flug und seinen verdammten Millionen, wie sie es schon so oft getan hatte.

Millionen. Es mussten inzwischen einige Millionen sein. Sein Buch Biological Healing stand immer noch auf diversen Bestsellerlisten, und sie wusste, dass es in mindestens dreißig Sprachen übersetzt worden war. Jetzt, in diesem Augenblick, lasen wahrscheinlich Menschen in Äthiopien von Johns Theorie, mit Hilfe der „Geist-Körper-Verbindung“ Verlust und Leid zu überwinden. Das Komische dabei war, dass Pam diejenige war, die einen Doktortitel in Biologie trug. John war nur ein Highschool-Lehrer mit einer Botschaft, und er hatte seine Botschaft auch nur durch Zufall in die ganze Welt posaunt.

„Trauer“, hatte John zu einem freundlich gestimmten Larry King gesagt, „kennt keine bestimmte Sprache.“

Er hatte ein Buch darüber geschrieben, wie er erst Zack und dann seine Frau verlor. Das störte Pam wahrscheinlich am meisten an der ganzen Sache: dass sie mit Zack in einen Topf geworfen wurde, als wäre sie ebenfalls gestorben. Denn dieser Luxus war ihr nicht vergönnt gewesen, nicht wahr? Sie war zurückgeblieben, damit sie ins Leichenschauhaus gehen konnte, um ihren Sohn zu identifizieren, weil John nicht dazu imstande war. Sie hatte Zacks Adressbuch durchgesehen und seine Freunde vom Fußballcamp, vom Baseballcamp und vom Bandcamp herausgesucht, damit sie benachrichtigt werden konnten. Sie war diejenige gewesen, die zum Briefkasten gegangen war, um die mindestens hundert Briefe von Pfadfindern und Brieffreunden in Empfang zu nehmen, die Zack in seinem sechzehnjährigen Leben angehäuft hatte. Da John so handlungsunfähig war in seinem Schmerz, war Pam es gewesen, die den Anzug für Zacks ewige Ruhe ausgesucht und dann noch einen neuen gekauft hatte, als der Bestatter sie freundlich aufklärte, dass Zacks Anzug mehrere Nummern zu klein war.

Der Anzug war zwei Jahre alt gewesen. Sie hatte ihn gekauft, als Zack vierzehn war, damit er ihn zur Hochzeit seines Cousins trug. Von vierzehn bis sechzehn war ein ganzes Leben. In zwei Jahren war er von einem Jungen zu einem Mann herangewachsen, und als Pam den dunkelblauen Anzug und die Krawatte aus der Kunststoffhülle der Reinigung geholt hatte, war ihr keine Sekunde lang der Gedanke gekommen, Zack könnte aus ihm herausgewachsen sein. Die ständig wiederkehrenden Witze, dass er ihnen die Haare vom Kopf fraß, und die Tatsache, dass er alle zwei Monate neue Schuhe brauchte, weil seine Füße immer noch größer wurden, hatten ihr nicht zu denken gegeben. Und als sie in seinem Zimmer stand und den verschwitzten Teenagergeruch einatmete, der in den Laken hing, hatte sie beim Gedanken an den alten Anzug beinahe gelächelt und ihn erleichtert von der Kleiderstange im Schrank geholt, denn es war eine Entscheidung weniger, die sie treffen musste.

John brauchte ein Beruhigungsmittel, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Er hatte sich auf sie gestützt, als wäre sie ein Fels, darum hatte sich Pam in eine Art Stein verwandelt. Als ihre Mutter nach ihrer Hand gegriffen und sie aufmunternd gedrückt hatte, hatte Pam sich vorgestellt, sie sei ein Granitblock. Und als ein Mädchen, das in Zack verliebt gewesen war – eins von vielen, wie sich herausstellte –, schluchzend an Pams Brust zusammenbrach, hatte sie in ihrer Vorstellung kalte, glänzende Marmorplatten heraufbeschworen und daraus eine Festung um sich herum errichtet, damit sie nicht zu Boden stürzte und um ihr verlorenes Kind weinte.

Pam war diejenige gewesen, die stark war, an der sich alle aufrichteten. Sie stählte sich gegen jede Gefühlsregung, denn sie wusste, wenn sie sie zuließe, würde sie von einem Hagel aus Schuldgefühlen, Schmerz und Wut zu Tode gesteinigt werden.

„Schreib darüber“, hatte sie zu John gesagt, hatte ihn angefleht, denn sie konnte sich seine Qual nicht länger anhören, ohne ihre eigene von der Leine zu lassen. „Schreib es in dein Tagebuch.“

Er hatte immer Tagebuch geführt und seine Gedanken wie ein junges Mädchen so ziemlich täglich niedergeschrieben. Zuerst fand sie die Angewohnheit merkwürdig für einen Mann, aber später hatte sie es einfach als Ausdruck seiner liebenswerten Überspanntheit akzeptiert, so wie seine Angst vor Rolltreppen oder die Überzeugung, dass es zu Würmern im Verdauungstrakt führte, wenn man rohen Plätzchenteig aß. Als er dann mit dem Schreiben anfing, war sie froh, dass er die ganze Nacht in seinem Arbeitszimmer blieb und arbeitete, statt ins Bett zu kommen, wo er sich immer in den Schlaf weinte, in Albträumen von einer Seite auf die andere warf und Zacks Namen rief. Sie hatte diese schrecklichen Nächte ignoriert, solange sie konnte, hatte sie aus der Welt gewünscht, denn sie zur Kenntnis zu nehmen, hätte bedeutet, den Verlust zur Kenntnis zu nehmen. Doch dazu konnte sie sich nicht überwinden. Sie konnte sich nicht eingestehen, dass sie ihren kostbaren Jungen verloren hatten.

Irgendwann schließlich hatte sie in einer hitzigen Auseinandersetzung Johns unruhige Nächte zur Sprache gebracht, und er hatte sich wie ein Tier auf sie gestürzt und ihr vorgeworfen, kalt zu sein, sich nicht mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen.

Etwas hatte sich umgekehrt.

John war immer der Rationale gewesen, Pam die Emotionale. Er hatte sie stets mit Hilfe logischen Denkens besiegt und ausnahmslos jeden Streit für sich entschieden, weil er sich nicht von seinen Gefühlen hinreißen ließ. Selbst als Pam vor neun Jahren herausfand, dass er sie mit einer der Schulsekretärinnen betrog, hatte er sie mit Logik bezwungen.

„Du wirst mich nicht verlassen, Pam“, hatte er gesagt, und die Arroganz war ihm dabei aus jeder Pore gesickert. „Du hast nicht genug Geld, um Zack allein großzuziehen, und du wirst nicht an derselben Schule wie ich unterrichten können, weil dich dort niemand mag. Sie werden alle auf meiner Seite stehen.“

Es war ernüchternd, so etwas von dem Mann zu hören, den man liebte, nicht zuletzt deshalb, weil jedes Wort zutraf.

In den fast zwanzig Jahren ihrer Ehe war er durchweg der Vernünftigere gewesen, derjenige, der sagte: „Lass uns einfach abwarten“, wenn sie überzeugt war, ein raues Husten aus Zacks Zimmer mitten in der Nacht sei ein Hinweis auf Lungenkrebs, oder dass das Zigarettenpapier, das eines Tages in der Küche aus seinem Notizheft fiel, bedeutete, dass er auf Meth abfuhr.

„Warten wir erst einmal ab“, hatte John gesagt, als sie ihm von ihrem Verdacht erzählte, dass Zack Wein aus dem Kühlschrank stibitzt habe.

„So sind Jungs eben“, hatte John gemeint, als sie ganz hinten in Zacks Schrank eine leere Wodkaflasche fand. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt für diese klischeehafte Bemerkung, aber sie hatte ihm zugehört und sich zur Ruhe gezwungen, weil Johns gereizte Miene und sein Schulterzucken ihr das Gefühl vermittelten, eine hysterische Mutter zu sein und nicht einfach nur ein besorgtes Elternteil. In der Schule hatten sie beide täglich mit überreagierenden Eltern zu tun: Mütter, die aus Leibeskräften schrien, dass sie sich an den Schulausschuss wenden würden, wenn eine Note nicht geändert werde. Oder Väter, die Lehrern mit einer Klage drohten, wenn ihr Sohn durchfiel.

Der Anruf war an einem Freitagabend um neun gekommen – nicht um ein Uhr morgens, nicht zu katastrophenträchtiger, nachtschlafender Zeit. Zack war früher am Abend mit Casey und ein paar anderen Freunden weggefahren, und John und Pam sahen sich einen Film an, The Royal Tenenbaums. Pam zwang sich, den Film bis zum Schluss zu schauen, nicht weil er ihr so gut gefiel, sondern weil sie wusste, er gefiel Zack, und sie wollte am Morgen mit ihm darüber reden. Er befand sich an jenem Punkt seines Teenagerlebens, an dem jede Art von Gespräch mit seiner Mutter eine qualvolle Angelegenheit war, und sie überlegte sich Themen – buchstäblich Themen: Filme, Fußballspiele, komische Artikel in der Zeitung –, über die sie ungezwungen reden konnten.

„Ich geh ran.“ John sprang auf – er ging immer gern ans Telefon –, während Pam nach der Fernbedienung griff, um den Ton leiser zu stellen.

„Ja, richtig“, hatte John leise und in leicht verärgertem Tonfall gesagt. Telefonverkauf, hatte Pam gedacht, aber dann war John weiß im Gesicht geworden. Wie albern, hatte sie gedacht, während sie mit angezogenen Beinen auf der Couch saß, zu behaupten, jemandes Gesicht sei weiß geworden – aber genau so war es. Sie saß da und sah zu, wie alle Farbe aus Johns Gesicht wich, als hätte man den Stöpsel aus einem Waschbecken gezogen.

Dann hatte er geflüstert: „Ja, wir haben einen Sohn.“

Wir haben einen Sohn. Die ersten Worte, die John zu ihr gesagt hatte, als sie wieder zu sich gekommen war. Die Geburt war schwierig gewesen, und nach sechzehn Stunden Wehen hatte sich der Arzt zu einem Kaiserschnitt entschlossen. Pams letzte Erinnerung war das wohlige Gefühl gewesen, als der Schmerz infolge der Betäubung verschwand, und wie John neben der Bahre herlief, als man sie in den OP rollte, und mit Tränen in den Augen flüsterte: „Ich liebe dich.“

Er flüsterte auch jetzt wieder, ins Telefon: „Wir sind gleich da.“

Nur dass gar nicht er gleich da gewesen war. Es war Johns Geist gewesen, der auf dem Beifahrersitz saß, als Pam ins County Hospital fuhr. Es war sein Geist, der durch die Eingangstür geschwebt war und auf den Aufzug gewartet hatte. Pam hatte seine Hand genommen und war entsetzt gewesen, wie kalt sie war, wie klamm seine Haut, die schwieligen Finger wie Eis.

Zack, hatte sie gedacht. So wird sich Zacks Hand anfühlen.

John war wie erstarrt vor dem Leichenschauhaus gestanden. „Ich kann das nicht“, hatte er gesagt. „Ich kann ihn so nicht ansehen.“

Pam dagegen hatte es gekonnt. Sie hatte ihren Sohn angesehen, ihm über das dichte, schwarze Haar gestrichen und seine Stirn geküsst, obwohl die von getrocknetem Blut verkrustet war. Seine Augen waren einen Schlitz weit offen, seine Lippen leicht geteilt. An seinem Kiefer klaffte eine längliche Wunde. Sie nahm seine Hand und küsste sein Gesicht, sein wunderschönes Gesicht, dann unterschrieb sie die Papiere und brachte ihren Mann nach Hause.

Die zweite Reise nach Kalifornien hatte sich von der ersten stark unterschieden. Erster Klasse zu fliegen, war eine ganz neue Welt für sie, von dem heißen Gesichtstuch über die angewärmten Nüsse bis zu dem nahezu unbegrenzten Angebot an alkoholischen Getränken. Ein gut gekleideter Mann erwartete sie nach der Gepäckausgabe, ein Schild mit ihrem Namen darauf in der Hand. Die schwarze Limousine war makellos sauber, und als sie auf der Rückbank Platz nahm, lag eine Flasche kaltes Wasser für sie bereit.

Johns eigener Chauffeur, nahm sie an. Millionenschwere Bestsellerautoren mussten nicht mehr selbst durch die Gegend kutschieren, vor allem, wenn sie in den Hollywood Hills wohnten. Pam konnte sich nicht über die palmengesäumten Straßen freuen oder über ihren ersten Blick auf das berühmte Hollywood-Schild. Sie kam sich wie eine Hure vor, weil sie Johns Geld nahm. Bei der Auflösung ihrer Ehe hatte sie darauf bestanden, dass sie alles durch zwei teilten, dass sie das Haus verkauften, die Autos, ihren mageren Aktienbesitz, um alles bar abwickeln zu können. Geld war jahrelang die Schlinge gewesen, die er um ihren Hals gelegt hatte. Sie konnten nicht in Urlaub fahren, ein neues Auto kaufen oder sich den Luxus leisten, essen zu gehen, weil es Geld kostete. Zu behaupten, John sei knauserig gewesen, wäre stark untertrieben. Alles war rationiert, und selbst Pam bekam nur ein Taschengeld. Sie kochte jedes Mal vor Wut, wenn sie an ihr damaliges Leben dachte und wie sie es zugelassen hatte, dass er alles kontrollierte. Wie simpel musste es für ihn gewesen sein, wie langweilig auch auf seine Art, so viel Macht über sie zu haben.

