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Kristallblau - Magisches Blut

Als Buch hier erhältlich:

Die neue Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Amy Ewing!

»Unser Blut ist magisch. Wir sind Cerulean.« Diese Sätze hat Sera schon so oft gehört, aber ihre Fragen über die Vergangenheit beantwortet niemand. Sera spürt, dass die Hohepriesterin wie auch ihre Mütter ein Geheimnis hüten. Als sie ausgewählt wird, ihre Welt zu retten, und sich dafür opfern soll, fügt sich Sera dennoch ihrem Schicksal. Doch weder stirbt sie, noch kann sie zunächst ihre Aufgabe erfüllen. Stattdessen muss Sera in einer völlig anderen Welt einen Kampf um Leben und Tod führen.

  • »Gut durchdacht, mit überraschenden Wendungen und unberechenbaren Charakteren, bietet die Handlung nicht nur reichlich Spannung, sie bringt auch zum Nachdenken, denn die Themen Liebe und Sexualität nehmen hier wichtige Rollen ein.« ekz Bibliotheksservice
  • »Verschwörungen und Geheimnisse tragen zusätzlich dazu bei, dass dieses Buch unglaublich einnehmend ist.« ekz Bibliotheksservice

  • Erscheinungstag: 19.08.2019
  • Aus der Serie: Kristallblau
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 400
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800019

Leseprobe

Für Molly und Kristen,

meine McLellan-Cousinen

und Schwestern im Geiste

ERSTER TEIL

Die Stadt über dem Himmel

1

Wir sind Cerulean. Unser Blut ist magisch.

Diese Sätze hatte Sera seit ihrer Geburt von ihren Müttern gehört, als sie noch gar nicht sprechen, denken oder verstehen konnte, was sie bedeuteten. Jedes cerulanische Kind wusste, dass sein Blut magische Kräfte besaß: Es konnte beispielsweise heilen und die besondere Verbindung des Blutbunds aufbauen.

Doch all ihre Magie war Sera heute keine Hilfe.

Im Wolkenspinnerholz war es kalt – dies war der einzige Ort in der Stadt über dem Himmel, an dem keine angenehme Temperatur herrschte. Als Sera den Arm ausstreckte, um eine Handvoll Wolken, zart wie Spinnweben, aus dem Laub eines Nebelbaums zu ziehen, knirschte das Gras unter ihren nackten Füßen. Die Gespinste schwebten zu höheren Blättern hinauf, unerreichbar für Sera.

»Verflixt und zugenäht!«, schimpfte sie. Mehrere Mädchen in ihrer Nähe zuckten zusammen. Koreen sah sie vorwurfsvoll an und warf die leuchtend blauen Haare nach hinten. Demonstrativ sponn sie ihre Wolke zu einem hauchdünnen Faden, als wollte sie Sera zeigen, wie man es richtig machte. Sera schaute auf das Wolkenkleid an ihrem Leib hinab, das ihre Grünmutter für sie gewebt hatte. Nie im Leben könnte sie genug Wolken spinnen, um selbst eins zu weben.

»Du darfst ihnen nicht nachlaufen«, sagte Leela und erhob sich von ihrem Spinnrad, wo bereits eine dicke Spule gesponnener Wolken darauf wartete, zu Stoff gewebt zu werden. »Du musst warten, bis sie zu dir kommen!«

»Du hast gut reden«, gab Sera zurück. »Wir sind jetzt seit drei Wochen in diesem Wald, und ich bin noch genauso ungeschickt im Wolkenspinnen wie am Anfang!«

»Bald geht es ja weiter in die Sternsteinminen«, sagte Leela. »Vielleicht findest du da deine Berufung.«

Leela war Seras beste Freundin. Eigentlich ihre einzige. Leela störte sich nicht an Seras Gefühlsausbrüchen und endlosen Fragen, auch nicht an ihrem lauten Lachen, das manchmal die Vögel in der Voliere erschreckte.

Leela schaute so hoffnungsvoll drein, dass Sera es nicht übers Herz brachte, ihrer Freundin zu sagen, dass sie wahrscheinlich auch nicht für den Abbau der kostbaren Edelsteine in den Minen geeignet war. Bis jetzt hatte sie noch keinen blassen Schimmer, was ihre Aufgabe in der Stadt sein könnte. Dabei wurde sie bald achtzehn und damit erwachsen. Sera befürchtete, die Hohepriesterin würde sie als Novizin in den Tempel stecken, weil niemand wusste, was man sonst mit ihr anfangen sollte. Dabei konnte sich Sera absolut nichts vorstellen, wozu sie weniger Lust hätte. Natürlich liebte sie Mutter Sonne, doch sie hatte nicht das Bedürfnis, zum Beweis ihr zu Ehren den ganzen Tag Lieder zu singen oder den Tempel zu putzen.

Seit einem Jahr waren die Unterrichtsstunden bei ihrer Grünmutter vorbei; Sera und die anderen jungen Cerulean hatten damit begonnen, die verschiedenen Handwerkskünste in der Stadt über dem Himmel kennenzulernen. Sie wusste, dass ihre Grünmutter gehofft hatte, ihre Tochter würde Wolkenspinnerin werden – vor Seras Geburt war sie auch eine gewesen, sie hatte alle Kleider von Sera gewoben. Ihre Orangemutter sähe es hingegen gerne, wenn Sera Novizin würde, aber wahrscheinlich hatte sie die Hoffnung angesichts der ständigen Verspätungen ihrer Tochter zum Abendgebet längst aufgegeben. Seras Violettmutter spielte wunderschön auf der Miniaturharfe – sie wurde immer gebeten, auf Festen und Feiern zu musizieren –, doch Sera besaß keinerlei musisches Talent, was ihre Violettmutter früh eingesehen und weswegen sie Sera auch nie bedrängt hatte. Für die Voliere war Sera zu ungestüm; beim Schafehüten auf der Weide war sie schnell gelangweilt und ließ sich ablenken; zur Pflege der Bienen in der Imkerei fehlte ihr schlicht die Geduld.

»Vielleicht ist Sera die erste Cerulean ohne richtige Berufung«, sagte Koreen mit honigsüßer, gehässiger Stimme.

Treena und Daina tauschten einen Blick aus. Daina hatte ihre Berufung bereits gefunden: Sie würde sich um die Obstbäume kümmern und hatte schon den Segen der Hohepriesterin erhalten. Bald würde sie ihre Arbeit in den Obstgärten aufnehmen. Und Sera war sich ziemlich sicher, dass Treena in den nächsten Tagen um den Segen bitten würde, Hebamme werden zu dürfen.

»Natürlich findet sie ihre Berufung noch«, widersprach Leela empört.

»Hat sie bis jetzt aber noch nicht«, warf Daina ein.

»Ich auch nicht«, schoss Leela zurück.

»Ja, aber …«

»Ich würde mich gerne um das Band kümmern«, platzte es aus Sera heraus. Sie wusste nicht, woher die Worte gekommen waren, doch kaum hatte sie sie ausgesprochen, wusste sie, dass es genau so war. Die anderen Mädchen starrten sie an, als sei ihr gerade ein zweiter Kopf gewachsen.

»Um das Band?«, stieß Elorin aus.

»Es hat sich noch nie jemand um das Band gekümmert«, höhnte Koreen. »Das ist seit Hunderten von Jahren gar nicht mehr nötig. Das war doch überhaupt der Grund, warum unsere Stadt an den Planeten da unten gebunden wurde.«

Die Stadt über dem Himmel war nicht wie die vielen Planeten des Universums – sie war überhaupt kein Planet. Sie war keine Kugel, sondern flach, eine ovale Scheibe mit einem Tempel in der Mitte und zwei weitläufigen Gärten zu beiden Seiten. Eine dünne magische Membran spannte sich über ihren Rand, umschloss sie wie ein Ei, damit keine gedankenlos herumlaufende Cerulean ins Nichts stürzte. Da es in der Stadt weder Regen noch Schnee gab, genau genommen überhaupt kein Wetter und somit auch kein Wasser, war sie mithilfe eines Bands an einem Planeten befestigt. Es war eine feingliedrige magische Kette aus goldenen, silbernen und blauen Elementen, unsichtbar für das menschliche Auge, aber für jede Cerulean problemlos zu erkennen. Wie eine Nabelschnur versorgte sie die Stadt mit Leben – sie sog Nährstoffe aus dem Planeten, alle vorstellbaren Mineralien und Moleküle, so wie Gras über die Wurzeln Wasser aus dem Boden zieht. Das Band sorgte dafür, dass die Große Mündung immer gefüllt war und alle Obstwiesen Wasser hatten. Es hielt die Luft rein und die Tiere gesund.

Seras Grünmutter hatte erzählt, wie gefährlich die Reise zu diesem Planeten vor über neunhundert Jahren gewesen war, nachdem die Große Trauer das Leben der Cerulean unwiederbringlich verändert hatte. Es hatte sehr lange gedauert, den grün-blau-braunen Himmelskörper unter ihnen zu finden. Fast wäre die Mündung völlig ausgetrocknet. Die Mondblumenfelder waren verdorrt und verweht, die Silberschafe verdursteten allmählich.

»Woher wollen wir denn wissen, dass das Band intakt ist?«, sagte Sera zu Koreen. »Meine Grünmutter hat mir erzählt, dass es früher Cerulean gab, die es überprüften und der Hohepriesterin Bescheid sagten, wenn es Zeit wurde weiterzuziehen. Früher ist die Stadt doch ständig umgezogen, oder? Jetzt sind wir schon fast seit tausend Jahren an einem Fleck.«

»Weil Mutter Sonne uns ein wunderbares Geschenk gemacht hat«, erwiderte Elorin ehrfürchtig. Sie würde mit Sicherheit als Novizin in den Tempel gehen. »Dieser Planet hat so viele Rohstoffe, dass wir nicht mehr weiterziehen müssen.«

»Aber eigentlich ist der Wechsel doch unsere Bestimmung!«, rief Sera. »In den alten Geschichten ziehen die Cerulean von einem Planeten zum nächsten, manchmal sogar zwei Mal in einem Jahr!«

»Keine Ahnung, was deine Grünmutter dir erzählt hat«, giftete Koreen. »Meine hat nie Cerulean erwähnt, die sich um das Band kümmern.«

Die Grünmütter waren Erzieherinnen. Sie erzählten ihren Töchtern die Geschichten und Legenden des Volks, so wie sie von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden. Die Cerulean besaßen weder Bücher noch eine Schriftsprache, nur die Symbole an den Tempeltüren in der Sprache von Mutter Sonne, die allein die Hohepriesterin entziffern konnte.

»Vielleicht, weil du nie gefragt hast«, murmelte Sera.

»Ganz abgesehen davon, dass wir hier in Sicherheit sind«, fuhr Koreen fort. »Was ist, wenn wir uns auf die Suche nach einem anderen Planeten machen und keinen finden? Was ist, wenn wir losziehen, und es kommt wieder eine Große Trauer? Willst du das vielleicht, Sera?«

»Nein, natürlich nicht!«, erwiderte sie empört.

