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Keep You Safe - Nick & Gaby

Eine Liebesgeschichte so erfrischend wie Erdbeereis.

Seit der alleinerziehende Vater und Illustrator Nick die schlagfertige Gaby kennengelernt hat, zeichnet er nur noch Herzchen. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als sie wiederzusehen. Doch Nick hat nicht nur ein Geheimnis, das er niemals mit ihr teilen könnte, sondern muss sich auch um das Wohlergehen seiner kleinen Tochter kümmern. Da kann er sich keine Schwärmereien leisten.
Nicks Herz ist allerdings ganz anderer Meinung: Viel zu lange sehnt es sich schon nach Freiheit, und noch nie war diese so verlockend wie jetzt …


  • Erscheinungstag: 15.08.2019
  • Seitenanzahl: 473
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750683
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Anfang April

Nick schob die Hände in die Hosentaschen und wippte ungeduldig auf den Fußsohlen. Unglaublich, wie viele Lobeshymnen in eine Rede passten. Mittlerweile hatte er den Überblick verloren, zum wievielten Mal jemand die Entstehungsgeschichte der Kanzlei Morrison, Loughlin & Raventhorne in minutiös genauen Details aufarbeitete. Laut der Einladung handelte es sich bei der Feier um das fünfzigjährige Jubiläum. Allmählich vermutete Nick allerdings, dass am Tag der Unternehmensgründung noch Dinosaurier über den Wilshire Boulevard gestapft waren.

Er stellte sich einen Comic vor, in dem ein Brontosaurus vor einem Hau-den-Lukas stand, dessen Skala an einem Schild mit der Aufschrift „Gipfel der Langeweile“ endete. Bronto schlummerte unter den Worten des nächsten Redners ein, sein Kopf knallte anstelle des Hammers auf den Abschlag – und der Metallpfropfen schoss nach oben. Die Glocke löste Alarm aus, die Skala explodierte, und das Schild zersprang in kleinste Einzelteile. Wie in Zeitlupe rieselten die Schnipsel zu Boden.

Nick tastete nach dem Notizbuch in der Innentasche seines Jacketts. Diese Idee musste er schnellstmöglich skizzieren! Er schielte zum Büffet hinüber. Zumindest die Futterkrippe tröstete ansatzweise darüber hinweg, dass er seinen Samstagabend damit verplemperte, sich die Heldengeschichten sämtlicher Rechtsverdreher anzuhören.

Diese Fliege um seinen Hals machte ihn zudem wahnsinnig, und der Knopf darunter sperrte ihm die Luft ab! Vergeblich versuchte er, den Hemdkragen zu lockern. Mehr noch als der Affenanzug gingen ihm die Weiber auf den Zeiger, die ihm zwischen Krabbencocktail und Himbeerparfait eindeutige Angebote zuraunten. Nähme er die Hälfte der Einladungen an, könnte er eine beträchtliche Anzahl der Betten des Beverly Hills Hotels testen.

Der Lärmpegel im Saal stieg an, das klassische Zeichen für den Toast in die Runde. Nick nahm Reißaus, bevor der nächste Schwall Firmengeschichte auf ihn niederprasselte.

In eine Nische auf dem weitläufigen Flur gelehnt, schob er das Büchlein in die Innentasche zurück. Mehrere Skizzen, die ihm das nächste Honorar für seinen wöchentlichen Comicstrip in der Times sicherten, rückten die vergangenen Stunden in ein etwas besseres Licht. Eine riesige Grünpflanze bot ihm Deckung, sein Anzug und die dunklen Haare taten ihr Übriges, ihn mit den Schatten verschmelzen zu lassen. Aus seinem Versteck heraus ließ er den Blick durch die weit geöffneten Flügeltüren schweifen. Eine Hand um die Taille seiner Ehefrau gelegt, unterhielt sich Craig mit einigen Senioren. Frühere Kollegen, die ihre Tage nun zwischen Golfplatz und Pilatesgruppe verbrachten, vermutete Nick. Ein Champagnerglas in der Hand, lehnte sich Diana eine Spur tiefer in Craigs Umarmung. Eine winzige Geste, die nur dem geübten Auge auffiel und ihm einen wehmütigen Stich versetzte. In guten, wie in schlechten Tagen … Selbst Craig und Diana, mit ihrer Villa und den Nobelkarossen in der Doppelgarage, konnten ein Lied über die schlechten Tage singen. Wie schön musste es sich anfühlen, auch die guten miteinander teilen zu dürfen.

Dresscode hin, seriöse Feier her – diese Fliege würde bei nächster Gelegenheit im Müll landen! Nick zwängte den Zeigefinger an seinem Kehlkopf vorbei, schnürte sich die Luft dabei aber nur noch mehr ab. In Gedanken schoss er bitterböse Pfeile auf Craig ab. Nur weil dessen Name auf dem Briefkopf der Kanzlei prangte, musste er, Nick, im Folteroutfit auf dieser Feier ausharren.

Da der Hemdkragen nicht nachgab, verfluchte er zur Abwechslung seine Lederschuhe. Doch im nächsten Augenblick vergaß er sein unbequemes Outfit. Eine überaus attraktive Frau mit kupferblonden Haaren trat durch eine der Flügeltüren, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und schlüpfte aus ihren dunkelblauen Pumps. Ein Knie angewinkelt, rieb sie sich die Zehen. Belustigt schaute er zu, wie sie ihre Schuhe wieder anzog und sich bemühte, ein ausgiebiges Gähnen hinter ihrer schmalen Hand zu verbergen.

»Lassen Sie mich raten: Sie träumen von einem Paar Sneakers, stimmt’s?« Nick gab seine Deckung auf und trat ihr entgegen.

»Tut mir leid.« Ihr herzliches Lächeln strafte ihre Worte Lügen. »Ich kann es nicht fassen, aber diese Veranstaltung ist noch ätzender, als ich mir eine Anwaltsparty immer vorgestellt habe. Haben Sie auch die Flucht ergriffen?«

»Reiner Selbstschutz! Noch eine Wiederholung der Ahnentafel und ich falle ins Koma.« Er beschloss, dass er sämtliche Reden überleben würde, solange sie ihn mit diesem Lächeln ablenkte, und er sich in ihren Augen verlieren durfte. Sie kam daher wie ein erfrischender Sommerwind an einem schwülen Augustnachmittag. Einhundert Prozent gute Laune verpackt in aparter Weiblichkeit. Obwohl es ihm schwerfiel, sich von ihren Augen loszureißen, gönnte er sich einen Blick auf das Gesamtpaket.

Im Gegensatz zu den festzementierten Hochsteckfrisuren der übrigen Damen fielen ihr ihre Haare ungebändigt bis auf die Schultern und wirkten, als käme sie gerade von einem stürmischen Strandspaziergang nach Hause. Das Etuikleid weckte Fantasien von Küssen auf zart gebräunter Haut. Nick ertappte sich bei der Überlegung, was sich wohl unter der leuchtend blauen Seide verbarg. Sein Finger, der ihr den schmalen Träger von der Schulter schob … Ihre Beine würden ihm schlaflose Nächte bescheren! Jetzt eine Hand auf ihr Knie legen, sie langsam diesen perfekt geformten Schenkel unter ihrem Rocksaum hinaufwandern lassen …

Hastig räusperte er sich und streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich mich vorstellen: Nick Raventhorne.« Behutsam schloss er seine Pranke um ihre zarten Finger und sehnte einen Krampf herbei, um ein Alibi zu haben, sie nicht wieder loslassen zu müssen.

»Sehr erfreut, ich bin …« Im selben Moment erlosch ihr Lächeln, und Röte schoss ihr ins Gesicht. Sie entzog sich ihm derart hastig, dass er verdutzt seine leere Handfläche anstarrte. »Da bin ich ja mitten ins Fettnäpfchen getreten, was?« Sie zog eine schuldbewusste Grimasse. »Tut mir leid, woher sollte ich wissen, dass Sie einer der Gastgeber sind?«

»Was bin ich?« Nicks Kopf schoss hoch.

»Sie sind nicht…? Die Kanzlei … Einer der Namen lautet doch Raventhorne.«

Er nickte und hing an ihren korallenroten Lippen. Der leicht schleppende Akzent, der ihm verriet, dass ihre Wurzeln den Ufern des Mississippi entstammten, stand in reizvollem Kontrast zu der unbändigen Lebensfreude in ihren Augen, deren Farbe ihn an edlen Brandy erinnerte.

»Stimmt, aber hier gibt’s noch einen von uns. Sonst müsste ich womöglich seine Rede halten.« Er deutete auf Craig. »Da drüben, der mit der Geheimratsecke am Scheitel, das ist Craig Raventhorne. Mein großer Bruder.«

Die schöne Unbekannte warf einen Blick auf Craig, bevor sie Nick von oben bis unten musterte. »Eher älter als größer, was?« Sie zog einen Schmollmund und legte den Kopf schief. »Sie verraten ihm hoffentlich nicht, dass ich seine Party zum Gähnen finde?«

»Ich petze nicht. Und selbst, wenn ich wollte …« Nick zuckte mit den Schultern. »Ich weiß ja nicht einmal Ihren Namen.«

»Oh, tut mir … Nein, tut mir nicht leid. Verdammt, was machen Sie, dass ich mich dauernd entschuldige, seit ich Ihnen über den Weg gelaufen bin?«

»Ich? Gar nichts.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich habe einfach in meiner Ecke gestanden und mich gefragt, wann ich nach Hause gehen darf. Dann kamen Sie, und seither hoffe ich, dass der Abend noch ein Weilchen länger dauert.«

Wieder schenkte sie ihm dieses Lächeln, bei dem er verdrängte, dass er Frauen generell und schönen Frauen erst recht aus dem Weg ging. Ihre Augen ließen ihn nicht los. Wäre er auf der Jagd, würde sie ihm gefährlich werden. Er schob den Gedanken schnellstens beiseite. Sie betrieben nur nette Konversation, um sich gegenseitig vor dem akuten Ableben aufgrund extremer Langeweile zu bewahren.