Als John seinen ersten Honorarscheck für Biological Healing erhielt, hatte er ihr einen Anteil von dem Geld angeboten, aber Pam hatte ihm gesagt, wo er es sich hinstecken könne. Sie hatte das Buch zu diesem Zeitpunkt schon mindestens dreimal gelesen und war zur Arbeit in die Schule gegangen, wo die Kids inzwischen über das „fantasielose“ Sexualleben Bescheid wussten, das ihre Lehrerin mit ihrem Mann geführt hatte. Ihre Kollegen hatten nachlesen können, dass sie einfach gegangen war, als John ihr vorwarf, ihren Sohn nicht geliebt zu haben. In der chemischen Reinigung wusste man, dass sie einmal zu John gesagt hatte, die Vorstellung, mit ihm zu schlafen, widere sie an.

„Nimm das Geld“, hatte John argumentiert. „Ich weiß, du brauchst es.“

„Du Mistkerl“, hatte sie gezischt. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und sich gewünscht, sie in seine Halsschlagader zu versenken und dann herauszureißen wie eine Wurzel aus der Erde. Sie fluchte, was sie sonst nie tat, denn Fluchen war unterstes Niveau und zeugte von einem Mangel an Intelligenz. „Ich scheiß auf dich, und ich scheiß auf dein Geld.“

„Es tut mir leid, dass du so empfindest, Pam.“ Sein Ton war sachlich, es war der gleiche Ton, in dem er geantwortet hatte, als sie ihn fragte, wo er bis ein Uhr morgens gewesen sei, und warum er einen Schlüssel in der Tasche hatte, der zu keinem ihrer Schlösser passte. „Sei doch nicht so dumm“, hatte er in diesem Tonfall gesagt. „Warum lässt du dir von deinem Zorn das Leben ruinieren?“

Sie sah sogar dieses höhnische Grinsen noch vor sich, dieses wissende Lächeln, weil ihm klar war, dass er gewonnen hatte. Geld war das Mittel, mit dem er sich wieder in ihr Leben drängen, sie wieder kontrollieren wollte. Mit dem er sie dazu bringen wollte, sich hübsche Dinge zu wünschen – nur damit er sie ihr wieder wegnehmen konnte.

Als wäre sie eine Nutte, hatte er ihr angeboten: „Ich kann es dir in bar schicken, wenn dir das lieber ist.“

Pam hatte das Telefon auf den Tisch geknallt, bevor er noch mehr sagen konnte.

Neuigkeiten über ihren Exmann erfuhr sie größtenteils aus Zeitschriften und Fernsehsendungen, oder über „hilfreiche“ Freunde. „Hast du gesehen, dass John den Dalai Lama getroffen hat?“ – „Hast du gesehen, dass John das Wochenende mit dem Präsidenten verbracht hat?“

„Hast du gesehen, dass mich das einen Scheiß interessiert?“, hatte sie einmal erwidert, aber das war ein Fehler gewesen, denn Gott behüte, dass sie wegen eines Mannes verbittert war, der mithalf, das Land zu heilen. Komisch, dass er nie seine Affäre erwähnte, oder wie er zu ihr gesagt hatte, sie sei zu fett, um attraktiv zu sein, als sie mit Zack schwanger war. Warum kamen denn diese amüsanten kleinen Anekdoten in seinem kostbaren Büchlein nicht vor? Und wie konnte es sein, dass niemand auf der Welt dieses widerliche Grinsen auf seinem Gesicht bemerkte, wenn er davon sprach, was es bedeutete, seine Seele zu kurieren?

Pam war der Mund offengeblieben, als die Limousine durch das Tor in Johns Einfahrt bog. Sie hatte noch nie ein so großes Privathaus gesehen. Die Schule, in der sie unterrichtete, war kleiner als dieses Gebäude. Der Mann, der noch vor zehn Jahren darauf bestanden hatte, dass sie die Heizung während eines Schneesturms abgestellt ließen, konnte nicht diese prächtige Villa besitzen.

„Pam!“, hatte Cindy, die umwerfend gut aussehende junge Pilates-Lehrerin/Hure gerufen. Sie sah Pam in die Augen, aber Pam wusste, die Frau hatte, als sie über die Eingangstreppe zum Wagen herunterkam, ihre breiten Hüften, die Falten um die Augen und den unangemessenen Zopf zur Kenntnis genommen.

„Er wartet schon auf dich“, hatte Cindy gesagt. Sie hatte einen Eisbeutel in der Hand, wie man sie benutzt, wenn man sich den Knöchel verstaucht hat.

Ein Mann in einem dunklen Anzug lehnte an einem weißen Van, der im Schatten von einem der vielen Bäume parkte. „NuLife“ stand auf der Tür des Fahrzeugs, die Schrift war klein und unauffällig. Pam stellte sich vor, dass sie angesichts des morbiden Charakters ihrer Geschäftstätigkeit nicht viel Werbung betrieben. Sie hatte im Internet über das Labor – falls man es so nennen konnte – recherchiert, als John ihr davon erzählt hatte. In einer geheimen Einrichtung in Arizona warteten Dutzende von Köpfen und Körpern im Zustand der Stase auf ihre Reanimation. Auf der Website waren auch Gebühren aufgelistet. Eine Neuroseparation (oder Enthauptung, wie man im Rest der Welt dazu sagte) mit anschließender Einlagerung belief sich auf rund zweihunderttausend Dollar. Beim gesamten Körper kostete es mehr als eine halbe Million. Gegen Aufpreis konnte man sogar persönliche Gegenstände zusammen mit dem Körper einlagern, sodass man einige liebgewonnene Erinnerungsstücke an sein „erstes Leben“ hatte, wenn man dann reanimiert würde.

„Bringen wir es einfach hinter uns“, sagte Pam barsch, und Cindy schien überrascht. Ja, Cindy war jung genug, um Johns Tochter sein zu können, aber sie hatte sicher Biological Healing gelesen. Und fraglos hatte sie genau aufgepasst bei dem Kapitel, in dem es um Pams Kälte nach Zacks Tod ging und darum, wie sie sich von John abgewandt, ihn ausgesperrt und ihm die eine Sache verweigert hatte, die sie wieder zusammengebracht hätte.

Sex spielte eine große Rolle in Biological Healing – und nicht einfach nur Sex, sondern viel Sex. Sicher, Pam und John hatten es wie die Karnickel getrieben, bis Zack zur Welt kam, aber wie bei den meisten Paaren hatte sich ihr Leben durch das Kind verändert. Wer hätte gedacht, dass John so wild aufs Vögeln war? Seine Exfrau jedenfalls nicht. Aber offenbar war es das Elixier des Lebens, das Mittel, mit dessen Hilfe John und Pam ihre Ehe hätten erneuern können, wäre sie nicht so ein frigides, gleichgültiges Miststück gewesen. Die Tatsache, dass John bei der einen Gelegenheit, als sie nach Zacks Tod miteinander zu schlafen versuchten, keinen hochbekam, war irgendwie ebenfalls aus dem Buch gerutscht.

„Du hast mich erledigt“, hatte John gesagt, als er sich nach diesem gescheiterten Versuch auf den Rücken drehte. Er schien seine Schlaffheit als noch größeren Verlust zu empfinden als Zacks Unfall. „Du hast mich endlich erledigt.“

Hätte sie es nur getan.

Cindy führte sie in das Haus, durch das größte Eichenportal, das Pam abseits von Schlössern je gesehen hatte. Die Eingangshalle war riesig, ihre Schritte hallten unter einem gewaltigen Kronleuchter, bis sie einen Raum betraten, bei dem es sich offenbar um das Wohnzimmer handelte.

„Die beiden sind von ‚NuLife‛“, sagte Cindy und zeigte auf einen Mann und eine Frau, die auf einer Couch beim Kamin saßen. Sie hatten Kühltaschen, wie man sie bei einem Familienpicknick benutzt, um sich herum gestapelt und schaufelten beide Eis in solche Beutel, wie Cindy einen in der Hand hielt.

„Sie warten nur“, erklärte Cindy.

„Warten auf …“, wollte Pam fragen, aber Cindy unterbrach sie.

„Er ist in seinem Arbeitszimmer“, sagte sie und ging durch einen langen Flur mit viel Kunst an den Wänden voran. Die Schuhe dieser Pilates-Lehrerin waren solche zierlichen Riemchendinger, wie Pam sie nie tragen konnte, weil sie Rückenschmerzen davon bekam. Das Flip-Flop der Sandaletten hallte auf dem Weg in den rückwärtigen Teil des Hauses durch den Gang. Draußen gab es einen Patio mit Brunnen. Fenster und Türen waren geöffnet, sodass sich das Plätschern des Wassers mit dem Klatschen der Schuhe auf dem Steinboden mischte, eine irre Geräuschmixtur, die einem auf die Nerven ging.

Johns Arbeitszimmer sah ein wenig anders aus als die umgebaute Garage, die sie ihm daheim in Decatur eingerichtet hatten. Keine billige, sich aufwerfende Fichtenholzverkleidung an der Wand, und auch der mit Leder besetzte antiquarische Schreibtisch war eine ganz andere Hausnummer als die beiden Sägeböcke mit der Pressspanplatte darüber, auf der sein Computer all die Jahre gestanden hatte.

Er lag auf einem Krankenhausbett im hinteren Teil des Raums, mit Blick auf die großen Fenster, die zu dem Brunnen im Innenhof hinausgingen. Auch hier stand die Glastür offen, das Geräusch des Wassers wirkte nun beruhigender, da Cindy nicht mehr mit ihren idiotischen Schuhen herumschnalzte. Ein Lichtstrahl fiel vom Firmament und tauchte das Bett in einen warmen Schein. Pam wäre nicht überrascht gewesen, wenn er einen Chor Engel engagiert hätte, damit sie an seinem Bett sangen, aber da war nur die übliche Apparatur des Dahinsiechens: ein Sauerstoffgerät, ein Herzmonitor und der allgegenwärtige Plastikkrug mit Wasser auf dem Nachttisch.

„Schatz?“, sagte Cindy, und ihre schrille Stimme übertönte das leise Zischen des Sauerstoffgeräts. „Pam ist hier.“

„Pam?“, kam das Echo einer schwachen Stimme.

„Ich muss noch Eis eintüten“, sagte Cindy und ging. Sie klang eher nach einer überarbeiteten Krankenschwester, die einen Besucher ankündigt, als nach einer Lebensgefährtin. Das Mädchen konnte höchstens neunzehn sein. Dass John starb, musste sie wohl als persönliche Kränkung auffassen, nicht als Tatsache, die nun einmal zum Leben gehörte.

Und er starb weiß Gott. Als Pam auf das Bett zuging, konnte sie den Tod riechen, es war der gleiche Geruch, der an ihrer Mutter haftete, als sie vor einigen Jahren qualvoll an Brustkrebs zugrunde ging. Johns Haut war gelb und sein Bart vollkommen weiß. Er hatte immer volles Haar gehabt, aber das meiste davon war jetzt verschwunden. Teilweise war es offenbar von einem Arzt abrasiert worden – sie konnte die verheilende Narbe eines chirurgischen Eingriffs an seinem Schädel erkennen –, teilweise hatte er es wahrscheinlich aufgrund der Medikamente verloren, die sie ihm verabreichten, damit er noch ein paar Tage länger am Leben blieb.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, nahm er die Sauerstoffmaske von Mund und Nase und sagte: „Es dauert nicht mehr lange.“

Sie stand jetzt vor ihm und sah eine ältere Version von John, das Gesicht seines Vaters, seines Großvaters. Hätte Zack einmal so ausgesehen, wenn er den Unfall überlebt hätte? Wäre ihr Sohn so ungut gealtert, wenn John beim ersten, zweiten, dritten, tausendsten Mal, als Pam den Verdacht äußerte, Zack könnte ein Alkoholproblem haben, nicht gesagt hätte: „So sind Jungs eben“? Sondern wenn er gesagt hätte: „Du hast recht. Wir sollten etwas unternehmen, um ihm zu helfen.“

Wäre Zack noch am Leben, wenn Pam sich nur ein einziges Mal gegen ihren Mann gestellt und „Nein“ gesagt hätte?

Neben Johns Bett stand eine große Kühlbox, und Pam schauderte unwillkürlich bei deren Anblick. Hatten sie vor, ihn in Stücke zu hacken und in den Van zu werfen?

