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Madame Cléo und das große kleine Glück

hier erhältlich:

Einst war Madame Cléo ein erfolgreiches Pariser Mannequin, heute kann sie kaum noch ihre Altbauwohnung in Berlin bezahlen. Daher vermietet sie ein Zimmer unter und findet in Adamo und seiner kleinen Tochter Mimi wahre Freunde. Doch die Vergangenheit lässt Madame Cléo, die Grande Dame mit Herz, nicht los. Ein großer unerfüllter Traum erwacht zu neuem Leben, als Mimi eines Tages auf eine riesige Summe Geld stößt. Madame Cléo hat eine bezaubernde Idee und jede Menge Briefumschläge …

Ein Roman von charmanter Sehnsucht und mit einer Prise Großstadt-Märchen

"Leicht und spritzig geschrieben, nicht immer ganz ernst zu nehmen, sorgt die Geschichte für ein Lächeln und heitere Lesestunden." belletristik-couch.de


  • Erscheinungstag: 06.03.2017
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676144
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tanja Wekwerth

Madame Cléo und
das große kleine Glück

Roman

HarperCollins®

image

Copyright © 2017 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Originalausgabe

Copyright © Tanja Wekwerth 2017
Erschienen bei: HarperCollins Germany GmbH

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: Garden Photo World/Georgianna Lane / Getty Images

Redaktion: Anna Hoffmann

ISBN eBook 978-3-95967-614-4

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

EINS

Cléopâtre Aglaïde Victorine de Pierret-Monchouaris, kurz Cléo genannt, sammelte antike Vogelkäfige. Da ihr aber nichts auf der Welt so grausam erschien wie ein eingesperrter Vogel – und die damit verbundene Symbolik –, waren die sieben Käfige unbewohnt geblieben, was mit der Zeit ziemlich langweilig geworden war. Deswegen (und auch um der Idee Käfig ein Schnippchen zu schlagen) hatte Cléo die Vogelbauer auf den Balkon gebracht, die Türchen abmontiert und Futter hineingestreut. Seitdem erfreute sie sich jeden Tag über das Hinein- und Herausgefliege der Spatzen, Meisen und Grünlinge.

Während die zweckentfremdeten Käfige an einer straff gezogenen Wäscheleine im Sommerwind schaukelten, wässerte Cléo drei weiße Geranien und einen Kübel mit Pfefferminze und Schnittlauch. Dann schaute sie auf die Akazienstraße hinab, in der sie seit 1984 lebte. Dieser Teil von Schöneberg war einigermaßen bewohnbar geblieben, während die angrenzende Hauptstraße im Laufe der Jahre ziemlich heruntergekommen war. Von der Potsdamer Straße ganz zu schweigen. Ein-Euro-Läden waren irgendwann wie Champignons aus dem Boden geschossen. Geiz ist geil schien das Lebensmotto der Jahrtausendwende geworden zu sein.

Anfang der Neunzigerjahre hatte es im Haus noch eine Schneiderwerkstatt gegeben. Dort war jetzt ein indisches Restaurant. An manchen Tagen roch es bis in den dritten Stock hinauf nach Kardamom und Curry. Inzwischen hatte sich Cléo daran gewöhnt und den Geruch sogar lieb gewonnen. Chicken Tikka Masala war eine ihrer Leibspeisen geworden.

Sie streute noch ein paar geschälte Sonnenblumenkerne in die Käfige, dann ging sie in die Wohnung zurück. Dort wanderte sie etwas ziellos mit einem Staubtuch herum und fuhr über die Oberflächen der wenigen antiken Möbel, die ihr noch geblieben waren. Sie schämte sich, in der Vergangenheit vieles verkauft zu haben, um über die Runden zu kommen. Besonders geschmerzt hatte sie der Verlust einer Spiegelkommode aus dem achtzehnten Jahrhundert, die immer in Familienbesitz gewesen war. Sie hatte Cléos Mutter gehört und davor ihrer Großmutter. Aber was nutzten die Sentimentalitäten? Eine Spiegelkommode konnte einem die Miete nicht bezahlen. Zumindest nicht, solange sie nicht verkauft war.

Im Korridor war Cléo vor drei Fotografien stehen geblieben, die, hinter Glas gerahmt, in einer Reihe hingen. Sie selbst war darauf zu sehen: neunzehn Jahre jung und bildschön, auf dem Laufsteg im Hause Chanel. 1963. Nachdenklich betrachtete sie dieses beneidenswert attraktive Geschöpf, das sie gewesen war. Sie trug ein Tweedkostüm und zweifarbige Slingpumps. Très Chanel.

Es war vor allem ihr Gesicht, das sich verändert hatte, groß und schlank war sie immer noch, doch nun zogen sich Falten über ihre Stirn, die einst ganz glatt gewesen war, und ihr Mund schien irgendwie schmaler geworden zu sein. Auf dem Foto sah er aus wie eine entzückende Kirsche, die man küssen wollte. Ihre Augen waren katzenhaft geschminkt, mit einem schweren, schwarzen Lidstrich. Damit würde sie heutzutage aussehen wie eine traurige Eule. Cléo seufzte. „Altwerden ist nichts für Schwächlinge“, murmelte sie. Von wem war das? Bette Davis? Oscar Wilde? Sie zuckte die Schultern. Wenn es nicht bereits jemand gesagt hätte, dann hätte sie es haargenau so formuliert.

Ihre Frisur war dieselbe geblieben: ein adretter Pagenkopf, wie ihn Mademoiselle Chanel selbst auch getragen hatte. Damals hatte Cléo blondes Haar gehabt, inzwischen war es silbrigweiß. Sie half diesem Zustand ein wenig nach, es gab ja heutzutage recht preisgünstig Haarfärbemittel in der Drogerie zu kaufen. Wenn sie etwas besonders verabscheute, dann waren es graue Haare. Sie wusste um ihre Eitelkeit, aber so war sie eben. Ein gepflegtes Aussehen war ihr wichtig.

Auf dem nächsten Foto führte sie ein schwarzes Musselin-Kleid vor. Sie konnte sich ganz genau daran erinnern. Es war einfach hinreißend gewesen. Wie eine nächtliche Fee war sie sich darin vorgekommen. Auf der Schwarz-Weiß-Fotografie konnte man deutlich ihre hellen Augen leuchten sehen. Mit stolzem, herausforderndem Blick schaute sie direkt in die Kamera. Cléo konnte sich vage an ein Techtelmechtel mit einem der Fotografen erinnern. Jean? Pierre? Sie lächelte. Das war natürlich, bevor sie ihren Mann kennengelernt hatte.