»Ich heiße …« Zum zweiten Mal durfte er ihre Hand ergreifen, und zum zweiten Mal zuckte sie zurück. »Nein, das verrate ich Ihnen wirklich nicht. Dann könnten Sie mich doch noch verpetzen.«

Bedauernd ergab sich Nick seinem Schicksal. »Es würde genügen, Craig gegenüber zu erwähnen, was die Schönheit im blauen Kleid gesagt hat.«

»Und wie kann ich Sie davon abhalten?«

»Indem Sie mich an die Bar begleiten, damit ich ihm nicht in die Finger gerate. Oder haut mir Mr. Unbekannt eins über die Rübe, wenn ich mich länger mit Ihnen unterhalte?«

»Nein, keine Sorge. Ich bin mit meinem Chef hier. Ich glaube, Ihr Bruder ist sein Anwalt.«

»Das heißt, Ihr Chef ist Waffenhändler, Autoschieber oder Bankräuber und Sie sind sein Lockvogel?«

»Nein, wieso?«

»Weil Craig Strafverteidiger ist.« Nick deutete mit dem Kinn zum Ehrentisch hinüber. »Was macht Ihr Chef?«

»Er hat ein Geschäft in Santa Monica, Mr. Big. Vielleicht kennen Sie uns.« Nur ihren hohen Absätzen verdankte sie, dass sie den Kopf nicht allzu weit in den Nacken legen musste, um Nick ins Gesicht schauen zu können. »Sie passen genau in unser Kundenprofil.«

»Mr. Big?« Nick schürzte die Lippen. »Nein, kenne ich nicht. Steht der Name für groß und dünn oder für klein und dick?«

»Beides. Wir führen Übergrößen für Männer.«

Na, wie praktisch, dass er es auf ein Gardemaß von knapp zwei Metern brachte. Da könnte man dem Laden bei Gelegenheit glatt einen Besuch abstatten. Natürlich nur, um ein Hemd zu kaufen, bei dem die Ärmel ausnahmsweise lang genug sind…

»Champagner für die Dame?« Der Barkeeper holte Nick aus seinen Überlegungen.

Sie winkte ab. »Danke. Lieber ein Glas Weißwein.«

Nick orderte Cranberrysaft und Perrier und parkte die Hälfte seines Hinterteils auf einem Hocker. Fasziniert verfolgte er, wie geschmeidig seine Begleiterin das gleiche Kunststück in ihrem engen Kleid zustande brachte.

»Saft und Wasser?« Sie verzog das Gesicht. »Ich dachte, Sie wären schon einundzwanzig.«

»Bin ich. Seit letzter Woche. War ’ne Riesenfete in Vegas, deshalb habe ich dem Alkohol vorerst abgeschworen. Ich bekomme jetzt noch Kopfschmerzen, wenn ich an den Hangover denke.« Er nahm sein Glas entgegen und hielt es ins Licht. »Sieht aus wie ein schöner Zinfandel, oder? Ich muss noch fahren«, erklärte er und toastete ihr zu. »Darauf, dass die Party nicht mehr ätzend ist?«

Sie nickte und klickte ihr Glas gegen seins. »Verraten Sie mir, was Sie tun, wenn Sie sich nicht im Topfpflanzendschungel verdrücken? Sind Sie auch Anwalt?«

»Ich? Gott bewahre!« Erschrocken zuckte er zurück. »Ein Paragrafenreiter in der Familie reicht. Ich bin eher das Gegenteil.«

»Also einer der Waffenhändler, Autoschieber und Bankräuber?« Sie grinste schelmisch, ohne zu bemerken, dass Nick schlagartig ernst wurde. Hastig nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Glas, doch den unangenehmen Beigeschmack spülte der Saft nicht von seiner Zunge. Er unterdrückte das brennende Verlangen, sich den Knöchel zu reiben, obwohl er genau wusste, dass es nicht auf seiner Haut, sondern allein in seinem Kopf juckte.

»Nick, darf ich dich kurz … Oh, entschuldige, bitte.« Craigs Hand auf seinem Rücken lenkte Nick vom Kribbeln unter seiner Socke ab. Angenehm überrascht betrachtete Craig sein Gegenüber. »Möchtest du mir die Lady nicht vorstellen?«

In einer hilflosen Geste breitete Nick die Hände aus. »Das würde ich liebend gern. Leider will sie mir ihren Namen nicht verraten.« Er deutete auf Craig. »Miss Unbekannt, mein Bruder Craig Raventhorne.«

»Sehr angenehm, Miss Unbekannt.« Schmunzelnd nahm Craig ihre dargebotene Hand entgegen. »Hat er etwas angestellt, dass Sie lieber inkognito bleiben?«

»Nein, eher umgekehrt. Wenn er petzt, bin ich dran. Gabrielle Parker. Angenehm, Mr. Raventhorne.«

»Craig, bitte.«

»Gabrielle.«

»Dann wünsche ich noch einen angenehmen Abend. Mr. Delores, wie schön, Sie …« An der Seite des fremden Herrn ging Craig davon. Nick seufzte. Warum musste ausgerechnet Craig Zeuge werden, wenn er sich einmal mit einer sympathischen Frau unterhielt?

***

Unterschiedlicher können Brüder kaum sein, überlegte Gabrielle. Nicks unerwartet verschlossene Miene verwunderte sie. Eben noch definitiv auf Flirtmodus gepolt, wirkte er plötzlich angespannt. Das musste sie unbedingt ändern! Er war niedlich. Okay, das sollte sie ihm gegenüber besser nicht erwähnen. Verboten sexy mit genau der richtigen Portion jungenhaftem Charme traf es eher. Gegen den Anwalt, der seinen Brooks-Brothers-Anzug mit einer Selbstverständlichkeit trug, als hätte er darin das Licht der Welt erblickt, wirkte Nick wie ein Flegel, den man gewaltsam in einen Smoking gesteckt hatte. Fühlte er sich unbeobachtet, fummelte er an seinem Hemdkragen herum, weshalb die Fliege inzwischen auf zwanzig nach zehn Uhr zeigte. Er überragte Craig fast um Haupteslänge, und Gabrielle vermutete, dass Nick zwei oder drei Jahre jünger sein musste. Optisch spielte Craig in der Regionalliga, Nick im Super Bowl. Er hatte das breite Kreuz und den Körperbau eines Schwimmers und die Beine eines Langstreckenläufers. Unter seinem Jackett deuteten sich ausgeprägte Oberarmmuskeln an. Seine verstrubbelten Haare, deren Farbe sie an die Schalen von Macadamianüssen denken ließ, verrieten, dass er häufig mit den Fingern durch sie fuhr. Sie zwang sich, den Blick von seinen Händen abzuwenden. Gewisse Partien ihres Körpers prickelten allein bei der Vorstellung, was diese langen, schlanken Finger anrichten könnten, würden sie über ihre Haut, statt über das Glas streichen. Und dieser Mund …

»Gabrielle Parker also«, riss er sie aus ihren süßen Tagträumen. Sein melancholischer Moment schien vorüber, er hob seine linke Augenbraue und schenkte ihr ein atemberaubendes Lächeln, aus Augen, so blau wie der Pazifik. »Wartet man geduldig ab, klären sich manche Dinge von allein«, sagte er mit der Zufriedenheit eines Katers, der soeben die Maus vernascht hatte.

Gabrielle spitzte die Lippen und nickte bedächtig. »Und da Sie offensichtlich über ausreichend Geduld verfügen …« Sie gönnte sich das Vergnügen, mit dem Finger an ihrer Unterlippe entlangzufahren. Er musste doch aus der Reserve zu locken sein …

»Ja. Die hat man mir beigebracht.« Wie auf Knopfdruck schlug sein Ton in Bitterkeit um. Hastig griff er erneut nach seinem Glas und leerte es in einem Zug.

***

»Nanu? Sehe ich etwa ein bedauerndes Glitzern in deinen Augen?«

Unwillig wandte sich Nick von den Aufzugtüren ab, die sich soeben hinter Gabrielle und ihrem Chef geschlossen hatten, und begegnete dem breiten Grinsen seines Bruders.

»Da hat’s aber einen erwischt, was?« Es fehlte nicht viel und Craig könnte seine Mundwinkel an den Ohren aufhängen.

Nick schüttelte den Kopf. »Wohl kaum«, erwiderte er bedrückt. »Die Zeiten sind vorbei.« Er schaute sich um, doch abgesehen von den Gastgebern und dem Servicepersonal hielt sich kaum noch jemand im Saal auf.

»Schnapp sie dir, Nick. Sie fährt voll auf dich ab, lass dir das von deinem Anwalt gesagt sein.«

»Klar. Frauen wie Gabrielle stehen total auf Ex-Knackis, bei denen der Bewährungshelfer gelegentlich zum Kaffeeklatsch vorbeischaut.«

»Kannst du das nicht mal einen Abend lang vergessen?«

»Nein. Das Ding an meinem Bein fällt nämlich nicht unter den Begriff Reizwäsche.« Wieder spürte er diesen penetranten Juckreiz. Am liebsten hätte er sich die Haut blutig gekratzt, dabei bildete er sich die Qual nur ein.

»Hast du ihre Telefonnummer?« Craig gab nicht auf. Natürlich nicht. Hätte er jemals aufgeben, wäre er nicht Partner der Kanzlei und Nick läge längst im Bett, statt an eine Frau zu denken, die ihm für eine Weile das Gefühl vermittelt hatte, ein netter Kerl zu sein.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht danach gefragt.«

Craig schnaubte vernehmlich. »Früher hättest du ihre Telefonnummer, vor ihrem Namen gewusst.«

»Früher ist vorbei.« Nick drückte den Knopf für den Aufzug. Zeit, in sein leeres Haus zurückzukehren, in dem heute nicht einmal Leonie auf ihn wartete. Mit einem dezenten Pling öffneten sich die Aufzugtüren. Er trat einen Schritt nach vorn, da hielt Craig ihn zurück.

»Weißt du, wo du sie finden kannst?«

Nick schüttelte ihn ab, betrat den Lift und hob anstelle eines Abschiedsgrußes die Hand. Dankbar dafür, allein zu sein, bedachte er sein Spiegelbild mit einer abfälligen Grimasse. Vierzig Jahre alt, aber immer noch der kleine Bruder, auf den Craig aufpassen musste.

»Leider ja«, gab er sich niedergeschlagen die Antwort auf Craigs Frage. »Leider ja.«

2. KAPITEL

Inmitten eingeschlafener Anzugträger schaute der Brontosaurier verblüfft auf die wunderschöne Frau mit der aufregend rotblonden Wuschelmähne, die sich aus den Teilen des gesprengten Hau-den-Lukas erhob. Behutsam nahm er einen Träger ihres Cocktailkleids zwischen seine Vorderzähne, richtete sich auf und hob das elfengleiche Geschöpf auf seinen Rücken. Den Kopf schief gelegt, schaute er sie an. Sie schlang die Arme um Brontos Hals und lachte. Dabei funkelte der Schalk in ihren Augen wie lupenreine Diamanten. Bronto grinste. Trotz seiner schwerfälligen Masse tänzelte er aus dem Saal. Fortsetzung folgt …

Mit einem abgrundtiefen Seufzer legte Nick den Stift beiseite und betrachtete, was aus ihm heraus aufs Papier geflossen war. Ohne den Blick von den Skizzen abzuwenden, tastete er nach seiner Kaffeetasse, setzte sie an die Lippen und spuckte den Schluck umgehend zurück. Angewidert schüttelte er sich. Zucker vergessen und inzwischen eiskalt. Das passierte, wenn einem atemberaubende Frauen durch den Kopf geisterten.