Das, was sie die Große Trauer nannten, war auf dem letzten Planeten passiert, an den die Stadt gebunden gewesen war. Es war die schlimmste Tragödie in der cerulanischen Geschichte – zweihundert Bewohnerinnen waren von den Menschen auf dem Planeten ermordet worden; die Stadt war gezwungen gewesen, vorzeitig weiterzuziehen.

Sera wollte nicht, dass so etwas je wieder geschah. Sie liebte ihre Stadt, von ganzem Herzen. Manchmal war ihr nur ein wenig … nun ja, langweilig. Sie hatte sich so an den Planeten unter sich gewöhnt, dass sich ihr die Formen der zwei Länder dort, Kaolin und Pelago, ins Gehirn gebrannt hatten. Sie hätte sie wahrscheinlich im Schlaf nachzeichnen können: Kaolin, die gewaltige Landmasse in Form eines schiefen Sterns, und Pelago als Ansammlung Tausender Inseln. Außerdem hatte Sera alle Informationen über die Länder gesammelt, die sie von ihrer Grünmutter bekommen konnte. Natürlich konnte die nur das weitergeben, was deren Grünmutter ihr beigebracht hatte, und so weiter und so fort. Sera fragte sich immer, welche Geschichten verloren gegangen oder im Laufe der Jahrhunderte verändert worden waren. Im Moment hatte sie das Gefühl, nichts Neues mehr lernen zu können. Solange sie also mit diesem so vertraut wirkenden Planeten verbunden waren, besaß nur noch das Band selbst etwas Geheimnisvolles. Man konnte es vom Rand der Stadt aus erkennen, eine feine bläulich-silbrig-goldene Schnur, die sich durch die Dunkelheit des Alls spannte. Sera fragte sich, wie die Stelle unterhalb der Stadt wohl aussah, wo das Band befestigt war. Ob es wie ein Spinnfaden daran klebte oder stolz aus dem Innern der Stadt hervorspross.

Selbstgefällig lächelnd wechselte Koreen das Thema. »Wie dem auch sei … Meine Orangemutter hat mir gestern Abend etwas anvertraut …«

Die anderen Mädchen beugten sich vor, neugierig, was Koreen zu berichten hatte. Leela verdrehte die Augen, Sera unterdrückte ein Kichern.

»Es gibt bald eine Hochzeitsphase!«

Die Mädchen stießen Freudenschreie aus und klatschten in die Hände. Automatisch jubelte Sera mit – sie hatte noch keine Hochzeitsphase erlebt und es sich immer gewünscht.

»Wann?«

»Bist du dir sicher?«

»Oh, ist das aufregend!«

»Die Hohepriesterin hat im Betkreis davon gesprochen«, ergänzte Koreen und warf ihre Haare wieder nach hinten. Die Haut der Cerulean war silbrig wie das Mondlicht, sie hatten blaue Haare und blaue Augen, passend zur Farbe ihres Bluts, und aus irgendeinem Grund sah das bei Koreen alles besser aus als bei Sera. Sera schaute nicht gerne in den einzigen Spiegel bei sich zu Hause. Sie hatte das Gefühl, ihre Haut sei eine Lüge, die ein Geheimnis verbarg, von dem selbst Leela nichts wusste.

»Mein ganzes Leben lang warte ich schon auf eine Hochzeitsphase«, seufzte Treena. »Stellt euch nur die Kleider vor!«

»Und das Essen!«, sagte Sera mit einem Grinsen, das Treena erwiderte.

»Was glaubt ihr, wie viele Trias es geben wird?«, fragte Elorin.

»Und was meint ihr, wie viele sich schon vor der Phase finden und vielleicht ein wenig Spaß haben wollen?«, sagte Daina mit schelmischem Blick.

»Komm schon, Daina«, sagte Leela. »Die Ehe ist heilig. Mutter Sonne erlaubt einer Trias jedenfalls nur dann zu heiraten, wenn sich die drei wirklich lieben.«

Daina zuckte mit den Schultern. Sie war nicht überzeugt.

Die Mädchen plauderten weiter darüber, wer heiraten könnte und wer in den neu gebildeten Trias welche Mutter sein würde, aus welchen Blumen man Kränze für die Haare flechten konnte und ob die Mädchen endlich zum ersten Mal Nektar probieren und seine Wirkung spüren dürften.

Derweil trieb Sera ihr Spinnrad an und nahm einen Klumpen unbrauchbaren Garns in die Hand. »Das darf ich meiner Grünmutter nicht erzählen«, sagte sie seufzend. »Sie wäre furchtbar enttäuscht.«

»Deine Grünmutter will, dass du glücklich bist«, sagte Leela. »Aber gut – jetzt, wo du sie nicht mehr von morgens bis abends mit Fragen löchern kannst, hat sie immerhin etwas mehr Zeit.«

Sera lachte. »Ich war eine ganz schön anstrengende Schülerin, was?«

»Deine Grünmutter ist eine sehr geduldige Frau.«

Sera ließ den Wolkenklumpen ins frostige Gras fallen. In den ältesten Geschichten hieß es, die Nebelbäume stammten von einem der ersten Planeten, an den die Stadt gebunden gewesen war, lange bevor Sera und ihre Mütter und deren Mütter geboren waren. Ein kalter, düsterer Ort voller Geheimnisse. Auch das gehörte zur Magie des Bandes: Der Planet, an dem es hing, veränderte die Stadt, beispielsweise die Welt der Blumen, Insekten und Gesteine. Die Hohepriesterin nannte das »Planetengaben«. In der Großen Mündung schwammen Fische, deren Schuppen in allen möglichen Farben leuchteten. Über ihren Augen hingen lange gläserne Fäden. Sie stammten vom letzten Planeten, dem, wo alles anders geworden war, wo es zur Großen Trauer kam. Die meisten Cerulean hielten Abstand zu diesen Fischen, Sera hingegen fand sie wunderschön. Sie saß gerne am Ufer und hielt die Hand ins Wasser, bis die Fische kamen und an ihren Fingern knabberten.

Die Gaben des aktuellen Planeten waren eher langweilig: von Pelago kamen gedrungene, struppige Olivenbäume und zarte weiße Muscheln, von Kaolin graue Vögel mit leuchtend roter Brust und ein bronzefarbenes Metall, das in den Sternsteinminen abgebaut wurde.

Leela griff nach Seras Handgelenk und holte sie aus ihren Gedanken.

»Du findest auch noch deine Bestimmung«, sagte sie. »Das weiß ich genau. Außerdem hast du viele Begabungen. Du kannst in zwei Tagen mehr Fragen stellen als Koreen in einem Jahr.« Seras Mundwinkel zuckten, als Leela ihre Talente an den Fingern aufzählte: »Du bist die Schnellste in der ganzen Stadt. Du kannst mehr Kürbisblüten verdrücken als zwölf Cerulean auf einmal. Du kletterst auf alles, was einen Ast hat, ja selbst, wenn es keinen Ast hat – ich weiß, dass du immer noch heimlich oben auf den Tempel steigst.«

Zum tausendsten Mal war Sera dankbar, dass sie Leela hatte. In Wirklichkeit war sie außer zum Laufen und Klettern nur dazu fähig, ihre Mütter zu lieben und mit Leela befreundet zu sein.

Sera hauchte in ihre Hände, um sie zu wärmen, und nahm sich vor, nach dem Abendessen in der Mündung schwimmen zu gehen. Sie hoffte, dass ihre Grünmutter am Abend kochen würde – seit Leela von Kürbisblüten gesprochen hatte, hatte Sera einen Heißhunger darauf bekommen. Ihre Orangemutter probierte sich auch gerne in der Küche aus, aber sie kochte immer alles zu Brei. Seras Violettmutter zog sie deswegen immer auf und schlug ihr vor, sich doch auf Salate zu beschränken.

Plötzlich erscholl aus der Mitte der Stadt der volle, klare Ton der Tempelglocken. Alle Mädchen im Holz hielten inne und schauten in Richtung des Geräuschs. Es war noch keine Zeit fürs Abendgebet. Warum läuteten dann die Glocken?

»Vielleicht wird heute die Hochzeitsphase bekannt gegeben!«, rief Daina.

Es raschelte im Gehölz, und Baarha, eine erwachsene Wolkenspinnerin, eilte keuchend und mit rotem Kopf auf die Lichtung. »Los, Mädchen, kommt! Haltet die Spinnräder an, wir müssen zum Tempel!«

»Was ist denn passiert?«, fragte Leela.

Baarha machte so große Augen, dass Sera das Weiß rund um ihre leuchtenden blauen Pupillen sehen konnte. Sie funkelten vor Bangigkeit. »Mutter Sonne hat gesprochen«, sagte sie. »Jeden Moment soll ein Auswahlritual beginnen. Für die Stadt ist es an der Zeit, weiterzuziehen.«

2

Die Glocken läuteten immer noch, als Sera, Leela und die anderen Mädchen atemlos über Faesas Brücke zur Insel in der Mitte der Großen Mündung liefen, wo sich der Tempel befand.

Sie gesellten sich zu den anderen Cerulean, die über alle drei Brücken herbeiströmten, die die Insel mit dem Rest der Stadt verbanden. Ungewissheit hing wie eine Wolke über ihnen, schwarz wie das Laub des Nebelbaums. Sera suchte ihre Mütter, konnte aber keine entdecken. Vielleicht waren sie bereits im Tempel.

»Was glaubst du, wer wird erwählt, das Band zu durchtrennen?«, flüsterte Koreen.

»Jemand, der stark ist, schätze ich«, raunte Daina zurück. »Vielleicht Freeda?«

Freeda beaufsichtigte die Obstwiesen. Sie hatte breite Schultern und kräftige Arme. Aber Sera glaubte nicht, dass Mutter Sonne eine Cerulean nur wegen ihrer körperlichen Kraft erwählen würde.

»Nein, eher eine, die fromm ist«, behauptete Elorin. »Vielleicht eine Kustodin?«

Sera hoffte nur, dass nicht eine ihrer Mütter erwählt würde. Manche Traditionen mochten im Laufe der Jahrhunderte vergessen oder verloren worden sein, doch die Zeremonien, bei denen das Band gebildet und durchtrennt wurde, gehörten nicht dazu. Und diese Zeremonien forderten Blut – das Opfer einer Cerulean.

»Was meint ihr, warum gerade jetzt?«, fragte Sera. »Was ist passiert, dass die Stadt nach so vielen Jahren umziehen muss?«

»Frag doch deine Grünmutter! Die weiß ja immer alles«, fuhr Koreen sie an.

