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Läuft bei mir (nicht) - Wie du deiner Depression auf die Nerven gehst

Als Buch hier erhältlich:

Das Leben wäre so einfach, wenn es nicht so schwer wäre. Der Moment, in dem ein Herz bricht, kann kurz sein. Der Weg aus dem Herzschmerz heraus unglaublich lang. Bella Mackie liegt am Boden: Sie ist Ende zwanzig, in ihrer Ehe gerade gescheitert und kämpft mit tief verwurzelten Ängsten und Depressionen. Bis sie eines Tages einfach aufsteht und losläuft. Erst schleppend, dann immer leichtfüßiger.
Schonungslos ehrlich erzählt Bella, wie sie so lange lief, bis ihrer Depression die Puste ausging: Vom erlösenden Moment, wenn man nicht mehr weiß, ob einem nun Tränen oder Schweißtropfen übers Gesicht laufen. Dabei war Sport so ziemlich das Letzte, was ihr zuvor bei all den Zweifeln und Ängsten durch den Kopf ging …


  • Erscheinungstag: 18.02.2020
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673914

Leseprobe

Für George,

den mutigsten Menschen, den ich kenne.

Ich verdanke dir unendlich viel.

1.
ALLES IST FURCHTBAR

Heute bin ich drei Minuten gelaufen. Im Dunkeln, langsam und nicht am Stück. Das ist mehr, als ich je in meinem Leben gelaufen bin. Ich bin außer Atem, habe Seitenstechen und fühle mich schon jetzt besser als in all den letzten Jahren. Das genügt für den ersten Versuch. Jetzt kann ich wieder nach Hause gehen und ein bisschen weinen. Oder Wein trinken.

Während ich noch auf dem Wohnzimmerboden lag und meinem Mann hinterherschaute, der sich zügig Richtung Tür bewegte, dachte ich darüber nach, was mich nun erwarten würde. Wenn eine Ehe scheitert, folgen eine unerträgliche Traurigkeit, viele unangenehme Fragen, manchmal sogar Scham. All das dürfte bei mir wohl eintreten. Während ich also den Teppich anstarrte, waren meine Gedanken schon einen Schritt weiter und machten sich ein vages Bild von der Zukunft. Ich begann sogar, die ersten furchtbaren Songs für die unvermeidliche Playlist zusammenzustellen, die von nun an wochenlang ab vier Uhr morgens meine Trauer in die Welt hinausschmettern würde.

Ich weiß nun, dass der eigentliche Moment, in dem einem das Herz bricht, erstaunlich kurz sein kann. Nicht immer zieht sich das Scheitern der Beziehung hin, wie man es sich bei Erwachsenen vorstellt, lösen sich Liebe und Nähe über Jahre auf, bis man sich nichts mehr zu sagen hat. Manchmal passiert es ganz plötzlich, auf einen Schlag und ohne jegliche Vorbereitung. Jemand steht dir gegenüber, sieht dir in die Augen und sagt, dass er dich nun verlasse, dass er dich nicht mehr liebe, dass er jemand anderen kennengelernt habe, dass er ausziehe, dass du nicht genügest, und du denkst: Aha, das ist also der Augenblick, in dem ich sterbe, weil ich das auf keinen Fall überleben werde. Irgendwo in deinem Körper wurde etwas brutal zerstört, und im Moment kannst du dir nichts anderes vorstellen, als auf dem Boden zu liegen und darauf zu warten, dass du den unausweichlichen Gang ins Licht gehen wirst.

Ich weiß nicht, welche Variante schlimmer ist. Beide sind grässlich; wie nun mal die meisten Trennungen. Einmal hörte ich die Geschichte von einem Paar, das im Restaurant saß und eine Stunde lang schweigend aß. Als der Kaffee serviert wurde, flüsterte der Mann seiner Frau etwas zu, und sie zischte: »Das Problem ist nicht der Kaffee, es sind die letzten fünfundzwanzig Jahre.« Zwar ist ein so langsames Auseinanderbrechen ziemlich schrecklich, aber die überraschende Variante trifft einen auf brutale Weise geradezu körperlich. Trotz des Schocks ist dies verrückterweise der einfachere Teil, weil man irgendwann realisiert, dass man doch nicht sterben wird. Außerdem kann man nicht einmal besonders lang auf den Teppich starren, weil man die Kinder von der Schule abholen, den Hund ausführen oder zur Arbeit gehen muss. Vielleicht muss man auch bloß pinkeln. Dein Schmerz kann es nicht einmal mit den banalsten Anforderungen eines ganz normalen Montags aufnehmen. Und nach dieser unliebsamen Erkenntnis siehst du die Zukunft ziemlich klar vor dir: Du wirst diese Situation irgendwie hinter dich bringen. Aber es dauert. Ein Herz ist schnell gebrochen, aber der Weg aus dem Herzschmerz ist unendlich lang, und manchmal ist einem die ganze Anstrengung einfach nur zu viel.

Als ich auf dem Boden lag, war mir klar, dass ich bald würde aufstehen müssen. Ich wusste sogar, dass es mit den richtigen Bewältigungsstrategien am Ende vielleicht okay sein könnte. Aber ich wusste auch: Im Gegensatz zu den meisten anderen Erwachsenen kannte ich keine dieser hilfreichen Bewältigungsstrategien.

Wir lernen zu fühlen, lange bevor wir lernen, unsere Gefühle zu verstehen. Babys lachen, weinen und werden wütend, können uns aber nicht sagen, warum. Wenn wir älter werden, entwickeln wir Methoden, um mit stressigen oder traumatischen Situationen zurechtzukommen. Als Teenager sind wir häufig frustriert und verwirrt, aber irgendwann lernen wir uns besser kennen und gehen allmählich reifer mit Gefühlen um. Als Erwachsene bauen wir diese Fähigkeiten aus und finden mit der Zeit heraus, wie wir unseren persönlichen Herausforderungen am besten begegnen können. Zumindest die meisten von uns. Bis zu diesem Moment auf dem Boden war ich mein Leben lang vor meinen Problemen davongelaufen. Schon als kleines Kind war ich ängstlich; und ich hatte zugelassen, dass meine Sorgen wucherten, die Kontrolle über mich gewannen und mein Leben bestimmten. Psychische Probleme hatten mein inneres Wachstum gehemmt. Ich war zu ängstlich, um mich Herausforderungen zu stellen, und versuchte mit aller Macht, mein Umfeld zu kontrollieren, um so mögliche Verletzungen zu vermeiden. Ich gab auf, wenn es schwierig wurde. Ließ Gelegenheiten sausen, die mich weitergebracht hätten oder durch die ich Unabhängigkeit gewonnen hätte. Ich hielt mich klein.

Schon früh hatte ich mich daran gewöhnt, den Kopf in den Sand zu stecken und Schlimmes mithilfe magischen Denkens abzuwenden. Anstatt zu erkennen, dass ich krank war, dachte ich mir Tricks aus, um mit meinen Sorgen und irrationalen Gedanken klarzukommen – aber keiner davon war sonderlich erfolgreich. Wenn mir ein beängstigender Gedanke kam, spuckte ich aus oder blinzelte, um ihn zu vertreiben. Ich vermied bestimmte Zahlen, Buchstaben, Farben, Lieder und Orte. Alles »Kompromisse«, die ich mit meinem Gehirn schloss, in der Hoffnung, die schlimmen Gedanken würden verschwinden, wenn ich mich nur streng an meine eigenen Regeln hielt. Nichts von all dem funktionierte, und meine Ängste schossen wie Pilze aus dem Boden. Meine Bewältigungsstrategien waren falsche Freunde, und so hatte ich Platzangst, Panikattacken, intrusive Gedanken, Hysterie und Depressionen. Als mein Mann mich verließ, hatte ich bereits jahrelang so gelebt. Ich konnte (ernsthaft) nicht allein in den Supermarkt gehen, geschweige denn, meinen Weg durch eine derart einschneidende Trennung finden. Ich musste irgendwie vom Boden aufstehen, aber ich wusste nicht, was ich danach tun sollte. Alles war angstbehaftet.