Fortsetzung folgt …

Von wegen! Möglich, dass Bronto die Chance bekam, ein Weilchen mit der Elfe über den Regenbogen zu steppen. Prähistorische Giganten, die sich von anmutigen Wesen verzaubern ließen, kamen bei den Lesern der Sonntagsausgabe immer gut an. Die Realität endete, bevor die Blondine ahnte, welches Monster unter der attraktiven Schale des Kerls steckte, dem sie für eine Weile unbekümmert ihr Lächeln geschenkt hatte.

Auf die Stuhllehne gestützt, kratzte Nick die Stelle oberhalb seines Knöchels, wo sich der einer Armbanduhr ähnliche Sender befand. Der gewohnte Schauder, der ihn stets erfasste, sobald er das Gerät berührte, rann ihm über die Wirbelsäule. Ein intensives Kribbeln der anderen Art war durch seine Adern gerast, als Gabrielle mit der gleichen Bewegung ihren Pumps ausgezogen und ihre Zehen massiert hatte. Brontosaurus gegen Elfe.

Er sah an sich hinab. Sakko und Fliege waren im Auto auf der Strecke geblieben, die Schuhe hatte er von den Füßen geschleudert, noch bevor die Haustür hinter ihm zugefallen war. Die Ärmel bis über die Ellenbogen umgekrempelt, hing ihm das weiße Hemd offen über der Anzughose. Bestimmt würde ihr gefallen, was sie sähe. Auf einen muskulösen Bauch und schmale Hüften zu Oberarmen wie bei einem Quarterback fuhren die Frauen ab, wie er auf … Gabrielle …

»Verfluchte Scheiße!« Seine Faust landete mit einem dumpfen Klatschen in seiner Handfläche. Mit aller Kraft presste er sie gegen den Widerstand. Die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt, verfolgte er schwer atmend, wie sich die Anspannung Stück für Stück seines Körpers bemächtigte. Wie von einer unüberwindlichen Mauer umschlossen, stand er sich selbst im Weg. Trotz seiner Muskeln nicht in der Lage, den Brontosaurier in sich beiseite zu schieben.

Laufen! Er musste rennen, bis seine Lungen nach Sauerstoff schrien und Gedanken an Gabrielle keinen Platz mehr in seinem ausgelaugten Körper fanden. Bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer riss er sich das Hemd vom Leib. Die Hose flog in die Ecke. Tanktop, Jogginghose, Nikes. Es dauerte keine zwei Minuten, bis er vor der Haustür stand. Wie immer, wenn er das Haus verließ, gönnte er sich einen tiefen Atemzug. So nervig das Ding am Bein war, es sperrte ihn wenigstens nicht ein, wie es die Mauern und Stacheldrahtzäune getan hatten. Seine Welt reduzierte sich auf einen Radius von zwanzig Meilen um sein Zuhause. Genug für seinen normalen Alltag und kleine Ausflüge an benachbarte Strände. Besäße er doch im Kopf ebenso viel Freiheit. Warum wurde sein Hirn die verdammten Gitter einfach nicht los?

Sonntagmorgen. Nur er und die Kanäle. Selbst die Enten schliefen noch. Mit langen Schritten lief er an architektonischen Verrücktheiten und schlichten Cottages vorbei. Das Echo seiner Schuhe hallte auf den Holzplanken der Brücke wider. Auf der viel befahrenen Pacific Avenue kreuzte lediglich ein Laster seinen Weg. Die Obdachlosen schliefen in graffitibeschmierten Hauseingängen ihren Rausch aus, ein asiatischer Imbissbesitzer fegte den Straßendreck vor seinem Lokal zusammen. Eine grell geschminkte Prostituierte, gekleidet in High Heels, zerrissenen Netzstrümpfen und Latexmini auf der Suche nach einem übrig gebliebenen Freier und ein paar Dollar für den nächsten Fix. Nicks Augen leiteten die alltäglichen Bilder, die den Reiz und Schrecken von Venice Beach ausmachten, automatisch in den mentalen Spamfilter. Vor ihm lag der von Palmen gesäumte Sandstrand im grauen Dunst. An dem Ort, an welchem in wenigen Stunden Touristen Selfies knipsten, liefen derzeit nur diejenigen dem Sonntagmorgen davon, auf die kein Familienfrühstück wartete.

Nick schwenkte auf den Joggingpfad und beschleunigte wie ein Porsche bei Vollgas.

***

»Einen großen geeisten Mocca mit doppeltem, peruanischem Espresso, Mandelmilch, zuckerfreiem Vanillesirup, ohne Sahne für Cass und einen mittleren Cappuccino für Gaby«, rief die Barista über das Stimmengewirr im Coffeeshop hinweg. Nach mittlerweile fünf Monaten in dieser verrückten Stadt bezweifelte Gaby immer noch, jemals derart L.A. zu werden, dass ihre Kaffeebestellung mehr Worte als die Abendnachrichten benötigte. Sie nahm Glas und Tasse entgegen und setzte sich zu Cass auf die schattige Terrasse.

»Das Beste am Sport ist das Frühstück danach.« Gaby schälte ihren Blaubeermuffin aus der Papiermanschette. Cass rührte ihr Müsli in den fettfreien Sojajoghurt.

»Nicht unbedingt. Für ein Personal Training«, sie malte Anführungszeichen um die letzten beiden Worte in die Luft, »mit diesem griechischen Gott würde ich glatt meinen Kaffee eintauschen. Hast du gesehen, er gibt einen Kurs im Thaiboxen. Dienstags um acht. Wollte ich immer schon ausprobieren. Thaiboxen. Kommst du mit?«

Nicht zum ersten Mal überlegte Gaby, wo Cass zwischen ihren Fitness- und Maniküreterminen Zeit für ihren Job als Assistentin eines Immobilienmaklers fand. Von den Haarwurzeln bis zu den lackierten Zehennägeln immer auf der neuesten Trendwelle unterwegs, entsprach sie dem Idealbild des typischen California Girls. Ihr bauchfreies Top zu knappen Designershorts zeigte die Figur eines Supermodels. Blonde Strähnchen, kunstvoll lässig aus dem Pferdeschwanz gezupft, umrahmten ihr Gesicht. Wer sie anschaute, glaubte ihr die achtundzwanzig Jahre, mit denen sie kokettierte, wenn man sie nach ihrem Alter fragte, sofort. Zufällig hatte Gaby entdeckt, dass Cass ihren achtundzwanzigsten Geburtstag bereits zum sechsten Mal feierte. Na und? Wen interessierten Daten auf einem Führerschein in einer Stadt, in der nur die Optik zählte? Dennoch kam sich Gaby in Cass’ Gegenwart oft ziemlich alt vor, obwohl sie gerade erst fünfunddreißig geworden war.

Während sich Cass den Löffel zwischen die blitzweißen Zähne schob, checkte sie die neuesten Nachrichten auf ihrem iPhone. Gaby nippte an ihrem Cappuccino und schaute sich um. Wann immer sie ein Lokal betrat oder über den Santa Monica Boulevard bummelte, traf sie auf übernatürlich schöne Menschen. Seit ihrer Ankunft in der Pazifikmetropole glaubte sie, inmitten des Sets einer Hollywoodserie zu leben. Sehen und gesehen werden, alles andere schien in L.A. keine Rolle zu spielen. Jeder tippte auf einem Smartphone und unterhielt sich gleichzeitig mit seinem Gegenüber. Niemand nahm sich die Zeit, sich auf eine einzige Tätigkeit zu konzentrieren. Manchmal vermisste sie den gemächlichen Trott von New Orleans. Wo die schwüle Hitze den Menschen zu einer langsameren Gangart zwang und man bei Beignets und Kaffee den Straßenmusikern lauschte. Am Ufer des Mississippis fand man noch Ruhe zum Nachdenken.

Aus diesem Grund war sie an die Westküste gezogen. Weit weg von dem Ort, an dem der Schmerz in der modrigen Luft Louisianas wie eine eiternde Wunde gären konnte. Die Hektik von L.A., das schwindelerregende Rotieren des kalifornischen Universums, das sich allein um Schönheit, Reichtum und Image drehte, war perfekt, um sich von den Erinnerungen abzulenken. Die Sonne verbrannte das Gestern und riss Gaby mit ins Morgen.

Sie hatte Cass im Fitnessstudio kennengelernt Aus dem ersten gemeinsamen Besuch im Coffeeshop war eine lockere Freundschaft entstanden. Eiste sich Cass von ihren Apps los, konnte man mit ihr prima shoppen oder schnulzige DVDs gucken. Nur die Gemüsechips hätte Gaby bei Filmen mit Tom Hanks und Meg Ryan liebend gern, wie einst zu Hause, gegen Merlot und Salzgebäck getauscht.

Gaby biss herzhaft in ihren Muffin. Ihr Ego verarbeitete dreihundert Kuchenkalorien plus Kaffeespülung ohne Psychiatertermin, und sie ließ sich wegen ihrer zu klein geratenen Brüste trotz Cass’ Empfehlungen eines passenden Helfers garantiert kein Silikon implantieren. Der niedliche Typ von gestern Abend hatte nicht den Anschein gemacht, als wäre ihre Taille zu breit und ihre Oberweite dürftig.

»Was ist jetzt, Gabs? Kommst du mit?« Cass sah sie auffordernd an.

Worum ging’s noch? Ach ja, der griechische Fitnessgott mit dem Adonishintern. Thaiboxen! Zeus bewahre!

»Acht Uhr? Schaff ich nicht. Dienstags bin ich nie vor halb neun aus dem Laden raus. Außerdem bin ich kein Fan von Martial Arts. Sport ohne Musik geht gar nicht.«

»Honey, mit dem Hintern von Dimitri vor meiner Nase geht alles! Ich fange sogar mit Yoga an, wenn er mir den Sonnengruß macht.«

»Ich bezweifle, dass man vom Sonnengruß einen Bauch wie das Waschbrett meiner Ur-Ur-Urgroßmutter bekommt.«

»Dafür aber bestimmt vom Thaiboxen. Dimitri darf mir gern Lektionen im Nahkampf erteilen. Apropos Hintern: Was war mit dem Typen, von dem du vorhin geschwärmt hast?«

»Ich habe nicht geschwärmt, sondern lediglich festgestellt, dass die Party sterbenslangweilig war. Er hat mich in dem Moment erwischt, als ich mir beim Gähnen fast den Kiefer ausgerenkt hätte, und dann war sein Bruder noch einer der Gastgeber. Peinlich!«

»Quatsch! Habt ihr euch unterhalten?«

»Hmm«, bejahte Gabrielle, ihre Tasse an den Lippen und einen Schluck Kaffee im Mund.