Sera presste die Lippen aufeinander. Tatsächlich waren die Antworten ihrer Grünmutter auf Seras wichtigste Fragen nur Vermutungen. Niemand wusste noch, ob die Cerulean sich früher wirklich um das Band gekümmert hatten. Niemand erinnerte sich an den Namen des vorherigen Planeten oder wie das Auswahlritual zustande gekommen war, auch konnte niemand zufriedenstellend erklären, warum die Cerulean die jeweiligen Planeten nicht mehr besuchen konnten, obwohl die Große Trauer schon sehr lange zurücklag und der aktuelle Planet ein anderer war.

Ihre Grünmutter hatte Sera alles über Kaolin und Pelago beigebracht, was sie wusste. Sera hatte gelernt, dass man in diesen Ländern einen weiblichen und einen männlichen Elternteil hatte, die gemeinsam so viele Kinder bekommen konnten, wie sie wollten. Ehrlich gesagt, hörte sich das für Sera nicht gut an – sie war froh, das einzige Kind ihrer Mütter zu sein. Ihre Violettmutter könnte erst eine weitere Tochter zur Welt bringen, wenn Sera ihre Heimstatt verließ, um allein zu leben, und dann auch nur, wenn eine neue Geburtenphase verkündet würde. In Kaolin und Pelago gab es keine Geburtenphasen. Dort konnten die Bewohner jederzeit Kinder kriegen, jedes Jahr. Die cerulanische Geburtenphase konnte fünf bis fünfzehn Jahre dauern – die, in der Sera geboren war, hatte sich über acht Jahre erstreckt. Wenn diese Zeit vorbei war, gab es keine Kinder mehr, erst dann wieder, wenn die nächste Phase ausgerufen wurde. In der Stadt über dem Himmel musste die Bevölkerungszahl sorgfältig reglementiert werden. Die letzte Geburtenphase lag achtzehn Jahre zurück.

Sera hätte gern gewusst, wie ein männliches Wesen wohl aussah. Cerulean brauchten keine männlichen Exemplare zur Fortpflanzung; diese Fähigkeit steckte in ihnen selbst. Seras Violettmutter hatte es ihr mit zwölf Jahren erklärt: Sie hatte Eizellen im Bauch. Als die Zeit gekommen war, hatte sich eine davon geteilt, und Sera war aus ihr entstanden. In Kaolin und Pelago brauchte man hingegen ein männliches und ein weibliches Wesen, um ein Kind zu bekommen. Alle Informationen über den Planeten hatten bei Sera eine neue Flut von Fragen ausgelöst, doch ihre Grünmutter wusste nicht annähernd genug über die beiden Länder, um den Wissensdurst ihrer Tochter zu stillen.

»Andere Grünmütter in früheren Zeiten wussten mehr«, hatte sie gesagt. »Besonders in den alten Zeiten, als wir die Planeten noch selbst besuchen konnten. Jetzt gehen wir ja nicht mehr hinunter.«

»Warum nicht?«, hatte Sera gefragt. Die Vorstellung, Kaolin und Pelago zu besuchen, erschien ihr äußerst reizvoll. Wie sahen die Bewohner aus? Wie waren sie gekleidet? Bestanden ihre Heimstätten auch aus Sonnenglas, wie bei ihnen? Lebten sie auch im Licht und in der Liebe von Mutter Sonne?

»Vor langer Zeit«, setzte ihre Grünmutter mit ihrer tiefen, samtigen Stimme an, mit der sie die besten Geschichten erzählte, »reisten die Cerulean zu ihrem Planeten, um die Menschen dort kennenzulernen und die Weiten des Universums besser zu verstehen, das uns alle miteinander verbindet.«

»Wie sind sie denn zu dem Planeten gelangt?«, fragte Sera wissbegierig. Das klang spannend, wie ein richtiges Abenteuer, das sie selbst gerne erleben würde.

»Ich weiß es nicht. Es ist nicht überliefert.«

Sera schnaubte verächtlich. Es waren immer die interessantesten Teile der Geschichte, die im Laufe der Zeit verloren gingen.

»Wie haben sie denn mit den Leuten da gesprochen? Kann das ganze Universum Cerulanisch?«

Ihre Grünmutter hatte gelacht. »Nein, mein Schatz. Im Universum werden viele verschiedene Sprachen gesprochen. Unsere Magie ermöglicht es uns, alle zu verstehen und zu sprechen. Manche waren einfacher zu erlernen als andere – ich weiß noch, dass mir meine Grünmutter eine wunderschöne Geschichte über einen Planeten erzählt hat, der von riesengroßen Vögeln mit bunten Federn und Kämmen in Gold und Jade bewohnt war. Es dauerte damals länger, bis sich die Cerulean mit den Vögeln austauschen konnten, aber schließlich durften sie sogar auf ihnen durch die Luft reiten und den Planeten mit den Augen der Vögel sehen.«

Sera konnte sich nichts Tolleres vorstellen, als auf dem Rücken eines Riesenvogels über einen fremden neuen Planeten zu fliegen.

»Ich weiß nicht, ob es stimmt«, hatte ihre Grünmutter gesagt, als könne sie Seras Gedanken lesen. »Vielleicht hat sich meine Grünmutter die Geschichte auch nur ausgedacht, um mich zu unterhalten.«

»Aber es stimmt, dass die Cerulean auf die Planeten runtergegangen sind, oder?«, hakte Sera nach.

»Ja.«

»Und was war, wenn dort Ungeheuer lebten? Oder wenn die Luft giftig war?«

»Unser magisches Blut schützt uns«, erinnerte ihre Grünmutter sie. »Wir können auch dort noch atmen, wo bunte Vögel und Ungeheuer keine Luft mehr bekommen.«

»Aber wenn wir seit unserer Ankunft hier noch nicht unten auf dem Planeten waren, woher wissen wir dann überhaupt etwas über Kaolin und Pelago?«, fragte Sera.

»Die Hohepriesterin hat Mittel und Wege, das Leben auf einem Planeten zu verstehen, sie kennt seine Bevölkerung und Rohstoffe, manchmal auch seine Bräuche. Aber diese Mittel und Wege sind geheim, die erfährt eine einfache Grünmutter nicht. Dafür braucht es eine stärkere Magie als die, die wir beide besitzen.«

Sera fand, wenn die Hohepriesterin solche Dinge wusste, sollte sie ihr Wissen mit allen teilen. War das Teilen nicht ein wichtiger Aspekt der cerulanischen Kultur?

»Sie hat uns das wenige erzählt, was sie über diesen Planeten weiß, und das reicht«, sagte Seras Grünmutter, die die Empörung ihrer Tochter spürte. »Sie will uns doch nur schützen. Du hast eben von Ungeheuern gesprochen, und damit kommst du der Wahrheit näher, als du vermutest. Nicht alle Ungeheuer haben Hörner, scharfe Zähne und Klauen. Die Menschen auf dem letzten Planeten waren selbstsüchtig und grausam. Sie fassten kein Vertrauen zu den Cerulean, die sie besuchten, und wollten unsere Magie für ihre eigenen Zwecke nutzen.«

Sera hielt die Luft an. »Geht das?«

Ihre Grünmutter hob mahnend einen leuchtenden Finger. »Unsere Magie ist in unserem Blut, aber man kann sie uns nehmen, ja. Und sie kann versiegen, wie im Fall der Schlafkrankheit.«

Die Schlafkrankheit war die einzige Erkrankung, an der eine Cerulean sterben konnte – das Virus vernichtete ihre Magie, und ohne die konnte eine Cerulean nicht überleben. Doch schon in der Zeit vor Seras Geburt hatte es in der Stadt keinen Fall von Schlafkrankheit mehr gegeben. Fasziniert betrachtete sie ihre Hände. Wie sah die Magie wohl außerhalb ihres Körpers aus, getrennt von ihrem Blut?

»Wenn wir also auf den Planeten runtergehen würden, würden die Menschen versuchen, unser Blut zu bekommen?«, fragte Sera.

»Vielleicht. Wir wissen es nicht genau. Aber es ist besser, hier in Sicherheit zu sein, als noch einmal eine Tragödie wie die Große Trauer zu erleben, oder?«

Da war sich Sera nicht so sicher. Natürlich wollte sie nicht, dass eine Cerulean sterben musste, aber gleichzeitig fand sie, dass es vieles gab, was sie nicht wussten. Woher wollten sie wissen, dass die Menschen auf diesem Planeten genauso waren wie auf dem davor? Sera verbrachte viel Zeit in den Tagesgärten, in der alten Weide, die ihre Zweige über das Ufer der Mündung hängen ließ, die sich dort im Weltraum verlor. Sie betrachtete gerne den Planeten unter sich und überlegte, wie das Leben dort aussehen mochte und wie es sich von ihrem eigenen unterschied.

Niemand sonst schien sich so viele Gedanken um den Planeten zu machen, deshalb behielt Sera ihre Vermutungen für sich, verborgen an dem Ort tief in sich, wo sie all ihre Geheimnisse, Fragen und Sehnsüchte bewahrte, die sie mit niemandem teilen konnte.

Doch jetzt endlich, zu guter Letzt, würde eine dieser Fragen beantwortet werden. Ein Auswahlritual! Wie es wohl ablaufen würde? Und dann eine Reise durchs All zu einem neuen Planeten. Vielleicht würde den Cerulean nach so vielen Jahren erlaubt werden, ihn zu besuchen, so wie früher. Vielleicht würde Sera ihre Bestimmung auf einem neuen Planeten finden.

Als sie mit Leela die Treppe zum Tempel emporstieg, dessen große goldene Türen weit geöffnet waren, fühlte sich ihr Herz an, als würde es ihr aus der Brust springen wollen. Die Tempeltüren trugen die geheimnisvollen Zeichen von Mutter Sonne. Innen entdeckte Sera ihre Orangemutter.

»Sera, komm!«, rief sie.

Leela drückte ihr die Hand. »Wir sehen uns später«, sagte sie.

Sera nickte und schlängelte sich durch die Menge. Das orangefarbene Tuch um den Hals ihrer Mutter leuchtete auf ihrer silbernen Haut, als sie sich vorbeugte, um ihrer Tochter übers Haar zu streichen und ihr Kleid zurechtzuzupfen. Mutter Sonne hatte das cerulanische Volk aus ihren drei Mondtöchtern erschaffen: aus einer Träne der frommen Dendra, einer Haarsträhne der klugen Faesa und aus dem Lachen der sanftmütigen Aila. Jeder Tochter war eine Farbe zugeordnet – orange, grün und violett –, und jeder Cerulean wurde bei der Hochzeit eine dieser Farben zugewiesen, als Zeichen ihrer Rolle in der Familie. Orangemütter leiteten ihr Kind im Beten und im Glauben an, Grünmütter waren für die Bildung zuständig, und die Violettmütter waren die Ernährerinnen, auch die Gebärenden, die das neue Leben zur Welt brachten.