„Mach sie auf“, sagte er zu ihr, und wider besseres Wissen tat sie es. Was hatte sie erwartet? Einen kopfgroßen Thermobehälter? Ein dampfendes Fass flüssigen Stickstoff? Auf jeden Fall nicht die kleinen Eisbeutel, die sie darin vorfand.

„Um mich zu konservieren, während sie …“ Er fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals.

„Was?“ Aber Pam verstand genau. Sie sah, wo sein Finger über den Hals gestrichen war, ein Schnitt, der bald Realität sein würde.

„Natürlich … ist diese Prozedur … illegal“, brachte er heraus. Sein Atem ging rau, und er musste die Maske wieder aufsetzen.

„Wovon redest du?“, fragte sie. Als er nicht antwortete, ertappte sie sich dabei, wie sie auf das eingetütete Eis starrte, als wären es Teeblätter und sie selbst eine alte weise Hellseherin.

„In Kalifornien“, keuchte er schließlich, „ist es verboten, den Kopf …“ Er nahm einen weiteren Atemzug aus dem Sauerstoffgerät. „Es wird dem Gesetz nach als Leichenschändung angesehen.“

„Na ja, das ist es ja auch“, sagte sie und ließ den Deckel der Kühlbox zufallen. Natürlich war es verboten, einer Leiche den Kopf abzuschneiden – selbst in dieser gottverlassenen Klapsmühle von Bundesstaat. „Was zum Teufel ist los mit dir?“

Er lachte, und der alte John funkelte in seinen Augen.

„Du bist absolut geisteskrank“, sagte sie, aber sie lachte mit. Mein Gott, mehr als zwanzig Jahre mit diesem Mann. Ein Haus, ein Zuhause, ein Sohn, ein Leben. Zwanzig Jahre ihrer Existenz, mit seiner verflochten wie das Gewebe einer Decke.

„Weine nicht“, sagte er und streckte den Arm nach ihr aus. Ehe sie sich zurückhalten konnte, nahm sie seine Hand, fühlte die Kälte seiner Haut. War sie seit Zacks Tod so gewesen? Die Wahrheit war, dass sie John deshalb nicht lieben konnte, weil seine Berührung einen tödlich eisigen Schauer durch ihren Körper jagte. War John die ganze Zeit ein Geist gewesen? Hatte er so viele Tränen vergossen, so viele Nächte geweint, dass das Leben aus ihm herausgesickert war?

Er trug einen burgunderroten Seidenpyjama, der noch betonte, wie fahl seine Haut war. Seine Füße ruhten auf einer gefalteten Decke am unteren Ende des Betts.

„Wie scheußlich“, sagte er, und sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er seine Zehennägel meinte. Sie waren lang und gelb, ein unappetitlicher Anblick. „John Hughes.“

Howard Hughes“, verbesserte sie ihn, ohne nachzudenken.

In seinen Augen blitzte etwas auf, aber er verfolgte es nicht weiter. Der John, den sie kannte, hätte es ihr nie durchgehen lassen, dass sie ihn korrigierte. Zum ersten Mal, seit er sie angerufen hatte, wurde Pam bewusst, dass er tatsächlich starb, dass es vorbei wäre. Was immer sie aus ihrem Leben machte, wohin sie auch ging: Sie würde es in dem Wissen tun, dass John nicht mehr auf Erden wandelte.

Gut, er würde irgendwo in einem Fass mit flüssigem Stickstoff in Kältestarre liegen, aber dennoch.

„Weißt du noch“, fing er an. „Bei Zack … wie du seine Zehennägel … abgebissen hast?“

Sie musste lächeln bei der Erinnerung. Einmal, als er noch ganz klein war, hatte sie einen seiner Fußnägel versehentlich bis zum Nagelbett geschnitten. Es brach ihr das Herz, als sie sah, wie das Blut hervorquoll, und Zacks Schreie hallten immer noch in ihren Ohren, wenn sie lange genug daran dachte. Danach hatte sie seine Nägel mit ihren Zähnen gekürzt, weil sie Angst hatte, sie könnte ihn mit dem scharfen Metallknipser verletzen. Als sie nun an Johns Sterbebett stand, glaubte sie, Zacks dünne Fußnägel beinahe zwischen den Zähnen zu spüren und die leicht säuerliche, babyweiche Haut seiner Füße zu schmecken.

„Ich …“ John schob die Atemmaske wieder über Mund und Nase, und sie sah, wie sich seine Brust hob und senkte. „Ich muss …“

„Es ist gut“, brachte sie ihn zum Schweigen.

„Ich möchte …“

„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie und dachte, wenn er sich jetzt entschuldigte, würde sie nicht wissen, wie sie reagieren sollte.

Er holte einige Male tief Luft, die Augen fast zu. Mit einem Mal riss er sie weit auf, als wäre ihm plötzlich eingefallen, dass er sterben könnte, wenn er die Augen zu lange geschlossen hielt. „Ich … ich habe dir etwas hinterlassen.“

Jahre waren ins Land gegangen, aber sie erinnerte sich immer noch daran, wie sehr sie sich geschämt hatte, als sie ihn um Geld für ein Mittagessen bitten musste, weil sie ihr Taschengeld ausgegeben hatte, bevor die Woche um war.

Er hatte ihr das Geld verweigert und gesagt, sie solle eben nächstes Mal sparsamer sein.

„Ich habe dir etwas … hinterlassen.“

Sie bemühte sich, ihren Zorn zu unterdrücken, und sagte: „Du weißt, ich will dein Geld nicht.“

„Kein Geld“, sagte er und verzog die Lippen zu einem halben Lächeln. „Besser.“

„Gib mir nichts, John. Ich will nichts von dir.“ Warum war sie gekommen? Warum hatte sie sich bereit erklärt, in ein Flugzeug zu steigen und den weiten Weg hierher zu fliegen?

Um ihn sterben zu sehen. Irgendwo im Hinterkopf hatte sie die ganze Zeit gewusst, dass sie ihn sterben sehen wollte, dass sie sehen wollte, wie John einer Sache erlag, über die er keine Gewalt hatte. Sie hatte sehen wollen, wie der Tod dieses überlegene Grinsen von seinem Gesicht tilgte, und sie wollte vor ihm stehen, wenn das geschah, und zuschauen, wie ihm bewusst wurde, dass es etwas gab, über das er nicht die Oberhand behielt. Sollte alle Welt ruhig den liebevollen Heiler in ihm sehen, aber Pam würde ihn beim Sterben beobachten, und sie würden beide wissen, was für ein verlogenes, hinterhältiges Stück Scheiße er war.

Der Herzmonitor piepte unregelmäßig, und an der Sauerstoffmaske war kein Niederschlag von seiner Atemluft mehr auszumachen. Sie wartete, zählte eins … zwei … drei …, bis er einen tiefen Atemzug tat und die Maschinerie des Lebens sich wieder in Bewegung setzte.

Pam schämte sich. Was für ein Mensch war sie, dass sie so ein Vergnügen an seinem Schmerz empfand? Wie konnte sie solche Dinge über den Vater ihres Kindes denken?

Johns Brust hob sich mühsam. „Ich muss dir sagen …“, versuchte er es wieder.

„Nein“, fuhr sie dazwischen. Sie durfte seine Entschuldigung nicht hören, nicht jetzt, nachdem sie ihn so lange gehasst hatte. „Bitte nicht.“ Sie konnte nicht noch mehr Scham ertragen.

Er wedelte mit der Hand und sagte: „Setz dich.“

Sie ging zum Schreibtisch, um den Stuhl zu holen, hielt aber inne, als sie den Stapel alter Notizbücher dort sah. Sie erkannte die Tagebücher, erinnerte sich aus der Zeit ihrer Ehe an sie, als er immer in seinem Sessel saß und seine persönlichen Gedanken niederschrieb. Pam war in Versuchung gewesen, besonders nach seiner Affäre, aber sie hatte sie nie gelesen, hatte seine Privatsphäre nie verletzt.

Sie begann den Schreibtischstuhl ans Bett zu rollen, aber er stoppte sie mit einer Handbewegung und schickte sie zurück. „Nein“, sagte er. „Lies.“

„Ich werde deine Tagebücher nicht lesen.“ Sie fügte nicht hinzu, dass es schwer genug gewesen war, sein verdammtes Buch zu lesen.

„Lies“, beharrte er. „Bitte.“

Pam gab nach, oder sie tat wenigstens so. Sie rollte den Stuhl zurück, ihre Hände griffen in das weiche Leder. Himmel, er hatte wahrscheinlich mehr für diesen Schreibtischsessel bezahlt als sie für ihr Auto.

Sie setzte sich an den Tisch und öffnete das erste Buch, auf das sie ihre Hand gelegt hatte. Sie wollte das Tagebuch nicht lesen, vertrug keinen weiteren Schlag gegen ihr Selbstwertgefühl, indem sie seine frühen Ausfälle gegen ihre Unzulänglichkeit las. Ihre Finger fanden einen Brieföffner, und sie zuckte zusammen und zog die Hand mit einem Ruck zurück, als die scharfe Klinge in ihre Haut schnitt. Der Brieföffner war in Wirklichkeit ein Stilett. Das schmale Messer schien aus Messing zu sein. Edelsteine schmückten den Griff, und die Klinge war fein geschliffen, als müsste sich John gegen Fremde verteidigen, die in sein Büro eindrangen.

Der einzige Mensch, gegen den er sich je würde verteidigen müssen, war Pam.

„Lies …“ wies John sie an, seine Stimme war schwächer denn je. „Bitte …“

Pam seufzte und gab ihrer Neugier nach, als sie eines der Tagebücher zur Hand nahm. Es war auf das dritte Jahr ihrer Ehe datiert, und sie überflog rasch die Passagen über jammernde Schüler und eine Blase am Finger, die er sich beim Benoten von Arbeiten geholt hatte.

Ihr Blick blieb an einem Wort hängen: Beth.

Pam las das Tagebuch in weniger als einer Stunde zu Ende – ein Jahr von Johns Leben, eingeschlossen in einen Wimpernschlag.

Ein neues Jahr, ein neuer Name: Celia.

Jahr Nummer sechs wartete mit zwei Namen auf: Eileen und Ellen.

Die Tür ging auf, und Cindy fragte: „Alles in Ordnung?“

Pam war nicht in der Lage, zu sprechen. Sie nickte.

„Er muss nur nachschauen“, sagte Cindy und ließ den Mann ein, den Pam im Wohnzimmer gesehen hatte. Er ging zu John, drückte ihm einige Minuten lang ein Stethoskop auf die Brust, nickte und ging wieder.

„Wir könnten hier draußen ein wenig Hilfe mit dem Eis gebrauchen“, sagte Cindy zu Pam. „Wenn du …“

„Nein“, sagte Pam. Ihr Tonfall war bedrohlich, es war die Stimme, die ihre Schüler wie angewurzelt stehenbleiben ließ und ihnen Geständnisse von Täuschung und Betrug entlockte.

Die Tür fiel ins Schloss, und Pam wandte sich wieder den Tagebüchern zu.

Mindy. Sheila. Rina. Yokimoto.

Jede vorstellbare Stellung und eine, bei der Pam selbst mit ihrem Doktorgrad in Humanbiologie ein Schaubild gebraucht hätte, um sie zu verstehen.

Sie blätterte um.

Er hatte tatsächlich ein Schaubild gezeichnet.

Aus dem Bett ertönte Johns Keuchen. Pam blätterte die Tagebücher auf der Suche nach Zacks Todesjahr durch. Sie stieß auf den Tag vor seinem Tod, den 16. Februar. Johns enge Schrift enthüllte, dass er endlich die Liebe gefunden hatte. Er war an dem Tag, bevor sein Sohn starb, mit einer Frau namens Judy zusammen gewesen.

Judy Kendridge, die Mathematiklehrerin. Pam hatte nach der Schule zusammen mit der Frau Nachhilfe gegeben. Sie hatten über ihre Kollegen, ihre schmerzenden Rücken, ihre Ehemänner geklagt.

Das Datum auf der nächsten Seite war der 3. Mai, drei Monate nach Zacks Begräbnis. Pam erkannte den Eintrag als die erste Zeile von Biological Healing. „Das größte Hindernis dabei, über den Tod meines Sohnes hinwegzukommen, war, mir endlich einzugestehen, dass ich nicht der perfekte Vater, der perfekte Ehemann sein konnte.“

„Das kannst du laut sagen“, zischte Pam und schlug das Tagebuch zu.

Sie stemmte sich vom Schreibtisch hoch und ging zu Johns Bett.

„Wach auf, du Mistkerl.“ Er gehorchte nicht, deshalb stieß sie ihn erst an und schüttelte ihn dann heftig. „Wozu soll das gut sein?“, fragte sie, und vor Wut und Beschämung traten ihr Tränen in die Augen. „Ist das die ‚Heilung‘, die du gebraucht hast - mich den weiten Weg machen zu lassen, damit ich dein Sterbebettgeständnis lesen kann?“

Eine Augenbraue hob sich. Sie hätte schwören können, er genoss das Ganze. Er stieß sich die Maske von Mund und Nase, und da sah sie es: das blasierte Lächeln auf seinen Lippen, das Funkeln in seinen Augen. Sein ganzer Selbsthilfe-Quatsch, seine ‚Heilung von innen‛ und seine Millionen von Dollar schlugen ihr wie ein nasser Lappen ins Gesicht.