»Und?«

Sie stellte die Tasse ab. »Was und?«

Cass verdrehte die Augen. »Muss man dir immer alles einzeln aus der Nase ziehen? Spuck’s aus. Auf einer Skala von eins bis unendlich: Wie sexy ist er?«

»Cass, jeder in L.A. sieht sexy bis unendlich aus! Warum sollte er eine Ausnahme bilden?«

»Du bist noch vom Rausch des Neuen geblendet. Es gibt hier Typen, die sehen so dermaßen scheiße aus, sag ich dir.«

»Nenn mir zwei Namen, die auf der Skala weniger als ’ne Fünf schaffen.«

»Danny de Vito und mein Nachbar aus der 6C. Der ist minus vier! Hat er dich nach deiner Nummer gefragt?«

»Nein, hat er nicht.«

»Wie? Echt nicht? Ist er schwul?«

»Unwahrscheinlich. Er hat eine neunjährige Tochter.«

»Will nichts heißen.« Cass winkte ab, stutzte aber sofort. »Sag nicht, er ist verheiratet!«

»Geschieden.«

»Na, wenigstens etwas. Auf Neuware kannst du in deinem Alter nicht mehr hoffen. Andererseits …« Cass nahm einen Schluck von ihrer wortgewaltigen Koffeinkreation. »Besser, sie haben sich die Hörner schon an ’ner anderen abgestoßen. Dann wissen die Typen wenigstens, welche Fehler sie in der nächsten Ehe nicht wiederholen sollten.«

»Ich habe nicht vor, je wieder zu heiraten.«

»Hat Ellie auch behauptet. Kaum kam Seth, war’s aus mit unserer WG. Und er hat deine Nummer wirklich nicht? Obwohl er allein auf der Party war? Was für ein Idiot! Na, egal. Heute Abend findet ’ne irre Session im Black Panther statt. Total geile Musik, hippe DJs und coole Typen. Ein Kollege von mir kommt, den musst du kennenlernen. Rico. Kolumbianische Mutter, Vater mit irgendwelchen Siouxgenen. Der Kerl sieht zum Niederknien aus, glaub mir. Ich stell’ ihn dir vor und …«

»Warum träumst du von Dimitri, wenn du ihn kennst?«

»Schätzchen, Rico ist achtunddreißig!« Aus Cass’ Mund klang das wie fünfundneunzig. »Sieht aber nicht danach aus. Schau ihn dir an, du wirst hin und weg sein.«

»Ein anderes Mal. Heute möchte ich zu Hause bleiben.«

»Am Wochenende? Bist du krank? Honey, mein Doktor schiebt sonntags Notdienst. Warte …« Sie griff nach ihrem Handy, doch Gaby stoppte sie. »Mir geht es prima, ich will einfach nur einen Abend auf dem Sofa abhängen, ein Buch lesen, mir ’ne Pizza kommen lassen …«

»Das ist dieses ganze Zeugs, das du in dich reinschlingst. Muffins, Pizza, Schokolade … Schätzchen, du musst dringend über deine Ernährung nachdenken! Du wirst schlapp. Zu viele Kohlenhydrate. Warte, ich habe da eine Gruppe für dich.« Erneut nahm sie ihr Smartphone zur Hand. »Mein neues veganes Ich …«

»Gib’s auf, Cass, bevor ich mir noch einen Muffin hole. Außerdem müssen wir los. Hast du nicht um zwölf einen Termin?«

»Au, scheiße, ja. Echt schon so spät? Mist.« Hektisch sprang sie auf, riss ihre Sporttasche vom Nachbarstuhl und kramte nach ihrem Autoschlüssel. »Falls du doch noch zur Party … Okay, okay. Nur wenn … Ruf mich an oder schick ’ne Nachricht. Wir sehen uns, Honey. Bye!«

Kopfschüttelnd sah Gaby ihr hinterher, wie sie im Sturmschritt um die Ecke bog. Sie nahm ihre Tasche und reihte sich in der Schlange vor dem Tresen ein. Zeit für einen weiteren Cappuccino, der ihr den Heimweg versüßte.

***

Nur mit Sweatpants bekleidet sah Nick der Kaffeemaschine bei der Arbeit zu. Quälend langsam spie das Gerät das schwarze Lebenselixier in die wie der Kopf von Donald Duck geformte Tasse. Joe Cockers Reibeisenstimme dröhnte aus den Boxen, doch es gelang ihm nicht, die Stille aus dem Haus zu treiben. Gegen diese war die beste Stereoanlage machtlos.

Ein letztes Zischen verkündete, dass der Kaffee fertig war. Nick zog Donald unter dem Ausguss hervor, rührte den Zucker ein und lehnte sich gegen die Frühstücksbar. Seine Beine fühlten sich nach dem stundenlangen Run so bleischwer an wie seine Lider nach der durchwachten Nacht. Das Sofa sah verlockend aus. Hinlegen, die Augen schließen und schlafen. Nach ein paar Stunden frisch und erholt aufwachen. Er nippte an seinem dampfenden Kaffee und verfolgte, wie die heiße Flüssigkeit durch seine Kehle in den Magen rann. Hitze, die ihn ebenso wenig wärmte, wie der halb gegessene Bagel auf dem Teller die Leere in ihm füllte. Eine Leere, die bis vor wenigen Stunden in seinem Leben nicht existiert hatte.

Er hatte das Letzte aus seinem Körper herausgeholt, dennoch war es ihm nicht gelungen, vor seinen Gedanken davonzurennen. Nach wie vor hörte er Gabrielles Stimme, den schweren Blues des Südens. Durchflutet von ihrem herzlichen Lachen wie Strudel in den trägen Fluten des Mississippi. Selbst beim Zeichnen sah er ihr Gesicht und verlor sich in ihren Augen.

Sie war eine Frau, für die man die Welt aus den Angeln hob, um sie glücklich zu machen. Möglicherweise brächte sie das Glück zurück in sein Herz. In dieses Haus, das er für seine Familie gekauft hatte, und das ihm nicht einmal mehr gehörte.

Erschrocken zuckte Nick zusammen. Was wollte er mit einer Frau? Oder, besser gefragt: Welche halbwegs vernünftige Frau ließ sich mit einem Kerl wie ihm ein? Sein mentales Dossier über Gabrielle gab nicht viel her. Sie war Ende vergangenen Jahres aus New Orleans hergezogen, lief auf atemberaubenden Beinen durchs Leben und verkaufte Kleidung an Männer, deren größtes Problem aus zu kurzen Hemdsärmeln oder zu engen Sakkos bestand. Sie mochte Chardonnay und hatte sich einen Spaß daraus gemacht, ihm ihren Namen zu verheimlichen.

Er wünschte, er wüsste ihre Telefonnummer, obwohl er kein Recht hatte, sie anzurufen. Ebenso wenig, wie er in diesen Laden gehen durfte. Er hatte seiner Familie genug Schaden zugefügt. Gabrielle Parker sollte nicht dafür bestraft werden, dass sie auf der falschen Party gegähnt hatte. Du bist ein alleinstehender Mann in den besten Jahren und kein seniler Tattergreis, mahnte der kleine Teufel in seinem Hinterkopf an. Du müsstest eher dafür bestraft werden, dass du sie hast gehen lassen!

Seine vernünftige Hälfte redete ihm ohne Unterlass ein, dass er Gabrielle vergessen und seinen Frust an einer Comiczeichnung auslassen sollte. Drei oder vier Bildchen würden ihn nicht nur ablenken, sondern sogar für Geld auf dem Konto sorgen. Stattdessen starrte er im Wechsel auf das jungfräulich weiße Blatt Papier vor ihm und die Wanduhr. Noch über fünf Stunden, bis Leonie heimkam. Wie sollte er fünf weitere Stunden lang diese Ungewissheit ertragen, ob es ihr gut ging? Seine Kleine in Theos Nähe zu wissen, brannte wie Phosphor in seinen Eingeweiden. Buddy passte auf sie auf. Buddy ging Theo an die Gurgel, sollte er es wagen, Leonie anzufassen. Nick hoffte zumindest, dass der Hund das Richtige tat, falls dieser Drecksack je wieder die Hand gegen seine Tochter erhob. Der Gedanke an Theo löste erneuten Juckreiz an seinem Bein aus. Er grub die Nägel in die Wade, bis Blut floss. Der scharfe Schmerz konnte das Kribbeln nicht stoppen. Immerhin lenkte ihn die Angst um Leonie von Gabrielle ab. Jeden Mittwoch und jedes zweite Wochenende die gleiche unbezähmbare Furcht, dass sie mit einer geröteten Wange und einer tiefen Wunde auf ihrer Kinderseele zurückkäme. Er vertraute Kate nicht, und Leonie sagte ihm aus Angst vor ihrer Mom nicht, ob Theo … Nur die verdammte Selbstschussanlage an seinem Knöchel hielt Nick davon ab, nach Pacific Palisades zu fahren und nachzuprüfen, wie es seinem Schatz ging. Er musste sich beherrschen. Wer passte auf Leonie auf, wenn er erneut Mist baute?

***

Mit Rollerblades unter den Füßen fühlte sich Gaby wie ein echtes California Girl, sobald sie auf dem Radweg zwischen Santa Monica und Venice pendelte. Zwei Meilen, unterschiedlich wie Tag und Nacht. Vom Pier mit seinem nostalgischen Pferdekarussell, dem Riesenrad und der Achterbahn genoss man die Aussicht auf das Getümmel am Strand. Luxuriöse Hotels und Apartmentkomplexe grenzten den gigantischen Sandkasten vom Citylife jenseits der Ocean Avenue ab. Je weiter sie nach Süden rollte, desto quirliger und bunter explodierte das Leben um sie herum. Venice Beach, das Tollhaus der Ausgeflippten, Hippies, Selbstdarsteller und Künstler. Streetdancer performten zu wilden Klängen aus ihren Ghettoblastern, Musiker und Möchtegernstars bemühten sich, die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zu lenken. Es gab nichts, was es nicht gab. Handlesen oder Magie, Souvenirs und Trödel, beeindruckende Gemälde an den Hauswänden und betrunkene Obdachlose in verdreckten Hinterhöfen. Trotz der verwahrlosten Ecken und den allgegenwärtigen Graffiti erinnerte sie das Viertel an das French Quarter. Venice fehlte der Charme der Grand Dame, den die schmiedeeisernen Balkone im historischen Viertel von New Orleans verströmten. Doch das Leben pulsierte an beiden Orten im gleichen, unbändigen Rhythmus, der das Temperament der Stadt vorgab.