Sie verliebten sich immer zu dritt, vielleicht ein unbewusster Versuch, die drei Elemente zu vereinen, so ähnlich hatte es jedenfalls Seras Violettmutter einmal ausgedrückt. Sera wusste, dass es nicht wörtlich gemeint war – schließlich waren zumindest die Mondtöchter keine Ehefrauen, sondern Schwestern. Aber wenn Sera ihre Mütter zusammen sah, beispielsweise in der entspannten Stunde nach dem Abendessen, wenn sie meinten, Sera mache sich bettfertig, oder wenn sie sich bei der Gartenarbeit liebevolle Blicke zuwarfen, dann spürte sie, dass keine von ihnen ohne die beiden anderen vollständig war.

Etwas enttäuscht über die Normalität um sich herum, kämpfte Sera sich zu ihrem angestammten Platz im Tempel durch. Der Tempel sah genauso aus wie immer; der große kreisrunde Raum war wie beim Abendgebet mit Kissen ausgelegt, unter der kuppelförmigen Decke prangten Zeichnungen von Sonne, Mond und Sternen. Der einzige Unterschied war, dass normalerweise alle Cerulean in blassblau gefärbten Kapuzengewändern aus weicher Silberschafwolle in den Tempel kamen und diese Zeremonie so plötzlich einberufen worden war, dass niemand Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen. Es war seltsam, alle in Alltagskleidung zu sehen.

Der Stammplatz von Seras Familie war auf der rechten Seite neben der Nische mit dem Altar der Verlorenen. Ihn zierte eine gewaltige Sonne aus verwobenen Streifen von Sonnengold und Mondsilber. Die glänzende Oberfläche war mit winzigen dunkelblauen Sternsteinen in Form von Tränen besetzt, einer für jede Cerulean, die während der Großen Trauer gestorben war.

»Bist du aufgeregt?«, fragte Seras Violettmutter und ließ sich auf einem Kissen nieder.

»Jetzt bekommst du endlich einen anderen Planeten zu sehen«, sagte ihre Grünmutter mit wissendem Blick.

»Was glaubt ihr, wer wird erwählt werden?«, fragte Sera. Tatsächlich konnte sie ihre gespannte Erwartung nicht unterdrücken, auch wenn sie zugleich Schuldgefühle deswegen empfand: Es kam ihr nicht richtig vor, immerhin würde eine Cerulean durch die Zeremonie zum Tode verurteilt – so ehrenvoll dieser Tod auch sein mochte.

»Pst, das haben nicht wir zu entscheiden«, sagte ihre Orangemutter.

Sera reckte den Hals auf der Suche nach Leela. Sie saß mit ihren Müttern in der Nähe. Ihre beste Freundin winkte ihr aufgeregt zu.

Kaum war der Tempel voll, erschien die Hohepriesterin. Sie durchquerte den Altarraum und stellte sich hinter die Kanzel. Die Novizinnen reihten sich entlang der Tempelwände auf, die drei Kustodinnen standen mit feierlichen Mienen hinter der Hohepriesterin.

Sie war die größte Frau der Stadt, ihre Körperhaltung verströmte eine überirdische Anmut. Sie trug eine aus Wolken gesponnene Robe in leuchtendem Blau, das zu ihrem Haar passte. Ihren Kopf krönte ein Diadem aus Sonnengold, in dessen Mitte ein kostbarer Mondstein saß. Mondstein war ausgesprochen selten; Seras Grünmutter hatte erzählt, er sei früher selbst magisch gewesen, auch wenn sie nicht mehr wusste, worin dessen Magie bestand. Die einzigen Mondsteine, die es in der Stadt noch gab, befanden sich in den drei Frauenstatuen in den Mondgärten, im Obelisken neben den Gebärhäusern und im Diadem der Hohepriesterin.

Und dann gab es den Stein, den Leela gefunden hatte, aber das war ein Geheimnis, das nur Sera kannte.

Die Hohepriesterin war wunderschön. Die frische Röte der Jugend leuchtete auf ihren silbrigen Wangen, obwohl sie uralt war. Mutter Sonne allein würde entscheiden, wann ihr Werk getan und ihre Zeit gekommen war.

Die Hohepriesterin stellte eine Schale vor sich, die Sera noch nie gesehen hatte. Es gab verschiedene Schalen für unterschiedliche Zwecke, für Zeremonien, Feiertage und festliche Anlässe. Sie waren immer erfüllt mit dem Licht von Mutter Sonne. Die Farben variierten von Hellgelb bis zum dunkelsten Grün. Doch diese Schüssel war alt und unansehnlich, nicht so prächtig und eindrucksvoll wie die anderen, die Sera kannte. Schwach konnte sie unentzifferbare Inschriften am Rand erkennen, die sie an die Tempeltüren erinnerten.

»Willkommen, meine Kinder!«, begann die Hohepriesterin und hob die Hände. »Möge Mutter Sonne uns ihr Licht und ihre Liebe schenken. Darum bitten wir.«

»Darum bitten wir«, echote die Gemeinde.

»Endlich ist die Zeit gekommen«, fuhr die Hohepriesterin fort, »Mutter Sonne hat gesprochen. Es ist so weit. Wir werden diesen Planeten hinter uns lassen, um in den Weiten des Universums eine neue Heimat zu suchen. Seid ihr bereit, meine Kinder? Seid ihr bereit, dieses Opfer zu bringen?«

»Wir sind bereit!«, antworteten die Cerulean im Chor.

Die Hohepriesterin legte ihre Hände links und rechts an die Schale. Sera befürchtete, das Gefäß könne durch den Druck auseinanderbrechen, doch es war wohl stabiler, als es aussah.

»Wer von uns ist stark genug, das Band zu durchtrennen? Wer ist von reinem Herzen und unerschütterlichem Glauben? Sag es uns, Mutter! Zeig uns die Auserwählte!«

Die Novizinnen begannen zu summen – ein Lied, das Sera noch nie gehört hatte. Sie nahm an, dass es dieser besonderen Zeremonie vorbehalten war, und fragte sich, wie die Novizinnen es so schnell eingeübt hatten oder ob es ein Lied war, das sie irgendwann einmal erlernt, dann vergessen und nun schnell wieder aufgefrischt hatten, als die Glocken läuteten. Mit ihren Müttern und dem Rest der Gemeinde wiegte sie sich auf den Kissen, während die Hohepriesterin die Augen schloss und den Kopf über die Schale neigte. In ihren Tiefen begann ein kräftiges goldenes Licht zu glühen. Zuerst schwach, dann immer heller und heller, bis man nicht mehr hineinsehen konnte, und Seras Grünmutter ihre Augen mit der Hand schützte. Sera meinte, in dem Licht ein seltsames Flüstern in fremden Zungen zu vernehmen.

Die Novizinnen summten lauter. Viele Orangemütter beteten inbrünstig und wiegten sich immer schneller hin und her. Einige Violettmütter weinten hemmungslos. Seras Orangemutter hatte die Augen geschlossen und saß starr im Lichtschein. Seras Ohren begannen zu klingeln, der Ton wurde immer höher, bis sie glaubte, ihn nicht länger ertragen zu können. Sie wollte den Blick abwenden, konnte aber keinen Muskel bewegen, war nicht mal in der Lage zu blinzeln. Als sie dachte, sie könne nicht länger auf die heilige Schale schauen, weil sonst ihre Pupillen in den Augenhöhlen verbrennen würden, bewegten sich die Zeichen am Rand. Auch wenn Sera keine Erklärung dafür hatte, konnte sie sie entziffern.

Dort stand: Heile dein Volk!

Plötzlich verstummte der hohe Ton, und das Licht erlosch. Die Inschrift war nicht mehr zu lesen. Mit klopfendem Herzen rieb sich Sera die Augen. Sie begriff nicht, was sie gerade gesehen hatte. Die Hohepriesterin beugte sich keuchend vornüber und klammerte sich Halt suchend ans Podium. Ihre drei Kustodinnen wechselten beunruhigte Blicke, doch als eine Anstalten machte, der Hohepriesterin zu helfen, richtete diese sich auf.

»Mutter Sonne hat gesprochen«, verkündete sie mit erschöpfter Stimme. Ihre Augen huschten über die Menge, einmal, zweimal, dann hielten sie inne.

»Sera Lighthaven!«, rief sie. Es war, als ginge ein Wind, ein Rauschen durch den Tempel, als bei diesen Worten alle Köpfe herumfuhren. Wie aus weiter Ferne registrierte Sera das Entsetzen ihrer Orangemutter und das leise Wimmern ihrer Violettmutter.

Sie spürte das Blut unter ihrer Haut brodeln. Eine beängstigende Hitze breitete sich von Kopf bis Fuß in ihr aus, dazu ein Kribbeln in den Augenwinkeln.

»Sera Lighthaven!« Wieder rief die Hohepriesterin ihren Namen, und ihre Orangemutter flüsterte: »Steh auf, Schatz!«

Mit wackligen Beinen erhob sie sich. Sie merkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, kleine Lichtpunkte, die ihre Haut durchbohrten. Sie wollte nach Leela Ausschau halten, konnte jedoch den Blick nicht vom Gesicht der Hohepriesterin abwenden. Ihr Herz, das kurz zuvor noch in ihrer Brust gedröhnt hatte, war vollkommen still.

»Mutter Sonne hat dich erwählt«, verkündete die Hohepriesterin. »Du bist diejenige, die das Band durchtrennen wird.« Sie streckte die Arme aus. »Preist Sera! Preist die Auserwählte!«

Alle im Tempel verbeugten sich, senkten die Stirn auf den Boden. Selbst die Novizinnen. Sogar die Kustodinnen.

Sera hatte schon immer wissen wollen, wozu die Magie in ihrem Blut fähig war, abgesehen vom Heilen und dem Blutbund. Sie war überzeugt, dass mehr dahinterstecken musste, besonders nachdem ihre Grünmutter ihr erzählt hatte, dass bösartige Menschen auf diesem anderen Planeten versucht hatten, das Blut der Cerulean zu stehlen. Dennoch wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass sie selbst erwählt werden würde. Sie hatte ihr eigenes Blut nie für derartig mächtig gehalten.

»In drei Tagen wird Sera Lighthaven den größten Schritt tun, den eine Cerulean tun kann«, verkündete die Hohepriesterin. »Sie wird sich vom Podium im Nachtgarten stürzen und ihr Blut vergießen, um das Band zu durchtrennen. Wir alle werden sie auf der Reise zu unserer neuen Heimat preisen und ehren!«

Als Sera hörte, was ihr bevorstand, war sie wie betäubt. Ihr Gehirn weigerte sich, die Information zu verarbeiten. Es war, als redete die Hohepriesterin über jemand anderen.

Wir sind Cerulean. Unser Blut ist magisch.

Jetzt hatten diese Worte eine neue, furchtbare Bedeutung für Sera.

Ihr Blut bedeutete Tod.

3

Als Sera mit ihren Müttern den Tempel verließ, waren alle Augen auf sie gerichtet.