Angst ist schwer zu fassen. Eine Angststörung äußert sich so unterschiedlich, dass sie häufig erst diagnostiziert wird, wenn man bereits vollkommen verzweifelt ist. Man kann jahrelang unter Panikattacken leiden, ohne sie als solche zu erkennen. Vielleicht glaubt man, man sei schwer krank, erleide einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt (so wie ich mit achtzehn in einem Club, zur Erheiterung meiner betrunkenen Freunde) oder man recherchiert obsessiv die Symptome hohen Blutdrucks. Vielleicht schämt man sich seiner Gedanken so sehr, dass man nie jemandem davon erzählt. Erst recht würde man nicht in Erwägung ziehen, dass sie auf eine Zwangsstörung schließen lassen. Anstatt mit den schrecklichen Bildern und Gedanken fertigwerden zu wollen, die einem plötzlich in den Kopf kommen, und sie als bloße und vor allem harmlose Gedanken zu identifizieren, verbringt man unter Umständen Jahre damit, sie zum Schweigen zu bringen. Und als wäre das nicht schon genug, kann all dies zu schweren Depressionen führen. Ich hatte Weinkrämpfe und blieb stundenlang im Bett. Ich verschlief ganze Tage. Ich sah mehr fern, als ein zufriedener Mensch es tun sollte oder würde. Ich war noch viel zu jung, als ich bereits jegliche Hoffnung verloren hatte.

Wenn man dieses Stadium erreicht, hat man als Mensch mit einer Angststörung wahrscheinlich bereits eigene Mechanismen entwickelt, um mit diesen beängstigenden Gedanken und Empfindungen umzugehen. Diese Bewältigungsstrategien sind in der Regel strikt und unveränderlich. Und so gut wie nie helfen sie wirklich – erst recht nicht auf lange Sicht. Sie verschaffen einem kurzfristig Erleichterung, aber letztendlich verstärken sie nur die eigentlich zu bekämpfenden Ängste.

Eine meiner Taktiken war, nie an einen Ort zurückzukehren, an dem ich eine Panikattacke gehabt hatte. Das war für mich ein vernünftiger Weg, um nicht erneut in diese Situation zu geraten. Bloß führte dies dazu, dass am Ende ein Großteil Londons für mich tabu war, unter anderem die nächste Einkaufsstraße, der Park und die meisten Geschäfte. Und es weitete sich aus auf Flugzeuge, Aufzüge, Autobahnen, auf alles, was zu weit von einem Krankenhaus entfernt war, selbst auf die Tube (ich war ein echter Partykracher). Die gewonnene Beruhigung war trügerisch, denn bald saß ich in der Falle – ich musste alle Orte meiden, die mein Geist für »unsicher« hielt. Heute weiß ich, dass ich jahrelang mit einer Angststörung lebte, aber damals war ich so an meine lausigen Deals gewöhnt, dass ich erst Hilfe suchte, als diese Methoden mich absolut beherrschten und mir keinerlei Spielraum mehr ließen.

Und gibt es einen besseren Grund für eine Veränderung als eine Trennung im ersten Ehejahr? Da sich die Menschen in Deutschland in der Regel erst nach fünfzehn Jahren scheiden lassen, fühlt es sich an wie eine besondere Meisterleistung, wenn das eigene Ehegelübde nicht einmal ein Jahr hält. Etwas länger, und es wäre vielleicht traurig, unvermeidlich oder »typisch für die jungen Leute, die sich auf nichts mehr einlassen können« gewesen, aber nach acht Monaten? Vielleicht keine schlechte Gelegenheit, sein bisheriges Leben einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Selbst ohne die zusätzliche Unannehmlichkeit einer gescheiterten Ehe wusste ich damals, dass ich an einem kritischen Punkt angekommen war. Zu lange hatte ich alles, was mir Angst machte, vermieden. Meine Welt war derart geschrumpft, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Trotz meiner sorgfältigen Strategien und Vorsichtsmaßnahmen (im Klartext: absolute Kontrolle über alles und irrationales Denken an allen Ecken und Enden – wie gesagt, eine echte Spaßkanone auf Partys) war nun das Schlimmste eingetreten. Das System, das ich mir seit meiner Kindheit aufgebaut hatte, hatte mich weder vor Schmerz noch vor Demütigung geschützt. Im Gegenteil, es hat sie sogar in hohem Maße befördert.

Nachdem mein Mann weg war und meine Schwester mich aus der Embryonalhaltung holte und mich zum Aufstehen zwang, ich weinte und betrank mich mehrere Tage lang. Ich erinnere mich an nichts aus dieser Phase. Dafür bin ich meinem Gehirn dankbar – dieses eine Mal hat es mir einen echten Gefallen getan. Wahrscheinlich habe ich viele Gespräche über Schlafen und Essen geführt, aber sicher weiß ich nur noch, dass ich mir eine ganze Staffel Game of Thrones ohne meine Schwester reingezogen hatte und sie deshalb sauer war.

Ich nahm mir einen Tag frei, aber dann ging ich wieder zur Arbeit, wo ich abwechselnd auf der Toilette weinte (mein Mann arbeitete für dasselbe Unternehmen – was für ein Spaß), stumm an meinem Schreibtisch saß und Dudelsackmusik über meine Kopfhörer hörte, um es zu ertragen, wenn er vorbeilief. Das hat übrigens eigenartigerweise funktioniert – ich kann es allen empfehlen, die für irgendetwas Mut brauchen. »Highland Laddie« ist ein guter Einstieg.

Ich war wie gelähmt. Mir war klar, ich musste diese schmerzhaften, schwierigen Gefühle durchstehen, aber gleichzeitig machte ich mir Sorgen, dass ich mich nie davon erholen würde. Das Leben um einen herum geht weiter, egal, wie sehr die eigene Welt aus den Fugen geraten ist. Ich sah diese Normalität, aber ich wollte sie gar nicht. Bei der Arbeit ging ich davon aus, dass ich in ein paar Monaten die Trennung überwunden haben würde, befürchtete aber gleichzeitig, dass ich nach wie vor in meinem engen Zirkel eingesperrt sein würde, mit Angst und Depressionen als einzigen Wegbegleitern.

Es ist nicht schwer, so zu tun, als wäre alles in Ordnung – selbst wenn man an einer überwältigenden psychischen Krankheit leidet. Sogar zu meinen schlimmsten Zeiten schaffte ich es, meinen Job zu behalten, Witze zu reißen und gerade so häufig auszugehen, dass ich nicht als Einsiedlerin galt. Viele Menschen werden Experten darin und tricksen sich sogar selbst aus. Wahrscheinlich hätte ich ewig so weitermachen, mein reduziertes Leben führen und so tun können, als wäre das okay für mich. Aber etwas war zerbrochen, es ging nicht mehr. Ich hatte zu lange auf diese Weise gelebt, und nun war ich erschöpft.

Ich glaubte, als Versagerin entlarvt zu sein – ein feiges Kind, das so tut, als wäre es erwachsen, das in der Welt der Erwachsenen aber eigentlich nichts zu suchen hat. J. K. Rowling sagt, ihr Tiefpunkt sei der Grundstein für ihr heutiges Leben gewesen – weil ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt wurden, gab es keine andere Richtung mehr als aufwärts.1 Ausnahmsweise verzeihe ich ihr das Klischee und gebe sogar zu – wenn auch etwas widerwillig –, dass etwas dran ist. Rowling hat eine magische Welt voller Zauberer erschaffen und ist auf diese Weise eine der reichsten Frauen der Welt geworden. Mein persönlicher Tiefpunkt hat mich dazu gebracht zu joggen.

Nach einer Woche Singledasein hatte ich die Idee, ich könnte laufen gehen. In Der Fänger im Roggen2 gibt es eine Stelle, in der Holden Caulfield plötzlich losrennt und achselzuckend erklärt: »Ich weiß nicht mal, warum ich überhaupt gerannt bin – wahrscheinlich war mir einfach danach.« Vielleicht hatte ich einfach nur die Schnauze voll davon, mich so verdammt elend zu fühlen, oder vielleicht wusste ich da schon, dass ich versuchen musste, etwas anderes auszuprobieren – auf jeden Fall hatte ich an dem Tag einfach Lust zu laufen.