Cléo sprühte etwas Glasreiniger auf das Tuch und fuhr behutsam über das dritte Bild. Es zeigte sie in einem Nachmittagskleid aus Chiffon, aber darauf kam es nicht an. Das Wichtigste, Spektakulärste, um nicht zu sagen: das Heiligste auf diesem Foto war die Person, die neben ihr stand.

Es war Mademoiselle Chanel höchstpersönlich! An einem weißen Seidenband trug sie ihre Schneiderschere um den Hals. Sie blickte an der Kamera vorbei, als sähe sie in der Ferne etwas, das sie weit mehr interessierte als dieser Moment des Fotografiertwerdens.

„Ach, Mademoiselle“, murmelte Cléo, „wenn Sie mich jetzt sehen würden …“ Sie schlug sich das Staubtuch vor den Mund. Mademoiselle Chanel hätte diesen Jammerton verabscheut. Außerdem waren Gespräche mit alten Fotografien oder Spatzen auf dem Balkon oder (am allerschlimmsten) Gespräche mit sich selbst, etwas, das wirren, alten Frauen vorbehalten war. Und da war sie noch nicht.

„Noch nicht“, murmelte Cléo, dann ging sie in die Küche, um sich noch einen Kaffee zu kochen. Es war ja erst zehn Uhr am Vormittag. Sie seufzte. Viele Stunden lagen noch vor ihr. Ziemlich genau fünfzehn. Sie brauchte nicht mehr viel Schlaf, ging spät zu Bett, schlief tief und traumlos und stand früh auf. Früher hatte sie bis mittags schlafen können. La grasse matinée. Herrlich war das gewesen. An dieser Stelle hatte sich Mutter Natur wohl etwas vertan: Junge Menschen schlafen viel, alte kaum noch. Was sollten alte Leute mit so viel Zeit, während die Jungen ihr hinterherjagten?

Cléo goss den Kaffee auf, erfreute sich kurz am Duft, dann setzte sie sich an den Küchentisch und studierte die Werbeprospekte, die vorhin im Briefkasten gesteckt hatten. Der Supermarkt um die Ecke pries hochwertig verarbeitete Damenslips mit Spitze und eleganter Zierschleife an. Cléo schnaubte abfällig, dann kreuzte sie das Sonderangebot mit den italienischen Strauchtomaten an. Vielleicht würde sie sich noch einen Topf mit frischem Basilikum gönnen und dafür auf die Butter verzichten? Sie hatte noch ein Eckchen übrig, das würde reichen. Zu viel Fett war ja sowieso nicht gesund. Und sie hatte auch noch zwei Büchsen Thunfisch in der Speisekammer. Es war besser, vorher genau zu wissen, was man kaufen wollte, um dann nicht abgelenkt zu werden und mit lauter unnützem Zeug nach Hause zu kommen. Man sollte auch nie mit hungrigem Bauch in den Supermarkt gehen, dann waren die Versuchungen zu groß.

Genussvoll trank Cléo einen Schluck Kaffee, blätterte um und … stutzte. Da lag ein Umschlag, an sie adressiert. Der musste zwischen die Seiten geraten sein. Ihr Herz begann zu klopfen. Wer schrieb ihr denn bloß? Eigentlich gab es niemanden, der infrage käme. Ihre Schwester Mathilde war vor zehn Jahren gestorben. Mehr Familie hatte sie nicht. Mit zitternden Händen riss sie das Kuvert auf und begann zu lesen:

Sehr geehrte Frau Perret-Monchoari,

wir möchten Sie darüber informieren, dass demnächst Sonnenkollektoren auf dem Hausdach installiert werden. Diese Modernisierungsmaßnahme verbessert die Umweltverträglichkeit: Ihr warmes Wasser und die Heizung werden in Zukunft mit Sonnenenergie erzeugt beziehungsweise durch Sonnenenergie unterstützt.

Darüber hinaus werden die sechs Fenster (und die Balkontür) in Ihrer Wohnung durch Kunststofffenster mit Isolierverglasung ersetzt.

Die dafür notwendigen Arbeiten beginnen im gesamten Wohnhaus in der Zeit vom 10. Juni. Die Fenstererneuerung in Ihrer Wohnung dürfte sich binnen eines Tages durchführen lassen. Bezüglich eines Termins setzen wir uns zeitnah mit Ihnen in Verbindung.

Bitte gewähren Sie den Handwerkern Zugang zu Ihren Räumlichkeiten. Wir haben die Firma Schulz & Schultz Fensterbau GmbH mit der Ausführung dieser Arbeit betraut. Die Mitarbeiter können sich ausweisen.

Des Weiteren ist der Einbau eines Fahrstuhls geplant und die Renovierung bzw. Sanierung des gesamten Treppenhauses.

Nach Abschluss dieser notwendigen Maßnahmen werden wir eine Mieterhöhung geltend machen.

Diese beträgt nach einer vorläufigen Berechnung ca. 120 EUR. Den genauen Betrag und eine detaillierte Aufrechnung teilen wir Ihnen demnächst mit.

Sie sind verpflichtet, diese Maßnahmen zu dulden.

Mit freundlichen Grüßen,

Ihr Vermieter

Karl Baseliz

Cléo schloss die Augen. Sie schwankte und musste sich an der Tischkante festhalten, um nicht vom Stuhl zu fallen. Ihr war schrecklich übel, als wäre sie seekrank geworden, als wäre ihr Lebensschiff urplötzlich in raue Gewässer geraten. Das war’s, schrie eine hässliche Stimme in ihr, jetzt gehst du unter. Erschrocken riss sie die Augen wieder auf.

„Ich muss etwas tun“, murmelte sie, „ich muss …“ Sie würde woanders hinziehen. Aber wohin denn bloß? Seit 1984 waren die Mieten in Berlin bestimmt überall angestiegen. Das stand jedenfalls in der Zeitung. Sie wollte eigentlich gar nicht fort. Auch wenn die Billigläden das Straßenbild verändert hatten, doch hier kannte sie Leute. Sie mochte die türkischen Obst- und Gemüsehändler, die sie so respektvoll mit Madame ansprachen und ihr stets die frischesten Äpfel und Salatköpfe heraussuchten. Und auch Metzger Kapotzke hatte sich mit seinem kleinen Laden halten können. Er stellte nun mal die besten Wiener Würstchen der Stadt her. Dagegen kam kein Aldi an. Und Cléo liebte die Kinder aus der Kita Stadt-Schlümpfe, die ihr immer so fröhlich durch das Fenster zuwinkten.

Mit beiden Händen wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Dann umklammerte sie schnell wieder die Tischkante. So blieb sie sitzen, bis es an der Haustür klingelte. Cléo schreckte auf und sah auf die Uhr. Hatte sie eine geschlagene Stunde hier gehockt, wie ein erstarrtes Kaninchen vor der Schlange? Unbezahlbare Mieterhöhung?