Obwohl sie keinen Gefallen an den schnaufenden Kraftprotzen am Muscle Beach fand, stoppte sie. Menschliche Kleiderschränke stemmten Hanteln, die dem Gewicht eines Kleinwagens entsprachen und ließen ihre schweißüberströmten Muckis spielen. Unwillkürlich dachte sie an Nick. Ihr Kennerblick als Frau vom Fach ließ auf wesentlich ansprechender definierte Muskeln unter seinem Smoking schließen. Ihm fehlte die bedrohliche Kraft, die von den Typen ausging, die urzeitliche Laute grölten, um ihre Anstrengungen zu kommentieren. Er war stark, sein Bizeps hatte den Nähten des Jacketts einiges abverlangt. Dagegen strahlten seine Augen eine Gutmütigkeit aus, die in krassem Gegensatz zu seiner imposanten Erscheinung stand. Der riesige Kerl mit den sanften Augen konnte bestimmt keiner Fliege etwas zuleide tun und schmolz dahin, wenn sein Töchterchen „bitte, bitte, Daddy“ schmachtete.

Wie gern wollte sie herausfinden, ob unter seiner massigen Verpackung ein knuddeliger Teddybär steckte. Mit einem Seufzer wandte sie sich ab und stakste über die Wiese zu einer Bank mit Meerblick. Warum ging er ihr dermaßen unter die Haut, obwohl ihr oberstes Gebot lautete, nie wieder auf einen Kerl hereinzufallen, egal, wie attraktiv und sympathisch er wirkte?

Geschieden und Vater einer kleinen Tochter. Viel mehr hatte sie nicht aus ihm herausbekommen. Der zärtliche Ausdruck, der über seine Miene huschte, wenn er das Mädchen erwähnte, war ihr nicht entgangen. Selbst seine Stimme hatte bei den wenigen Worten einen völlig anderen Klang angenommen. Weich und überfließend vor Liebe.

Geschieden. Klar. Für Typen wie ihn gehörte der All-inclusive-Flirt abseits des Ehebetts zum Alltag wie der SUV in der Doppelgarage. Davon konnte sie ein Lied – ach was, eine komplette Oper – singen. Solche Männer blieben höchstens ihrem Nachwuchs treu.

Gabys gute Laune löste sich in Luft auf. Die ausgelassene Stimmung um sie herum ging ihr auf die Nerven. Zurück in ihr Appartement wollte sie nicht. Zu viel Stille ertrug sie nicht. Sie zog das Handy hervor und scrollte quer durch ihre Kontakte. Nach den zahlreichen Nummern zu urteilen, kannte sie halb L.A. Sie nannten sich Freunde. In New Orleans wären sie flüchtige Bekannte gewesen. Mehr brauchte – wollte – sie nicht. Für eine beste Freundin gab es in ihrem Leben keinen Platz mehr.

Sie verstaute die Rollerblades im Rucksack, schlüpfte in ein Paar Sandalen und drängelte sich durch zur hoffnungslos verstopften Pacific Avenue.

Jenseits des Staus beamte die Brücke über den Grand Canal Gaby in eine andere Welt. Obwohl sich keine immense Glaskuppel über das Karree der Venice Canals wölbte, blieb der Großstadtlärm jenseits des trüben Wasserlaufs zurück. Palmen, dichtes Grün und üppig blühende Gärten säumten den Fußweg entlang der Kanäle. Verspielt wirkende Brücken, viele kaum breit genug für ein einzelnes Auto, einige nur für Passanten angelegt, führten von einer Seite auf die andere. Italienisch anmutende Villen mit Dachterrassen und imposanten Säulen wechselten sich mit maritimer Cape-Cod-Architektur und adretten Holzhäusern ab. Vor fast jedem Gebäude unterbrach der Zugang zu einem Steg die Hecke, die den Pfad vom Wasser abgrenzte. Ruderboote und Kajaks dümpelten vor sich hin, hier und da zogen Enten ihre Bahnen. Gaby fehlte der Vergleich zum europäischen Original und nach den Bildern von Venedig, die sie aus dem Fernsehen kannte, zweifelte sie an der Ähnlichkeit der Orte. Dennoch konnte sie sich keinen paradiesischeren Platz vorstellen als das versteckte Viertel diesseits des Venice Boulevards.

Von irgendwoher zog ihr der Duft gegrillter Steaks in die Nase. Anwohner saßen bei einem kalten Drink mit Gästen zusammen oder faulenzten. Kinder tobten durch quietschbunte Spielhäuser oder spritzten im Planschbecken herum. Das Ganze wirkte wie eine surreale Oase der Glückseligkeit. Sollte Gaby jemals in der Lotterie gewinnen, würde sie sich eines der bunten Häuschen kaufen und ein knallrotes Kajak an ihrem Bootssteg vertäuen. In ihrem winzigen Garten gäbe es eine Hollywoodschaukel und urgemütliche Sessel. Wer auf die Terrasse wollte, müsste über einen riesigen Hund steigen, der im Schlaf knurrte, weil er sich gestört fühlte.

Sie spielte ihr Lieblingsspiel und suchte nach einem Haus, das ihren Vorstellungen entsprach. Die Paläste schieden aus, sie wollte eines der schnuckeligen Cottages, die ebenso gut im Schatten eines Leuchtturms an der stürmischen Küste von Maine stehen könnten. Auf der Brücke begegnete ihr ein Pärchen mit einem Kinderwagen. Gezwungenermaßen erwiderte sie den freundlichen Gruß und warf im Vorübergehen einen Blick auf das schlafende Baby. Der Stich in ihrem Herzen ließ sie die Cottages vergessen.

***

Nick hörte das ersehnte Motorengeräusch, bevor der Lexus in die Sackgasse vor dem Haus einbog. Der Bleistift flog auf den Zeichentisch. Mit langen Schritten stürmte er durch das Wohnzimmer und riss die Haustür auf. Buddys Kläffen drang durch die geschlossenen Scheiben, Leonie winkte. Kate fluchte, wie er an ihrem Gesichtsausdruck erkannte. Er grinste in sich hinein. Gegen Buddys Gebell in der Enge des Wagens kam ihre Stimme nicht an.

»Daddy!« Leonie hing an seinem Hals, bevor Nick ihren Sicherheitsgurt öffnen konnte. Buddys Nase presste sich in sein Ohr, an seiner heraushängenden Zunge vorbei hechelte er ihm einen Schwall Hundefutteratem ins Gesicht.

»Hallo Mäuschen. Halt die Luft an, Buddy, du stinkst!« Leonie im Arm, richtete er sich auf und setzte sie auf seine Hüfte. Buddy sprang aus dem Auto, rieb seinen mächtigen Schädel an Nicks Bein und wedelte mit dem Schwanz. Nick kraulte seine Schlappohren. »Hey, Kumpel. Vor der Abfahrt noch schnell ’ne Dose totes Huhn verdrückt, was?« Er versetzte dem Hund einen Klaps, der daraufhin ins Haus lief, und gab Leonie einen Kuss.

»Alles okay, Maus?« Der zärtliche Ton seiner Stimme gab nichts von seiner Angst preis. Peinlich genau scannte er das müde Gesichtchen. Ihr seliges Lächeln täuschte ihn nicht über die dunklen Schatten unter ihren himmelblauen Augen hinweg. Kaum merklich berührte er eine Rötung unterhalb ihres Ohrläppchens. Mückenstich. Okay.

»Hmm«, bejahte sie und schmiegte sich in seine Halsbeuge. Der Druck in seiner Brust ließ nach. Zärtlich vergrub er seine Finger in ihren langen braunen Haaren.

»Du hast mir gefehlt, Kleines«, flüsterte er.

»Du mir auch, Daddy.« Dabei klammerte sie sich an ihn, als wären sie monatelang voneinander getrennt gewesen. Tatsächlich hatten sie sich erst vorgestern voneinander verabschiedet.

»Nick.« Kates knapper Gruß lenkte ihn von Leonie ab.

»Kate.«

Per Fernbedienung öffnete sie den Kofferraum. Er nahm die Tasche heraus. Der Höflichkeit halber wartete er ab, bis Kate Leonie zum Abschied über den Rücken strich. Mehr gewährte Leonie ihr nicht. Stattdessen presste sie sich unter der Berührung noch enger an ihren Dad. Er drehte sich um, trug Kind und Tasche ins Haus und gab der Tür einen Tritt. Durch das Wohnzimmerfenster verfolgte er, wie Kate zurücksetzte. Wie immer gab sie an der Kreuzung zu viel Gas. Er verübelte ihr nicht, dass sie den Anblick des schmusenden Kindes in seinem Arm schnellstmöglich hinter sich lassen wollte.

Nick setzte sich in seinen Lieblingssessel am Fenster. Es hatte etwas Beruhigendes, auf den Kanal zu schauen, wenn sich die Dämmerung über das Wasser senkte und in den Häusern die Lichter angingen. Die Knie angewinkelt, hockte Leonie auf seinem Schoß, die Wange an seine Brust gelehnt. Sein Kinn ruhte kaum spürbar auf ihrem Scheitel. Unablässig streichelte er über ihren Rücken. Er lauschte auf ihre Atemzüge und das Gefühl, wenn sich ihr Bauch beim Einatmen leicht gegen seinen drückte. Buddy kehrte von seinem Kontrollgang durch das Obergeschoss zurück. Seine schweren Pfoten polterten die Treppe herunter. Das Klackern seiner Krallen auf den Fliesen verriet, dass er den Küchenfußboden nach Krümeln absuchte. Er schlabberte geräuschvoll durch seinen Wassernapf. Kurz darauf folgte das erwartete Scheppern.

»Vergiss es, du Fresssack!« Nick wandte den Kopf um und sah zu, wie Buddy die leere Emailleschüssel mit der Nase über den Boden schob. »Ich weiß, dass du heute schon die Wochenration einer vierköpfigen Familie verschlungen hast. Die nächste Raubtierfütterung findet erst morgen statt.«

Buddy versetzte der Schüssel mit der Pfote einen Schlag, sodass sie durch die Küche rutschte und gegen die Wand knallte.

»Gewalt ist keine Lösung, Kumpel. Leg dich schlafen.«

Er schmunzelte, als der Hovawart neben ihm auftauchte, sich setzte und ihm eine Pfote aufs Bein donnerte. In Gedanken verabschiedete er sich von seiner Kniescheibe. Wo Buddys Pranke landete, zerbröselte alles in seine Bestandteile.