„Du …“, sagte er und atmete schwerer vor Erschöpfung. „Du …“

„Ich – was, John? Was?“

„… bist gekommen“, sagte er. „Du bist … gekommen.“ Er keuchte vor Anstrengung. „Du … dumme Kuh.“

Pam klappte der Kiefer herunter, sie spürte, wie der leichte Wind ihre Kehle austrocknete. Das Erster-Klasse-Ticket, das warme Handtuch, die Nüsse. Sie hatte sogar von dem kalten Wasser im Auto getrunken. Sie war auf alles hereingefallen, ohne auch nur nachzudenken.

„Du …“, fing er wieder an, lächelte, zeigte seine Zähne.

Pam stand da. Es war fünf Jahre früher. Fünfzehn Jahre. Zwanzig. Sie stand einfach da, wie sie von Anfang an dagestanden hatte, und wartete darauf, dass die Axt niedersauste.

„Du …“ Das Lächeln hörte nicht auf, trotz der Qual, Luft zu bekommen. „Du … hast … zugenommen.“

Er setzte die Maske schnell wieder auf, und sein Atem beschlug den transparenten Kunststoff.

„Ich sollte dich töten“, zischte sie. „Ich sollte dich mit meinen bloßen Händen töten.“

Seine linke Schulter hob sich leicht, als wollte er mit den Achseln zucken, dann erstarrte er und riss erschrocken die Augen auf. Der Monitor ging los, ein durchdringendes, metallisches Piepsen, das eine flache Linie auf dem Schirm signalisierte. Die Tür flog auf, und anstelle von Ärzten stürzten der gut gekleidete Mann und die Frau herein, sie trugen zusammen eine Kühlbox.

„Bitte gehen Sie aus dem Weg“, fuhr die Frau Pam an und stieß sie zur Seite. Sie öffnete den Behälter und begann die Eisbeutel eng um Johns Körper zu packen. Komischerweise überlegte Pam, ob der Mann, den sie draußen bei dem Van gesehen hatte, derjenige war, der den Kopf abschneiden würde.

„Mrs. Fuller?“, fragte die Frau von „NuLife“. Pam wollte schon antworten, als Cindy vortrat.

„Ja?“

Er hatte sie also geheiratet. Er hatte sie am Ende geheiratet, damit sie das ganze Geld bekam. Pam fragte sich, ob er ihr ein Taschengeld ausgezahlt hatte.

„Sie müssen ihn für tot erklären“, forderte die Frau.

„Ich … Ich glaube nicht …“, Cindy stockte. Sie brach in Tränen aus und legte die Hände vors Gesicht, ihre Schultern bebten. „Oh, John! Ich kann es nicht!“, schluchzte sie und sank zu Boden. „Er darf nicht tot sein.“

„Ach, Herrgott noch mal“, brauste Pam auf und schaltete mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk den heulenden Herzmonitor aus. „Er ist tot“, sagte sie. „Sehen Sie ihn an. Er ist tot.“

Und er war es tatsächlich. Auch ohne das Warnsignal des Herzmonitors sah jeder Trottel, dass John nicht mehr lebte. Seine Augen standen noch offen, aber es war kein Licht mehr in ihnen. Sein Gesicht war erschlafft – alles an ihm war schlaff, bis auf diesen Anflug eines Grinsens auf seinen Lippen.

Er hatte sie drangekriegt. Selbst im Tod hatte er noch das letzte Wort behalten.

Die Frau von „NuLife“ reichte nun ihrem Partner Eisbeutel aus der Kühlbox. Pam sah zu, wie sie all das Eis um John herumpackten wie um eine Schüssel Kartoffelsalat.

„Lasst uns allein“, sagte Pam. Sie setzte ihre Lehrerstimme ein, die Stimme, die Korridore erbeben und Schüler zitternd in ihren Klassenzimmern verschwinden ließ.

„Du kannst mich nicht herumkommandieren!“, kreischte Cindy, aber sehr überzeugend war sie nicht, da sie auf dem Boden saß.

„Raus hier, auf der Stelle“, befahl Pam, und vielleicht weil ihre Highschool-Zeit noch nicht lange zurücklag, gehorchte Cindy.

Kurz darauf war Johns schönes Arbeitszimmer leer, aber Pam ließ sich Zeit. Sie sah aus dem Fenster zu dem Brunnen, wo das Wasser in eine Kupferschale sprudelte. In einer Ecke gab es einen Steingarten, den sie bisher nicht bemerkt hatte, Stühle für Gäste standen verstreut umher. Er hatte hier Partys gefeiert. Sie wusste, dass er Feste gefeiert hatte. Zu Hause hatten sie nie eine Party veranstaltet. John sagte, das sei zu teuer und sie könnten es sich nicht leisten.

Pam ging zum Schreibtisch und hob das Messer auf. Sie konnte ihn nicht mehr töten – um dieses Vergnügen hatte John sie gebracht. Aber es gab durchaus etwas, das sie tun konnte, etwas, das sie ihm nehmen konnte, und das er nach seiner Reanimation schmerzlich vermissen würde.

Solange sie lebte, würde Pam diese letzten Augenblicke mit John nicht vergessen, das Grinsen auf seinem Gesicht, seine letzten Worte an sie wegen ihres Gewichts, wie er sich in ihrer Hand anfühlte, als sie das Zimmer verließ und in den wunderschönen Innenhof hinausspazierte.

Sie war ins Wohnzimmer hinübergegangen und hatte sich einen kleinen, limettengrünen Kühlbehälter genommen, ehe sie das Haus durch den Haupteingang verließ. Der Fahrer hatte keine Fragen gestellt, als sie einstieg. Wer für einen Millionär arbeitete, hatte schon seltsamere Dinge gesehen. Der Mann hatte sie einfach zum Flughafen gebracht, wo sie ihr Ticket umbuchte und nach Hause flog. Die erste Klasse war nicht voll gewesen, und die Kühlbox hatte sogar ihren eigenen Sitz bekommen.

Sie hatte weiß Gott genug für zwei Leute getrunken.

Eine Woche später hatte Pam einen Einschreibebrief mit der Nachricht bekommen, dass John ihr in seinem Testament etwas vermacht habe. Nach weiteren zwei Wochen hatte ein Sattelschlepper vor ihrem Haus gehalten und die Straße mehr oder weniger vollständig blockiert. Pam war zu schockiert gewesen, um viel zu sagen, als der glänzende BMW von dem LKW gerollt war, und sie hatte ohne lange nachzudenken die Papiere unterschrieben, die der Fahrer ihr hinhielt.

Jeden Morgen stieg sie in ihren sechs Jahre alten Honda und fuhr zur Schule, und ihr Herz raste beim Anblick des BMW X3, der noch genau dort in der Straße stand, wo der LKW-Fahrer ihn abgeladen hatte. Sie war entschlossen, ihn da draußen stehen zu lassen, bis er verrottet war oder gestohlen wurde.

Eines Morgens dann sprang der Honda nicht an.

Sie wäre mit weniger Angst zu einem verurteilten Vergewaltiger ins Auto gestiegen, als sie beim ersten Einsteigen in Johns BMW empfand. Als sich der Fahrersitz wie ein gut eingetragener Handschuh um ihren Körper schmiegte, unterdrückte sie ein Schaudern. Vor der Schule fuhr das Fenster auf Knopfdruck herunter, und der Wachmann blinzelte ihr zu.

„Na“, hatte der alte Trottel gesagt, „da hat es anscheinend jemand zu Wohlstand gebracht.“

Pam war entschlossen, ihren alten Wagen reparieren zu lassen. Bei ihrem letzten Werkstattbesuch hatte der Mechaniker gesagt, dass das Getriebe es nicht mehr lange machen würde, und Pam hatte entsprechend gespart. Zweitausend Dollar, dann war die Sache behoben, und der BMW würde wieder auf seinem Platz stehen und darauf warten, gestohlen zu werden. Vielleicht würde sie sogar den Zündschlüssel stecken lassen.

Tage vergingen, dann Wochen, schließlich Monate. Ein Jahr war vorüber, und sie fuhr immer noch den BMW. Der Wagen war Johns Mittel gewesen, ihr seinen Erfolg unter die Nase zu reiben. Er wusste, dass es ihre alte Karre nicht mehr lange machen würde. Er wusste, sie würde das verdammte Ding früher oder später fahren müssen. Was er nicht voraussehen konnte, war, dass Pam es genießen würde, ihn zu fahren, dass sie sich jeden Tag nach Schulschluss so darauf freuen würde, sich ans Lenkrad zu setzen, wie sie sich zu Beginn ihrer Ehe darauf gefreut hatte, John zu sehen. Das weiche Leder erinnerte sie an seine sanfte Berührung. Die Holzmaserung rief ihr seine Männlichkeit in Erinnerung. Selbst der Airbag in der Lenksäule ließ sie daran denken, wie sicher und geschützt sie sich bei ihm gefühlt hatte. Bis … nun, sie gestattete sich nicht, an das Bis zu denken, bei dem zu verweilen, was am Ende geschehen war, wie er sie betrogen hatte, wie er sie nach Zacks Tod ausgebeutet hatte.

Fast zwei Jahre lang hatte sie den Kühlbehälter neben einem heftig umstrittenen Stück ihrer Hochzeitstorte im Tiefkühlschrank aufbewahrt. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie das Kuchenstück bis zu ihrem zehnten Hochzeitstag aufhob. Als der Jahrestag dann gekommen war, stellten sie fest, dass die Torte Gefrierbrand hatte, und niemand wollte sie mehr essen. „Schmeiß das verdammte Ding um Himmels willen weg“, hatte John bei den seltenen Gelegenheiten gesagt, da er den Gefrierschrank öffnete. „Es ist nur ein beschissenes Stück Torte.“

Aber sie brachte es nicht fertig. Sie beide hatten inzwischen Probleme, und Pam wollte die Torte behalten, sie war wie ein Talisman aus jenen Anfangsjahren ihrer Ehe, an den sie sich klammerte. Die Torte wegzuschmeißen, war die eine Sache, bei der sie sich widersetzt hatte, und am Ende stellte es ein Zeugnis ihrer Fähigkeit dar, ihm die Stirn zu bieten. Selbst nach der Scheidung hatte Pam die Torte behalten, hatte sie beim Umzug von ihrem alten Haus in ihr neues mitgenommen und im obersten Fach des Gefrierschranks verstaut, wo sie bis vor fünf Tagen verweilt hatte. Bis Pam eine Landkarte kaufte und ihre Sommerferienreise plante.

Pams dritte und letzte Reise nach Westen hatte mehrere Tage in Anspruch genommen, und als sie nun den BMW auf den Parkplatz von „NuLife Laboratories“ steuerte (angesichts des riesigen Schilds vor dem Gebäude doch kein so diskretes Unternehmen), war sie beinahe traurig, weil sie Johns endgültigen Bestimmungsort erreicht hatte. Sie lächelte beim Gedanken an den grünen Kühlbehälter neben sich, in dem der Teil von John, den sie entwendet hatte, neben dem Tortenstück lag, das für ihre gescheiterte Ehe stand. Pam stellte sich vor, dass es in zehn, fünfzig oder hundert Millionen Jahren, wenn man herausgefunden hatte, wie man Johns Körper wieder anspringen lassen konnte, eine Kleinigkeit sein würde, seinen Penis anzunähen, und das Stück Torte würde ihn daran erinnern, wem er das zu verdanken hatte. Ihr einziger Akt des Ungehorsams würde ihr den Luxus gewähren, das absolut letzte Wort zu haben.

John konnte sie auf dem Friedhof besuchen, er konnte auf ihr Grab pinkeln, aber in seinem Innersten war er Wissenschaftler und glaubte nicht an Seelen oder Engel, die von ganz oben zusahen. Er würde wissen, dass Pam tot war, dass Pam ihn endlich besiegt hatte. Es würde nichts mehr geben, was er noch sagen oder tun konnte, um sie zu verletzen, und er würde es für den Rest seines zweiten Lebens – vielleicht bis in alle Ewigkeit – wissen. Sein Zorn würde wie ein weiterer Krebs sein, der ihn von innen her auffraß.

Sie konnte noch die tiefe Stimme hören, mit der er immer seine Belehrungen erteilte.

„Pam“, hatte er ihr als wichtige Lektion eingeschärft, „lass dir von deinem Zorn nicht das Leben ruinieren.“

Sie holte den Kühlbehälter aus dem Wagen und schloss die Tür. Die Fenster des X3 reflektierten das Sonnenlicht, und sie lächelte. Die Lackierung war ein Metallic-Silber, das je nach Lichteinfall von grau über grün zu blau changierte. Sie strich mit der Hand über die Wölbung der Tür, so wie sie auch einen Geliebten streicheln würde.