Die Hohepriesterin hatte einen stummen Abend der Meditation angeordnet, weswegen nun alle in ihre Heimstätten gingen, um zu beten und sich auf die kommenden Tage vorzubereiten.

Sera konnte die Massen nicht schnell genug hinter sich lassen. Sie hatte gar nicht erst versucht, Leela inmitten der Cerulean ausfindig zu machen, die sie lobpreisten und staunend ansahen, als sei sie innerhalb von dreißig Minuten zu einem wundersamen Wesen geworden. Es gefiel ihr nicht. Sie war immer noch dieselbe Sera, die am Morgen im Wolkenspinnerholz gewesen war.

»Es ist eine Ehre«, sagte ihre Orangemutter, als sie außer Hörweite der anderen waren. Ihre Kehle klang zugeschnürt.

»Es ist unumgänglich«, sagte ihre Grünmutter leise.

Ihre Violettmutter schwieg.

Ausnahmsweise schwirrten Sera nicht tausend Fragen durch den Kopf. Sie hatte nur eine, die immer lauter dröhnte, lauter selbst als ihr Herzschlag:

Warum?

Warum sie? Was sie über die vergangenen Auswahlrituale wusste, war nicht viel, aber irgendwie war sie immer davon ausgegangen, dass eine ältere Cerulean erwählt würde. Doch es war nicht nur ihr Alter: Sera war weder so fromm wie Elorin noch so schön wie Koreen. Sie war weder so nett und freundlich wie Daina noch so geduldig wie Leela. Die Hohepriesterin hatte sie sogar mal als freche Göre beschimpft, als sie herausgefunden hatte, dass Sera oft aufs Tempeldach kletterte. Warum suchte Mutter Sonne so eine mittelmäßige, aufmüpfige Cerulean aus?

»Hast du Hunger, Sera?«, fragte ihre Grünmutter, als sie zu Hause waren. »Ich kann dir Kürbisblüten braten.«

Doch Sera war der Appetit vergangen. Der Vorschlag ihrer Grünmutter erschien ihr wie ein grausamer Scherz.

»Wir können auch zusammen beten«, schlug ihre Orangemutter vor.

Die Violettmutter hielt Sera die Hand hin. Die Magie unter der Haut ließ ihren Zeigefinger strahlend blau leuchten. Sera musste nur ihre eigene Magie aktivieren und mit ihrem glühenden Finger den ihrer Mutter berühren. Dann könnte ihre Violettmutter in ihr Herz sehen, und Sera müsste sich nicht erklären.

Doch im Moment war ihr nicht nach dem Blutbund zumute.

Sie machte kehrt und lief in ihr Zimmer. Zum ersten Mal bedauerte sie, dass es keine Tür gab, die sie hinter sich schließen konnte. Die einzigen Türen in der Stadt über dem Himmel befanden sich im Tempel und in den Gebärhäusern.

Sie hörte näher kommende Schritte und warf sich aufs Bett, den Blick auf die Glaswand gerichtet.

»Otess!«, rief ihre Violettmutter. »Lass sie in Ruhe!«

Es gab eine Pause, dann entfernten sich die Schritte. Sera spürte, wie sie vor Scham errötete. Sie liebte ihre Mütter mehr als alles andere und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie ihnen wehtat.

Dennoch rief sie ihre Orangemutter nicht zurück.

Sie blieb liegen und starrte auf das Sternenmobile über ihrem Kopf, bis der Abend in die Nacht überging. Sie hörte, wie ihre Mütter sich bettfertig machten, die raschelnden Decken, aufgeschlagenen Kopfkissen und gemurmelten Gespräche. Mehrmals vernahm sie ihren Namen, doch ihre Mütter kamen nicht zu ihr herüber, und dafür war sie ihnen dankbar. Normalerweise hörte man Lachen, wenn alle im Haus ins Bett gingen, oder zärtliches Gemurmel, doch an diesem Abend nicht. Sera fragte sich, ob ihre Mütter ebenso verstört und unglücklich waren wie sie.

Sie verstand es einfach nicht. Es ergab keinen Sinn, dass Mutter Sonne sie erwählt hatte. Denn es gab noch andere Dinge, kompliziertere Dinge, die Sera von anderen unterschieden, nicht nur ihr lautes Lachen und ihre endlose Fragerei. Tief in sich trug sie ein Geheimnis, das nie jemand erfahren durfte: Sie konnte nicht lieben. Also, natürlich liebte Sera ihre Mütter und ihre Freundin Leela, aber es gab noch eine andere Form von Liebe, nach der sie sich sehnte. Vor einem Jahr hatte sie wehmütig zugehört, als Leela von ihrem ersten Kuss erzählte und beschrieb, wie ihr Herz beinahe geplatzt sei, wie berauschend es gewesen sei, die Lippen eines anderen Menschen und dessen Hände auf der Haut zu spüren. Sera hatte gekichert und gelacht und ihren Kummer verborgen, denn sie ahnte, dass sie bei keinem der Mädchen in ihrer Stadt je solche Gefühle haben würde.

Es war ein Bauchgefühl, vergleichbar mit dem Wissen, wie man rannte, kletterte und atmete. Aber es war anders als bei den Novizinnen, die sich bewusst dafür entschieden hatten, nicht zu heiraten, um Mutter Sonne zu dienen. Und es war auch anders als bei Cerulean wie Freeda, die einfach lieber allein lebten – von Zeit zu Zeit gönnten sich solche Frauen durchaus körperliches Vergnügen mit anderen, aber sie wollten nicht Teil einer Trias sein. Bei Sera war es anders.

Schlimmer noch, sie hatte sich angewöhnt, es zu verbergen. Selbst beim Blutbund. Sie hatte das Geheimnis so tief in sich versteckt, dass nicht mal ihre Violettmutter etwas davon ahnte. Aber Lügen war falsch.

Es war zu eng, so stickig und still im Haus. Sera schlüpfte aus dem Bett, kletterte aus dem Fenster und begann zu laufen.

Sie rannte am Ufer der Großen Mündung entlang, genoss den Wind in den Haaren und den Boden unter den Füßen. Sie wich Eichen- und Fichtenzweigen aus, die goldenen Blätter der Polarbäume streiften ihre Haare, das beruhigende Murmeln des Wassers leistete ihr Gesellschaft, bis sie die Insel mit dem Tempel erreichte – einem riesigen Glaskegel, der hoch zu den Sternen wies und in ihrem Licht funkelte.

Im Mondlicht leuchtete Ailas Brücke weiß wie gebleichte Knochen. Seras Füße huschten über die Holzbretter. Sie machte einen Bogen um die Tempeltüren, als hätten sie Augen. Sie musste an die Schale denken, daran, wie die Zeichen darauf plötzlich Sinn ergeben hatten. Heile dein Volk!, hatte dort gestanden. Ja, Sera würde ihr Volk heilen. Sie würde ihre geliebte Stadt heilen, indem sie sie verließ.

Sie sprang über die Hecke, die den hinteren Teil des Tempels begrenzte, und begab sich durch den Mondgarten zu der Stelle, wo über der Tür zu den Kammern der Novizinnen ein Stein vorragte. Sera hievte sich daran zu den gläsernen Schindeln hoch. Sie setzte ihre Hände und Füße geschickt in die Nischen, ihre Muskeln waren gespannt. So kletterte sie immer weiter hoch, bis sie die goldene Spitze erreichte. Hier oben war es friedlich. Es fühlte sich an, als würde sie alles unter sich zurücklassen, die Stadt, ihre Mütter, das dunkle Schicksal, das sie erwartete. Hier oben gab es nichts als Sterne.

Am liebsten hätte sie die Arme ausgestreckt und wäre losgeflogen wie die Lorbeertauben in der Voliere.

»Sera!«

Leelas Flüstern hüpfte über die gläsernen Schindeln wie ein Stein über Wasser. Sera konnte ihre beste Freundin so gerade noch unten erkennen.

Leela winkte zu ihr hoch. Sie war ein Hasenfuß. Sera wunderte sich, dass sie sich überhaupt getraut hatte, ihre Heimstatt zu verlassen.

»Was machst du hier?«, rief sie leise zurück.

»Komm runter!«, zischte Leela.

Sera warf noch einen letzten Blick auf die Sterne, dann rutschte sie am Turm hinab und sprang die letzten drei Meter nach unten. Leela stieß einen unterdrückten Schrei aus.

»Du tust so, als hättest du das nicht schon tausend Mal erlebt.«

»Pssst!« Leela streckte ihre blau leuchtende Hand aus. »Nicht dass wir die Novizinnen wecken.«

Mit aufeinandergepressten Lippen nickte Sera. Eigentlich stand der Tempel allen Cerulean offen, wann immer sie hineinwollten – wie die meisten Einrichtungen der Stadt über dem Himmel –, trotzdem wäre es nicht gut, wenn die Auserwählte dabei erwischt würde, wie sie mitten in der Nacht, in der gebetet und meditiert werden sollte, auf dem Tempeldach herumkletterte.

Die Auserwählte. Bei dem Wort zog sich Seras Magen zusammen.

Sie hielt Leela ihren bereits leuchtenden Finger hin.

Der Blutbund war eines der heiligsten Elemente der cerulanischen Magie. Er war äußerst intim und persönlich. Sera bildete diesen Bund nur mit ihren Müttern und Leela. In das Herz eines anderen zu schauen war ein Geschenk, das man nicht leichtfertig annahm.

Ihre Finger berührten sich. Als Leelas Magie in Sera eindrang, spürte sie die vertraute Hitze, dann jenes berauschende Machtgefühl, als ihre eigene Magie Leelas Adern flutete und das Herz ihrer Freundin erfüllte. Sera spürte Leelas Herzschlag in sich selbst, ein zweiter Pulsschlag in perfekter Harmonie mit ihrem eigenen.

Ich habe Angst, sagte Seras Herz.

Cerulean sollten eigentlich keine Angst haben. Sie waren gelassen und liebevoll. Mutter Sonne und die Gemeinschaft sollten ihnen wichtiger sein als alles andere. Sie waren bessere Menschen als Sera. Das alles übertrug sie stumm an Leela.

Ich habe auch Angst, gab Leelas Herz zurück, und Sera spürte die Verwirrung ihrer Freundin. Sie wunderte sich, Wut in deren Herz zu finden. Ihre beider Ängste vermischten sich, und Sera war erleichtert, nicht weil Leela Angst hatte, sondern weil sie sich vorübergehend nicht mehr so allein fühlte.

***

»Sera!«, rief ihre Violettmutter. »Hier ist jemand, der dich sprechen möchte!«

Sera rieb sich die Augen. Schwaches Morgenlicht fiel in ihr Zimmer – sie hatte nicht schlafen können und zugesehen, wie sich der Himmel erst grau und dann golden färbte. Der Trost des nächtlichen Blutbunds mit Leela rückte allmählich in die Ferne, sodass die Angst wieder stärker wurde und ihr mehr zusetzte.