„Contenance!“, rief sie sich zur Ordnung und erhob sich ächzend. Ihr Rücken schmerzte, ihre Finger waren taub geworden. Sie trank noch schnell einen Schluck von dem kalt gewordenen Kaffee, dann ging sie, um ihrem Französischschüler Kurt Kronwall die Tür zu öffnen, einem übergewichtigen Rentner, ohne jegliches Talent für Sprachen, der nach Schwefelseife und Zitruspomade roch (was überhaupt nicht gut zusammenpasste).

„Bonschur!“ Er hielt ein Sträußchen rosa Nelken in den feisten Händen und strahlte sie an. „Einer schönen Frau muss man Blumen schenken“, sagte er.

„Charmeur.“ Sie lächelte gequält. „Aber herzlichen Dank.“

Kurt Kronwall war seit über drei Jahren ihr Schüler, und mit geisttötender Beharrlichkeit überhäufte er sie mit Komplimenten, Blumen, Einladungen zum Kaffee (die sie selbstverständlich alle ausschlug) und Pralinen.

„Ihre Augenfarbe! Einfach unglaublich, Madame Monschu… Monscha…“

„Pierret-Monchouaris.“

„Genau. Gletscherblau. Eiswasserblau.“

„Auf Französisch, bitte.“ Cléo war vorausgegangen und setzte sich im Wohnzimmer an den Esstisch. Sie würde versuchen, sich jetzt auf ihren Schüler zu konzentrieren und nicht an die nahende Katastrophe zu denken.

Kurt Kronwall hatte die Stirn in Falten gelegt.

„Blö!“, rief er triumphierend und versuchte, seine schwitzige Hand auf die ihre zu legen.

Als hätte sie einen Stromschlag erhalten, zuckte Cléo zurück.

„Nicht so schüchtern, junge Frau“, murmelte Kronwall.

„Ich bin im letzten Jahr siebzig Jahre alt geworden und alles andere als eine junge Frau“, wies Cléo ihn kühl zurecht. „Bitte schlagen Sie das Buch auf Seite zwölf auf.“

Er rückte ein wenig näher an sie heran.

Hastig stand Cléo auf und ging zum Fenster. „Übersetzen Sie“, rief sie von dort.

„Eine Fabel von Jean de La Fontaine“, deklamierte Kronwall. „Der Korb und der Fuchs.“

Cléo schaute in die Äste einer Akazie. Sie sind verpflichtet, diese Maßnahme zu dulden, hatte der Vermieter geschrieben. Ob das stimmte? Hundertzwanzig Euro mehr im Monat? Wie sollte sie das schaffen? Ganz und gar unmöglich. Ihr wurde schon wieder übel.

„Ich verstehe den Zusammenhang zwischen dem Korb im Baum und dem Fuchs nicht“, riss Kronwall sie aus ihren Gedanken. „Wieso kann der Korb sprechen? Und warum singt er? Und wo kommt der Käse her?“

„Korb?“ Verwundert sah Cléo ihn an. „Käse?“

„Steht doch hier.“ Kurt Kronwall rümpfte die Nase. „Diese Fabeln sind einfach nicht mehr zeitgemäß.“

„Doch, das sind sie“, widersprach Cléo. „Sie haben es falsch übersetzt. Corbeau bedeutet Rabe, nicht Korb.“

„Na, das spricht man aber genauso aus.“ Kronwall schien verärgert.

„Nein“, erklärte Cléo. „Korb heißt auf Französisch corbeille.“

„Sind Sie sicher?“

Cléo nickte.

„Na, dann wollen wir es dabei belassen.“ Er erhob sich und kam auf sie zu. „Ob ich eine Tasse Kaffee bekommen könnte?“, fragte er mit tiefer Stimme. „Und einen Cognac?“

„Kaffee gern“, rief Cléo und flüchtete in die Küche. Ein wenig panisch schloss sie die Tür hinter sich.

So ein Kretin, dachte sie und legte beide Hände auf ihr wild schlagendes Herz. Sie überlegte, ob sie frischen Kaffee kochen sollte, doch sie wollte Kurt Kronwall in keinster Weise motivieren, deshalb goss sie den abgestandenen Rest vom Morgen in eine Tasse, trödelte noch ein wenig herum und kehrte schließlich ins Wohnzimmer zurück.

Ihr Schüler saß nicht mehr am Tisch.

„Wo sind Sie?“ Cléo stellte den Kaffee ab.

„Hi-ier!“

Sie fand ihn im Korridor, wo er die drei gerahmten Fotografien ausgiebig betrachtete.

„Sie waren wirklich ein heißer Feger!“ Mit seinem dicken Zeigefinger tippte er auf das Glas.

„Bitte nicht berühren!“, rief Cléo erschrocken. „Es sind Originale.“

Er sah sie eindringlich an. „Darf ich Sie Cléo nennen?“

Sie schüttelte den Kopf. Mochte es unhöflich erscheinen, aber sie konnte diese Vertraulichkeiten einfach nicht länger ertragen, und obwohl es wahrscheinlich der ungünstigste Zeitpunkt der Welt war, sagte sie, was ihr seit drei Jahren im Hals steckte: „Herr Kronwall, ich werde Ihnen keinen weiteren Unterricht mehr erteilen.“

„Was? Wieso denn nicht?“

Kerzengerade stand sie da und blieb ihm die Antwort schuldig. Sie schaute in ungefähr dieselbe Richtung wie Mademoiselle Chanel auf dem Foto neben ihr und hatte das Kinn auf ähnliche Weise in die Höhe gereckt.

„Sie haben mich noch nie leiden können!“, grantelte er.

Cléo öffnete die Wohnungstür.

„Sie halten sich wohl für was Besseres“, Kronwall war dunkelrot angelaufen, „nur weil ein paar Ihrer Vorfahren unter der Guillotine geendet sind, was?“

„Bitte gehen Sie.“ „Hochmut kommt vor dem Fall, Frau Monschi… Monschu…“

„Auf Wiedersehen.“

„Moment!“ Er griff in seine Brusttasche und zog ein Portemonnaie hervor.

„Nicht nötig!“, rief Cléo eilig. „Bitte, es ist schon gut.“

Doch Kurt Kronwall hatte bereits einen Zwanzigeuroschein herausgeholt und hielt ihn ihr vor das Gesicht.

Cléo wich einen Schritt zurück, dann gab sie ihrem flegelhaften Schüler einen kleinen, aber entschlossenen Stoß vor die Brust und knallte die Wohnungstür zu.