Sie musste sich zusammennehmen, um nicht mit fliegendem Zopf über den Parkplatz zu hüpfen. John würde sich in seinem Stickstofftank umdrehen, wenn er sie jetzt sehen könnte. Er wäre doppelt verärgert, wenn er wüsste, dass der Grund für Pams Fröhlichkeit etwas war, was er sich selbst ausgedacht hatte.

Sie war glücklich. Sie war endlich glücklich.

Es half, weiß Gott, ein hübsches Auto zu fahren.

HarperCollins®

Copyright © 2016 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
The Kept Woman
Copyright © 2016 by Karin Slaughter
erschienen bei HarperCollins Publishers, New York

Covergestaltung: büropecher, Köln
Coverabbildung: Thinkstock / Mike Flippo, Thinkstock / Mizina
Lektorat: Silvia Kuttny-Walser, Claudia Wuttke
E-Book-Produktion:
GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959676076

www.harpercollins.de

FÜR MEINE LESER

PROLOG

Zum ersten Mal im Leben hielt sie ihre Tochter in den Armen.

Vor vielen Jahren hatte die Schwester im Krankenhaus sie gefragt, ob sie ihr Baby halten wolle, aber sie hatte es abgelehnt. So wie sie es auch abgelehnt hatte, dem kleinen Mädchen einen Namen zu geben. Oder die Papiere zu unterschreiben, um es freizugeben. Sie hatte sich nach allen Seiten abgesichert, wie sie es immer tat. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Jeans hochgezerrt hatte, ehe sie das Krankenhaus verließ. Die Hose war noch feucht von der geplatzten Fruchtblase gewesen, und um die Mitte war sie weit wie ein Sack, wo sie zuvor stramm gesessen hatte. Sie hatte den überschüssigen Stoff mit der Hand zusammengerafft und festgehalten, als sie die Treppe zum Hinterausgang hinuntergegangen und dann ins Freie gerannt war, zu dem Jungen, der um die Ecke im Wagen wartete.

Es gab immer einen Jungen, der auf sie wartete, etwas von ihr erwartete, sich nach ihr verzehrte, sie hasste. Solange sie zurückdenken konnte, war es so gewesen. Als sie zehn war, hatte der Zuhälter ihrer Mutter ihr eine Mahlzeit als Gegenleistung für ihren Mund angeboten. Mit fünfzehn gab es einen Pflegevater, der gern Verletzungen zufügte. Mit dreiundzwanzig einen Soldaten, der Krieg gegen ihren Körper führte. Mit vierunddreißig einen Polizisten, der sie davon überzeugte, dass es keine Vergewaltigung war. Mit siebenunddreißig einen Polizisten, der ihr weismachte, er würde sie für immer lieben.

Für immer dauerte nie so lange, wie man dachte.

Sie berührte das Gesicht ihrer Tochter. Sanft diesmal, nicht wie zuvor.

So schön.

Die Haut war weich und faltenlos. Die Augen waren geschlossen, aber die Lider bebten leicht. Der Atem ging pfeifend.

Vorsichtig strich sie dem Mädchen das Haar hinters Ohr. Sie hätte das im Krankenhaus tun können, damals, vor vielen Jahren. Eine gerunzelte Stirn glatt streichen. Zehn winzige Finger küssen, zehn winzige Zehen liebkosen.

Manikürte Fingernägel jetzt. Lange Zehen, strapaziert von Ballettstunden, durchtanzten Nächten und zahllosen anderen Ereignissen, die ihr aufregendes, mutterloses Leben ausgefüllt hatten.

Sie berührte die Lippen ihrer Tochter. Kalt. Das Mädchen verlor zu viel Blut. Der Messergriff, der aus ihrer Brust ragte, pulsierte im Takt des Herzschlags, manchmal wie ein Metronom, dann wieder stolpernd wie der große Zeiger einer Uhr, die bald stehen bleiben würde.

All die verlorenen Jahre.

Sie hätte ihre Tochter damals in der Klinik im Arm halten sollen. Nur dieses eine Mal. Sie hätte eine Erinnerung an ihre Berührung in dem Mädchen verankern müssen, damit es nicht zusammenzuckte und vor ihrer Hand zurückwich wie vor der Hand einer Fremden.

Sie waren Fremde.

Sie schüttelte den Kopf. Was sie alles verloren hatte und warum – das war ein Kaninchenbau, in den sie nicht steigen durfte. Sie musste daran denken, wie stark sie war, dass sie ein Mensch war, der sich nicht unterkriegen ließ. Sie war ihr Leben lang auf der Schneide einer Rasierklinge vor all dem fortgerannt, zu dem es die meisten Leute hinzog: ein Kind, ein Mann, ein Zuhause, eine Existenz.

Glück. Zufriedenheit. Liebe.

Jetzt begriff sie, dass ihr Fortrennen sie geradewegs an diesen dunklen Ort geführt hatte, wo sie ihre Tochter zum ersten Mal hielt – und zum letzten Mal, da das Mädchen in ihren Armen verblutete.

Vor der geschlossenen Tür war ein Scharren zu hören. In dem schmalen Streifen Licht am Boden sah sie den Schatten zweier Füße, die sich über den Boden schoben.

Der zukünftige Mörder ihrer Tochter?

Ihr eigener Mörder?

Die hölzerne Tür ratterte in dem Metallrahmen. Nur ein erleuchtetes Quadrat zeigte an, wo der Türgriff gewesen war.

Sie überlegte, was sie als Waffe benutzen konnte: die Stahlstifte in ihren High Heels, die sie ausgezogen hatte, als sie über die Straße gelaufen war. Das Messer, das in der Brust ihrer Tochter steckte.

Das Mädchen atmete noch. Die Messerklinge drückte gegen etwas Lebenswichtiges in ihrem Körperinnern und verhinderte, dass das Blut wie ein Sturzbach herausschoss. Deshalb war ihr Sterben eine so langsame und mühselige Angelegenheit.

Sie berührte das Messer für eine Sekunde, ehe sie die Hand behutsam wieder zurückzog.

Die Tür ratterte wieder. Ein Kratzen war zu hören, Metall auf Metall. Das Lichtquadrat wurde schmaler und verschwand, als ein Schraubenzieher in die Öffnung gerammt wurde.

Klick-klick-klick, wie das trockene Feuer einer ungeladenen Waffe.

Langsam ließ sie den Kopf ihrer Tochter zu Boden sinken. Sie drehte sich auf die Knie und biss sich auf die Unterlippe, als ihr ein heftiger Schmerz in die Rippen fuhr. Die Wunde an ihrer Seite brach auf, Blut lief an ihren Beinen hinab. Muskelkrämpfe setzten ein.

Sie kroch in dem dunklen Raum umher und achtete nicht auf den grobkörnigen Belag aus Holz- und Metallspänen, der sich in ihre Knie bohrte, nicht auf den stechenden Schmerz unterhalb der Rippen, den stetigen Blutfluss, der eine Spur hinter ihr bildete. Sie fand Schrauben und Nägel, und dann strich ihre Hand über etwas, das kalt, rund und aus Metall war. Sie hob den Gegenstand auf. Ihre Finger verrieten ihr in der Dunkelheit, was sie in der Hand hielt: den herausgebrochenen Türgriff. Massiv. Schwer. Der zehn Zentimeter lange Dorn ragte wie ein Eispickel heraus.

Das Türschloss klickte ein letztes Mal. Der Schraubenzieher fiel klappernd auf den Betonboden. Die Tür ging einen Spalt weit auf.

Sie kniff die Augen zum Schutz vor dem Licht zusammen und dachte daran, auf welche Arten sie Männer schon verletzt hatte. Einmal mit einer Schusswaffe. Einmal mit einer Nadel. Unzählige Male mit ihren Fäusten. Mit ihrem Mund. Mit ihren Zähnen. Mit ihrem Herzen.

Die Tür wurde vorsichtig noch einige Zentimeter weiter geöffnet. Die Mündung einer Waffe tauchte auf.

Sie hielt den Türgriff so, dass der Dorn zwischen ihren Fingern herausragte, und wartete darauf, dass der Mann hereinkam.

KAPITEL 1

Will Trent machte sich Sorgen um seinen Hund. Betty bekam eine Zahnreinigung, was sich nach einer irrsinnigen Geldverschwendung bei einem Haustier anhörte, aber nachdem der Tierarzt ihn über all die schrecklichen Auswirkungen mangelhafter Zahnhygiene bei Hunden aufgeklärt hatte, wäre Will bereit gewesen, sein Haus zu verkaufen, um dem armen Ding ein paar weitere kostbare Jahre zu ermöglichen.

Offenkundig war er nicht der einzige Idiot in Atlanta, der seinem Haustier eine bessere medizinische Versorgung ermöglichte, als viele Amerikaner sie bekamen. Er betrachtete die Warteschlange vor der Tür der Dutch Valley Animal Clinic. Eine störrische Dänische Dogge versperrte den Eingang, und einige Katzenbesitzer warfen einander wissende Blicke zu. Will wandte seinen Blick wieder zur Straße. Er wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und wusste nicht, ob er wegen der großen Hitze schwitzte, die jetzt, Ende August, herrschte, oder wegen der schieren Panik, womöglich die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Er hatte nie zuvor einen Hund besessen. Er war nie ganz allein für das Wohlergehen eines Tiers verantwortlich gewesen. Er legte die Hand auf die Brust. Noch immer meinte er dort Bettys Herzschlag zu spüren, schnell wie ein Tamburin, als er sie der Tierarzthelferin übergab.

Sollte er wieder hineingehen und sie retten?

Der schrille Ton einer Autohupe riss ihn aus seinen Überlegungen. Er sah es rot aufblitzen, als Faith Mitchell in ihrem Mini vorbeifuhr. Sie wendete in einem weiten Bogen und hielt dann neben Will. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, aber sie kam ihm zuvor und stieß die Tür von innen auf.

»Beeilen Sie sich«, sagte sie, und ihre Stimme erhob sich über das Tosen der Klimaanlage, die auf eine arktische Temperatur eingestellt war. »Amanda hat bereits zwei SMS geschickt, wo zum Teufel wir bleiben.«

Will zögerte, ehe er in den winzigen Wagen stieg. Faith’ Dienstwagen, ein Chevrolet Suburban, war in der Werkstatt. Auf der Rückbank des Mini war ein Babysitz festgeschnallt, womit Will auf dem Beifahrersitz rund achtzig Zentimeter blieben, auf denen er seine eins dreiundneunzig verstauen konnte.

Faith’ Handy zirpte, als eine neue SMS eintraf. »Amanda.« Sie sprach den Namen wie einen Fluch aus, so wie es die meisten Leute taten. Deputy Director Amanda Wagner war die Vorgesetzte der beiden im Georgia Bureau of Investigation. Und sie war nicht für ihre Geduld bekannt.

Will warf sein Sakko auf die Rückbank, dann faltete er sich wie ein Burrito in den Wagen. Den Kopf hielt er schräg in die Aussparung für das geschlossene Sonnendach, was ihm ein paar zusätzliche Zentimeter einbrachte. Das Handschuhfach drückte gegen seine Schienbeine. Seine Knie berührten fast das Gesicht. Falls sie in einen Unfall gerieten, würde der Coroner Wills Nase von der Innenseite des Schädels kratzen müssen.

»Mord«, sagte Faith und löste die Bremse, bevor Will auch nur die Tür geschlossen hatte. »Männlich. Achtundfünfzig Jahre alt.«

»Nett«, sagte Will. Nur ein Polizeibeamter konnte am Tod eines Mitmenschen derart Gefallen finden. Zu seiner Verteidigung musste man sagen, dass er und Faith die letzten sieben Monate damit verbracht hatten, Felsblöcke sehr steile Hänge hinaufzurollen. Sie waren an eine Task Force ausgeliehen gewesen, die den Betrugsskandal an Atlantas öffentlichen Schulen untersuchte, und er hatte in der speziellen Hölle eines aufsehenerregenden Vergewaltigungsfalls festgesteckt.

»Der Anruf ging heute Morgen gegen fünf bei der Notrufzentrale ein«, sagte Faith. Sie strahlte geradezu freudige Erregung aus, als sie die Einzelheiten berichtete. »Ein nicht identifizierter männlicher Anrufer sagte, es gebe eine Leiche bei diesen aufgelassenen Lagerhäusern an der Chattahoochee. Viel Blut. Keine Mordwaffe.« Sie bremste vor einer roten Ampel ab. »Sie teilen die Todesursache nicht über Funk mit, es muss also ziemlich übel sein.«

Im Wagen begann etwas zu piepen. Will tastete blind nach seinem Sicherheitsgurt. »Warum bearbeiten wir die Sache?« Das GBI konnte sich einen Fall nicht einfach unter den Nagel reißen. Sie mussten einen Befehl des Gouverneurs erhalten oder von der örtlichen Polizei um Hilfe gebeten werden. Die Polizei von Atlanta hatte jede Woche mit Mord zu tun. Im Allgemeinen baten sie nicht um Hilfe. Schon gar nicht die Polizei des Bundesstaats.