»Sera!« Ihre Violettmutter stand in der Tür.

»Ich möchte niemanden sehen«, erwiderte Sera mit Blick auf das Sternenmobile. Warum fiel es ihr so schwer, ihre Mutter anzuschauen?

»Es ist die Hohepriesterin«, sagte ihre Mutter.

Sera setzte sich so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde. »Hier?«, fragte sie. »In unserer Heimstatt?«

Soweit Sera wusste, hatte die Hohepriesterin noch nie eine cerulanische Heimstatt besucht.

»Jaja, ich weiß. Deine Orangemutter ist deswegen auch ganz außer sich und macht ihr gerade Tee«, erklärte ihre Violettmutter und lächelte schwach.

Gestern wäre es noch witzig gewesen, dass ihre Orangemutter wegen eines so ehrenwerten Gasts völlig durch den Wind war. Gestern hätte Sera über die Worte ihrer Violettmutter gelacht und vielleicht selbst einen Spruch über ihre aufgeregte Orangemutter beigesteuert.

Mit steifen Knien stieg sie aus dem Bett. Ihre Violettmutter half ihr in ein frisches Wolkenkleid, gemeinsam gingen sie durch den Flur ins Wohnzimmer, wo ihre Orangemutter gerade Tee servierte. Der Duft von Zitronengras und Salbei hing in der Luft.

»Da bist du ja!«, rief sie. »Sieh mal, wer dich besuchen möchte!«

Die Hohepriesterin auf dem Sofa bot einen skurrilen Anblick – wie ein Silberschaf im Betgewand oder eine rückwärtsfliegende Lorbeertaube. Die Hohepriesterin strahlte so sehr, dass alles im Raum ein klein wenig schlichter wirkte, vom Polster über die Teetassen bis zu den Rahmen mit den Pressblumen an den Wänden.

»Die Auserwählte!«, sagte sie mit ihrer Honigstimme und breitete die Arme aus. Sera wusste nicht, was diese Geste bedeutete, doch ihre Orangemutter gab ihr ein Zeichen, und so machte Sera einige wacklige Schritte nach vorn. Die Hohepriesterin legte die Hände auf Seras Schultern, sie spürte deren Hitze durch den Stoff ihres Kleids. Noch nie zuvor war sie von der Hohepriesterin berührt worden.

»Magst du mit mir spazieren gehen?«, fragte sie. »Wir haben eine Menge zu besprechen.«

Die Vorstellung, mit der Hohepriesterin allein zu sein, war noch seltsamer, als sie im Wohnzimmer sitzen zu sehen. Dennoch nickte Sera und fragte sich, ob sie überhaupt noch Kontrolle über sich selbst hatte oder ob ihr Körper sich instinktiv verselbstständigt hatte. Sie folgte der Hohepriesterin nach draußen und erhaschte im Gehen einen Blick auf ihre Grünmutter in der Küche, die sich mit einer Nähnadel in der Hand über den Tisch beugte.

Die Luft duftete nach Sonnenlicht und Gras, ein Geruch, der den Anbruch eines neuen Tages verkündete – und Sera umso schmerzhafter daran erinnerte, wie wenige Tage ihr noch blieben. Sie gingen um den Garten ihrer Orangemutter herum. An einem Stengel hing eine dicke rote Tomate, reif zum Pflücken. Sera hatte sich noch nie klargemacht, wie perfekt Tomaten waren, wie satt ihre Farbe, wie würzig ihr Duft, wie saftig ihr Fleisch. Wie konnte so etwas Schlichtes plötzlich so kostbar wirken?

Sie spürte, wie mehrere neugierige Augenpaare in der Heimstatt nebenan jedem ihrer Schritte folgten, und bekam schlechte Laune.

»Ich könnte mir vorstellen, dass du viele Fragen an mich hast«, sagte die Hohepriesterin und kehrte der Ansammlung von gläsernen Heimstätten den Rücken, um in einen selten genutzten Heckenweg einzubiegen, der an den Stadtrand führte.

»Warum ich?«, platzte es aus Sera heraus, kaum dass die letzte Heimstatt aus ihrem Blick verschwunden war und sie mit der Hohepriesterin allein war. »Warum hat Mutter Sonne ausgerechnet mich erwählt?«

»Weil sie findet, dass du der Aufgabe würdig bist«, erwiderte die Hohepriesterin. »Ich weiß, dass es seltsam und beängstigend auf dich wirkt, aber du wurdest aus einem bestimmten Grund erwählt. Selbst wenn du es nicht begreifen kannst – Mutter Sonne sieht alles. Sie kennt dich, Sera Lighthaven, und sie liebt dich.« Lächelnd nahm die Hohepriesterin Seras Hand, die erneut leicht verwundert registrierte, wie heiß die Haut der Hohepriesterin war. »Hab keine Angst! Es wird nicht wehtun.«

An Schmerzen hatte Sera gar nicht gedacht. Sie war genug damit beschäftigt gewesen, dass sie überhaupt auserwählt worden war. Neue Furcht kroch ihr in den Magen.

»Kann es nicht vielleicht sein, dass … Hat Mutter Sonne sich vielleicht … geirrt?«, brachte sie hervor.

Die Hohepriesterin ließ sie los und machte einen Schritt nach hinten. »Mutter Sonne irrt sich nie!« In ihrer Stimme lag eine gewisse Schärfe, sodass Sera sich schämte, das überhaupt gedacht zu haben. Koreen hätte die Entscheidung von Mutter Sonne bestimmt nicht infrage gestellt. Treena und Daina auch nicht. Warum konnte Sera nur nicht so sein wie die anderen?

Die Hohepriesterin seufzte. »Das letzte Auswahlritual liegt so lange zurück – verzeih meine Ungeduld. Du bist nicht die Erste, die ihre Eignung als Auserwählte anzweifelt.«

»N…n…nein?«, stotterte Sera.

Die Hohepriesterin beugte sich vor, bis ihr Gesicht auf einer Höhe mit Seras war. Ihre blauen Haare verdunkelten einen Teil ihres Gesichts. »Es wurde damals auch eine Cerulean auserwählt, um ein neues Band zu bilden. Ich dachte, das wüsstest du, da du dich doch so sehr für die Vergangenheit interessierst.«

Sera war auf einmal ausgesprochen unbehaglich zumute. Es war, als wüsste die Hohepriesterin mehr über sie, als sie geahnt hatte.

»Deine Grünmutter konnte nicht all deine Fragen beantworten«, fuhr die Hohepriesterin fort. »Manchmal kam sie deswegen zu mir, und ich habe ihr erklärt, was ich wusste. Aber vieles ist verloren gegangen. Und manches muss auch gar nicht in Erinnerung bleiben.«

Vor einem Tag noch hätte Sera darüber gestaunt, dass ihre Grünmutter sich ihretwegen an die Hohepriesterin gewandt und um Antworten gebeten hatte. Doch jetzt interessierte sie nur eins: »Wer war es?«, wollte sie wissen. Sie beugte sich vor, als könnte sie in das Gedächtnis der Hohepriesterin spähen. »Beim letzten Mal? Wer war die Cerulean, die das Band gespannt hat?«

Plötzlich durchzuckte sie ein erschreckender Gedanke. Es mussten mehrere gewesen sein, dachte sie. Nicht nur diejenige, die das Band gebildet hatte, von dem sie jetzt lebten, sondern auch diejenige, die das Band nach der Großen Trauer zerstört hatte, und jene, die wiederum jenes Band angebracht hatte … Noch vor einem Tag waren das bloß Geschichten gewesen, aber nun fand Sera sie alle überwältigend real: Sie alle erzählten von Cerulean, die gelebt und geliebt hatten und für ihre Stadt gestorben waren.

Kurz wurden die Augen der Hohepriesterin dunkel. Das Blau ihrer Iris wurde hart und kristallin wie Sternsteine. Es war, als würde auf einmal eine schneidende Kälte von ihrer gertenschlanken Gestalt ausgehen, doch schnell war es vorbei, und die Hohepriesterin sah wieder aus wie zuvor.

»Sie hieß Wyllin«, erklärte sie, drückte den Rücken durch und schaute in die Ferne.

Wyllin. Sera probierte den Namen aus. Die Vorstellung, dass jemand anders in derselben Lage gewesen war wie sie jetzt, tröstete sie. Es hatte jemanden gegeben, ein Wesen mit Namen und eigenem Leben, das vielleicht auch einen Spaziergang gemacht und diese Fragen gestellt hatte, selbst wenn es neunhundert Jahre her war.

»War sie auch so jung wie ich?«

»Ja. Wyllin war einundzwanzig, als sie auserwählt wurde. Eine von meinen Kustodinnen.« Die Hohepriesterin presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Damals war ich noch nicht lange im Amt. Die Wunden der Großen Trauer waren noch frisch. Die Reise hierher war sehr lang und beschwerlich gewesen. Oft spürte ich, wie die Hoffnung der Cerulean wankte. Wyllin sah diesen Planeten als Erste. Ich weiß noch, dass ich dachte: Mutter Sonne, sie hat uns gerettet. In dem Moment ahnte ich nicht, dass sie dann tatsächlich als unsere Retterin erwählt werden würde.«

Eine Kustodin erschien Sera sehr viel besser geeignet, diesen Platz einzunehmen, als sie selbst – eine Cerulean, die gerade erst volljährig geworden war und keine besonderen Fähigkeiten besaß.

»Wyllin dachte auch, sie sei der Aufgabe nicht gewachsen«, fuhr die Hohepriesterin fort. »Jeder zweifelt mal an sich, an seinen Fähigkeiten, seinem Wert. Ich habe diese Stadt durch eine ihrer größten Tragödien geführt und frage mich oft, ob ich dabei Fehler begangen habe.«

»Wirklich?« Sera war schockiert.

»Ja«, erwiderte die Hohepriesterin sanft. »Im Herzen bin ich auch nur eine Cerulean, wie alle anderen in dieser Stadt. Doch vor allem vertraue ich Mutter Sonne. Wenn ich Angst habe, tröstet sie mich. Wenn ich mich verlaufen habe, weist sie mir den Weg. Sie hat uns hergeführt und uns diesen Planeten gegeben. Sie hat uns beschützt. Aber Cerulean sollen nicht immer an einem Ort bleiben.«

Die Hecken aus dicken, glänzenden Blättern rechts und links von ihnen waren höher geworden. Die Hohepriesterin blieb stehen und hob die Hand – auf einer Seite war die Hecke unterbrochen und gab einen atemberaubenden Blick auf den Planeten unter ihnen frei. Sera streckte die Hand aus, um die unsichtbare Hülle zu berühren, die sie davor bewahrte, ins Unendliche zu fallen. Sie war fest und doch etwas nachgiebig – wie Gelatine. Die zahlreichen Inseln von Pelago unter ihr sahen wie missgestaltete Insekten aus, die über eine blaue Fläche krabbelten.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß unsere Freude war, als wir den Planeten dort unten erblickten«, sagte die Hohepriesterin. »Nach so vielen dunklen Tagen, so vielen Verlusten … es war die Rettung. Ich gestehe, dass ich traurig darüber bin, den Planeten verlassen zu müssen.«

»Warum gerade jetzt?«, fragte Sera. »Nach so vielen Jahren? Was ist passiert, dass wir weiterziehen müssen?«

»Wir haben genug von diesem Planeten genommen. Er kann uns nicht mehr ernähren.« Das Gesicht der Hohepriesterin verzog sich vor Sorge, und kurz wirkte sie alt. Sera konnte die Jahrhunderte spüren, die die Hohepriesterin hinter sich hatte. »Unsere Stadt braucht einen neuen Planeten, der uns Kraft geben kann. Ich vertraue darauf, dass Mutter Sonne uns in eine bessere Heimat führt.«

»Wenn ich sie doch sehen könnte«, seufzte Sera. Die Hohepriesterin legte ihr den Finger unters Kinn und hob es an.