Ich weiß bis heute nicht, warum ich mich in meinem Kummer ausgerechnet für diesen Weg entschieden habe. Ich hatte noch nie zuvor freiwillig irgendwelche körperlichen Anstrengungen auf mich genommen. Stattdessen hatte ich mein Leben lang den Drang wegzulaufen im Zaum gehalten – weg von meinem Geist, meinen negativen Gedanken, von den Sorgen, die sich auftürmten und verhärteten, Schicht für Schicht, bis ich nicht mehr gegen sie ankam. Vielleicht war das plötzliche Bedürfnis zu rennen ein körperlicher Ausdruck des Wunsches, meinem eigenen Gehirn zu entkommen. Ich wollte es diesmal wohl wirklich durchziehen.

Außerdem wollte ich unbedingt vermeiden, eine dieser stereotypen Frauen zu sein, die man mit einer Trennung verbindet und die eimerweise Eiscreme in sich reinschaufeln – ich war schon immer ein Fan schneller Lösungen. Die schlechten Gefühle und der Liebeskummer sollten sofort verschwinden. Und eine Trennung ist ein guter Zeitpunkt, um etwas Neues auszuprobieren. Mein zusätzlicher Antrieb war, dass ich die Ängste loswerden wollte, die mich mein Leben lang begleitet hatten. Ich hatte außerdem das Gefühl, dass mir langsam die Zeit davonlief, in der ich dies schaffen könnte. Ich stand kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag und fürchtete, ich könnte die Trennung als Ausrede nehmen, mich noch mehr zurückzuziehen und mich aus Angst vor dem Leben noch mehr einzuschränken.

Ich war aber keinesfalls bereit, einfach in der Öffentlichkeit loszulaufen. Wenn man zu viel Angst hat, um in den Supermarkt zu gehen, werden einem solch grandiose Ideen rasch ausgetrieben. Ich rannte auch nicht – wie auf dem Höhepunkt eines Films – über eine Steppe oder durch strömenden Regen. In Wirklichkeit wusste ich nicht, was ich da tat, und fragte mich flüchtig, ob ich dabei war, den Verstand zu verlieren. Es war so ungewöhnlich für mich, so etwas zu wollen – aber während ich noch mit mir haderte, steckte ich den Schlüssel ein und band mir die Turnschuhe zu.

In ausgeleierten Leggings und T-Shirt ging ich zu einer dunklen Gasse, die eine halbe Minute von meiner Wohnung entfernt ist. Sie erfüllte zwei wichtige Kriterien: nah genug an meinem sicheren Zuhause und ruhig genug, dass mich dort keiner auslachen würde. Es war ein absurdes, leicht beschämendes Gefühl – als würde ich etwas Perverses tun, bei dem mich niemand beobachten sollte. Glücklicherweise war das einzige Lebewesen dort eine Katze. Verächtlich starrte sie mich an, als ich all meinen Mut zusammennahm, um mich in Bewegung zu setzen. Ich war dankbar, dass die Katze sofort verschwand. Und jeder Hinweis auf einen sich nähernden Menschen hätte mich sofort stoppen lassen. Bei dieser Art von Selbstbestrafung war ich zu verletzlich, um mich den Blicken Fremder auszusetzen.

Ich setzte die Kopfhörer auf, suchte nach passender Musik und entschied mich für einen Song mit dem Titel »She Fucking Hates Me« von einer Band namens Puddle of Mudd. Eigentlich nicht mein Geschmack, aber der Text war angemessen wütend und ich wollte nichts hören, was mich zum Weinen bringen würde (alles brachte mich zum Weinen). Der Song ist drei Minuten und einunddreißig Sekunden lang und die Zeile »She fucking hates me« wird so oft wiederholt, wie man es erwarten würde. Ich glaube, ich schaffte es, etwa dreißig Sekunden zu joggen, bis ich stehen bleiben musste, weil meine Waden schmerzten und meine Lunge brannte. Aber der Song kurbelte meine Adrenalinausschüttung an, also machte ich eine Minute Pause und startete einen neuen Versuch. Irgendwie gelang es mir, im Takt zu laufen, während ich stumm die vom Sänger gebrüllten Worte mitsang und mit verzerrtem Gesicht weitertrampelte. Ich schaffte unglaubliche drei Minuten in Etappen (fast den ganzen Song!), bevor ich aufgab und nach Hause ging. Fühlte ich mich besser? Nein. Hat es Spaß gemacht? Auch nicht. Aber ich hatte mindestens eine Viertelstunde lang nicht geweint, und das war schon eine ganze Menge für mich.

Zu meiner eigenen Überraschung beließ ich es nicht dabei. Ich wollte nicht weitermachen, es war schließlich ziemlich grauenhaft gewesen, aber irgendetwas in mir übertönte all meine Ausreden. Am nächsten Tag ging ich wieder zu der Gasse. Und am übernächsten auch. Diese ersten Versuche waren wirklich erbärmlich. Ein paar Sekunden, schlurfen, stoppen. Warten. Wieder los. Wenn jemand aus dem Schatten auftauchte, erstarren. Sich lächerlich fühlen. Trotzdem weitermachen. Immer im Dunkeln, immer im Geheimen, als wäre es etwas Verbotenes.

Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat oder was ich mir von diesen Läufen in der Gasse versprach. Das Ergebnis war, dass ich in den darauffolgenden Wochen zu ehrgeizig wurde und sich viele kleinere Katastrophen ereigneten. Ich hatte Shin splints, was höllisch wehtat. Ich lief zu schnell, röchelte unkontrollierbar und musste stehen bleiben. Ich versuchte, einen Hügel hinaufzulaufen, musste mich aber geschlagen geben und den Bus nehmen, als klar war, dass der Hügel gewonnen hatte. Ich erlitt eine Panikattacke in einer dunklen Ecke des Parks bei mir in der Nähe, weil ich den Zeitpunkt des Sonnenuntergangs falsch eingeschätzt hatte und mir unvermittelt bewusst wurde, dass ich ganz allein war. Ich fiel hin und weinte wie ein Kind. Laufen fühlte sich an wie eine Sprache, die ich nicht beherrschte – und das nicht nur, weil ich extrem unsportlich war. Es schien etwas zu sein, das nur fröhliche, gesunde, muntere Menschen taten, keine neurotischen Raucher, denen alles Angst einjagte.

Mein Leben lang hatte ich dazu geneigt, alles, was ich nicht beim ersten Anlauf hinbekam, wieder zu lassen. Mir war peinlich bewusst, dass ich nicht gut lief. Ich wurde nicht einmal besser. Zu meinem eigenen leisen Erstaunen machte ich dennoch weiter. Zwei Wochen lang trottete ich die dunkle Gasse auf und ab. Und als ich schließlich gelangweilt statt verängstigt und atemlos war, lief ich ein Stückchen weiter. In den ersten Monaten blieb ich in den Straßen, die sich unmittelbar um meine Wohnung herum befanden – mein Gehirn war ständig damit beschäftigt, Fluchtwege auszumachen –, drehte meine Runden durch stille Straßen und zuckte zusammen, wenn Autos vorbeifuhren. Ich war langsam, traurig und wütend. Aber mir wurden zwei Dinge klar. Erstens: Wenn ich lief, war ich etwas weniger traurig. Mein Geist wurde ruhiger – ein Teil meines Gehirns schien abzuschalten oder zumindest für ein paar Minuten die Kontrolle abzugeben. Ich dachte nicht über meine Ehe nach oder über meinen Beitrag zu ihrem Scheitern. Ich fragte mich nicht, ob mein Mann glücklich war, gerade ein tolles Date hatte oder überhaupt nicht mehr an mich dachte. Die Erleichterung, die mir das bescherte, war gewaltig.