»Das Opfer ist ein Polizist aus Atlanta.« Faith griff nach seinem Gurt und schnallte ihn an, als wäre er eins ihrer Kinder. »Detective Dale Harding, im Ruhestand. Mal von ihm gehört?«

Will schüttelte den Kopf. »Und Sie?«

»Meine Mom kannte ihn. Hat aber nie mit ihm gearbeitet. Er machte Wirtschaftskriminalität. Nahm früh aus gesundheitlichen Gründen seinen Abschied, dann tauchte er in der privaten Sicherheitsbranche wieder auf. Hauptsächlich für Zuhälter und Geldeintreiber.« Faith war fünfzehn Jahre lang bei der Polizei von Atlanta gewesen, bevor sie Wills Partnerin geworden war. Ihre Mutter war als Captain in Ruhestand gegangen. Gemeinsam kannten die beiden praktisch jeden bei der Truppe. »Mom sagt, angesichts von Hardings Ruf ist er wahrscheinlich dem falschen Zuhälter auf die Zehen getreten oder hat seinen Buchmacher um seinen Anteil geprellt und eine mit den Baseballschläger übergebraten bekommen.«

Der Wagen fuhr mit einem Ruck an, als die Ampel umschaltete. Will spürte einen heftigen Stich in den Rippen, der von seiner Glock herrührte. Er versuchte, sein Gewicht zu verlagern. Trotz der eiskalten Klimaanlage klebte sein Hemd vor Schweiß bereits am Sitz, der Stoff löste sich zäh wie ein Pflaster von der Haut. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 7:38 Uhr. Er durfte nicht daran denken, wie drückend heiß es mittags sein würde.

Faith’ Handy zirpte wieder, weil eine SMS kam. Und zirpte noch einmal. Und noch einmal. »Amanda«, stöhnte sie. »Warum trennt sie die Zeilen? Sie schickt drei einzelne Sätze in drei einzelnen Nachrichten. Komplett in Großbuchstaben. Alles, was recht ist.« Faith steuerte mit einer Hand und tippte mit der anderen eine SMS, was gefährlich und verboten war, aber Faith gehörte zu den Polizisten, die Übertretungen nur bei anderen Menschen wahrnahmen. »Wir brauchen noch etwa fünf Minuten, oder?«

»Wahrscheinlich eher zehn bei dem Verkehr.« Will streckte die Hand aus und griff ins Lenkrad, damit sie nicht auf dem Gehsteig landeten. »Wie ist die Adresse von dem Lagerhaus?«

Faith scrollte durch ihre Nachrichten. »Es ist eine Baustelle in der Nähe der Lagerhäuser. Beacon 380.«

Will biss die Zähne so fest zusammen, dass ihm ein Schmerz vom Kiefer in den Nacken schoss. »Das ist Marcus Rippys Nachtclub.«

Faith sah ihn überrascht an. »Machen Sie Witze?«

Will schüttelte den Kopf. Was Marcus Rippy betraf, war ihm nicht nach Witzen zumute. Der Mann war ein Basketballprofi, dem man vorwarf, eine Studentin unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu haben. Will hatte die letzten sieben Monate damit verbracht, eine ziemlich solide Anklage gegen das verlogene Arschloch zusammenzuzimmern, aber Rippy konnte zig Millionen Dollar für Anwälte, Experten und Medienspezialisten ausgeben, die alle dafür gesorgt hatten, dass der Fall nie vor Gericht ging.

»Wie kommt ein toter Expolizist in Marcus Rippys Nachtclub, keine zwei Wochen nachdem eine Vergewaltigungsanklage gegen Rippy fallen gelassen wurde?«, fragte Faith.

»Ich bin sicher, bis wir dort sind, werden Rippys Anwälte eine plausible Erklärung dafür parat haben.«

»Himmel!« Faith ließ ihr Handy in die Becherhalterung gleiten und legte beide Hände wieder aufs Lenkrad. Sie schwieg einen Moment, wahrscheinlich dachte sie über die in vielerlei Hinsicht üble Wendung nach, die diese Geschichte soeben genommen hatte. Dale Harding war ein Cop, aber er war ein mieser Cop gewesen. Die bittere Wahrheit über Mord in der großen Stadt war, dass sich die Verstorbenen selten als vorbildliche, aufrechte Bürger herausstellten. Nicht, dass irgendwer den Opfern die Schuld zuschieben wollte, aber häufig waren sie eben in Aktivitäten verwickelt – wie Zuhälter verärgern oder Buchmacher nicht bezahlen –, wo es nur folgerichtig war, dass sie früher oder später ermordet wurden.

Marcus Rippys Beteiligung änderte alles.

Faith verlangsamte das Tempo, da der morgendliche Verkehr immer zähflüssiger wurde. »Ich weiß, Sie haben gesagt, dass Sie nicht darüber reden wollen, wie und warum Ihr Fall in die Hosen ging, aber jetzt muss ich etwas darüber wissen.«

Will wollte immer noch nicht darüber reden. Rippy hatte sein Opfer über einen Zeitraum von fünf Stunden immer wieder angegriffen, mal geschlagen, mal bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Als Will drei Tage später am Krankenbett der jungen Frau stand, konnte er die Male erkennen, wo Rippys Finger sich in ihren Hals gekrallt hatten, als würden sie einen Basketball halten. Im medizinischen Bericht waren weitere Verletzungen vermerkt, Schnitte, Risse, Einwirkung stumpfer Gewalt, Blutungen. Die Frau konnte kaum mehr als flüstern, aber sie hatte ihre Geschichte dennoch erzählt, und sie erzählte sie jedem, der ihr zuhörte, bis Rippys Anwälte sie zum Schweigen brachten.

»Will?«, fragte Faith.

»Er hat eine Frau vergewaltigt, und er hat sich dann freigekauft.

Er wird es wieder tun. Wahrscheinlich ist es auch früher schon passiert. Aber all das spielt keine Rolle, weil er gut mit einem Basketball umgehen kann.«

»Wow, das ist ja eine Fülle an Informationen. Vielen Dank.«

Der Schmerz in Wills Kiefer wurde stärker. »Am Neujahrstag um zehn Uhr morgens wurde das Opfer von einem Dienstmädchen bewusstlos in Rippys Haus gefunden. Das Mädchen rief den Leiter von Rippys Sicherheitsdienst an, der wiederum Rippys Manager anrief, und der Manager rief dann Rippys Anwälte an, die das Opfer schließlich von einem privaten Rettungsdienst ins Piedmont Hospital bringen ließen. Zwei Stunden bevor das Opfer angeblich gefunden wurde, gegen acht Uhr morgens, hob Rippys Privatjet mit ihm und seiner gesamten Familie an Bord nach Miami ab. Er behauptet, der Urlaub sei schon lange geplant gewesen, aber der Flugplan wurde erst eine halbe Stunde vor dem Start eingereicht. Rippy sagte, er hätte keine Ahnung gehabt, dass sich das Opfer im Haus aufhielt. Er habe die Frau nie gesehen, nie mit ihr gesprochen, kenne ihren Namen gar nicht. Sie hätten eine große Silvesterparty gefeiert, mit ein paar Hundert Leuten, es sei ein ständiges Kommen und Gehen gewesen.«

»Es gab einen Facebook-Post von …«, begann Faith.

»Instagram«, fiel ihr Will ins Wort, denn er hatte das Vergnügen gehabt, stundenlang das Internet nach Handyvideos von der Party durchzukämmen. »Ein Partyteilnehmer hatte ein GIF gepostet, auf dem das Opfer etwas lallt, bevor es sich in einen Eiskübel übergibt. Rippys Leute haben im Krankenhaus ein Drogenscreening machen lassen. Sie hatte Haschisch, Amphetamine und Alkohol im Blut.«

»Sie sagten, sie sei bewusstlos gewesen, als man sie ins Krankenhaus brachte. Hat sie denn eingewilligt, dass man Rippys Leuten ihren Drogentest zeigte?«

Will schüttelte den Kopf, denn es spielte keine Rolle. Rippys Team hatte jemanden im Krankenhauslabor bestochen und die Ergebnisse an die Presse durchsickern lassen.

»Sie müssen zugeben, dass er einen tollen Namen für einen Vergewaltiger hat. Rippy.« Faith verzog den Mund bei dem Gedanken. »Das Haus ist riesig, oder?«

»Siebzehnhundert Quadratmeter.« Will hatte den Grundriss des Hauses so oft studiert, dass er sich ihm eingeprägt hatte. »Es ist wie ein Hufeisen geformt, mit einem Swimmingpool in der Mitte. Die Familie wohnt im Haupttrakt, dem oberen Teil des Hufeisens. Die beiden Flügel beherbergen eine Reihe von Gästesuiten, es gibt ein Nagelstudio, ein Indoor-Basketballfeld, Massageraum, Fitnesszentrum, Privatkino, Spielzimmer für die beiden Kinder, einfach alles.«

»Also könnte logischerweise etwas Schlimmes in einem Teil des Hauses passieren, ohne dass es jemand im anderen Teil mitbekommt.«

»Ohne dass es zweihundert Leute mitbekommen? Ohne dass es die Dienstmädchen und Butler, die Jungs, die die Autos einparken, die Caterer und Köche und Barkeeper und was weiß ich wer mitbekommen?« Will hatte eine zweistündige Führung durch das Anwesen der Rippys vom Sicherheitschef der Familie erhalten. Auf der Außenseite des Hauses deckten Kameras jeden Quadratmeter ab. Es gab keine toten Winkel. Bewegungsmelder reagierten auf alles, was schwerer war als ein Blatt, das im Garten landete. Niemand konnte das Grundstück betreten oder verlassen, ohne dass es jemand erfuhr.

Außer in der Nacht des Überfalls. Es hatte ein schweres Unwetter gegeben. Der Strom fiel ständig aus. Die Generatoren waren auf dem neuesten Stand der Technik, aber aus irgendeinem Grund war die Aufzeichnungsanlage für die Überwachungskameras nicht mit dem Notstromaggregat verbunden.

»Okay, ich habe die Nachrichten gesehen«, sagte Faith. »Rippys Leute behaupteten, das Mädchen sei eine Verrückte, die nur abkassieren wollte.«

»Sie haben ihr Geld geboten. Sie hat abgelehnt.«

»Sie könnte natürlich auf ein höheres Angebot gehofft haben.« Faith trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Ist es denkbar, dass sie sich die Wunden selbst zugefügt hat?«

Das hatten Rippys Anwälte behauptet. Sie hatten sogar einen Experten gefunden, der bereit war zu bezeugen, dass die riesigen Fingerspuren an ihrem Hals, Rücken und Oberschenkeln von ihrer eigenen Hand stammten.

»Sie hatte diese Prellung hier …« Will deutete auf seinen eigenen Rücken. »Wie ein Faustabdruck zwischen ihren Schulterblättern. Von einer großen Faust. Sie hatte eine massive Leberprellung. Die Ärzte verordneten ihr zwei Wochen Bettruhe.«

»Es gab ein Kondom mit Rippys Sperma …«

»Das in einer Toilette im Flur gefunden wurde. Seine Frau sagte, sie hätten in dieser Nacht miteinander geschlafen.«

»Und er hinterlässt das benutzte Kondom in einer Toilette im Flur statt im Bad des Elternschlafzimmers?« Faith runzelte die Stirn. »War die DNA der Frau auf der Außenseite des Kondoms?«

»Das Kondom lag auf einem Fliesenboden, der kurz zuvor mit einem bleichehaltigen Reinigungsmittel gewischt worden war. Es gab nichts auf der Außenseite, was wir verwenden konnten.«

»Wurde irgendwelche DNA am Opfer gefunden?«

»Es gab einige nicht identifizierte Stränge, alle weiblich, wahrscheinlich aus ihrem Studentenwohnheim.«

»Hat das Opfer gesagt, von wem es zu der Party eingeladen wurde?«

»Sie kam mit einer Gruppe von Freunden aus dem College. Niemand von ihnen kann sich noch daran erinnern, wer ursprünglich die Einladung erhalten hat. Niemand von ihnen kannte Rippy persönlich. Oder zumindest gab niemand es zu. Und alle vier distanzierten sich umgehend von dem Opfer, als ich anfing, an ihre Türen zu klopfen.«

»Und das Opfer hat Rippy eindeutig identifiziert?«

»Sie stand vor der Toilette an. Das war, nachdem sie in den Eiskübel gekotzt hatte. Sie sagt, sie habe nur einen Drink gehabt, aber von dem sei ihr schlecht geworden, als habe etwas nicht mit ihm gestimmt. Rippy sprach sie an. Sie erkannte ihn sofort. Er war nett, er sagte, es gebe noch eine weitere Toilette im Gästeflügel. Sie folgte ihm. Es war ein langer Weg dorthin, und ihr war ein wenig schwindlig. Also legte er den Arm um sie und stützte sie. Er führte sie in die letzte Gästesuite am Ende des Flurs. Sie ging auf die Toilette. Als sie wieder herauskam, saß er nackt auf dem Bett.«

»Und dann?«

»Und dann wachte sie am nächsten Tag im Krankenhaus auf. Sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung von Schlägen auf den Kopf. Sie war offenbar wiederholt gewürgt worden und hatte ein paar Mal das Bewusstsein verloren. Die Ärzte glauben, dass ihre Erinnerung an diese Nacht nie vollständig zurückkehren wird.«

»Hm.«

Will spürte das ganze Gewicht ihrer Skepsis in diesem Laut.