„Hey, verdammt!“ Er hämmerte gegen die Tür. „Cléo! Mach keinen Quatsch!“

Lautlos legte sie die Kette vor. Kurt Kronwall wütete noch ein Weilchen herum, doch schließlich gab er auf und ging davon.

Eine riesengroße Erleichterung durchflutete Cléo.

„Das habe ich gut gemacht, nicht wahr, Mademoiselle Chanel?“, sagte sie mit zitternder Stimme zu der Fotografie. „Diesen aufdringlichen Widerling hätte ich keine einzige Minute länger ertragen.“

Leider hielt das Hochgefühl nicht lange an. Achtzig Euro weniger im Monat und eine Mieterhöhung von hundertzwanzig Euro passten nicht gut zusammen. Cléo stöhnte. Nachdenklich ging sie ins Wohnzimmer zurück. Dort lag noch das achtlos weggelegte Blumensträußchen von Kurt Kronwall herum.

„Die Nelken können ja nichts dafür“, murmelte Cléo und stellte sie in ein Glas Wasser. Wie sollte es bloß weitergehen mit ihr? Sie besaß noch eine goldene Brosche, die könnte sie demnächst verkaufen. Aber weit würde sie das auch nicht bringen.

Unruhig lief sie auf und ab, dann ging sie hinaus auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Eine Amsel saß zwischen Schnittlauch und Pfefferminze.

„Na, du?“ Cléo lächelte sie an.

Die Amsel legte den Kopf schief. Dann flog sie davon. Sehnsüchtig sah Cléo ihr nach.

In diesem Augenblick begann unten in der Akazienstraße ein Laster unaufhörlich zu hupen, als morste er dem Universum einen SOS-Code, und die warme Sommerluft trug einen Hauch von Curry in die Höhe. Cléo traten Tränen in die Augen. Sie wollte nicht fort von hier. Sie liebte ihre etwas zu dunkle Dreizimmerwohnung. Auch wenn sie eigentlich nur zwei Zimmer wirklich bewohnte.

Und als wäre das Fortfliegen einer Amsel, verbunden mit dem Erklingen einer Hupe und dem Aufsteigen von warmem Curryduft alles andere als eine zeitgleiche Zufälligkeit, entstand daraus ein flüchtiger, aber magischer Moment, der Cléo zu einem großartigen Einfall verhalf: Sie würde das Wohnzimmer untervermieten. Französischstunden konnte man auch am Küchentisch erteilen.

Dass sie nicht gleich darauf gekommen war!

ZWEI

Cléo betrachtete sich im Garderobenspiegel und war recht zufrieden. Das cremefarbene Kostüm mit schwarz abgesetztem Kragen saß noch genauso gut wie vor fünfzig Jahren. Und aus der Mode war es auch nicht gekommen. Chanel war und blieb eben Chanel. Der Rock endete genau unter dem Knie. Cléo musste lächeln. Mademoiselle hatte den Anblick von Knien verabscheut.

Es klingelte an der Tür. Das musste der schwedische Student sein.

Cléo schlüpfte in Ballerinas, bürstete noch einmal hastig ihr glattes silbriges Haar und sprühte sich einen Spritzer Chanel No. 5 auf den Hals. So viel Zeit musste sein. Sie atmete den vertrauten Duft tief ein. Er gab ihr Sicherheit. Prüfend warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Ihr Gesicht war leicht gepudert, ein Hauch Wangenrouge verlieh ihrem Gesicht Frische. Sie schenkte sich ein aufmunterndes Lächeln. Dann drückte sie auf den Türöffner.

Eine Woche war vergangen, seit sie den unglückseligen Brief in ihrem Briefkasten vorgefunden hatte. Daraufhin hatte sie einen Zettel im Supermarkt ans Schwarze Brett gehängt: Untermieter gesucht. Möbliertes Zimmer mit Balkon. Akazienstraße, Schöneberg. 150 Euro. Darunter hatte sie ihre Telefonnummer geschrieben. Es war nicht gerade eine Flut an Bewerbern gewesen, aber vier hatten sich gemeldet und die hatte Cléo für heute Nachmittag herbestellt. Im Vierzig-Minuten-Takt würden sie nacheinander eintreffen.

Cléo war aufgeregt. Die Idee ihre Wohnung (ihre Küche, ihr Badezimmer) mit einem wildfremden Menschen zu teilen, behagte ihr überhaupt nicht. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie öffnete die Tür und sah einen blonden jungen Mann in Flip-Flops die Treppe hochkommen.

„Hej“, sagte er.

„Guten Tag, Herr Börklund. Bitte treten Sie doch ein.“

Wortlos folgte er ihr ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen.

„Kaffee?“ Cléo nahm neben ihm Platz und schob einen Teller mit selbst gebackenen Butterkeksen über den Sofatisch, auf dem noch immer Kurt Kronwalls inzwischen leicht verwelkte Nelken standen.

„Ju.“

Björn Börklund (ein Name wie ein Klischee, dachte Cléo, die wie hypnotisiert auf seine nackten Füße starrte) griff sich einen Keks.

So wie Mademoiselle Chanel eine Abneigung gegen Knie gehabt hatte, hatte Cléo eine regelrechte Fuß-Aversion. Insbesondere Männerfüße fand sie einfach schrecklich: groß, haarig und irgendwie viel zu … intim.

Da sie davon ausging, dass ju so viel bedeutete wie Ja, vielen Dank, schenkte sie dem Schweden Kaffee ein.

Björn Börklund häufte Zucker in seine Tasse, rührte eine Weile schweigend darin herum, dann tat er etwas Abscheuliches: Er schlüpfte aus seinen Flip-Flops, legte sich einen seiner riesengroßen, rosa Füße auf den Oberschenkel und begann, ihn zu … massieren. Und als er damit fertig war, griff er sich einen weiteren Keks.

Cléo konnte nicht glauben, was sie da sah. Nein, schrie es in ihr, neiiiiin!

Sie räusperte sich. „Sie sind zum Studieren nach Berlin gekommen?“

Er nickte kauend.

„Was studieren Sie denn?“

„Kommunikations- und Medienmanagement.“

„Ach“, machte Cléo erstaunt, und dann musste sie voller Grauen beobachten, wie er begann, mit seinen Zehen zu spielen.

Cléo fixierte die schlappen Nelken auf dem Tisch.

„Ich könnte gleich morgen einziehen“, sagte Björn.

„Wissen Sie was?“ Sie versuchte unverbindlich zu lächeln. „Ich rufe Sie an, sobald ich mich entschieden habe.“

Und bevor er anfangen konnte, seinen anderen Fuß zu befingern, war Cléo aufgesprungen.