»Ich weiß«, sagte sie. »Das ist alles, was du dir je gewünscht hast, nicht? Aber Mutter Sonne wird dich ewig in ihren Armen halten und behüten. Sie wird dich immer lieben.«

Die einzige Umarmung, die Sera sich wünschte, war die ihrer eigenen Mütter daheim, aber sie hatte das Gefühl, es sei unverschämt, das zu sagen.

»In den nächsten Tagen wird für dich alles anders sein«, fuhr die Hohepriesterin fort. »Das ist nun mal so. Aber du darfst die Tage so verbringen, wie du möchtest. Du musst nicht am Abendgebet teilnehmen, wenn du nicht willst. Du brauchst nicht bei den Vorbereitungen für die anstehende Reise zu helfen, Ernten, Einmachen und so weiter. Wenn du willst, kannst du den ganzen Tag in deiner Heimstatt bleiben oder wie ein Fisch in der Großen Mündung schwimmen. Du kannst sogar« – sie blinzelte Sera wissend zu – »auf die Tempelspitze klettern und wie ein Vogel dort oben nisten. Die cerulanischen Abläufe gelten für dich nicht mehr, erst wieder am Abend der Zeremonie.«

Sera schluckte. »Also habe ich noch heute und morgen, und dann …«

Die Hohepriesterin nickte. »Übermorgen ist die Zeremonie. Zur Stunde des Lichts. In den Nachtgärten. Heute und morgen Abend gibt es jeweils ein Fest zu deinen Ehren. Daran musst du teilnehmen.« Sie verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen. »Es tut mir schrecklich leid. Ich erkläre das nicht richtig. Es gab eine Zeit, da …« Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.«

Sera hätte nie gedacht, dass die Hohepriesterin sich einmal bei ihr entschuldigen würde, noch dazu gleich zweimal an einem Tag.

»Schon gut«, sagte sie, auch wenn es nicht stimmte. Nicht richtig jedenfalls. Die Hohepriesterin war ja nicht diejenige, die sich in zwei Tagen vom Rand der Stadt stürzen musste.

Sie sah Sera auf eine Weise in die Augen, die fast so intim wie der Blutbund war. Seras Magen zog sich zusammen, dennoch konnte sie den Blick nicht abwenden. Der Moment schien sich so in die Länge zu ziehen, dass Sera nicht wusste, ob Sekunden, Minuten oder Stunden vergingen.

»Du wirst uns retten, Sera Lighthaven. Dein Blut wird dieser Stadt Kraft und Leben schenken.« Der Befehlston in der Stimme der Hohepriesterin ließ Sera frösteln. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Sie öffnete den Mund, bekam jedoch nichts heraus. Als die Hohepriesterin schließlich den Blick abwandte, war Sera zittrig und atemlos, als wäre sie einmal an der Großen Mündung entlanggelaufen.

»Ich gehe jetzt. Du brauchst Zeit für dich, denke ich.«

Das stimmte. Sera war jetzt schon erschöpft von dem Gewicht auf ihren Schultern, von der Verantwortung und Furcht. Sie schaute erneut über die Hecke hinunter auf den Planeten, den sie noch gestern so sattgehabt hatte. Wie sehr er ihr fehlen würde! Kaolin, das Land, das aussah wie ein schiefer Stern, war so gerade unter einer dünnen Wolkendecke zu erkennen. Die nahe beieinander liegenden Landzungen unten links glichen einer Hand, die ihr zuwinkte oder sich verabschiedete. Wie sonderbar, dass sie so um einen Ort trauern konnte, den sie nie gesehen hatte und der nichts von ihrer Existenz, der ihrer Stadt und ihres Volks ahnte.

Als sie sich umdrehte, war die Hohepriesterin verschwunden.

4

In den nächsten Stunden kehrte Sera nicht nach Hause zurück.

Sie hörte die Glocken für das Mittagsgebet der orangen Mütter und Novizinnen läuten. Sie spürte, wie der Hunger in ihren Magen kroch und dort schmerzte, aber sie achtete nicht weiter darauf. Sie saß hinter dem Tempel – vor der Lücke in der Hecke – auf dem Boden und starrte auf den Planeten unter sich, auf das silbern-blau-goldene Band, das sie durchtrennen würde, und auf den Raum zwischen ihrer Stadt und dem Planeten. Sie konnte nicht einschätzen, wie weit er weg war und wie lange es dauern würde, bis sie ausgeblutet sein und in eine andere Wirklichkeit übergehen würde, wo Mutter Sonne sie bis in alle Ewigkeit umarmen würde.

Erst zur Stunde des Lamms kehrte sie nach Hause zurück.

Als sie vorn hereinkam, waren ihre Orange- und ihre Violettmutter in der Küche und unterhielten sich. Sie klangen angespannt, aber Sera konnte nicht verstehen, was sie sagten. Oder vielleicht wollte sie es auch einfach nicht hören.

»Sera?«, riefen sie gleichzeitig, als wüssten sie nicht, ob sie es sei. Sera wurde klar, dass viel Besuch vorbeigekommen sein musste, nicht nur die Hohepriesterin. Wer hatte sonst noch in der Hoffnung hereingeschaut, die Auserwählte zu sehen? Sera war froh, dass sie draußen beim Tempel gewesen war.

»Ich bin’s!«, sagte sie ruhig, als die beiden Mütter ins Wohnzimmer geeilt kamen.

»Wir haben uns so …«, setzte ihre Orangemutter an, wurde aber von ihrer Violettmutter unterbrochen. »Wir sind so froh, dich zu sehen!«

Das versetzte Sera einen Stich. Auf einmal wurde ihr klar, wie furchtbar egoistisch sie war. Ihre Mütter würden ihr Kind verlieren. Leela verlor ihre Freundin. Es gab nur noch so wenig Zeit, die sie mit denen verbringen konnte, die ihr am wichtigsten waren – wie konnte sie sich da verstecken?

»Es tut mir leid, dass ihr euch Sorgen gemacht habt«, sagte sie. »Ich habe nur …«

Sie wusste nicht, wie sie den Satz auf höfliche Weise beenden sollte.

»Du hast Zeit für dich gebraucht«, vermutete ihre Violettmutter.

»Natürlich«, pflichtete die Orangemutter ihr bei, dennoch sah Sera die Panik in ihren Augen und fragte sich erschrocken, ob ihre Mütter wohl Angst gehabt hatten, sie käme nicht zurück.

»Hat die Hohepriesterin euch nicht gesagt, wo ich bin?«, fragte sie.

Ihre Orangemutter schaute verdutzt drein. »Die haben wir nicht mehr gesehen, nachdem sie mit dir nach draußen gegangen ist.«

Sera riss die Augen auf. »Warst du nicht beten?«

Ihre Orangemutter ließ nie eine Betstunde ausfallen. Niemals, nicht mal als sie sich beim Einfangen einer aus der Voliere entlaufenen Pfauenhenne den Knöchel gebrochen und es einen ganzen Tag gedauert hatte, bis die Verletzung geheilt war.

»Sie wollte das Heim erst verlassen, wenn du wieder zurück bist«, erklärte die Violettmutter.

»Wir wollten alle da sein, wenn du nach Hause kommst«, ergänzte ihre Orangemutter.

»Hattest du keine Angst, dass Mutter Sonne böse auf dich ist?«, fragte Sera.

Ihre Orangemutter trat auf sie zu und sah sie mit einer solch ungestümen Liebe an, dass es Sera den Atem verschlug.

»Auch Mutter Sonne ist zuallererst eine Mutter«, sagte die Orangemutter. »Sie versteht das.«

Sera blinzelte. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten, wollte aber nicht weinen. »Wo ist die Grünmutter?«, fragte sie. Die beiden Mütter tauschten einen Blick.

»Sie näht dir ein neues Kleid«, antwortete ihre Violettmutter. »Für das Fest heute Abend.«

»Leela will dich abholen – sie dachte, dass du vorher vielleicht noch in der Mündung baden willst«, sagte ihre Orangemutter.

Sera hatte wenig Lust, in die Stadt zu gehen und wie eine Sensation begafft zu werden, aber sie hatte am Vortag nicht gebadet, und es wäre ihr peinlich gewesen, schmutzig zu einem Fest zu gehen, das zu ihren Ehren gefeiert wurde. Deshalb nickte sie.

»Ich ziehe mir schnell etwas anderes an«, sagte sie und ging in ihr Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie wählte ein altes Gebetsgewand, schlicht und schmucklos, an den Ellenbogen fast durchgescheuert, aber sehr viel praktischer als ihr wolkengewebtes Kleid. Dann ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte auf das Mobile.

»Ich bin eine Cerulean«, sagte sie laut. »Mein Blut ist magisch.«

Das sich langsam drehende Mobile spendete ihr keinen Trost.

»Sera?« Ihre Violettmutter stand in der Tür. Sera bat sie nicht herein, schickte sie aber auch nicht fort. Warum war es so schwierig geworden, mit ihren Müttern zu reden, wo sie jetzt eigentlich ihre Nähe suchen müsste?

Die Violettmutter legte sich neben Sera ins Bett und nahm sie in die Arme. Sera schmiegte den Kopf an ihre Schulter. Sie spürte, wie das lilafarbene Halsband ihre Stirn streifte, und atmete den Geruch von blühendem Geißblatt ein.

»Das Mobile hat deine Orangemutter am Tag deiner Geburt gebastelt«, sagte ihre Violettmutter und wies auf die schwebenden Sterne. »Haben wir dir die Geschichte deiner Geburt schon mal erzählt?«

»Die Grünmutter hat gesagt, dass ihr alle zusammen zu einem Gebärhaus gegangen seid, wo es sehr ruhig zuging. Da wurde ich ein paar Stunden später geboren, und ihr habt mich mit nach Hause genommen.« Gelangweilt ratterte Sera die Geschichte herunter. Sie hatte das Interesse an ihrer Geburt verloren.