»Die Toilette, in der das Kondom gefunden wurde …?«, sagte Faith.

»Liegt sechs Türen von der Gästesuite entfernt, sie sind also auf dem Weg dorthin daran vorbeigekommen, und er ist auf dem Rückweg zur Party erneut daran vorbeigekommen. Es gibt Handyvideos, die ihn während der ganzen Nacht immer wieder irgendwo auf der Party zeigen, er muss also hin- und hergelaufen sein, um sich ein Alibi zu verschaffen. Außerdem stützt ihn sein halbes Team. Jameel Gordon, Andre Dupree, Reuben Figaroa. Die erschienen am nächsten Tag mit ihren Anwälten bei der Polizei und erzählten alle genau die gleiche Geschichte. Als das GBI schließlich den Fall übernahm, erklärte sich keiner von ihnen mehr zu einer erneuten Vernehmung bereit …«

»Typisch«, bemerkte Faith. »Rippy sagt, er habe das Opfer auf der Party nicht einmal gesehen?«

»Richtig.«

»Seine Frau hat sich ziemlich lautstark geäußert, oder?«

»Sie war das reinste Megafon.« LaDonna Rippy war in jede Talkshow und jede Nachrichtensendung gegangen, in der man sie reden ließ. »Sie hat alles bekräftigt, was ihr Mann sagte, auch dass sie das Opfer nicht auf der Party gesehen hat.«

»Hm.« Faith hörte sich noch skeptischer an.

»Und Leute, denen das Opfer an dem Abend auffiel, sagen, sie sei betrunken gewesen und über jeden Basketballspieler hergefallen, den sie in die Finger bekam«, ergänzte Will. »Was einleuchtend klingt, wenn man sich die Aufnahme anschaut, wie sie kotzt, und das Ergebnis des Drogentests dazunimmt. Aber dann liest man den medizinischen Befund, und man sieht, dass sie brutal vergewaltigt wurde, und sie selbst weiß noch, dass Rippy nackt auf diesem Bett saß, als sie aus dem Bad kam.«

»Soll ich Advocatus Diaboli spielen?«

Will nickte, obwohl er wusste, was kommen würde.

»Ich kann verstehen, woran es gescheitert ist. Aussage steht gegen Aussage, und im Zweifelsfall muss für Rippy entschieden werden, denn so will es die Verfassung. Unschuldsvermutung und so weiter, blabla. Und vergessen wir nicht, dass Rippy stinkreich ist. Würde er in einem Wohnwagen hausen, hätte sein Pflichtverteidiger fünf Jahre wegen Freiheitsberaubung für ihn herausgeholt, um ihn vor der Anklage wegen eines Sexualvergehens zu bewahren, und fertig.«

Will antwortete nicht, denn es gab nichts mehr zu sagen.

Faith umklammerte das Lenkrad. »Ich hasse Vergewaltigungsfälle. Wenn du einer Jury einen Mordfall präsentierst, fragt niemand, ob der Kerl wirklich tot ist oder ob er lügt, weil er Aufmerksamkeit provozieren will. Und was er überhaupt in diesem Teil der Stadt verloren hatte. Warum er getrunken hatte. Und was mit all den anderen Mördern ist, mit denen er sich früher getroffen hat.«

»Sie weckte kein Mitgefühl.« Es widerte Will an, dass das überhaupt eine Rolle spielte. »Chaotische Familienverhältnisse. Alleinerziehende drogensüchtige Mutter. Keine Ahnung, wer ihr Dad ist. Sie selbst hatte Drogenprobleme in der Highschool und fügte sich Schnittverletzungen zu. Sie war wegen schlechter Noten vom Rauswurf aus dem College bedroht. Sie traf sich ständig mit Männern und verbrachte viel Zeit auf Tinder und OkCupid, wie alle Leute in ihrem Alter. Rippys Anwälte fanden heraus, dass sie vor einigen Jahren eine Abtreibung gehabt hatte. Im Wesentlichen hat sie ihnen die Prozessstrategie geschrieben.«

»Es macht nicht viel Unterschied, ob man ein braves Mädchen ist oder ein böses, aber wenn man die Grenze einmal überschritten hat …« Faith blies Luft aus den Backen. »Sie können sich nicht vorstellen, welchen Scheiß die Leute über mich erzählt haben, als ich mit Jeremy schwanger wurde. An dem einen Tag war ich noch ein hoffnungsvolles Highschool-Mädchen mit Bestnoten und am nächsten eine Teenagerversion von Mata Hari.«

»Sie wurden als Spionin erschossen?«

»Sie wissen, was ich meine. Ich war ein Paria. Jeremys Dad wurde zu Verwandten in den Norden geschickt. Mein Bruder hat mir noch immer nicht verziehen. Mein Dad wurde aus seiner Loge gedrängt. Er verlor massenhaft Kunden. Keine meiner Freundinnen redete noch mit mir. Ich musste die Schule verlassen.«

»Zumindest war es anders, als Sie Emma bekamen.«

»O ja, sicher. Als fünfunddreißigjähriger weiblicher Single mit einem zwanzigjährigen Sohn und einer einjährigen Tochter werden Sie pausenlos zu Ihren vorzüglichen Lebensentscheidungen beglückwünscht.« Sie wechselte das Thema. »Sie hatte einen Freund, oder? Das Opfer, meine ich.«

»Er hatte eine Woche vor dem Überfall mit ihr Schluss gemacht.«

»Du lieber Himmel, auch das noch.« Faith hatte genügend Vergewaltigungsfälle bearbeitet, um zu wissen, dass eine Klägerin mit einem Exfreund, den sie eifersüchtig machen wollte, der Traum eines jeden Strafverteidigers war.

»Er hat sich nach dem Überfall gut verhalten«, sagte Will, obwohl er kein Fan des Exfreunds war. »Blieb an ihrer Seite. Gab ihr Sicherheit. Oder hat es zumindest versucht.«

»Dale Hardings Name ist im Zuge der Ermittlungen nie aufgetaucht?«

Will schüttelte den Kopf.

Der Truck eines Nachrichtensenders brauste vorbei und wechselte für zwanzig Meter auf die Gegenfahrbahn, bevor er verbotswidrig abbog.

»Sieht so aus, als hätten die Mittagsnachrichten ihren Aufmacher«, sagte Faith.

»Denen geht es nicht um Nachrichten. Die wollen Klatsch.« Bis Rippys Fall abgelehnt worden war, hatte Will die GBI-Zentrale nicht verlassen können, ohne dass irgendein gut frisierter Reporter ihm eine Äußerung zu entlocken versuchte, die seine Karriere beendet hätte. Verglichen mit den Todesdrohungen und Hetzbeiträgen im Internet, die Rippys Fans gegen seine Anklägerin losließen, war er jedoch noch gut davongekommen.

»Ich denke, es könnte einfach Zufall sein«, sagte Faith. »Dass Harding tot in Rippys Club gefunden wurde.«

Will warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Kein Polizist glaubte an Zufälle, schon gar nicht eine Polizistin wie Faith.

»Okay«, lenkte sie ein und folgte dem Wagen des Nachrichtensenders bei seinem verbotenen Manöver. »Wenigstens wissen wir jetzt, warum Amanda vier SMS geschickt hat.« Ihr Telefon zirpte. »Fünf.« Faith griff nach dem Handy. Ihr Daumen glitt über das Display, während sie scharf abbog. »Jeremy hat endlich ein Update seiner Facebook-Seite gemacht.«

Will griff wieder ins Lenkrad, während sie eine Nachricht an ihren Sohn tippte, der die Sommermonate ohne College dazu nutzte, mit drei Freunden quer durchs Land zu fahren, anscheinend mit dem einzigen Ziel, seiner Mutter Sorgen zu bereiten.

Unterm Schreiben beklagte Faith murmelnd die Dummheit von Kids im Allgemeinen und ihres Sohnes im Besonderen. »Sieht dieses Mädchen für Sie wie achtzehn aus?«

Will warf einen Blick auf ein Foto von Jeremy, der sehr nah neben einer spärlich bekleideten Blondine stand. Das hoffnungsfrohe Grinsen auf seinem Gesicht zerriss einem das Herz. Jeremy war ein dürrer, nerdiger Junge, der an der Georgia Tech Physik studierte. Die Blondine spielte so eindeutig nicht in seiner Liga, dass er ebenso gut eine Zuckermelone hätte sein können. »Ich wäre eher wegen der Haschpfeife auf dem Boden besorgt.«

»Ach du Scheiße.« Faith sah aus, als würde sie das Handy am liebsten aus dem Fenster werfen. »Der soll mal beten, dass seine Großmutter das nicht sieht.«

Will sah zu, wie Faith das Foto an ihre Mutter weiterleitete, um sicherzustellen, dass genau das geschah.

Er deutete zur nächsten Kreuzung. »Das ist die Chattahoochee.« Faith fluchte immer noch über das Foto, als sie abbog. »Als Mutter eines Sohnes schaue ich auf dieses Bild und denke: ›Schwängere sie bloß nicht.‹ Dann sehe ich es mir als Mutter einer Tochter an und denke: ›Bekiff dich nicht mit einem Typen, den du gerade erst kennengelernt hast, weil seine Freunde dich vergewaltigen und tot in einem Hotelschrank liegen lassen könnten.‹«

Will schüttelte den Kopf. Jeremy war ein anständiger Junge mit anständigen Freunden. »Er ist zwanzig. Sie müssen sich irgendwann dazu durchringen, ihm zu vertrauen.«

»Nein, muss ich nicht.« Sie ließ das Handy wieder in den Becherhalter fallen. »Nicht, solange ich diejenige bin, von der er Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, eine Krankenversicherung, ein iPhone, Videospiele, Taschengeld, Benzingeld …«

Will blendete die Litanei der zahlreichen Dinge aus, die Faith ihrem armen Sohn gegebenenfalls vorenthalten würde. Sofort schwenkten seine Gedanken wieder zu Marcus Rippy. Das blasierte Gesicht des Basketballspielers, als er mit verschränkten Armen schweigend auf seinem Stuhl lümmelte. Die hasserfüllten Blicke seiner Frau bei jeder Frage, die Will stellte. Sein arroganter Manager und seine aalglatten Anwälte, die alle so austauschbar waren wie die Schurken bei James Bond.

Keisha Miscavage, Rippys Anklägerin.

Sie war eine zähe junge Frau, kampflustig, selbst von ihrem Krankenhausbett aus. Ihr heiseres Flüstern war durchsetzt von Flüchen und Schimpfwörtern, und sie hatte permanent die Augen zusammengekniffen, als würde sie Will befragen statt andersherum. »Sie brauchen kein Mitleid mit mir zu haben«, hatte sie gesagt. »Machen Sie einfach Ihren Scheißjob.«

Will musste zugeben, wenn auch nur sich selbst gegenüber, dass er eine Schwäche für feindselige Frauen hatte. Es brachte ihn fast um, dass er Keisha so elend enttäuscht hatte. Er konnte nicht einmal mehr beim Basketball zusehen, geschweige denn es selbst spielen. Jedes Mal, wenn seine Hand einen Ball berührte, hätte er ihn am liebsten Marcus Rippy in den Rachen gestopft.

»Heilige Scheiße.« Faith hielt einige Meter hinter einem Sendewagen. »Die halbe Polizei von Atlanta ist hier.«

Will ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. Faith’ Einschätzung schien ziemlich zutreffend: Es wimmelte hier von Menschen. Ein Sattelzug schaffte Beleuchtung heran. Der Bus der Spurensicherung. Das mobile Labor der forensischen Abteilung. Streifenwagen und zivile Polizeifahrzeuge waren wie Mikado-Stäbchen kreuz und quer über den Platz verteilt. Gelbes Absperrband zog sich um ein schwelendes, ausgebranntes Auto mitten in einem Ring aus Wasser, das auf dem sengend heißen Asphalt verdampfte. Techniker wuselten umher und platzierten nummerierte gelbe Markierungen neben allem, was möglicherweise ein Beweisstück war.

»Ich wette, ich weiß, wer den Leichenfund gemeldet hat«, sagte Faith.