„Ich guck mir die Bude noch schnell an, okay?“ Barfuß ging er in die Küche, schaute aus dem Fenster und öffnete die Speisekammer. Dann betrat er das kleine Zimmer, in dem Cléo ihre Kleider, ihren Schmuck, ihr Parfum, ihre Bücher, Schallplatten und alten Briefe aufbewahrte. Diesen dunkelrot tapezierten Raum, der voller getrockneter Rosensträuße und Erinnerungen war, nannte Cléo ihr Boudoir. Und es war ihr heilig. Nun stand ein nacktfüßiger schwedischer Lümmel darin herum.

„Ja, aber …“ Sie brach ab, denn Björn Börklund war soeben in das angrenzende Schlafzimmer vorgedrungen und sah sich neugierig um.

„Ich kriege aber das große Zimmer mit Balkon, oder?“, rief er.

Blass lehnte Cléo im Türrahmen und nickte.

„Wäre toll, wenn das klappt.“ Er ging zurück ins Wohnzimmer, schlüpfte in seine Latschen und griff sich noch einen Butterkeks.

„Warten Sie.“ Cléo packte ihm die restlichen Kekse in eine Papiertüte. Diese Käsefuß-Kekse konnte sie doch niemandem mehr anbieten, nicht einmal den Enten im Park.

„Tack!“, rief er, griff nach der Tüte und flipfloppte zur Tür hinaus. „Hej då!“, erschallte es noch einmal lautstark aus dem Treppenhaus, dann war er endlich weg.

„Puh“, machte Cléo.

Sie schaute auf ihre Liste. Lisa-Marie Engelhardt war die Nächste. Eine frisch geschiedene Bäckereifachverkäuferin, die Cléo bereits am Telefon ihre Lebensgeschichte erzählt hatte, zumindest lange Teile davon. Dass sie eine halbe Tonne wog, hatte sie allerdings ausgelassen, bemerkte Cléo, nachdem sie wenig später die Tür geöffnet hatte.

„Kein Fahrstuhl?“, keuchte Lisa-Marie.

„Bedaure. Noch nicht.“

Schwer atmend schälte sich Lisa-Marie aus einer sackartigen Jacke. Darunter kam ein merkwürdiges Outfit zum Vorschein: schwarze Leggins mit einem XXL-T-Shirt, das groß wie ein Zelt war.

Da könnte Mademoiselle Chanel wohl auch nicht mehr viel ausrichten, dachte Cléo und wusste nicht, ob es ein Schluchzen oder ein Kichern war, das sie zu unterdrücken versuchte. Ihre Nerven lagen offensichtlich bereits blank.

„Bitte hier entlang“, sagte sie und ging voraus.

„Hm, riecht lecker, haben Sie gebacken?“

„Ja. Aber der Vorbewerber hat leider alles aufgegessen.“

„Schade.“ Lisa-Marie plumpste aufs Sofa, das einen gequälten Laut von sich gab. „Schöne Wohnung haben Sie.“

„Vielen Dank.“

„Hundertfünfzig Euro sind mir aber zu viel.“

„Oh.“

„Mein Exmann ist echt ’ne Pfeife. Der hat mir Schulden hinterlassen.“

„Ja, das erwähnten Sie bereits am Telefon.“ Cléo nickte mitfühlend. Vielleicht sollte sie den Preis ein wenig senken? Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte sich Lisa-Marie nach hinten gelehnt und die Aufschrift auf ihrem T-Shirt wurde lesbar: COCO – WHO? stand in schwarzen Lettern auf lappiger lila Baumwolle.

„Was … was wollen Sie damit ausdrücken?“, fragte Cléo und deutete auf Lisa-Maries üppigen Busen.

„Nichts Besonderes.“ Lisa-Marie zuckte mit den Schultern. „Ist einfach witzig.“

„Was ist daran witzig?“

„Ich habe nicht groß darüber nachgedacht, es ist ja bloß ein T-Shirt-Spruch.“

Cléo räusperte sich. „Sie laufen mit einem Satz auf der Brust durch das Leben und haben sich keinerlei Gedanken dazu gemacht, dass Sie die Überbringerin dieser ominösen Botschaft sind, über die Sie nicht einmal nachgedacht haben?“ Ihre Stimme zitterte. Was sie hier gerade erleben musste, war schlimmer als jeder bleiche Männerfuß. Insupportable.

„Na ja, es soll halt bedeuten, dass …“ Lisa-Marie brach ab. „Keine Ahnung.“

„Dass es Ihnen egal ist, wer Coco Chanel ist? Dass Sie nicht wissen, wer Coco Chanel ist?“

„Wo ist denn jetzt das Problem?“, fragte Lisa-Marie.

Cléo schwieg kurz.

„Sie machen sich wohl nicht viel aus Mode?“, fragte sie dann zurück.

„Geht so. Es ist oberflächlich und unwichtig.“

„Oberflächlich und unwichtig?“ In Cléos Ohren begann es zu pfeifen.

Plötzlich hatte sie das Atelier im Obergeschoss der rue Cambon 31 wieder vor Augen, wo Dutzende Schneiderinnen ihrer präzisen Arbeit nachgingen. Hier wurden die legendären Tweedkostüme geschneidert, mit Sternen und Löwenköpfen verzierte Messingknöpfe angenäht, Abendroben mit Pailletten, Perlen und Brokat bestickt, Mäntel mit Seide gefüttert und Kettchen in die Säume der Jacken genäht, damit sie makellos saßen.

Jede Tasche musste eine echte Tasche sein, in die man seine Hand stecken konnte, darauf hatte Mademoiselle Chanel immer bestanden, und jeder Knopf musste auch ein Knopfloch haben. Keine halben Sachen, das war nicht ihr Stil gewesen. Sie war besessen von perfekten Ärmeln, eine Jacke ließ sie sieben- oder acht- oder fünfzehnmal wieder auftrennen, bis sie überzeugt war. So manch eine Schneiderin hatte Mademoiselle damit zum Weinen gebracht. In Erinnerungen versunken, musste Cléo lächeln. Sie hörte wieder das Rattern der Nähmaschinen, das Klappern der Schneiderscheren … Und schließlich: Was für ein erhabenes Gefühl war es stets gewesen, der Kundschaft die neue Kollektion vorzustellen, wenn sie mit den anderen Mannequins die verspiegelte Wendeltreppe hinab in den Vorführsalon schwebte, dem gespannten Publikum entgegen, und ihre Spiegelbilder, unendlich wiederholt, in stetiger Bewegung und sich wandelnden Blickwinkeln, ein brillantes Sinnbild für den unsterblichen Mythos der Grande Mademoiselle darstellten.

„Es tut mir leid, das Zimmer ist bereits vergeben.“

„Wieso sagen Sie das denn nicht gleich?“ Mit vorwurfsvoller Miene hievte sich Lisa-Marie aus dem Sofa und stampfte hinaus. „War mir sowieso zu teuer!“, rief sie noch, dann krachte die Haustür zu.