Zweitens, und noch wertvoller: Mir fiel auf, dass ich weniger verängstigt war. Bald gelangte ich in Teile der Stadt, die ich seit Jahren nicht hatte besuchen können, vor allem nicht allein. Ich rede hier nicht von Soho und den Menschenmengen dort, aber innerhalb eines Monats konnte ich immerhin über den Camden Market laufen, ohne mich zu fühlen, als würde ich in Ohnmacht fallen oder zusammenbrechen. Ich hätte das nicht gekonnt, wenn ich bloß langsam gegangen wäre – ich hatte es viele Male probiert, aber dann überfiel mich die Angst, ich bekam schweißnasse Hände und die Panik übernahm die Kontrolle. Irgendwie war es beim Laufen anders. Wenn das eigene Gehirn einem stinknormale Ausflüge verweigert, die andere ständig machen, streicht man sich den Tag rot im Kalender an, an dem man an Ständen vorbeilaufen konnte, wo »Nobody knows I’m a lesbian«-T-Shirts verkauft werden. Indem ich mich auf den Rhythmus meiner Füße auf dem Gehweg konzentrierte, achtete ich weniger zwanghaft auf meine Atmung, auf die vielen Menschen oder darauf, wie weit ich von zu Hause entfernt war. Ich konnte mich in einer Gegend aufhalten, die mein Gehirn eigentlich als »unsicher« abgespeichert hatte, ohne das Gefühl zu haben, jeden Augenblick umzukippen. Das war ein Wunder.

Joyce Carol Oates hat einmal beschrieben, wie das Laufen ihr das Schreiben ermöglicht, da »der Geist mit dem Körper fliegt.«3 Ich verstehe das so, dass der Körper das Gehirn auf eine Reise mitnimmt. Der Geist sitzt einmal nicht am Steuer. Man konzentriert sich auf die brennenden Beine, die Bewegung der Arme. Man spürt den eigenen Herzschlag, den Schweiß, der einem in die Ohren tropft, die Art, wie der Oberkörper bei jedem Schritt hin und her schwingt. Hat man seinen Rhythmus gefunden, registriert man Hindernisse oder Menschen, denen man aus dem Weg gehen muss. Es springen einem Details an Gebäuden ins Auge, die einem nie zuvor aufgefallen sind. Man beschäftigt sich mit dem Wetter. Natürlich ist das Gehirn an all dem beteiligt, aber es ist nicht seine übliche Tätigkeit. Mein Geist, der es gewohnt ist, mir mit endlosen »Was, wenn«-Gedanken Angst zu machen oder mich voller Vergnügen mit ständigen Flashbacks meiner schlimmsten Erfahrungen zu quälen, hatte schlicht und einfach keine Chance gegen die Notwendigkeit, sich bei diesem Tempo zu konzentrieren. Ich hatte ihn wohl ausgetrickst, zermürbt oder ihm einfach eine neue Beschäftigung gegeben.

Viel wurde darüber geforscht, weshalb Laufen den Kopf freimacht. Das finde ich gut – ich würde gern genau wissen, weshalb es mein Leben verändert hat, aber ehrlich gesagt bin ich vor allem froh, dass es so gekommen ist. Studien zeigen, dass bei Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen und älteren Menschen nach Bewegung die Aktivität im Frontallappen – dem Bereich, der für Konzentration zuständig ist – ansteigt.4, 5 Bei der Forschung an Tieren wurde festgestellt, dass durch Bewegung neue Neuronen erzeugt werden – Zellen im Hippocampus, die mit Erinnerung und Lernen assoziiert sind.6 Das alles ist faszinierend. Aber für mich kann nichts davon adäquat den Rausch wiedergeben, den der Sport einem verspricht – und der für die meisten von uns das Wichtigste daran ist –, das sogenannte Runner’s High. (Menschen mit mehr Drogenerfahrung als ich können besser beurteilen, ob es mit einem eher … äh … entspannenden Rausch vergleichbar ist.) Dass etwa eine Stunde dynamischer Bewegung am Tag unsere gestressten, düsteren Gehirne beruhigen kann, ist eine verheißungsvolle Vorstellung, besonders für diejenigen, die seit Längerem anhaltend (sprich, schon unerträglich lang) mit Depressionen oder Ängsten zu kämpfen haben.

Das ist es, was ich gerade zu entdecken begann. Auch Wochen, nachdem meine Ehe zerbrochen war, litt ich immer noch. Bei der Arbeit ging ich regelmäßig auf die Toilette, um leise zu weinen. Sobald ich zu Hause ankam, schlüpfte ich in den Schlafanzug und ließ mich gleichgültig von allem berieseln, was im Fernsehen lief. Wenn ich ausging, trank ich zu viel und weinte wieder (weniger leise, sehr zur Freude meiner Freunde). Aber wenn ich lief, ließ ich all das hinter mir. Niemand legte voller Mitgefühl den Kopf schief oder machte mich mit einer Umarmung fertig. Man bemerkte mich nicht einmal. Ich verschmolz mit der Stadt – nur eine weitere lästige Läuferin in Neonklamotten. Zu Hause fühlte ich mich schrecklich einsam. Ich hatte mir angewöhnt, so ausgebreitet wie ein Seestern zu schlafen, damit ich nicht am Morgen auf die Seite rollte, die kalt und leer war und mich an alles erinnerte, was ich verloren hatte. Aber wenn ich morgens zu meinem ersten Lauf aufbrach, fühlte ich mich nicht mehr allein. Bald suchte ich mir kleine Herausforderungen: Heute läufst du zwei Minuten länger, morgen nimmst du die belebte Straße, die du seit Jahren vermeidest. Je häufiger ich das tat, desto mehr entdeckte ich die Stadt neu, in der ich lebte und von der ich trotzdem kaum etwas wusste – immerhin war sie lange Zeit ein Ort voller vermeintlicher Gefahren für mich gewesen. Ich lief die Holloway Road entlang und sah mir die oberen Stockwerke der heruntergekommenen alten Häuser an, in denen sich unten kleine Läden und Supermärkte befanden. Ich entdeckte Schienen, die sich versteckt wie Arterien durch die Stadt schlängelten. Ich lief an einem Kanal entlang und stieß auf Brombeerbüsche, Wildblumen und Entenbabys, die neben mir entlangschwammen. Die Panikattacken ließen nach. Nicht ein einziges Mal hatte ich den Drang, einen Fluchtweg zu finden; meine Füße hatten die Kontrolle übernommen und ich lief nicht davon, sondern lief, weil ich es wollte. Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich Dinge wahr, ohne dass in meinem Kopf ständig die Alarmglocken schrillten.

Es würde zu weit führen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich beim Laufen wie ein Kind fühlte, aber ich empfand definitiv eine Leichtigkeit und eine Unbekümmertheit, die ich nur von jungen Menschen kenne (und Betrunkenen, aber die bereuen es später, was Kinder hoffentlich nicht tun). Das sollte eigentlich nicht überraschen; schon in jungen Jahren werden wir ermuntert zu hüpfen, springen, tanzen, laufen und Mannschaftssport zu treiben. Wie Louisa May Alcott schreibt: »Mich zu bewegen hat mir schon als Sechsjährige Vergnügen bereitet, wenn ich meinen Reifen ohne abzusetzen rund um den Dorfplatz trieb, genau wie später, wenn ich über dreißig Kilometer in fünf Stunden lief und am selben Abend auf eine Party ging. Ich habe immer gemeint, ich müsse früher einmal ein Reh oder ein Pferd gewesen sein, weil ich so unglaublich gerne lief.«7 Instinktiv wissen wir, dass junge Menschen ihren Körper benutzen müssen, und das nicht nur für ihre körperliche Gesundheit. Es gibt nicht viele Studien darüber, und sie sind im Allgemeinen Querschnittsstudien, aber eine vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE) über Kinder und sportliche Betätigung kommentiert die Ergebnisse einer Umfrage unter 933 Kindern. Demnach haben Acht- bis Zwölfjährige, die als nicht aktiv eingestuft wurden, und Kinder, die nicht die Standards für als gesund geltende körperliche Fitness erfüllen, im Gegensatz zu aktiven Kindern ein erhöhtes Risiko, Symptome einer Depression zu entwickeln.8 Eine Analyse klinischer Versuche zu Sport und seinen Auswirkungen auf die depressive Symptomatik bei Teenagern zwischen dreizehn und siebzehn deutet anscheinend darauf hin, dass Bewegung ein wirksamer Behandlungsansatz ist.9