Da sein Ich-sterbe-den-Hungertod-Blick ebenfalls keinen Erfolg brachte, ließ er sich ächzend auf die Seite fallen.

»Stärke Zweikommaacht auf der Richterskala«, kommentierte Nick trocken. »Hast schon beeindruckendere Beben ausgelöst, Alter. Vielleicht brauchst du tatsächlich was zwischen die Zähne?«

Buddy stöhnte erneut, dann schloss er die Augen.

»Wie steht’s mit dir, Mäuschen? Hast du Hunger mitgebracht?«

Leonie rekelte sich, bis sie ihn anschauen konnte. »Machst du Spaghetti mit Fleischbällchen?«

»Stell dir vor: Mir hat vorhin im Supermarkt eine schlaue Fee ins Ohr geflüstert, dass ich mal wieder Spaghetti mit Fleischbällchen kochen sollte. Zufälle gibt es!« Er stellte Leonie auf die Füße, da sah er den Bluterguss am Rand ihres T-Shirt-Ärmels. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Vorsichtig schob er den Stoff ein Stückchen nach oben. Ein lilablau schimmernder Fleck von der Größe einer Münze kam zum Vorschein.

»Hast du dir wehgetan?« Sein ruhiger Ton täuschte über sein aufgewühltes Inneres hinweg. Leonie folgte seinem Blick.

»Ja.« Sie verzog das Gesicht. »An der Türklinke. Buddy hat sich vorbeigedrängelt und mich geschubst.«

»Buddy, hm?« Er betrachtete den dünnen Arm von allen Seiten, fand jedoch keine weiteren Spuren, die auf Fingerabdrücke einer hart zupackenden Männerhand hindeuteten. »Du sagst es mir, wenn er …« Er brachte es nicht über sich, den Rest auszusprechen. Leonie nickte.

»Na gut. Hat Mom Salbe draufgetan?«

»Es ist ein blauer Fleck, Daddy! Ich werd’s überleben.« Sie hörte sich an wie Kate und zog die gleiche Grimasse wie seine Ex, wenn er ihr auf die Nerven gegangen war. Immerhin fiel die Anspannung von ihm ab.

»Okay, okay.« Er verpasste ihr einen Nasenstüber. »Dein alter Dad hat eben immer Angst, dass an seinem Schatz etwas kaputtgeht. Spaghetti?«

»Mit ganz, ganz viel Soße und Bällchen.«

Ihre Arme schlangen sich um seine Hüften, er beugte sich hinunter und wickelte sich um ihre Schultern. Wie ein formloses Untier schwankten sie kichernd in die Küche.

3. KAPITEL

Mit einem Tablet-PC in der Hand kontrollierte Gaby, inwieweit ihr tatsächlicher Warenbestand mit den Angaben im System übereinstimmte. Sie hörte, wie jemand das Geschäft betrat. Zwei Verkäufer kümmerten sich bereits um Kunden, eine Kollegin war in der Pause. Gaby hörte auf, Windjacken zu zählen, wandte sich um – und spürte, wie ihr Herz einen außerplanmäßigen Hüpfer wagte. Unschlüssig, als wollte er sich am liebsten umdrehen und davonlaufen, stand Nick im Laden. Gaby drückte sich in eine Ecke und gönnte sich ein absolut unprofessionelles Stückchen Augenschmaus. Endlos lange Beine in Bluejeans, futuristisch wirkende Nikes und ein dunkelgraues T-Shirt, das lässig über der Hose hing. Seine verstrubbelten Haare lösten in ihr das Verlangen aus, mit ihren Fingern für weitere Verwüstung zu sorgen. Oder das halb verborgene Tattoo nachzuzeichnen, das sich um seinen rechten Bizeps wand. Sie holte tief Luft und pustete sie in einem Schwall aus, weil das, was ihre Augen sahen, in ihrer Bikinizone eine unerwartete Hitzewelle auslöste. Flink zupfte sie ihre Haarsträhnen zurecht, öffnete einen weiteren Knopf an ihrer Bluse und zwinkerte sich im Spiegel Mut zu.

Nick war an einen Rundständer getreten. Ohne sichtliches Interesse zog er ein kieselgraues Button-Down-Hemd hervor und hielt es in die Höhe.

»Sie sollten mehr Farbe wagen. Dieses Teil würde ich eher Ihrem Bruder empfehlen.«

Er wirbelte herum. Nach der ersten Schrecksekunde zog ein Lächeln über sein Gesicht, das Gaby wohlig erschaudern ließ.

»Hallo Nick.«

»Gabrielle! Hallo!« Achtlos legte er das Hemd auf den Ständer. »Ich … Ich habe Sie nicht kommen sehen.«

»Dann sind wir quitt.« Sie grinste schelmisch. »Ich sage nur Topfpflanzendschungel.«

»Oh nein!«, wehrte er ab. »Ich habe nicht gegähnt.«

»Obwohl das Hemd dermaßen langweilig ist, dass ich Ihnen das Gähnen sofort verziehen hätte.« Betont geschäftig hing sie den Bügel zurück. Nicks auffällig unauffällige Blicke prickelten wie Champagner in ihrem Dekolleté. Verdammt! Ein solcher Kerl gehörte einer Frau niemals allein. Gleichzeitig gab das böse Mädchen in ihr der Vernunft einen Schubs. Was sprach dagegen, sich in der Welthauptstadt der Oberflächlichkeiten mit einem sexy Schokoriegel darüber hinwegzutrösten, dass Mr. Right nicht existierte?

Nonchalant legte sie eine Hand dorthin, wo das Tattoo ihre Neugier weckte. Das Motiv, zwei ineinander verwobener Bänder zog sich in Rot und Schwarz etwa drei Finger breit um seinen Oberarm. Mit wem fühlte er sich derart verbunden, dass er den symbolischen Zusammenhalt für alle Zeiten auf der Haut trug?

»Kommen Sie.« Ihre Stimme gab nichts von ihren Gedanken preis. »Ich glaube, ich habe genau das Richtige für Sie.« Vor einem Pyramidentisch blieb sie stehen. »Suchen Sie etwas fürs Business oder darf es casual sein?«

»Nun …« Er betrachtete skeptisch die edel schimmernde Kollektion aus unifarbenen und bunt gemusterten Hemden. »Angenommen, ich wollte eine schöne Frau zum Essen einladen, würde ich sie ungern blamieren, indem ich wie ein Papagei im Restaurant einlaufe.«

Gabys Herz machte einen Salto. Sie zog ein saphirfarbenes Hemd hervor, checkte die Größe und faltete es auseinander. Insgeheim lobte sie sich dafür, dass ihre Finger nichts von ihren Salsa tanzenden Gefühlen widerspiegelten. »Ein blauer Ara ist ein wunderschöner Vogel«, sagte sie und reichte ihm das Kleidungsstück. »Und diese Farbe harmoniert perfekt mit Ihren Augen.« Davon konnte sie sich sofort überzeugen. Nick hielt das Hemd in der Hand, rührte sich jedoch keinen Millimeter von der Stelle. Nur sein Blick schien seine Fühler bis in ihre Seele auszustrecken. Sie begann, an ihrem Kragen zu zupfen. Prompt umspielte ein wissendes Lächeln seine Mundwinkel.

»Dort drüben«, stieß sie hervor, als sie die fast greifbare Spannung zwischen ihnen nicht länger ertrug. Sie deutete zu den Umkleidekabinen hinüber. »Sie möchten es doch bestimmt anprobieren.«

Wortlos ging er in die angegebene Richtung. Jenna, Gabys Kollegin, trat näher. Sie wies mit dem Kinn auf den zugezogenen Vorhang und hob den Daumen. »Süß!«, wisperte sie. »Sieh zu, dass er das Hemd und dich gleich dazu nimmt.«

Gaby spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Er ist nur ein Kunde«, erwiderte sie ebenso leise.

Jenna rollte mit den Augen. »Klar! Und ich bin nur Shakira.«

Gaby sah ihr nach und fächerte sich Luft zu. »Passt es?«, fragte sie betont geschäftig. Nick öffnete den Vorhang. Für eine Sekunde stockte ihr der Atem, bevor sie sich einen mentalen Klaps versetzte und sich hinter ihrer Berufsdisziplin versteckte. »Sie gucken, als hätte ich Sie in einen rot-grün karierten Sack gestopft, nur weil Sie Farbe nicht gewohnt sind. Schauen Sie hin, Sie sehen fantastisch aus.« Ihre Blicke trafen sich im Spiegel.

»Wenn ich es kaufe, brauche ich eine Gelegenheit, um es anzuziehen.« Er wandte sich zu ihr um. »Haben Sie Lust und Zeit, Samstagabend mit einem Papagei essen zu gehen?«

Sie spitzte die Lippen und presste den Zeigefinger dagegen. Ihr Herz frohlockte, doch sie gab vor, ernsthaft zu überlegen. »Unter einer Bedingung«, erwiderte sie schließlich großzügig. »Wir hören endlich mit dem blöden Sie auf.«

»Wann darf ich dich wo abholen?«

Sie sah ihm nach, bis er zwischen den Fahrzeugen auf dem gegenüberliegenden Supermarktparkplatz verschwand. Wieder einer, der sie gegen ein anderes Spielzeug eintauschen würde, sobald der Reiz des Neuen verflogen war. Dennoch durchforstete sie in Gedanken ihren Kleiderschrank nach dem passenden Outfit für Samstagabend.

***

Der Zettel mit ihrer Adresse und Telefonnummer drückte wie ein scharfkantiger Stein in Nicks Hosentasche. Die Tüte lag auf dem Beifahrersitz. Der Schriftzug des Geschäfts nahm in seiner Fantasie die Gestalt eines zähnefletschenden Monsters an, das ihn mit hämischem Gelächter verspottete.

Wie kam er dazu, sich mit Gabrielle zu verabreden? Von diesem Hemd ganz zu schweigen! Warum war er nur zu diesem Laden gefahren? Er hatte nie vorgehabt, etwas zu kaufen. Verdammte Scheiße, genügte es nicht, dass Leonie ständig neue Kleidung benötigte, weil sie wie Spargel in die Höhe schoss? Er konnte sich keine teuren Klamotten leisten, auch wenn Gabrielle in Ekstase geriet, weil die Federn eines brasilianischen Vogels mit der Farbe seiner Augen harmonierten. Sie hielt ihn bestimmt für einen Künstler mit Kohle, schließlich druckte die L.A. Times seine Comics. Außerdem: Wer auf Partys im Beverly Hills Hotel flirtete, lebte selten von Sozialhilfe.