„Ich glaube, ich brauche jetzt einen Schnaps“, flüsterte Cléo und schenkte sich einen Pfefferminzlikör ein. „Cocowho. Ist denn das die Möglichkeit?“

Sie trank das winzige Kristallglas leer.

In einer Viertelstunde würde sich eine weitere Frau vorstellen. Sie hatte am Telefon nicht viel von sich preisgegeben, nur dass sie Schlafstörungen hätte und einen Händewaschzwang. Und eine französische Bulldogge namens Heidi.

Cléo setzte sich wieder auf das Sofa (weit entfernt von der Mulde, die Lisa-Maries gewaltiges Gesäß hinterlassen hatte) und blickte in den Kronleuchter über sich. Wenn die Sonne darauf fiel, was leider nur am frühen Morgen geschah, schoss er mit funkelnden Kristallblitzen nur so um sich und übersäte die Wände mit regenbogenfarbenen Tupfen. Ein richtiges Schauspiel war es und für Cléo jedes Mal der gelungene Auftakt eines sonnigen Tages, eine Symphonie für die Augen, die sie in Zukunft nicht mehr sehen würde. Es war ja das Wohnzimmer, das sie vermieten wollte, und ihren geliebten Balkon dazu. Ihre Vögel würden ihr fehlen und die Blumen, der Mond und die Sterne. Wenn das Wetter es zuließ, saß sie gern noch lange draußen, in eine Decke gehüllt, mit einer Tasse heißem Kakao in der Hand. Die Straßengeräusche hatte sie auch gern, besonders das Stimmengewirr der Café-Gäste, die bei schönem Wetter auf der gegenüberliegenden Seite auf dem Bürgersteig saßen.

„Na ja“, murmelte Cléo, „ich kann ja in meinem Boudoir das Fenster aufmachen und mich dorthin setzen.“

Doch das Boudoir und ihr Schlafzimmer gingen auf einen recht finsteren Hinterhof hinaus, und den Anblick von Mülltonnen und Brandmauern fand Cléo nicht besonders erhebend.

„Wo bleibt denn die dritte Bewerberin?“ Cléo kniff die Lippen zusammen. „Hörst du wohl auf mit dir selbst zu reden, altes Mädchen!“

Am liebsten hätte sie noch einen Pfefferminzlikör getrunken, aber dann wäre sie beschwipst. Unruhig begann sie auf und ab zu laufen, bis klar war, dass die Frau mit dem Händewaschzwang wohl nicht mehr kommen würde.

Inzwischen war es Zeit für den letzten Bewerber, ein Italiener namens Adamo Savelli. Am Telefon war er ausgesprochen höflich gewesen, und eine sympathische Stimme hatte er gehabt. Was, wenn er nun auch nicht kam? Dann würde sie sich zwischen dem Schweden und der Mode-Resistenten entscheiden müssen. Nein, dann würde sie einfach noch einen Zettel schreiben und Metzgermeister Kapotzke bitten, diesen in seinem Laden aufzuhängen, und dann könnte sie …

Es klingelte.

Mit einem kleinen Aufschrei stürzte Cléo zur Tür.

„Ruhig, Cléopâtre“, ermahnte sie sich. „Bleib ganz ruhig.“

Sie öffnete.

Vor ihr stand ein groß gewachsener, schlanker Mann, den sie auf ungefähr fünfunddreißig schätzte. Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug mit hellblauer Seidenkrawatte. Dass es Seide war, hätte Cléo auf hundert Meter Entfernung sagen können. Und an seinen Füßen trug er Socken und festes, zugeschnürtes Schuhwerk. Cléo atmete auf. Die erste Hürde war genommen.

Er hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Ihr zum Pagenkopf geschnittenes Haar war genauso dunkel wie ihre Augen. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid.

„Guten Tag, Signora Pierret-Monchouaris“, sagte Adamo Savelli mit wohlklingender Stimme.

Alle Achtung, dachte Cléo, das schaffen die wenigsten auf Anhieb.

Er reichte Cléo die Hand und verbeugte sich leicht.

„Guten Tag, Herr Savelli.“

„Darf ich Ihnen meine Tochter Magdalena vorstellen?“

„Oh, guten Tag, Magdalena.“ Cléo sah Adamo Savelli erstaunt an. „Wollen Sie denn zu zweit hier wohnen?“

„Ja.“

„Ach so, ich weiß nicht, ob es nicht zu eng wird, ich habe doch nur ein Badezimmer und …“ Cléo brach ab. „Entschuldigen Sie. Wie unhöflich von mir. Kommen Sie doch bitte erst einmal herein und wir besprechen alles.“

„Vielen Dank, Signora.“ Die beiden traten ein.

Hübsches Kind, dachte Cléo und lächelte Magdalena zu, doch das blasse Kindergesicht blieb ernst.

Wenig später saßen sie im Wohnzimmer. Cléo hatte frischen Kaffee gekocht und dem Mädchen ein Glas Apfelsaft hingestellt. Sie ärgerte sich, dass der stupide Schwede alle Butterkekse abbekommen hatte.

„Wir wollen hier in Berlin neu anfangen“, erklärte Adamo Savelli. „Meine Frau ist vor einem Jahr gestorben.“

„Nein!“, rief Cléo und begann sich fürchterlich zu schämen. „Mein herzliches Beileid.“ Sie legte eine Hand auf den Arm des Mädchens, das wie eine Puppe reglos in der Sofaecke hing.

Er nickte. „Wir haben bis vor Kurzem in Düsseldorf gelebt, aber dort erinnert uns einfach zu viel an sie. Ich habe über meinen Cousin eine Stelle als Kellner in einem italienischen Restaurant am Kudamm bekommen. Bis wir uns eine eigene Wohnung leisten können, wird es aber dauern. Deswegen würden wir gern erst einmal zur Untermiete wohnen.“

Er holte kurz Luft. „Auch um zu sehen, ob wir hier überhaupt zurechtkommen, nicht wahr, Mimi?“ Er strich seiner Tochter über den Kopf.

„Mimi?“ Cléo lächelte mit feuchten Augen. „Wie nett.“ Sie schwiegen kurz.

„Wird Ihnen dieser Raum denn reichen?“, fragte Cléo.

Er sah sich um. „Ich schlafe auf dem Sofa, und Mimi bekommt ein Klappbett.“

Das Mädchen war aufgestanden und zur Balkontür gegangen.

„Darf ich aufrichtig sein?“, fragte Adamo Savelli leise.

„Ich bitte darum.“ Cléo sah ihn an.