Ich selbst gab mir als jüngerer Mensch nie die Gelegenheit, diese Erfahrung zu machen. Es wäre zu einfach, allein die Angststörung dafür verantwortlich zu machen, wenngleich sie sicher dazu beigetragen hat. Ich war rundlich, ziemlich unbeliebt und betrachtete Sport als einen ekelhaften Beliebtheitswettbewerb. Ich hoffe, dass sich die Dinge seit meiner Grundschulzeit geändert haben, aber ob man Sport trieb, war auch abhängig davon, welches Geschlecht man hatte. So gut wie nie waren Mädchen auf dem Fußballfeld zu sehen, und es wurde allgemein akzeptiert, dass wir uns in Gruppen auf den Sportplatz setzten, während die Jungen sich am Ball austobten. Der Unterschied ist nach wie vor deutlich – eine Studie des Robert Koch-Instituts zu Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland zeigt, dass lediglich 22,4 Prozent der Mädchen und 29,4 Prozent der Jungen im Alter von drei bis siebzehn Jahren mindestens eine Stunde am Tag aktiv sind und damit die Bewegungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation erreichen.10

Mit steigendem Lebensalter nimmt die sportliche Betätigung der Kinder kontinuierlich ab.11 Und dieser Rückgang setzte sich bei mir auf der weiterführenden Schule fort, wo wir auf ein durchnässtes Feld marschieren und Hockey spielen mussten (eben weil wir Mädchen waren – die andere Option wäre Korbball gewesen). Ich wurde ausnahmslos als Letzte gewählt und hielt mich so fern vom Geschehen wie möglich. Als wir etwas älter waren, stand uns auch ein unbegleiteter Gang durch den Park zur Auswahl. Da dabei a) Jungs und b) Zigaretten involviert waren, fiel mir die Entscheidung nicht schwer.

Die Organisation Women in Sport führte vor Kurzem eine Studie durch zur unterschiedlichen Sportlichkeit von Mädchen und Jungen. Das Ergebnis war, dass nur zwölf Prozent der Mädchen im Alter von vierzehn Jahren sich unter der Woche genügend bewegen.12, 13 Im Kontrast zu dieser miserablen Zahl sagten 67 Prozent der fünfzehnjährigen Mädchen aus, dass sie gern mehr Sport treiben würden, sie die zur Auswahl stehenden Sportarten jedoch entmutigten.

Der andere (und aus meiner Sicht traurigere) Grund, den sie angaben, war, dass Sport »unweiblich« sei. Ich erinnere mich gut an das Gefühl, dass Sport irgendwie nicht würdevoll oder elegant war. Man schwitzte und stöhnte dabei, das Gesicht war zu einer wütenden Fratze verzerrt, und es konnte gut sein, dass es peinlich endete – alles Dinge, die jeder Teenager klugerweise (oder vielleicht bloß instinktiv?) meidet wie die Pest.

Wenn Kinder keinen Ganztagsunterricht mehr haben, treiben sie unter Umständen noch weniger Sport. Klar, manche nehmen sich die Zeit, joggen oder gehen ins Fitnessstudio, aber es wird schwieriger. Und wenn man anfängt zu studieren, wird es noch unwahrscheinlicher, dass man die Zeit aufbringt – bei all der Arbeit und den ganzen Mottopartys, die man besuchen muss. Nicht ohne Grund gibt es das alte, aber wahre Klischee der Freshers’ Fifteen, das besagt, dass man im ersten Studienjahr in der Regel fünfzehn Pfund zulegt. Das spiegelt meine Erfahrung wider: Aktiv zu werden bedeutete, sich irgendwann nach Mittag aus dem Bett zu wälzen und eventuell zum nächsten Laden zu laufen, um Zigaretten und Chips zu holen. Ziemlich normal für Studenten zu meiner Zeit. Dummerweise ist das auch das Alter, in dem Angsterkrankungen besonders heftig auftreten. Zwangsstörungen zum Beispiel entwickeln sich normalerweise bis zum zwanzigsten Lebensjahr.14 Elemente dieser psychischen Probleme zeigen sich meist schon früher (Phobien zum Beispiel können bereits bei Siebenjährigen auftreten), aber als junger Erwachsener ist man leichte Beute für die schwereren Formen von Angst und Depressionen, und sie treffen einen mit voller Wucht. Das liegt nahe, schließlich ist dies die Zeit, in der plötzlich die geordneten Strukturen durch Schule und Eltern wegfallen, man gewöhnlich zum ersten Mal selbst für alles verantwortlich ist. Manche blühen dadurch auf, viele aber auch nicht. Ich gehörte zu Letzteren.

Es war mir gelungen, die Schule abzuschließen. Meine kindlichen Ängste hatten sich zurückgehalten. Umso härter traf es mich, als ich eines Tages in der Universität wie aus dem Nichts wieder mit ihnen konfrontiert war. Ich erlitt im Hof eine furchtbare Panikattacke. Die alten Gefühle traten so unerwartet auf, dass ich auf meine bewährte Vogel-Strauß-Taktik zurückgriff und versuchte, sie zu ignorieren. Anstatt mich zu fragen, warum es passiert war, vermied ich jeden Gedanken daran. Aber die Panik nahm in beängstigend kurzer Zeit massiv zu, und innerhalb von zwei Wochen entwickelte ich ein neues Symptom, das mir extrem unheimlich war: Dissoziation. Das Clevere (kein Kompliment) an einer Angststörung ist, dass sie einem, sobald man mit einer Sache zurechtkommt (nächtliche Schweißausbrüche, Panikattacken, Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen – kommt alle zu mir, Freunde), die nächste vor die Füße wirft. Man kann dann mit Fug und Recht davon ausgehen, dass es diesmal noch schlimmer wird.

Dissoziation (oder Derealisation) ist ein Zustand, in dem die Welt plötzlich unwirklich erscheint. Oh, ich glaube, das klingt nicht annähernd so entsetzlich, wie es tatsächlich ist. Nicht nur die Welt fühlt sich plötzlich unwirklich an, auch die Menschen, die man liebt, wirken unecht, das eigene Zuhause hat etwas von einer Kulisse, der eigene Hund wirkt trügerisch, das eigene Gesicht wird einem fremd. Alles macht den Eindruck einer Inszenierung, alles wirkt falsch und einfach … nicht ganz richtig. Später erfuhr ich, dass Psychiater annehmen, es handle sich um eine Reaktion des Gehirns, wenn es von zu vielen Sorgen erschöpft ist – es macht sozusagen zu einem gewissen Grad die Schotten dicht. Eigentlich ist es also ein Schutzmechanismus, aber für mich fühlt es sich ein bisschen so an, als würde eine Freundin mit meinem Partner schlafen und mir erklären, sie habe es nur getan, um mir zu helfen. Besten Dank auch.

Was wäre passiert, hätte ich damals meine Turnschuhe geschnürt und versucht, diesen Gefühlen durch Laufen zu entkommen? Das habe ich mich seitdem oft gefragt. So einfach ist es natürlich nicht, und es wäre geradezu beleidigend und unverantwortlich auch nur anzudeuten, dass es das sein könnte. Laufen ist kein Allheilmittel für schwere psychische Erkrankungen – oder für sonst irgendetwas. Es ist wichtig, dies gleich zu Anfang deutlich zu machen. Aber ich denke häufig an die junge Frau, die ich damals war, und wünschte, ich könnte zurückgehen und andere Dinge ausprobieren, so wie viele meiner Freunde dies in schwierigen Phasen taten. Die Zeit zwischen zwanzig und dreißig ist zum Experimentieren da, zum Spaßhaben und dazu, alles zu genießen, was das Leben einem bietet – heißt es zumindest. Für viele ist es stattdessen eine Zeit massiver Unsicherheit, voller Schulden und dem Gefühl, nicht dazuzugehören – ein Jahrzehnt der Sorgen und Ängste. Ich tat also, was ich konnte. Ich brach das Studium ab, ging zu einem Psychiater und nahm die Antidepressiva, die ich rasch verschrieben bekam. Was wäre die Alternative gewesen? Zu diesem Zeitpunkt schlichen sich Suizidgedanken ein, und selbst durch mein extrem irreales Prisma konnte ich erkennen, dass solche Gedanken nur zu etwas führen würden, über das ich nicht genauer nachdenken wollte.