Verdammt, er hatte Gabrielle zum Essen eingeladen! In seinem Oberstübchen musste die letzte Sparbirne durchgebrannt sein! Ein Date! Wo sollte das hinführen? Er konnte nicht einmal mit ihr ins Bett gehen! Wer darauf achtete, ob die Vogelfedern zur Augenfarbe passten, fand eine elektronische Fußfessel sicherlich nicht übermäßig erotisch. Sofort juckte sein Knöchel wie ein Ameisenhaufen. In Sekundenschnelle breitete sich das unerträgliche Kribbeln aus. Eine Hand am Steuer, rieb er über sein linkes Bein. Noch drei Blocks. Er musste unbedingt laufen gehen, um diesem Juckreiz zu entkommen.

Er stellte den Wagen an der Rückseite des Hauses vor der Garage ab. Die verhasste Tüte in der Hand eilte er um die Ecke – und sah den Nissan seines Bewährungshelfers vor den Pollern stehen, die den Gehweg vom Kanal trennten.

»Hallo Nick. Ich dachte, ich schaue mal wieder vorbei.« Warwick stieß sich vom Kotflügel seines Wagens ab und hob seine Aktentasche vom Boden. »Wie geht es Ihnen?«

»Guten Tag, Sir.« Widerstrebend schüttelte Nick die dargebotene Hand. »Danke, alles okay. Gib Ruhe, Buddy!« Der Hund kläffte das Haus zusammen, als müsse er eine Horde Einbrecher in die Flucht schlagen.

»Sie waren einkaufen?« Warwick deutete auf die Tüte.

»Ja«, erwiderte Nick. Craigs Regel Nummer eins: Gib niemals mehr preis, als die Frage erfordert. »Einen Moment, ich sperre Buddy ins Auto.« Warwicks Schiss vor Buddy war die einzige Genugtuung an den entwürdigenden Besuchen.

Der Bewährungshelfer winkte ab. »Gleich. Ich würde vorher gern in den Wagen sehen.«

»Natürlich.« Nick reichte ihm die Schlüssel und wartete ab. Die Gegenwart seines Aufpassers steigerte den Juckreiz ins Unerträgliche. In seinem Magen rumorte es. Obwohl er im Schatten stand, rann ihm der Schweiß aus allen Poren. Sein Shirt klebte ihm am Rücken. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Er befolgte peinlich genau sämtliche Auflagen und besaß nichts, was ihm Ärger einbrachte, spulte er sein stummes Mantra ab. Doch die Scham überwog, dass ein Fremder jederzeit sein Zuhause auf den Kopf stellen durfte.

»Sie können den Hund holen.« Warwick folgte Nick bis zum Gartentor, dort wartete er in sicherer Entfernung. Die Haustür war kaum einen Spaltbreit geöffnet, da schob Buddy seine Schnauze hindurch und zeigte seine Zähne.

»Ruhig, Kumpel, ganz ruhig.« Nick zerrte den knurrenden Hund am Halsband zum Kofferraum. »Mach’ keinen Aufstand, sonst dauert’s noch länger«, raunte er ihm ins Ohr. Er öffnete die vorderen Fenster ein Stück, damit Buddy nicht erstickte, bevor er Warwick ins Wohnzimmer eintreten ließ.

»Die Kleine ist in der Schule?«

Die Kleine hat einen Namen, du Saftsack! »Ja.«

»Wie läuft es mit ihr?«

»Gut.« Die Tür im Rücken, verfolgte Nick jeden Handgriff Warwicks. In höfliche Konversation verpackt spulte der seinen üblichen Fragenkatalog ab. Dabei hob er die Sitzkissen auf dem Sofa an, schaute in sämtliche Schränke und kontrollierte die Schubladen in der Küche. Nachdem er auch die Gästetoilette und die Garage inspiziert hatte, deutete er zur Treppe.

»Ich darf mich oben umsehen?«

»Klar.« Nick wollte dem Kerl »Nein, du hast in Leonies Zimmer nichts verloren!« entgegenschleudern, stattdessen sah er missmutig zu, wie Warwick sein Schlafzimmer und das angrenzende Atelier auseinandernahm, ehe er Leonies Sachen durchwühlte. Der übliche Papierkram folgte, bevor Warwick seine Unterlagen zusammenraffte. »Wir sehen uns übernächste Woche im Büro. Einen schönen Nachmittag noch, Nick.«

Eilig befreite Nick Buddy aus dem Auto. »Neuneinhalb Monate noch, Kumpel. Danach sehen wir den Affenarsch hoffentlich nie wieder.« Niedergeschlagen kraulte er Buddys Ohren. »Komm, lass uns aufräumen.«

Zuerst riss er die Laken von Leonies Bett und zog frische Wäsche auf. Anschließend wischte er jedes Teil, das Warwick berührt hatte, mit einem feuchten Lappen ab. Millimetergenau setzte er Puppen und Plüschtiere an ihre angestammten Plätze zurück und rückte die Sachen auf dem Schreibtisch zurecht. Erst, nachdem sämtliche Spuren beseitigt waren, ging er nach unten.

Auf dem Esstisch lag die achtlos hingeworfene Tüte. Der Anblick traf ihn wie ein Fausthieb in den Unterleib. Müde sank er auf die Treppenstufen. Buddy warf ihm einen Gummiknochen in den Schoß, hockte sich zwischen seine Beine und legte den schweren Kopf auf seine Oberschenkel. Nick vergrub Gesicht und Hände im Hundefell. Ihm blieb keine Zeit mehr für einen Run, ehe Leonie aus der Schule kam. Also biss er die Zähne zusammen und sog Buddys uneingeschränkte Zuneigung in sich auf, um sich davon abzuhalten, seinen Schmerz hinauszuschreien und sich die Fingernägel in die Haut zu bohren.

»Das Mär… Mär… Mär-chen …« Angestrengt quälte sich Leonie durch den kurzen Text. Ihr Lesebuch und ein Plakat mit einem Alphabet-Comic lagen vor ihr auf dem Tisch, ihre Fingerspitze fuhr unter dem gesuchten Wort hin und her.

»Nein, kein Märchen. Das ist kein r, Schatz. Da geht ein Strich nach oben. Schau.« Geduldig deutete Nick auf die Tabelle, auf der Donald Duck mit kleinen und großen Ds jonglierte.

»Ein d?« Die Spitze ihres Daumens zwischen den Zähnen, verglich sie die Buchstaben. Nick zog ihr behutsam die Hand vom Mund weg. »Genau. Also ist das kein Märchen, sondern ein?«

»… Mäd… Das Mädchen!«

»Und was macht das Mädchen?«

»Das Mädchen ho-lt … ssssi…ch Soh… Soh…«

»Kein O. Wenn du einen Kringel siehst, müssen wir dir eine Brille kaufen. Eine riesengroße, mit furchtbar dicken Gläsern wie die von Mr. Jefferson.«

»Lesen ist doof!« Leonie rammte die Ellenbogen auf den Tisch, ballte die Fäuste und stützte den Kopf darauf ab.

»… sagte die Tochter, deren Vater mit Büchern für Fleischbällchen und Erdbeereis im Kühlschrank sorgt«, konterte Nick. Leonie rollte mit den Augen.

»Du malst Bilder. Die muss man nicht lesen.«

»Zuerst schreiben die Autoren die Texte, anschließend male ich dazu die Bilder. Könnte ich nicht lesen, müssten wir verhungern, und es gäbe kein Erdbeereis mehr.«

»Ach Mann, das ist doof!« Sie schob die Unterlippe vor und seufzte.

»Ich weiß.« Er streichelte ihr über den Hinterkopf. »Versuch’s noch mal. Was holt sich das Mädchen?«

Chip und Chap auf der Tabelle brachten sie der Schokolade näher. Mühsam kämpfte sie sich durch die nächsten Sätze.

»Ich lern’ das nie, Daddy!« Entmutigt kletterte sie auf seinen Schoß und schmiegte sich in seine Arme.

»Natürlich lernst du das. Hab Geduld, Mäuschen. Heute war nicht dein allerbester Tag, dafür klappt es morgen umso besser, du wirst sehen.« Zumindest hoffte er das. Derartige Rückschläge waren selten geworden, seit sie eine Lerntherapie besuchte. Ihre Hoffnungslosigkeit tat ihm in der Seele weh. Er trug die Schuld an ihrer Leseschwäche. Diese Tatsache mochten die fröhlichen Comics, mit denen er ihr zu helfen versuchte, nicht zu beschönigen.

»Gehen wir mit Buddy raus?«

»Fragen wir ihn.« Nick drehte sich um, soweit es die kleine Last auf seinen Beinen zuließ. Buddy war nirgendwo zu sehen. »Hey, Kumpel, Lust, die Möwen auf Trab zu bringen?«, rief er durchs Haus. Knarrende Dielen im Obergeschoss verrieten, dass Buddy von Leonies Bett, seinem verbotenen Lieblingsplatz, sprang. Sekunden später flitzte er die Treppe herunter und kam knapp vor der Haustür zum Stehen. Erwartungsvoll hechelnd sah er sich um.

»Ich warte auf den Tag, an dem seine Bremsen versagen und wir ein riesiges Loch in der Tür haben, nachdem er kopfüber in den Kanal gepurzelt ist.«

Kichernd glitt Leonie von ihm herunter. »Dann schwappt eine Welle bis in die Küche.«

»Und mit etwas Glück hopst uns ein Fisch direkt in die Pfanne.« Dadurch gäbe es ein Abendessen gratis, was bedeutete, dass er zehn Dollar von diesem vermaledeiten Hemd raushätte …

»Los, Buddy wartet.« Beide Hände um seinen Arm geklammert, versuchte sie, ihn vom Stuhl zu zerren. Er stemmte sich dagegen, bis sie ächzte, dann sprang er unvermittelt auf, packte sie an der Taille und hob sie bis fast unter die Decke. »Ich hab dich lieb, Mäuschen.«

Sie umschlang seinen Hals und gab ihm einen Kuss. »Ich hab dich noch viel lieber, Daddy.«

»Absolut überhaupt mega gar nicht möglich!«

»Dooohoooch!«

»Neihein!«

»Wuff!« Buddy stürmte herbei und rammte Nick den Schädel in die Kniekehlen. Er schwankte. Hart plumpste er zurück auf den Stuhl.

»Autsch!«

Leonie lachte, bis sie Schluckauf bekam, Buddy drängte winselnd zum Aufbruch, Nick rieb sich den Hintern. Selig betrachtete er das lautstarke Chaos, das für ihn alles Glück der Welt bedeutete.