„Meine Arbeitszeiten sind schwer zu vereinbaren mit den Bedürfnissen eines achtjährigen Kindes. Ich komme meist erst nach Mitternacht nach Hause und muss mittags schon wieder los. Noch hat sie keinen Schulplatz bekommen, aber nach den Sommerferien geht es los und ich …“

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen!“, rief Cléo, obwohl es eigentlich gar nicht ihre Art war, Leute zu unterbrechen. Doch diese Geschichte hatte sie mitten ins Herz getroffen, und mit vollkommener Klarheit wurde ihr bewusst, dass sie ihre Untermieter gefunden hatte. „Ich habe viel Zeit.“

Adamo Savelli beobachtete seine Tochter, die sich auf dem Balkon umschaute. Mit dem Zeigefinger tippte sie vorsichtig gegen einen venezianischen Vogelkäfig, in dem vor über hundert Jahren mal ein unglücklicher Sittich gelebt hatte, aber das konnte Mimi natürlich nicht wissen. Sie schnupperte an der Pfefferminze, dann kletterte sie auf die alte Bank aus geflochtenem Korb, in der Cléo so gern saß, und schaute in den Himmel.

Adamo Savelli schien nachzudenken.

Bitte sag zu, versuchte es Cléo mit Telepathie, ich weiß, dass wir uns guttun werden. War denn das die Möglichkeit? Da flehte sie in Gedanken einen wildfremden Mann an, dass er mit seiner Tochter bei ihr wohnen sollte. Sie verstand sich selbst nicht mehr, sie wusste nur, dass sie diese beiden Menschen gern besser kennenlernen wollte, und sie wusste auch, dass es etwas gab, das sie tun konnte, etwas Sinnvolles.

„Signora.“

„Ja?“

„Ich habe ein gutes Gefühl.“

Sie strahlte ihn an. „Ich auch.“

Adamo Savelli strich seine Krawatte glatt. „Bevor wir zu Ihnen kamen, haben wir uns noch ein anderes Zimmer angesehen, es war etwas größer, aber ohne Balkon, und die Vermieterin hatte eine Tochter in Mimis Alter.“ Er räusperte sich. „Ich möchte, dass meine Tochter mitentscheidet.“

„Selbstverständlich“, sagte Cléo. Ihr Herz begann wild zu schlagen.

Bestimmt will Mimi lieber dort wohnen, dachte sie und ein Gefühl maßloser Enttäuschung überrollte sie. Dort hätte sie eine Spielkameradin. Warum sollte sie bei einer alten Frau wohnen wollen? Einer langweiligen, alten Frau …

„Mimi!“, rief Adamo Savelli. „Komm mal her.“

… einer langweiligen, alten Frau, die kein Spielzeug besitzt und die eigentlich gar keine Ahnung von Kindern hat.

„Wie gefällt es dir hier?“, fragte Adamo Savelli seine Tochter.

Sie zuckte mit den Schultern. „Gut.“

„Wo möchtest du lieber wohnen? Bei dem kleinen Mädchen, das wir eben besucht haben, oder hier bei der Signora Pierret-Monchouaris?“

„Hier“, antwortete Mimi und ging zurück auf den Balkon.

„Ja, also dann …“ Adamo Savelli lächelte Cléo an.

„Dann ist es abgemacht“, erwiderte sie und bemühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen.

„Ich freue mich, Signora.“

„Ich mich auch.“ Sie reichte ihm die Hand. „Benvenuti.“

DREI

Viel war es nicht, was Adamo Savelli in Cléos Wohnung gebracht hatte: zwei Koffer, eine Espressomaschine und ein Klappbett. Im Wohnzimmer, das inzwischen das Gästezimmer war, stand nun eine kleine Marienstatue aus Porzellan. In der Küche gab es drei neue Pfannen und eine Flasche Olivenöl, und auf dem Balkon hatte sich ein Topf Rosmarin zum Schnittlauch gesellt.

„Ich werde heute für uns kochen“, sagte Adamo Savelli, als alles ausgepackt war, „es ist mein freier Abend.“

„Wunderbar“, freute sich Cléo, „kann ich helfen?“

„Ja.“ Er lächelte sie an. „Trinken Sie ein Glas Wein mit mir, Signora.“

Kurz darauf stießen sie an, Mimi hatte Limonade bekommen.

„Auf unsere Wohngemeinschaft“, sagte Cléo und alle nahmen einen Schluck.

Dann begann Adamo Savelli wie besessen Knoblauch, Sardellen und Petersilie zu hacken. „Es gibt Spaghetti alla puttanesca“, rief er.

„Oh“, machte Cléo und fühlte sich erröten. War puttana nicht das italienische Wort für Hure? Nun benimm dich doch nicht wie eine alte Jungfer, tadelte sie sich.

„Es heißt so, weil …“, Mimi hob den Zeigefinger, „weil Puten es auch gern essen.“

„Puten?“ Verwirrt sah Cléo zu Adamo Savelli hin. Der zuckte mit den Schultern und grinste. „Puten lieben Spaghetti, wussten Sie das nicht?“

„Nein, das wusste ich nicht“, antwortete Cléo schmunzelnd. „Man lernt nie aus.“

„So ist es“, murmelte Mimi, die wieder ihr schwarzes Kleid trug und darin wie eine altkluge Mini-Nonne aussah. Cléo hätte sie am liebsten fest an ihr Herz gedrückt.

„Schauen Sie nur, wie die Sardellen im heißen Olivenöl schmelzen!“ Hingerissen blickte Adamo Savelli in die Pfanne. „Man könnte meinen, sie würden der Soße einen fischigen Geschmack verleihen …“ Er fuchtelte mit dem Kochlöffel durch die Luft. „Aber nein! Überhaupt nicht! Gute Sardellen geben eine ganz besondere Würze, eine intensive Finesse.“

„Sie kochen wohl gern?“, fragte Cléo und nippte an ihrem Weinglas.

„Kochen ist Liebe, Essen ist Glück.“ Er gab den gehackten Knoblauch zu den Sardellen. „Eines Tages möchte ich mein eigenes Restaurant haben! Trattoria Adamo!“

„Das wird wunderbar“, sagte Cléo.

In Windeseile würfelte er einige Tomaten. „So, jetzt noch die Kapern“, murmelte er. „Weißt du denn, was Kapern sind, Mimi?“

„Elefantenpopel.“

Cléo unterdrückte ein Lachen.

„Nein, pfui, Magdalena.“ Adamo Savelli sah seine Tochter streng an. „Kapern sind Blütenknospen.“

„Weiß ich doch“, murrte Mimi.

„Und was sind Sardellen?“

„Fischlein.“

„Sehr gut!“

Wenig später war das Essen fertig.