Trotz alledem hatte ich großes Glück – es ist sehr wichtig, dass ich auch das anerkenne. Ich hatte eine Familie, die zwar vielleicht nicht immer ganz verstand, warum ihre Tochter die ganze Zeit hysterisch weinte und sich weigerte vor die Tür zu gehen, die aber über die finanziellen Mittel verfügte, mich zu einem Psychiater schicken zu können. 78 Prozent der britischen Studenten gaben 2015 an, ein psychisches Problem zu haben, und 33 Prozent von diesen hatten Suizidgedanken.15 Mein Hausarzt war freundlich, konnte mir aber nur anbieten, mich auf eine Warteliste für eine Therapie zu setzen; die Wartezeit betrug damals sechs Monate. Mehr als einer von zehn Betroffenen wartet zurzeit über ein Jahr darauf, irgendeine Art von Gesprächstherapie zu bekommen. Genauso viele müssen jede Hilfe aus eigener Tasche zahlen. Manche Universitäten bieten nun für Studenten mit Depressionen und Angststörungen Sportgruppen an (ergänzend zu den üblichen Gesprächstherapien). Es ist ermutigend, dass Experten für psychische Gesundheit das Körperliche und das Mentale in Verbindung bringen, auch wenn deren Zusammenhang noch nicht in Gänze erforscht ist.

Eine körperliche Aktivität wie Laufen hilft nicht nur bei Depressionen und Angst. Gut möglich, dass Sie gerade, während Sie dies lesen, etwas ähnlich Isolierendes erleben: Einsamkeit. Allmählich rücken die enormen Auswirkungen von Einsamkeit auf unsere geistige und körperliche Gesundheit in den Fokus. Dennoch scheuen sich immer noch viele Menschen zuzugeben, dass sie darunter leiden. Das Stigma, das die Einsamkeit umgibt, vermittelt uns das Gefühl, wir seien erbärmlich, nicht liebenswert, unpassend – und es kann wirklich schwer sein, sie zu überwinden. Man sagt, es sei hart, allein durchs Leben zu gehen. Allein zu joggen kann auch verdammt hart sein. Vielleicht hat das Konzept des Parkrun deshalb so einen durchschlagenden Erfolg. Jede Woche versammeln sich in 414 Parks im Vereinigten Königreich (und in vierzehn Ländern weltweit) Menschen, um zusammen zu joggen.16 Wenngleich es für mich oft wichtig ist, allein loszuziehen, habe ich einige meiner besten Läufe mit meiner Schwester, einem Ex-Freund und mit neuen Freunden erlebt. Wir schleppten uns nebeneinanderher und wurden nach und nach immer vertrauter miteinander, während wir uns gegenseitig mitzogen. Es ist echt erstaunlich, wie nah man sich jemandem fühlen kann, wenn beide nicht mehr in der Lage sind, die Fassade aufrechtzuerhalten, weil sie hecheln und schwitzen.

Als ich dieses Buch schrieb, wurde von der Glasgow Caledonian University eine Umfrage unter mehr als 8000 Personen durchgeführt, um herauszufinden, ob Laufen einen glücklicher machen kann. Der verwendete Fragebogen war der sogenannte Oxford Happiness Questionnaire. Die Teilnehmer sollten die Fragen mithilfe einer Skala von eins (glücklich) bis sechs (extrem unglücklich) beantworten. Die Parkrun-Teilnehmer erzielten im Durchschnitt ein Ergebnis von 4,4 Punkten, während die übrige Bevölkerung im Mittel vier Punkte erreichte.17 Das Gemeinschaftsgefühl beim Laufen mit anderen nahm einen hohen Stellenwert bei den Befragten ein. Sie gaben an, dass die Unterstützung und das soziale Element des gemeinsamen Laufens von unschätzbarem Wert sei.

Sara, die nach der Geburt ihres ersten Kindes an einer Wochenbettdepression litt, erzählte mir, dass das Laufen mit einer Freundin sie etwas aufgeheitert habe. Da war jemand, der sie abholte und dazu zwang rauszugehen, jemand, der sie antrieb und dafür sorgte, dass sie nicht aufgab, als sie selbst es vielleicht nicht geschafft hätte.

»Ich bin ein ziemlicher Solojogger und ziehe mich gern zurück, es gibt mir also viel, allein zu laufen. Gleichzeitig hat die Tatsache, dass mich eine Freundin (auf nette Art und Weise) dazu antrieb, wahrscheinlich wesentlich zu meiner Genesung beigetragen«, erzählte sie mir. »Möglicherweise wäre ich irgendwann selbst losgezogen, aber sie hat es definitiv beschleunigt. Und natürlich ist es unheimlich wichtig für eine gesunde Psyche, gute Beziehungen zu haben. Ich hatte immer geglaubt, die physische Seite des Laufens sei das für mich Entscheidende, weil ich geradezu süchtig danach werden kann, was es körperlich auslöst, aber mir ist klargeworden, dass ich ohne diese Freundin vielleicht gar nicht so weit gekommen wäre!«

Sehr viele Menschen, mit denen ich für dieses Buch gesprochen habe, hoben die soziale Komponente des Laufens hervor. Sich mit einem Partner oder Freund zu verabreden oder einfach nur unterwegs Leute zu treffen, kann sich heilsam auf die Isolation auswirken, die psychische Erkrankungen oft mit sich bringen. Selbst wenn man allein läuft, verbindet man sich mit der Außenwelt, und es verblüfft mich immer noch, wie stark die Wirkung ist, nachdem man tagelang mit niemandem gesprochen hat.

Neben dem Einfluss von Sport auf Depressionen und Angststörungen wurde in einigen spannenden klinischen Studien auch untersucht, ob Ausdauersport Menschen mit Schizophrenie helfen kann. Eine Studie der Universität Manchester von 2016 zeigte, dass die Symptome von psychotischen Patienten zu 27 Prozent zurückgingen, wenn sie Sport trieben.18 Frühe Untersuchungen in den USA von Veteranen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) haben bewiesen, dass körperliche Betätigung Angst und die damit einhergehenden physischen Symptome reduziert. Die Ergebnisse bedeuten nicht, dass Therapien, Medikamente und sonstige unterstützende Strukturen irrelevant sind, aber sie lassen hoffen, dass es zusätzlich einiges gibt, was wir selbst tun können.

Die Tabletten, die ich nahm, waren definitiv hilfreich. Ich konnte mich wieder im Spiegel ansehen, ohne mich zu fragen, wer zur Hölle mich da anstarrte. Ich bekam einen Job, konnte wieder ausgehen (den Notausgang immer fest im Blick) und führte ein paar Beziehungen. Ich war notdürftig zusammengeflickt, aber mehr auch nicht. Ich war nicht geheilt, aber ich saß nicht mehr bloß stumpf vor Wänden oder hyperventilierte. Deshalb schluckte ich weiterhin die Pillen. Ich sage das nicht, um einen Einblick in meinen gar nicht so außergewöhnlichen Kopf zu gewähren, sondern um zu zeigen, wie leicht man auch nur das blasseste Abbild einer Normalität akzeptiert, wenn man an einer psychischen Krankheit leidet. Man gibt sich mit einer kleinen Leinwand zufrieden und tut so, als genüge einem der winzige Bereich, in dem man sich bewegen kann. Kein vergeudetes Leben, aber ein in vieler Hinsicht sehr reduziertes. Das kann sich okay anfühlen, aber auch unbefriedigend – wie ein Kompromiss, der einem einiges abverlangt. Etwas zu finden, das einen davon befreit, erscheint einem dann wie ein echtes Wunder. Für die einen sind das Medikamente, für andere ist es Meditation. Meine Mutter macht Yoga, wenn sie niedergeschlagen ist. Ein Kollege von mir stemmt Gewichte, um seine Depressionen in Schach zu halten, und ein Freund boxt, weil er damit seine maßlose Wut kontrollieren kann. Eine Bekannte von mir mit einer schweren bipolaren Störung glaubt, ihre Spaziergänge durch den Park würden jeden Tag ein kleines bisschen zu ihrer Rettung beitragen. Ich kenne sogar eine, die stickt, wenn die Angst sich aufbaut. Nach einem Jahrzehnt, in dem ich »irgendwie zurechtgekommen« bin, habe auch ich etwas gefunden, das mir tatsächlich aus diesem Zustand heraushilft: das Laufen.