Ihre Violettmutter lachte. Ihr Atem spielte in Seras Haaren. »Seetha mag es kurz und bündig, so viel steht fest.«

»Wieso, war es anders?«

»Nun ja, wir sind schon zum Gebärhaus gegangen, das ist richtig, aber wir waren eine ganze Weile da, und es ging alles andere als ruhig zu. Eine Geburt ist eine ziemlich blutige Angelegenheit. Deine Grünmutter musste den Raum längere Zeit verlassen.«

»Hatte sie Angst?«

»Ja. Um mich. Sie konnte meine Schmerzen nicht ertragen.«

Sera setzte sich auf. »Ich habe dir wehgetan?«

Die Violettmutter legte ihr die Hand auf die Wange. »Ach, mein Schatz, das waren Schmerzen, die ich, ohne zu zögern, wieder auf mich nehmen würde. Sie haben mir dich geschenkt. Und als die Hebamme dich in meine Arme legte, so winzig und warm, da dachte ich, ich hätte noch nie etwas Schöneres gesehen.«

Sera warf sich in die Arme ihrer Violettmutter, und die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, quollen hervor und rannen über ihre Wangen. Unterdrücktes Schluchzen zerriss ihr die Brust.

Schweigend hielt ihre Mutter sie fest, und als irgendwann alle Tränen geweint waren, hob sie die leuchtende Fingerspitze.

Ich will das nicht, gestand Seras Herz unter Qualen. Sie spürte, wie der Schmerz ihrer Mutter sich mit ihrem eigenen verwob, ein älterer, stärkerer Kummer mit Gefühlen, die sie nicht recht verstand. Zum ersten Mal waren für Sera im Herz ihrer Violettmutter keine Worte zu lesen. Nur Schmerz.

»Sera!«, ertönte da Leelas muntere Stimme. Sera spürte, dass ihre Freundin sich bemühte, so fröhlich wie immer zu klingen. »Komm! Wenn du nur halb so stinkst wie ich, kannst du es doch bestimmt nicht erwarten, endlich zu baden!«

Seras Violettmutter lachte, aber es lag Traurigkeit in ihrer Stimme. »Leela ist eine gute Freundin«, bemerkte sie. Dann gab sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und stand auf. Im Durchgang blieb sie stehen und sagte: »Auch wenn diese Zeremonie vorbei ist, wirst du geliebt werden, Sera. Denk daran! Solange die Sterne am Himmel leuchten, werde ich dich lieben.«

In der Großen Mündung tummelten sich nackte Cerulean, die vor dem Fest badeten. Sie planschten lachend herum oder beäugten sich mal neugierig, mal lustvoll.

Als Sera mit Leela im Schlepptau eintraf, verstummten Gelächter und Gejohle abrupt.

»Einfach nicht beachten!«, sagte Leela, während Sera und sie ihre Gewänder auszogen und bis zur Hüfte ins Wasser wateten.

Alle starrten die beiden an, selbst die Erwachsenen. Einige verbeugten sich vor Sera, andere murmelten »Sie lebe hoch!« oder »Die Auserwählte!«. Nicht weit entfernt waren Plenna, Jaycin und Heena. Sie waren ein paar Jahre älter als Sera und schon seit mehreren Monaten eine Trias.

Ihr fiel wieder ein, was Koreen am Vortag im Wolkenspinnerholz gesagt hatte: dass bald eine Hochzeitsphase käme. Nicht mehr lang, dann würden die drei heiraten. Und Sera wäre nicht dabei.

»Guten Tag, Plenna!«, rief Leela und winkte. Plennas Mutter wohnte in der Heimstatt neben Leela. Sera störte es, dass Leela so freundlich zu allen war, aber sofort schalt sie sich für diesen Gedanken. Es war nicht Leelas Schuld, dass Sera auserwählt worden war. Sie würde so oder so begafft werden.

Plenna zuckte zusammen und nickte Leela zu. Ihr Blick huschte zu Sera hinüber.

»Guten Tag, Auserwählte«, sagte sie.

Sera lachte, aber es klang gezwungen. »Hey, ich bin immer noch Sera.«

Plenna schien nicht zu wissen, was sie darauf antworten sollte. Jaycin legte den Arm um Plennas Taille und nickte etwas freundlicher.

»Guten Tag!«, sagte sie. Sera entging nicht, dass auch Jaycin sie nicht mit Vornamen ansprach.

Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst. Sie wollte, dass alles wieder so war wie vorher, als sie nur ein neugieriges, etwas seltsames Mädchen gewesen war, nicht mehr. Die Blicke der anderen waren wie Nadeln auf ihrer Haut. Sera holte tief Luft und tauchte ab. Unter Wasser katapultierte sie sich mit kräftigen Beinschlägen vorwärts. In der Tiefe war es still. Die Sonnenforelle interessierte es nicht, dass Sera die Auserwählte war. Angenehm drückte das Schweigen auf ihre Trommelfelle, das Wasser umspülte ihre nackte Haut.

Sera tauchte immer weiter. Auf dem Weg ans andere Ufer holte sie nur einmal Luft.

Dort angekommen, setzte sie sich auf den schlammigen Grund, nur ihr Kopf ragte aus dem Wasser. Sie sah zu, wie das ausgelassene Treiben auf der anderen Seite weiterging, kaum dass sie verschwunden war – und mit ihr der Hauch des Todes. Sera beobachtete, wie Plenna Heena den Rücken wusch, sich vorbeugte und sie auf die Schulter küsste. Lächelnd schloss Heena die Augen. Jaycin nutzte den Moment und spritzte die beiden nass. Heena lachte kreischend, zusammen mit Jaycin kippte sie mitten im Kuss ins Wasser, Plenna schüttelte den Kopf und tat, als schimpfe sie mit den beiden.

Nichts wünschte sich Sera sehnlicher, als selbst so etwas zu erleben, aber dazu würde es nie kommen. Der Schmerz, ihre Welt zurücklassen zu müssen, breitete sich in ihrer Brust aus.

Ein blauhaariger Kopf tauchte neben ihr auf. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus.

»Ich kann vielleicht nicht schnell schwimmen«, sagte Leela und setzte sich neben Sera auf den Grund, »aber ich kann länger die Luft anhalten als du.«

»Das stimmt«, sagte Sera und stieß Leela mit der Schulter an. »Du kannst Freeda auch viel besser überzeugen, dass sie uns ein oder zwei Pflaumen mehr aus dem Obstgarten geben soll.«

Leela grinste. »Mir kann halt niemand widerstehen, weil ich so süß bin.«

Sera kicherte. Das war ein gutes Gefühl. Es erdete sie, einfach nur gemeinsam herumzualbern. Sie hoffte, dass Leela wusste, wie sehr sie sie brauchte; wie viel Sera die Freundschaft bedeutete, besonders an diesem Tag, wo alles so anders und beängstigend war.

»Aber du«, fuhr Leela fort, »kannst Kustodin Imima mit deinen Fragen nach den Mondtöchtern besser auf die Palme bringen.«

»Es reicht, Sera!«, imitierten die beiden die weinerliche, nasale Stimme der Kustodin und brachen in Lachen aus. Sera tauchte mit dem Kopf unter Wasser, und als sie wieder nach oben schoss, war der kurze Moment guter Laune vorbei.

»Wieso behandeln mich alle immer so, als ob ich eine Fremde bin?«, fragte sie mit Blick auf das andere Ufer.

Leela griff nach ihrer Hand. »Du bist eine Cerulean. Du bist keine Fremde.«

Sera wollte lächeln, doch ihre Lippen schienen auf einmal vergessen zu haben, wie das ging. »Ich bin anders, das merke ich an ihrem Verhalten. Ich frage mich, ob sie sich jetzt irgendwie besser fühlen? Sind sie erleichtert, dass ich ausgewählt wurde? Ich glaube, wenn ich weg bin, denkt keiner mehr an mich.«

Der Satz hing zwischen ihnen wie ein schweres Pendel.

Leela legte die Hände auf Seras Schultern. Ihre blauen Augen wurden dunkel. »Ich weiß, dass wir Mutter Sonne und der Hohepriesterin vertrauen sollen. Ich weiß, dass diese Zeremonie notwendig ist. Ich weiß, dass sie für unser Volk das Beste ist. Aber …« Sie schaute von links nach rechts und hob den Zeigefinger.

… ich hasse es, beendete Leelas Herz den Satz voller Inbrunst. Erschrocken entzog Sera ihr die Hand.

Hassen war schlimmer, als Angst zu haben oder wütend zu sein. In der Stadt über dem Himmel wurde Hass nicht akzeptiert. Cerulean hassten nicht.

»Ich hasse es, dass sie dich mir wegnehmen«, flüsterte Leela. Sie schien zu spüren, dass Sera genau dieses eine Wort hören musste. »Ich hasse es, dass du auserwählt wurdest. Ich hasse es, dass ich allein zurückbleibe und den Rest meines Lebens ohne dich auskommen muss.« Eine Träne rann aus ihrem Auge. »Ich hasse es, dass ich dir nicht helfen kann.«

Sera hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken – als legten sich sehr kräftige Hände um ihren Hals. Sie schaute in Leelas offenes, liebevolles Gesicht und hielt ihr ihren glühenden Finger hin.

Ihrer beider Magie vereinigte sich. Sera schickte all die Liebe, die sie für ihre Freundin empfand, an den Blutbund. Jede Erinnerung, jeden einzelnen Moment. Sie schenkte Leela ihr Herz, ganz und gar, bis zur letzten Faser.

Liebe, Liebe, Liebe.

Nur eins hielt sie zurück, das Geheimnis, das sie nie offenbarte. Selbst in dieser trostlosen Zeit würde Sera es nicht preisgeben.

Sie spürte, wie Leelas Liebe sie erfüllte, wie ihre Herzen im Gleichtakt schlugen. So saßen sie dort, und das Wasser brach sich in kleinen Wellen an ihren Körpern, bis Leela schließlich aufschaute. Ihre Augen waren trocken.

»Komm, wir gucken nach dem Kleid, das deine Grünmutter für dich macht!«, schlug sie vor. »Das wird mit Sicherheit wunderschön.«

Sera nickte und schluckte ihre Angst hinunter. Sie warf einen kurzen Blick zum anderen Ufer hinüber, wo ihr Gewand neben denen der anderen lag.

»Ich würde lieber außenrum nach Hause gehen, wenn es dich nicht stört«, sagte Leela, stand auf und wrang sich das Wasser aus den Haaren. »Trocken werden wir ja auch beim Gehen.«

Sera wusste, dass Leela das nur vorgeschlagen hatte, um ihr zu helfen – ihre Freundin hatte Seras Widerwillen gespürt, ans andere Ufer zurückzukehren. Wenn sie zu Fuß gingen, würden sie zwar ihre Kleider zurücklassen, aber Seras Mütter würde es bestimmt nicht stören. Bald würde sie eh keine Gewänder mehr brauchen.

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