Adamo Savelli stellte eine große Schüssel auf den Tisch, aus der es dampfte und köstlich duftete. Er schenkte Wein nach, dann befüllte er drei Teller und strahlte Mimi und Cléo an.

„Buon appetito.“

„Guten Appetit.“

Cléo war gespannt, wie sich die geschmolzenen Fischlein mit den Blütenknospen verstehen würden. Sie kaute und konnte nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Das war mit Abstand das Köstlichste, das sie seit Jahren gegessen hatte.

Adamo Savelli hatte sie erwartungsvoll angeschaut. „Ist es gut?“, fragte er. „Schmeckt es Ihnen?“

„Mehr als das, es ist einfach himmlisch.“

„Mein Papa kocht immer himmlisch“, bemerkte Mimi mit rotem Tomatensoßen-Schnurrbart.

„Davon bin ich überzeugt.“ Cléo schob sich eine weitere Gabel Spaghetti alla puttanesca in den Mund.

Eine genussvolle Stille trat ein, alle ließen sich ihr Essen schmecken.

„Herr Savelli“, sagte Cléo schließlich feierlich, „das war einfach grandios.“

Er lächelte. „Wer von meiner Pasta gegessen hat, muss mich Adamo nennen.“

„Oh! Ich … aber gern … aber nur, wenn Sie mich dann Cléo nennen.“

„Abgemacht, Signora Cléo.“

Er hob sein Weinglas.

„Auf Ihr Wohl, Adamo.“

„Prost!“, krähte Mimi in ihre Limonade.

Cléo ließ ihren Blick durch die Küche schweifen (benutzte Kochtöpfe, verschüttetes Olivenöl auf der Arbeitsplatte, gehackte Petersilie in der Spülbürste) und fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr, und das lag definitiv nicht an dem kleinen Schwips, den sie nach dem Genuss eines halben Glases Rotwein hatte.

„Prost, ihr Lieben“, murmelte sie, „santé.“

Nach einem erfrischenden Zitronensorbet bot Cléo an, die Küche aufzuräumen.

„Nein, auf keinen Fall“, rief Adamo entsetzt, „das mache ich. Aber könnten Sie vielleicht Mimi zu Bett bringen?“

„Komm, Mimi, ich zeige dir, wo du Zahnpasta und Seife im Bad findest.“

Mimi folgte ihr über den Korridor ins Bad. „Ich lege dir alles hierher“, sagte Cléo, „und wenn du Hilfe brauchst, rufst du mich, in Ordnung?“

„Okay.“ Mimi schlüpfte aus ihrem schwarzen Kleid, und Cléo ging ins Wohnzimmer, um die Balkontür zu öffnen und Mimis Bett aufzuschlagen. Ein Teddybär saß darauf. So einen hatte ich auch mal, dachte Cléo, wo ist er bloß geblieben? Sie konnte sich nicht erinnern, wann er ihr abhanden gekommen war. Er war ein Geschenk ihrer Mutter gewesen, ihrer lieben Maman. Die Traurigkeit, die sie plötzlich übermannte, war so heftig, dass sie nach Luft ringen musste. Maman. Sie hatte so große Sehnsucht nach ihr.

In diesem Moment kam Mimi nach Zahnpasta riechend und mit strubbeligen Haaren herein. Sie trug ein T-Shirt ihres Vaters, das ihr bis zu den Knien reichte. Ich weiß, wie du dich fühlst, ma petite, dachte Cléo und reichte ihr den Teddy.

„Bist du müde?“, fragte sie das Kind.

„Nein, du?“

„Nicht besonders.“

Sie schwiegen kurz. In der Küche klapperte Adamo mit dem Abwasch herum. Er hatte das Radio eingeschaltet und pfiff eine Melodie mit.

„Wollen wir uns noch einen Moment auf den Balkon setzen?“, fragte Cléo.

„Au ja.“

Sie kuschelten sich mit dem Teddy unter eine Decke und lauschten den abendlichen Stadtgeräuschen. Autos rauschten vereinzelt vorüber, jemand lachte, eine Fahrradklingel erklang, ein Hund bellte.

„Ich mag das“, flüsterte Cléo.

„Ich glaube, ich auch“, erwiderte Mimi. Ihre Augen waren schwer geworden. „Warum hast du so viele Käfige?“, fragte sie.

„Jeder leere Käfig bedeutet einen freien Vogel.“

„Schön“, murmelte Mimi schläfrig.

Ein leichter Wind ging durch die Äste der Akazie und ließ die Blätter rauschen.

Cléo wagte kaum weiterzuatmen, als Mimis herabsinkender Kopf ihren Oberarm berührte und dort liegen blieb. Ganz still saß Cléo da, eingehüllt in die vertrauten Laute der Akazienstraße und die vielen neuen Geräusche, die aus ihrer Küche klangen.

Aber am schönsten waren die kleinen Wolken von Zahnpasta-Duft, die Mimis tiefen Atemzügen entstiegen.

„Signora Cléo! Es ist ganz einfach. Hier muss das Wasser hinein, dort der Kaffee und so schäumt man die Milch.“

„Hm“, machte Cléo. Sie fühlte sich beim Anblick der vielen Knöpfe und Hebel an der Espressomaschine etwas überfordert. „Und was ist das da?“

„Das ist der Dampfdruckregler.“

„Ah ja.“

„Ich kann es ihr erklären“, sagte Mimi.

„Kinderhände gehören nicht an Espressomaschinen!“, rief Adamo. „Du könntest dich verbrühen.“

„Ich fasse ja nichts an, ich erkläre ihr bloß, wie man es macht.“ Mimi schob die Unterlippe vor.

„Wir kommen schon zurecht“, sagte Cléo, „machen Sie sich keine Sorgen, Adamo.“

„Gut.“ Er atmete tief durch. „Dann gehe ich jetzt.“

Sie brachten ihn zur Tür.

Auf der Treppe drehte er sich noch einmal um. „Und wenn etwas ist, rufen Sie mich an, Sie haben ja meine Mobilnummer.“

Cléo nickte. „Mache ich.“

Er stieg ein paar Stufen hinab und blieb wieder stehen. „Mimi, du bist artig!“

„Bin ich doch immer.“

Er lachte. „Na ja.“

„Ciao, Papa!“

Sie schlossen die Tür.

Eine Minute später klingelte das Telefon.

„Signora Cléo?“

„Ja?“

„Vielen Dank.“

„Sehr gern, Adamo.“ Lächelnd legte sie auf.

„So“, wandte sie sich dann an Mimi, „wir beide haben jetzt viel zu tun.“

Mimi hatte entschieden, dass ihre Kleidung nicht zusammen mit der ihres Vaters in den Garderobenschrank kommen sollte, sondern ins Boudoir.

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