Eines Tages, nachdem ich mich einige Monate vorsichtig in den Straßen in meiner unmittelbaren Umgebung ausprobiert hatte und meine Füße mit ihnen vertraut waren, beschloss ich, meinen Radius zu erweitern. Ich lief bis an meine eng abgesteckten Grenzen und dann darüber hinaus. Ich lief mitten in die Stadt, zu einer der Brücken, die über die Themse führen, und einen mit dem Versprechen von Luft und Licht auf die andere Seite locken, und überquerte sie ohne einen Blick zurück. Mit der Sonne auf der Haut lief ich über eine weitere Brücke und über den Parliament Square, auf dem sich die üblichen Touristenmassen, Verkäufer und hupenden Autos drängten. Ich lief durch Soho, staunte über den Lärm, die Rikschas und Sex-Shops. Ich lief und lief wie ein neurotischer Forrest Gump, bis ich mein körperliches Limit erreicht hatte. Nun joggte ich zwar nicht mehr, dafür spazierte ich umher. Mein Magen fühlte sich ganz normal an, ich kontrollierte meine Atmung nicht – ich registrierte meinen Körper gar nicht. Ich konnte meine Umgebung betrachten und genießen. Ich war siegestrunken. Ich war … glücklich.

Wenn man etwas tut, das einem eine Pause von dem gewohnten Elend verschafft, kann es schwierig sein, nicht süchtig danach zu werden. Es ist allgemein bekannt, dass man nicht nur von Drogen und Alkohol abhängig werden kann, sondern – auf andere Weise zwar, aber dennoch – auch von Sport. Einen Glücksrausch, wie ich ihn an diesem Tag mitten in London erlebte, möchte man nicht ziehen lassen, und sei es nur für kurze Zeit. Hat man endlich etwas gefunden, bei dem man sich wenigstens halbwegs normal fühlt, gibt es scheinbar keinen Grund, nicht häufiger darauf zurückzugreifen. Sport ist schließlich gesund – ständig bekommen wir zu hören, wir sollten mehr Sport treiben: von Ärzten, den Medien und nun auch von Instagram-Stars und Vloggern, die Clean Eating und körperliche Höchstleistungen predigen. Aber für jemanden, der meint, eine Krücke zu brauchen oder etwas, das ihm das Gefühl von Verlorenheit nimmt, kann sich Sport schnell von einem Hilfsmittel zu einem Zwang entwickeln. Obwohl die Sportsucht vergleichsweise wenig erforscht ist, kam eine im Jahr 2013 von der Universität Nürnberg-Erlangen durchgeführte Studie zu dem Ergebnis, dass 4,5 Prozent der Ausdauersportler suchtgefährdet waren.19 Manchmal ist es schwierig den Punkt zu erkennen, an dem etwas, das einem eigentlich guttut, die Kontrolle über das eigene Leben übernimmt.

Jeder Mensch hat sein eigenes Maß dafür, wie viel zu viel ist, aber meine Kriterien wären unter anderem: Würdest du auf einen lockeren Abend unter Freunden verzichten, um vor einem geplanten größeren Workout keinen Kater zu haben? Isst du nie mit deinen Kollegen zu Mittag, weil du in dieser Zeit lieber laufen gehst? Bekommst du Panik, wenn am Wochenende eine Hochzeit ansteht, weil du dann eine Session im Fitnessstudio verpasst? Widerwillig würde ich zwei dieser Fragen bejahen (also mal ehrlich, ein Kater hält mich doch nicht vom Laufen ab). Zeitweise war das Joggen für mich zweifellos eine Obsession. Die unbändige Freude, die ich über das Ausbleiben von Panikattacken, irrationalen Gedanken und all den anderen Symptomen, die eine Angststörung mit sich bringen kann (es sind über hundert – wer bietet mehr?), empfand, war berauschend. Und wenn man das oft genug erlebt, wird es leicht, zu anderen Dingen Nein zu sagen. Online findet man auf Anhieb unzählige Geschichten von Menschen, die in ihrem Leben echte Opfer bringen, um regelmäßig Sport treiben zu können – Menschen, die dreimal am Tag Workouts machen. Wenn sie einmal Radfahren oder Schwimmen ausfallen lassen müssen, bekommen sie Panik, sind andererseits aber erschöpft von der Anstrengung, das selbstauferlegte Pensum durchzuhalten.

Laufen war etwas, das mir ermöglicht hat, ein Leben zu führen – ein normales Leben mit Freunden, neuen Erfahrungen und sogar Risiken. Es war ein wunderbares Mittel zum Zweck, aber es sollte nie komplett meinen Alltag bestimmen.

Wer jahrelang von verschiedenen Abstufungen der Angst beherrscht wurde, verteidigt alles mit Klauen und Zähnen, was einem auf die Beine hilft. Jedes normale Anzeichen für Panik oder ein flüchtiges Gefühl von Bedrohung kann einen umhauen und fürchten lassen, dass man zurück auf Los geschickt wird. Ich lief dann noch mehr – schnürte die Laufschuhe zweimal am Tag und pushte mich noch härter.

In solchen Zeiten hasste ich das Laufen. Ich fühlte mich wie ein Hamster, der sich freiwillig für ein neues Rad entschieden hat und nun nicht mehr davon runterkommt. Vielleicht hätte ich immer so weitergemacht, wäre nicht nach weniger als einem Jahr, nachdem mein Mann mich verlassen hatte, etwas Schlimmes passiert. Die Frau, die ich wie eine zweite Mutter liebte, die Frau, die mir meinen ersten Job gab und mich lehrte, wie eine Erwachsene zu leben, die mich in den Arm nahm, über mich lachte und vor Vergnügen quietschte, wenn ich Klatsch und Tratsch erzählte, diese Frau starb. Sie starb viel zu früh und nahm eine Lebensfreude mit sich ins Grab, die mir seither nie wieder bei einem Menschen begegnet ist. In den darauffolgenden Tagen und Wochen versanken wir Hinterbliebenen, die wir allmählich begriffen, was uns da genommen worden war, in Trauer. Ich lief in der Hoffnung, den Kummer zu lindern, in der Hoffnung, dass meine bombensichere Methode der letzten neun Monate auch diesmal wirken würde. Und es half tatsächlich. Es ist schwierig zu weinen, während man läuft: Zum einen würde man sich wie in einem Musikvideo aus den Neunzigern vorkommen – jemand rennt weinend in einem atemberaubenden Outfit durch einen Regenschauer –, zum anderen zwingt dich das Laufen dazu, zu verstehen, dass das Leben buchstäblich weitergeht, auch wenn du gerade denkst, das sollte es nicht, und wütend darüber bist. Ich bin nicht die Erste, die versucht hat, mithilfe des Laufens über einen großen Verlust hinwegzukommen. Der älteste Marathonläufer der Welt, Fauja Singh (jugendliche 108 Jahre alt), hat mit Ende achtzig angefangen zu joggen, um den Tod seiner Frau und seines Sohnes zu überwinden.

Aber obwohl das Laufen die Trauer dämpfte, zeigte mir ein trauriges Ereignis dieser Dimension, dass es seine Grenzen hat. Das war etwas, das ich lernen musste. Ich will nicht behaupten, dass der Verlust einer lieben Freundin etwas Positives mit sich bringen kann. Denn das kann es nicht. Aber ich begriff, dass ich keine Angst vor echter Trauer haben musste, dass es nicht nötig ist, sich vor ihr zu verstecken. Zu trauern bedeutet auch nicht unbedingt, dass die psychische Krankheit einen wieder überrollt oder dass man nie über den Verlust hinwegkommt. Man kann sich nicht vollständig gegen echten Kummer wehren, aber man kann lernen, den Unterschied zwischen natürlichen, berechtigten Emotionen (wie Trauer) und irrationalen, ungesunden (wie meine Form der Panik) zu erkennen. Ich schraubte mein überhandnehmendes Laufpensum zurück und erlaubte mir, manchmal traurig zu sein. Und so erinnerte ich mich wieder, warum ich inzwischen so gerne lief.