Will riet. »Ein Drogensüchtiger. Leute, die hier feiern wollten. Ausreißer.« Er betrachtete das gewölbeartige Gebäude vor ihnen: Marcus Rippys zukünftiger Nachtclub. Die Bauarbeiten waren vor einem halben Jahr ausgesetzt worden, als es so aussah, dass der Vorwurf der Vergewaltigung an ihm hängen bleiben würde. Die Gussbetonwände waren rau und verwittert und im unteren Teil von mehreren Schichten Graffiti verdunkelt. Unkraut hatte sich durch die Risse rund um das Fundament gearbeitet. Es gab zwei riesige Fenster, hoch oben in zwei entgegengesetzten Ecken auf der Straßenseite des Gebäudes. Das Glas war dunkel getönt.

Will beneidete die Spurensicherer nicht um ihren Job, die jedes Kondom, jede Spritze und jede Crackpfeife inventarisieren mussten. Unmöglich zu schätzen, wie viele Fingerabdrücke und Schuhabdrücke es im Gebäude gab. Zerbrochene Leuchthalsbänder und Partyschnuller wiesen darauf hin, dass diverse Raves hier getobt hatten.

»Was ist mit dem Club passiert?«, fragte Faith.

»Die Investoren haben den Bau gestoppt, bis Rippys Probleme gelöst sind.«

»Wissen Sie, ob sie jetzt schon wieder grünes Licht gegeben haben?«

Will murmelte eine Verwünschung, nicht wegen der Frage, sondern weil seine Chefin, die Hände in die Hüften gestemmt, vor dem Gebäude stand. Amanda sah auf ihre Uhr, dann starrte sie die beiden an, dann sah sie wieder auf ihre Uhr.

Faith fügte noch einen Fluch zu Wills hinzu und stieg aus, während Will noch blind nach dem runden Türgriff tastete, der etwa den Umfang eines M&M hatte. Endlich sprang die Tür auf, und sofort strömte heiße Luft in den Wagen. Atlanta erlebte das Ende des heißesten und feuchtesten Sommers seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Ins Freie zu gehen war ungefähr so, als würde man ins Maul eines gähnenden Hundes spazieren.

Will schälte sich aus dem Auto und versuchte, die Polizisten zu ignorieren, die ein paar Meter entfernt standen und ihm zusahen. Er konnte nicht hören, was sie sagten, aber bestimmt schlossen sie Wetten darüber ab, wie viele Clowns noch aus dem winzigen Gefährt klettern würden.

Glücklicherweise wurde Amandas Aufmerksamkeit inzwischen von einem der CSI-Leute in Anspruch genommen. Charlie Reed war leicht an seinem gezwirbelten Schnauzbart und einem Körperbau wie Popeye erkennbar. Will hielt nach weiteren bekannten Gesichtern Ausschau.

»Mitchell, stimmt’s?«

Will drehte sich um und sah sich einem bemerkenswert gut aussehenden Mann gegenüber. Der Typ hatte dunkles gewelltes Haar und ein Grübchen im Kinn, und er musterte Faith mit dem Blick eines Aufreißerkönigs im Studentenwohnheim.

»Hallo.« Faith’ Stimme klang seltsam hoch. »Kennen wir uns?«

»Bisher hatte ich nicht das Vergnügen.« Der Mann fuhr sich mit den Fingern durch das jungenhafte, lockere Haar. »Sie sehen wie Ihre Mom aus. Ich habe mit ihr gearbeitet, als ich noch eine Uniform trug. Ich bin Collier. Das ist mein Partner Ng.«

Ng nickte kaum merklich, um zum Ausdruck zu bringen, wie cool er war. Er trug das Haar militärisch kurz geschoren und hatte eine dunkle Pilotenbrille auf. Wie sein Partner trug er Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck APD POLICE – ganz im Kontrast zu Will, der wie der Oberkellner in einem alten italienischen Steakrestaurant aussah.

»Trent«, sagte Will und straffte die Schultern, denn zumindest hatte er den Größenvorteil auf seiner Seite. »Was liegt vor?«

»Ein Haufen Scheiße.« Ng starrte aus dem Fenster, statt Will anzusehen. »Wie ich höre, ist Rippy bereits auf dem Weg nach Miami.«

»Waren Sie schon drin?«, fragte Faith.

»Nicht oben.«

Faith wartete auf mehr, dann versuchte sie es noch einmal. »Können wir mit den Beamten reden, die die Leiche gefunden haben?«

Ng tat so, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu erinnern. »Weißt du ihre Namen noch, Bro?«

Collier schüttelte den Kopf. »Sind mir total entfallen.«

Faith war nicht mehr so hingerissen. »He, 21 Jump Street, sollen wir gehen, damit ihr beiden euch gegenseitig einen runterholen könnt?«

Ng lachte, rückte aber nicht mit weiteren Informationen heraus.

»Herrgott noch mal«, sagte Faith. »Sie kennen meine Mom, Collier. Unsere Chefin hier ist ihre frühere Partnerin. Was glauben Sie, wird sie sagen, wenn wir sie bitten müssen, uns auf den aktuellen Stand zu bringen?«

Collier seufzte müde. Er rieb sich den Nacken und blickte ins Leere. Im Sonnenlicht blitzten silberne Strähnen in seinem Haar auf, er hatte tiefe Falten um die Augen. Vermutlich war er Mitte vierzig und damit ein paar Jahre älter als Will, weshalb sich dieser aus irgendeinem Grund besser fühlte.

»Also gut«, gab Collier schließlich nach, aber nicht, ohne sich ein weiteres Mal durchs Haar zu fahren. »Die Zentrale bekommt einen anonymen Tipp, dass es hier eine Leiche gibt. Zwanzig Minuten später trifft ein Streifenwagen mit zwei Mann Besatzung ein. Sie durchkämmen das Gebäude und finden die männliche Leiche in einem der Räume im Obergeschoss. Ein Stich in den Hals. Ein echtes Blutbad. Einer von ihnen erkennt Harding von den Chorproben – Trinker, Spieler, Weiberheld, ein typischer Bulle vom alten Schlag. Ihre Mom kennt bestimmt ein paar Geschichten.«

»Wir haben gerade einen Fall von häuslicher Gewalt bearbeitet, als der Anruf kam«, sagte Ng. »Ziemlich brutale Scheiße. Die Braut wird tagelang operiert werden müssen. Bei Vollmond drehen immer alle durch.«

Faith ging nicht auf seine Kriegsgeschichte ein. »Wie ist Harding oder wer immer in das Gebäude gekommen?«

»Anscheinend mit einem Bolzenschneider.« Collier zuckte die Achseln. »Das Vorhängeschloss war glatt durchgeschnitten, was einige Muskelkraft erfordert, wir haben es also wahrscheinlich mit einem Mann zu tun.«

»Haben Sie den Bolzenschneider gefunden?«

»Nein.«

»Was war mit dem Auto?«

»Als wir hier ankamen, hat es eine Hitze wie Tschernobyl abgestrahlt. Wir haben die Feuerwehr gerufen. Sie sagen, dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde. Der Benzintank ist explodiert.«

»Niemand hat ein brennendes Fahrzeug gemeldet?«

»Ja, es ist schockierend«, sagte Ng. »Man würde nicht meinen, dass die ganzen Junkies und Huren, die in diesen Lagerhäusern herumhängen, einen auf Kitty Genovese* machen.«

»Aha, da kennt sich einer aus mit Großstadtlegenden«, sagte Faith.

Will ließ den Blick über die leer stehenden Lagerhäuser schweifen – je eines links und rechts von Rippys Club. Eine Tafel warb für gemischtfunktionale Gebäude, die hier bald entstehen sollten, aber das ausgeblichene Werbeschild ließ darauf schließen, dass »bald« längst vorüber war. Die Gebäude waren jeweils vier Stockwerke hoch und mindestens einen Block tief. Roter Ziegel von der vorletzten Jahrhundertwende. Gotische Bogenfenster mit Buntglas, das vor langer Zeit herausgebrochen war.

Er drehte sich um. Auf der anderen Straßenseite stand ein ähnliches Backsteingebäude, dieses war jedoch mindestens zehn Stockwerke hoch, vielleicht mehr, wenn es ein Tiefgeschoss gab. Gelbe Schilder auf den mit Ketten versperrten Türen wiesen darauf hin, dass das Gebäude zum Abriss vorgesehen war. Die drei Bauwerke waren mächtige Relikte aus Atlantas industrieller Vergangenheit. Wenn Rippys Investoren jetzt, da der Vergewaltigungsfall vom Tisch war, zugeschlagen hatten, konnte das Projekt ihnen Millionen, wenn nicht Milliarden von Dollar einbringen.

»Konnten Sie das Fahrzeug identifizieren?«

»Weißer Kia Sorento, Baujahr 2016, auf einen gewissen Vernon Dale Harding zugelassen. Die Feuerwehr sagt, der Wagen hat wahrscheinlich seit vier, fünf Stunden gebrannt.«

»Jemand hat also Harding getötet und sein Auto angezündet, und dann hat jemand anderer oder vielleicht auch derselbe Kerl es fünf Stunden später der Notrufzentrale gemeldet.«

Will blickte zum Nachtclub. »Warum hier?«

Faith schüttelte den Kopf. »Warum wir?«

Ng verstand nicht, dass es eine rhetorische Frage war. Er deutete auf das Gebäude. »Das hier sollte eine Art Nachtclub werden. Unten wie ein Atrium in einem Einkaufszentrum die Tanzfläche, oben auf der Galerie VIP-Räume. Ich dachte, dass vielleicht eine Bande im Spiel ist, die hier mitten in dieser Scheißgegend einen Drogentreff aufzieht, deshalb habe ich meine Süße im Revier angerufen, sie hat ein bisschen nachgeforscht und ist auf Rippys Namen gestoßen. Ich denk mir, ach du Scheiße, und reiche die Sache an meinen Boss weiter, der ruft dann höflichkeitshalber bei Ihrer Schreckschraube hier an, und zehn Minuten später ist sie da und schleift uns an den Eiern durch den Ring.«

Alle sahen zu Amanda. Charlie Reed war fort, eine gertenschlanke Rothaarige war an seine Stelle getreten. Sie steckte ihr Haar hoch, während sie mit Amanda sprach.

Ng pfiff leise durch die Zähne. »Himmel noch mal. Schau dir diese kleine Pfadfinderin an. Ob die wohl hält, was sie verspricht?«

Collier grinste. »Ich sag dir morgen früh Bescheid.«

Faith warf einen Blick auf Wills geballte Fäuste. »Das reicht jetzt, Jungs.«

Collier konnte nicht aufhören zu grinsen. »Wir machen doch nur Spaß, Officer.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber Sie sollten wissen, dass ich bei den Pfadfindern rausgeflogen bin, weil ich ein paar Brownies vernascht habe.«

Ng lachte schallend, und Faith verdrehte die Augen, als sie sich zum Gehen wandte.

»Red«, sagte Will zu den Detectives. »Alle nennen sie Red. Sie ist von der Spurensicherung, aber sie mischt sich gern ein, also habt ein Auge auf sie.«

»Ist sie mit jemandem zusammen?«, fragte Collier.

Will zuckte die Achseln. »Spielt das eine Rolle?«

»Nicht die geringste.« Collier sprach mit der absoluten Gewissheit eines Mannes, der nie von einer Frau zurückgewiesen wurde. Er salutierte Will großspurig. »Danke für die Info, Kumpel.«

Will zwang sich, die Fäuste zu lockern, als er auf Amanda zuging. Faith war auf dem Weg ins Gebäude, wahrscheinlich um der Hitze zu entkommen. Die rothaarige Frau trug sich am Tor in eine Liste ein. Als sie Will sah, lächelte sie, und er lächelte zurück, denn sie hieß nicht Red, sondern Sara Linton, und sie war keine Kriminaltechnikerin, sondern die Gerichtsmedizinerin, und es ging Collier und Ng einen Scheißdreck an, was sie hielt oder nicht hielt, denn vor drei Stunden hatte sie noch unter Will im Bett gelegen und ihm so viele schmutzige Dinge ins Ohr geflüstert, dass er nicht mal mehr schlucken konnte.

Amanda sah nicht von ihrem BlackBerry auf, als sich Will näherte. Und es kümmerte sie auch nicht, als er wartend vor ihr stand, denn sie ließ ihn meistens warten. Einen Kopf größer als sie, war er bestens vertraut mit dem Wirbel an ihrem Oberkopf, wo sich ihr schwarzgrau meliertes Haar zu einem Helm legte.

»Sie sind spät dran, Agent Trent«, sagte sie schließlich.

»Ja, Ma’am. Wird nicht wieder vorkommen.«

Sie kniff die Augen zusammen, weil sie an seiner Entschuldigung zweifelte. »Dieser Geruch in der Luft kommt von der Kacke, die am Dampfen ist. Ich habe bereits mit dem Bürgermeister, dem Gouverneur und zwei Staatsanwälten telefoniert, die sich weigern, hier herauszukommen, weil sie ihre Gesichter nicht in einem Bericht über einen weiteren Fall sehen wollen, in den Marcus Rippy verstrickt ist.« Sie sah wieder auf ihr Handy. Das BlackBerry war ihre mobile Kommandozentrale, die Verbindung mit ihrem riesigen Netz von Kontakten, von denen nur einige offizieller Natur waren.

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