4. KAPITEL

Auf dem Papier haute sich ein Kerl, der große Ähnlichkeit mit demjenigen aufwies, dessen Stift er entsprungen war, mit der flachen Hand gegen die Schläfe. Dadurch fiel ihm auf der anderen Seite eine Frau mit schulterlangen Haaren aus dem Ohr. Während sie durch die Luft segelte, rannte der Typ weg. Im Bemühen, der schönen Sirene schnellstmöglich zu entfliehen, stoben unter seinen Schuhen Funken auf dem Asphalt auf. Weit hinter ihm fing ein Fremder die Frau auf und ging mit ihr davon.

Wenn es so einfach wäre, sich Gabrielle aus dem Kopf zu schlagen! Die singenden Gänseblümchen auf Nicks Plakat trugen ihre Gesichtszüge, weshalb er die bereits fertigen Skizzen in die Tonne treten und neu ansetzen musste. Lief er seine Runde mit Buddy, sobald Leonie in der Schule war, hörte er diese Stimme mit dem verführerischen Akzent, der ihn an Jazz und Schaufelraddampfer denken ließ. Er konnte nicht schnell genug rennen, um seinen Gefühlen zu entkommen. Im Laden hatte Gabrielle ihre Hand auf sein Tattoo gelegt. Eine federleichte, unbedachte Berührung, die ihm seither die Haut versengte. Nachts geisterte sie durch seine Träume. Tagsüber überlegte er, was sie wohl gerade tat. Er steckte in einem Teufelskreis fest und suchte vergeblich nach dem Notausgang.

Leonie und Buddy verbrachten das Wochenende bei Kate. Und bei Theo … Obwohl Nick nicht zeichnete, verschoben sich die Bilder vor seinen Augen. Der Mann im Comic wuchs zu einer übermächtigen Gestalt heran. Zu seinen Füßen kauerte ein Kind, das, einer Maus in der Falle gleich, auf den vernichtenden Schlag der Katze wartete. Nicks Stift fiel zu Boden. Panische Furcht ergoss sich wie ein eisiger Schwall Wasser über ihn und presste ihm jegliche Luft aus den Lungen. Er zuckte unter Schlägen zusammen, die keine sichtbaren Spuren hinterließen.

Es dauerte, bis er den Weg zurück in die Realität fand. Schweißgebadet hing er im Sessel. Sein Kopf wollte rennen, sein Körper fühlte sich an, als hätte er bereits einen Sprint nach Malibu hinter sich.

Malibu … Abgrundtief seufzend fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare. Ein Wrack wie er war garantiert genau der Typ, mit dem Gabrielle den Abend verbringen wollte!

Gabrielles Adresse entpuppte sich als ein helles Gebäude mit schmalen Balkonen und überdachten Außentreppen in Palms. Adrette Appartementhäuser, von Grünstreifen, Bäumen und blühenden Hecken umgeben, prägten das Wohnviertel. Nick parkte hinter einem sonnig leuchtenden Cabriolet, machte jedoch keine Anstalten auszusteigen. „GABYS“ verkündete das Nummernschild. Der schnittige Flitzer passte zu ihr. Fröhlich, unbeschwert und temperamentvoll. Außerdem schimmerte er nagelneu, wohingegen sein Explorer so alt wie Leonie war. Ein neues Auto konnte er sich noch weniger leisten als dieses Hemd, das sich zwar überaus angenehm anfühlte, ihm aber wie Schmirgelpapier am Gewissen scheuerte.

Raus mit dir, du Memme! Es ist nur ein Abendessen! Er trat dem Feigling in seinem Inneren in den Hintern. Deshalb lag auch ein Blumenstrauß auf dem Beifahrersitz. Weil es nur ein Abendessen und kein Date war.

Wenn er zusah, dass er wegkam, würde Gabrielle ihn einen dämlichen Hornochsen schimpfen, sich mit Schokoladeneis über den verpatzten Abend hinwegtrösten und dabei am Telefon mit einer Freundin Männer im Allgemeinen und ihn im Besonderen verfluchen. Zumindest reagierten die Frauen im Fernsehen auf diese Weise, wann immer ein schwachsinniger Volltrottel eine Wahnsinnsbraut versetzte.

Eine ausgedehnte Runde laufen, anschließend die Zeichnungen erneuern, die er in den Müll geschmissen hatte. Zwischendurch eine Tiefkühlpizza am Zeichentisch, ein … Er schreckte zusammen, als jemand an die Scheibe klopfte, und blickte in Gabrielles Gesicht. Hastig öffnete er das Fenster. Sie beugte sich herunter.

»In New Orleans klingeln die Männer, wenn sie eine Frau zum Dinner abholen«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton. »Oder ist es in dieser verrückten Stadt üblich, dass die Frau auftaucht, sobald sie den Motor brummen hört, um euch das Aussteigen zu ersparen?«

»Nein. Nein, ich … Tut mir leid, ich war in Gedanken. Hast du lange …?« Er sah auf seine Armbanduhr und fluchte verhalten. »Ich sitze nicht wirklich seit einer Viertelstunde hier herum, oder?«, fragte er kleinlaut.

»Weiß ich nicht. Entdeckt habe ich dich vor elf Minuten. Ich dachte, ich sehe lieber nach, ob du eingeschlafen bist, bevor die Nachbarn die Polizei rufen, weil ein Fremder das Haus beobachtet.«

»Das fehlt mir gerade noch!« Erst ihre fragende Miene sagte ihm, dass er laut gedacht hatte. Er fingerte am Sicherheitsgurt. »Hey, spulen wir noch mal zurück? Du gehst in deine Wohnung, ich klingle artig …«

»Du bist süß!« Damit drehte sich Gabrielle um. Auf ihrem Weg um die Motorhaube herum wippte sie kokett mit den Hüften, was längst vergessenes Leben in seinen Lenden weckte. Durch die Fenster auf der Beifahrerseite verfolgte er, wie sie auf den bleistiftdünnen Absätzen zierlicher Riemchensandalen zur Treppe stöckelte. Oben angekommen, winkte sie. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Er brauchte ein Weilchen, um sein aufwallendes Verlangen zur Ordnung zu rufen.

***

Hinter der Wohnzimmergardine verborgen beobachtete Gaby ungeduldig, wie Nick ausstieg und sein Jackett überzog. Anschließend nahm er einen Strauß Rosen vom Beifahrersitz.

»Süß!«, wiederholte sie mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer. »Ein bisschen merkwürdig, aber … gefährlich süß.«

Er sah zum Dahinschmelzen aus. Das intensiv blaue Hemd bildete einen harmonischen Kontrast zu einem silbergrauen Anzug, den sie nicht besser hätte auswählen können. Die beiden oberen Knöpfe des Hemds standen offen, was dem Outfit eine gewisse Lässigkeit verlieh.

Ein Gürtel fehlt, überlegte sie. Dazu würde der neue Tommy Hilfiger passen, der letzte Woche reingekommen ist. Sie kicherte, weil sie die Verkäuferin in sich nie ganz in den Feierabend schicken konnte.

Auf der Treppe verschwand Nick aus ihrem Sichtfeld. Gaby wartete, bis er klingelte, atmete durch und öffnete.

»Hallo Nick, wie schön, dass du da bist«, strahlte sie in gespielter Überraschung.

»Hallo Gabrielle. Hier. Für dich.« Ungelenk hielt er ihr den Blumenstrauß entgegen. Halblange Rosen in allen Farben des Feuers mit Schleierkraut. War es Zufall, oder hatte er bemerkt, dass sie alle Sonnentöne liebte?

»Sie sind wunderschön. Komm rein. Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein, danke. Entschuldige bitte die Verspätung. Hätte ich geahnt, wie zauberhaft du aussiehst, wäre ich schon vor Stunden hiergewesen.« Sein Blick löste etwas in ihr aus, das wie Champagner durch ihre Adern prickelte. Sie ging in die Küche, sich vollauf bewusst, dass er ihr auf den Po guckte, bis sie hinter die Frühstücksbar trat.

»Du hast es gemütlich. Diese Terrakottatöne in Verbindung mit den hellen Möbeln … Gefällt mir. Hat etwas Mediterranes. So ähnlich stelle ich mir die Häuser in der Toskana vor.« Die Hände in die Hosentaschen geschoben, schaute er sich um.

»Die sind allerdings bestimmt zigmal größer«, gab sie zu bedenken. Sie zupfte die Rosen in der Vase zurecht. »Ich wollte eigentlich näher am Strand wohnen. Dann habe ich die Mietpreise gesehen.«

»Wenn ich nicht jeden Tag Sand unter den Füßen spüre, bekomme ich Entzugserscheinungen.« Nick betrachtete die Bilder an den Wänden, farbenfrohe Szenen aus den Gassen des French Quarters. »Haben Straßenkünstler die gemalt?«, fragte er.

»Ja.« Gaby trat neben ihn. »Ich finde, sie spiegeln eine ehrliche Leidenschaft wider. Ich habe mich immer gefragt, warum diese Leute für die Straße malen. Andererseits: Wären ihre Bilder in teuren Galerien ausgestellt, hingen sie nicht hier.«

Er sah sie von der Seite an. »Du bist eine bemerkenswerte Frau, Gabrielle«, murmelte er. »Du gibst dich nicht mit der hübschen Oberfläche zufrieden, sondern siehst genau hin, was es darunter zu entdecken gibt.«

Es gelang ihr nicht, den melancholischen Zug um seinen Mund zu deuten. Er strahlte eine unterschwellige Furcht aus, die sich noch verstärkte, weil er die Arme wie einen Schutzpanzer vor seinem muskulösen Oberkörper verschränkt hielt.

»Und du willst nicht, dass ich mehr als dein Äußeres sehe?«, entgegnete sie beklommen. Ohne ihre Frage zu beantworten, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Bilder. Er wirkte unendlich weit fort. Zaghaft legte sie eine Hand an seinen Bizeps. Das riss ihn aus seiner Trance.

»Wir müssen los, sonst ist die Reservierung futsch«, drängte er übertrieben munter. »Außerdem sterbe ich vor Hunger.«

Sie nahm ihre Tasche und einen Sommermantel vom Haken und folgte ihm zum Auto. Dabei wurde sie das Gefühl nicht los, dass er in Gedanken gegen eine Schlangengrube ankämpfte.

»Wohin fahren wir überhaupt?«, fragte sie unterwegs.

»Malibu. Kennst du das Kahuna’s?« Er war zurück, der gewohnt heitere Ton in seiner Stimme.

Erleichtert schüttelte Gaby den Kopf. »Nein. Ich war noch nie in Malibu.« Selbst in der schwachen Beleuchtung, die von den Straßenlaternen ins Wageninnere fiel, sah sie seine Fassungslosigkeit.

»Du lebst in L.A. und warst noch nie in Malibu? Honey, wo verplemperst du deine Zeit, wenn du keine Papageienhemden verkaufst?«

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