Laufen ist kein Wundermittel, und inzwischen ist mir klar: Ich kann nicht erwarten, dass es mich gegen die Traurigkeit schützt, die nun einmal zum Leben dazugehört. Aber in schwierigen Phasen und ohne es wirklich zu merken hatte ich eine Bewältigungsstrategie entwickelt, die mir, seitdem ich heulend am Boden lag und mich fragte, wie ich jemals wieder hochkommen sollte, jeden Tag geholfen hat. Es hat mich aus meinem selbstgebauten Käfig befreit, mir zu neuen Jobs verholfen, zu neuen Erfahrungen, zu Optimismus und der Zuversicht, dass ich mehr sein kann als bloß eine Frau mit einer lähmenden Angststörung. Es hat mir eine neue Identität gegeben, eine, in der ich nicht mehr in erster Linie auf Gefahr und Angst fixiert bin. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich dem Elend davongelaufen bin. Das Laufen hat mein Leben verändert.

2.
IN GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

Ich laufe in einer Schleife durch die drei immer gleichen Straßen bei mir in der Nähe. Weiter weg kann ich nicht, falls ich eine Panikattacke bekomme. Mein sicheres Zuhause muss schnell erreichbar sein. Ich bin so langsam, dass ich von einem Hundebesitzer überholt werde, der seinen Hund ausführt, und ich bleibe ungefähr jede Minute stehen, weil meine Lunge brennt und meine Schienbeine schmerzen. Stimmen in meinem Kopf flüstern mir widersprüchliche Dinge ein: »Lauf weiter, heute ist es schon besser als gestern.« – »Warum versuchst du es überhaupt? Du bist richtig schlecht darin.« Und das Gemeinste: »Das bringt deinen Mann auch nicht dazu, dich zu lieben, weißt du.« Der Satz bleibt hängen und nimmt neue Formen an: »Du hast versagt. Die Angst ist dein Begleiter, hör auf, dagegen anzukämpfen. Ist dir nicht peinlich, was aus deinem Leben geworden ist?« Ich gebe mir wirklich Mühe, diese unbarmherzigen Gedanken abzuschütteln, aber es ist schwer. Meine Augen fühlen sich komisch an und meine Arme sind zittrig. Wie jeden Tag frage ich mich: Ist das die Angst oder etwas Schlimmeres? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mein Körper wehtut und ich mich unzulänglich fühle. Meine Beine fühlen sich an wie Blei, ich bin nervös. Ich schaffe zwölf Minuten, dann gehe ich zurück nach Hause und frage mich, ob ich es überhaupt noch einmal tun kann, wenn es doch so schwer ist.

Dieses Buch handelt nicht von einer großen, gescheiterten Liebe. Es viele Jahre nach dem Ende meiner Ehe zu schreiben, fühlt sich fast verlogen an. Sie war so kurz, und im Nachhinein ein so großer Fehler. Aus der Distanz betrachtet war es bloß eine kurze Episode. Ich denke nicht einmal mehr viel daran. Aber ich bereue diese Erfahrung auch nicht gänzlich, denn dadurch war ich gezwungen anzuerkennen, dass etwas viel Größeres und Schlimmeres darauf wartete, in Angriff genommen zu werden. Sie war bloß ein Katalysator, der mich dazu gebracht hat, mich mit meiner Angststörung auseinanderzusetzen. In gewisser Weise bin ich ihr also sogar dankbar. Auf eine sehr seltsame Weise. Eigentlich geht es um eine ganz andere Form der Liebe – jetzt bitte dramatisch anschwellende Musik –, die Liebe zu mir selbst.

Da dieses Buch in großen Teilen von der Angst handelt, ist es wahrscheinlich sinnvoll sich anzuschauen, was das überhaupt bedeutet. Was es wirklich bedeutet. Denn die Gedanken, die sich jemand an einem müßigen Sonntagabend macht, stellen noch keine Angststörung dar. Und das ist nichts Schlechtes! Von Zeit zu Zeit besorgt zu sein, ist absolut normal, wir alle zerbrechen uns jeden Tag über unzählige Dinge den Kopf – über die Arbeit, unsere Beziehungen, Geld, darüber, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten ist. Aber eine Angststörung ist eine ganz andere Hausnummer. Und obwohl ich einerseits froh bin, wie offen wir inzwischen darüber sprechen, denke ich andererseits manchmal, dass der Begriff etwas verwässert wurde. Es ist ja kein Wettbewerb – wenn eine Person von ihren Ängsten redet, sollte man das respektieren und zuhören, aber gleichzeitig wird das Wort etwas inflationär benutzt. Bestimmt sind die Übergänge fließend, aber ich vermute, wenn dir jemand Ängste offenbart, würdest du zunächst davon ausgehen, dass sich jemand einfach zu viele Sorgen macht.

In dem Versuch, aufrichtiger und weniger verschämt mit meiner wahnsinnigen Panik umzugehen, erzähle ich Menschen immer öfter von meiner Angststörung – von den Schrecken der Vergangenheit und ihren Überbleibseln. Aber vielleicht bin ich nicht freimütig genug, denn oft nicken die Leute nur, zeigen sich auf andere Weise verständnisvoll oder reagieren überhaupt nicht. Das erstaunt mich jedes Mal, denn ich denke, die meisten Menschen wären schockiert, wenn sie selbst erleben würden, wie seltsam und unerträglich es in meinem Kopf zugeht. Wirklich erleichternd ist es, mit anderen Betroffenen zu sprechen. Eine Freundin rief mich einmal an, um mir zu erzählen, sie sei zu dem Schluss gekommen, dass ihre Nachbarn hinter ihr her wären. Die Angst, die hinter diesem vagen, schrägen Gedanken steckte, war komplex und beeindruckend, aber ich verstand sie. Weil wir beide merkwürdige, beängstigende Gedanken haben, konnten wir einander von diesen irrationalen Obsessionen erzählen, ohne befürchten zu müssen, verurteilt zu werden.

Was ich damit sagen will: Eine Angststörung ist eine vielschichtige, chaotische und dunkle Angelegenheit. Sie besteht nicht nur aus Panikattacken oder der Angst vor überfüllten Orten – schlimme Dinge, die jedem einleuchten –, sondern im Ergebnis aus unbarmherzigen Wahnvorstellungen, schrecklichen Gedanken, anstrengenden Zwängen, physischem Unwohlsein und einer tiefen Traurigkeit. Während wir lernen, offener über psychische Krankheiten zu sprechen, müssen wir gleichzeitig deutlich machen, wie düster und bizarr sie sich äußern können. Fortschritt und Akzeptanz werden nicht nur erreicht, indem wir allgemein über geistige Gesundheit sprechen und Erfolgsgeschichten von überwundenen Leiden erzählen – wahres Verständnis kann nur erreicht werden, wenn wir darüber hinaus offen über die Hoffnungslosigkeit, die Angst und die Hässlichkeit des Ganzen sprechen. Die Journalistin Hannah Jane Parkinson hat so ehrlich über ihr Leben mit ihrer bipolaren Störung geschrieben, dass man wirklich nachvollziehen kann, wie die Realität für sie aussieht. Sie tut es schonungslos und ohne Scham. »Einmal wurde ich zwangseingewiesen und verbrachte zweiundzwanzig Stunden auf einer ›psychiatrischen Abteilung‹ (sprich, in einem kleinen, stickigen Raum mit zwei Stühlen darin) und wartete auf ein Bett auf der Station (sie fanden schließlich eins in einer Zweigstelle). Danach wurde ich aus der Psychiatrie entlassen, die Therapie hörte abrupt auf und keine weiterführende psychiatrische Versorgung trat an ihre Stelle.«20

Eine Angststörung geht nicht einfach weg, sie kontrolliert dein Leben. Sie kommt mit zu Partys, gesellt sich im Urlaub mit den Liebsten dazu, legt sich zu einem in das vermeintlich sichere Bett. Sie beeinflusst den Alltag in einem Maß, wie normale Sorgen es nicht tun. Bist du nervös wegen eines Vorstellungsgesprächs, verschwindet die Nervosität normalerweise, wenn es vorbei ist. Die Sorgen von jemandem mit einer Angststörung hingegen vervielfältigen sich. Das Gespräch kann super gelaufen sein, aber die Ängste bleiben, blähen sich auf, mutieren. Sie haben einen im Griff, und der ist hart wie ein Schraubstock.

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