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Männer mit Erfahrung

Als Buch hier erhältlich:

Lillian, die in einem kleinen Nest in Vermont lebt, fühlt sich von einem undurchsichtigen Typen namens Blackway verfolgt. Eines Morgens liegt ihre Katze tot vor der Tür. Ermordet von Blackway, davon ist sie überzeugt. Der Sheriff kann nichts für sie tun, daher sucht sie Hilfe bei einem Club kauziger alter Männer. Beeindruckt von ihrem Mut, stellen diese ihr den betagten Lester und den hünenhaften, etwas beschränkten Nate als Schutz zur Seite. Lillian traut den beiden nichts zu, aber sie lassen sich nicht abwimmeln und so verfolgen sie Blackway schließlich gemeinsam. Dieser Thriller besticht durch seinen schrägen Humor und seine ungleichen Helden. Ein Meisterstück – dicht, intensiv und leuchtend!


  • Erscheinungstag: 22.02.2016
  • Seitenanzahl: 176
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006878

Leseprobe

INHALT

FRÜHAUFSTEHER

Hochsommer: Die langen Tage beginnen mit hellem, sich rasch auflösendem Dunst und enden nie. Die Stunden strecken sich, dehnen sich. Sie dehnen sich und nehmen alles auf, was man in sie hineinsteckt; sie nehmen alles, was man hat: Geschäftigkeit, Untätigkeit, gute Ideen, schlechte Ideen, Gespräche, Liebe, Ärger, Lügen jeder Art – alles. Auch Arbeit? Nein. Niemand arbeitet mehr. Früher war das anders. Früher haben die Farmer gearbeitet. Für die Farmer waren die Hochsommertage die beste, geschäftigste Zeit des Jahres, aber die Farmer sind fort. Sie haben gearbeitet, sie haben gebaut, aber jetzt sind sie fort. Wer wird wohl der Nächste sein?

Sheriff Ripley Wingate war Frühaufsteher. Er bog von der Straße auf den Parkplatz hinter dem Gerichtsgebäude ab. Noch nicht mal sieben. Der Morgennebel hing über der Erde wie ein schwerer grauer Vorhang. Er wallte und waberte, trieb in wolligen Wirbeln und Girlanden dahin, teilte sich. In einer Ecke des Parkplatzes, beinahe verborgen von den Schwaden, ein anderer Wagen. Ein kleiner Wagen, leer.

Der Sheriff parkte den Pickup auf dem reservierten Platz gleich hinter dem Gericht und ging zu dem Wagen, einem Escort, dessen hinteres Seitenfenster teils eingeschlagen und mit Plastikfolie und Klebeband abgedeckt war. Er trat an das Beifahrerfenster, bückte sich und sah hinein. Doch nicht leer. Auf dem Fahrersitz saß eine junge Frau und schlief. Sie hatte die Knie angezogen, ihr Kopf lehnte am Fenster. Auf dem Beifahrersitz lag ein Küchenmesser mit zehn Zentimeter langer Klinge, und auf der Rückbank war ein pelziges Bündel, das der Sheriff nicht genau erkennen konnte. Er klopfte leicht ans Fenster.

Die schlafende Frau schlug die Augen auf. Sie sah sich um, und als ihr Blick auf den Sheriff vor dem Seitenfenster fiel, zuckte sie zusammen, fuhr zurück und ließ ihn nicht aus den Augen. Ihre rechte Hand tastete nach dem kleinen Messer auf dem Beifahrersitz.

«Kann ich helfen?», fragte Sheriff Wingate.

«Ich warte auf den Sheriff», sagte die junge Frau.

«Was?»

«Ich warte auf den Sheriff», sagte sie noch einmal lauter, damit er sie durch die Fenster des kleinen Wagens verstehen konnte.

«Ich bin der Sheriff.»

«Wirklich?»

«Warum kommen Sie nicht rein?», sagte der Sheriff und wies mit dem Kopf auf das Gerichtsgebäude.

Die junge Frau machte keine Anstalten auszusteigen, beugte sich aber über den Beifahrersitz und öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit.

«Sie haben keine Uniform», sagte sie.

«Stimmt», sagte der Sheriff. Er richtete sich auf und wandte sich zum Gehen.

«Woher weiß ich dann, dass Sie der Sheriff sind?»

«Was soll ich sagen?», antwortete der Sheriff. «Sie können hier sitzen bleiben, wenn Sie wollen. Vielleicht kommt ja ein anderer Sheriff vorbei.»

«Moment», sagte die junge Frau. Sie nahm die Füße vom Sitz, öffnete die Fahrertür und stieg aus. Sie war groß, und ihr braunes Haar war lang, sehr lang, und fiel in sanften Wellen über ihre Schulterblätter. Der Sheriff musterte sie. Sie wirkte nicht betrunken, sie benahm sich nicht betrunken, sie roch nicht betrunken. Sie schloss die Tür und sah ihn über das Wagendach hinweg an.

«Na gut», sagte sie.

Der Sheriff wartete und ließ ihr den Vortritt.

«Nach Ihnen», sagte die junge Frau.

Der Sheriff schüttelte den Kopf. «Ich hab kein Messer», sagte er. «Sie schon. Nach Ihnen.»

«Oh», sagte die junge Frau. Das Küchenmesser lag noch auf dem Beifahrersitz. Sie beschloss, es dort liegen zu lassen, und ging zum Hintereingang des Gerichtsgebäudes. Der Sheriff folgte ihr.

In seinem winzigen Büro im Untergeschoss des Gerichtsgebäudes wies Sheriff Wingate auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Die junge Frau setzte sich. Er ließ sie erst einmal ankommen und machte sich ein bisschen zu schaffen: Er schaltete die Kaffeemaschine ein, riss das gestrige Kalenderblatt ab und warf es in den Papierkorb, stellte das Funkgerät lauter und dann leiser. Schließlich setzte er sich an den Schreibtisch und sah die junge Frau an.

«Was kann ich für Sie tun?», fragte er.

«Ich brauche Hilfe», sagte die junge Frau.

«Bei was?»

«Er ist hinter mir her», sagte sie. «Ein Mann. Er will mir was tun.»

«Ein Mann?»

«Ja. Er beobachtet mich. Er verfolgt mich. Er lässt mich nicht in Ruhe.»

«Blackway», sagte der Sheriff.

«Sie wissen Bescheid?»

«Ich kenne Blackway», sagte der Sheriff. «Die meisten hier kennen ihn. Kaffee?» Er stand auf und ging zur Kaffeemaschine.

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

Der Scheriff schenkte sich einen Becher Kaffee ein und setzte sich wieder.

«Blackway verfolgt Sie also?», fragte er.

«Sag ich doch.»

«Seit wann?»

«Seit einer Woche, zehn Tagen», sagte die junge Frau. «Er beobachtet mich. Einmal wollte ich gerade aus meiner Einfahrt fahren, da hat er sich mit seinem großen Pickup in den Weg gestellt, so dass ich nicht vorbei konnte. Er hat einfach dagesessen und mich angestarrt. Ich sollte sehen, dass er mich anstarrte. Dann ist er weitergefahren. Das hat er schon öfter gemacht. Und einmal hat er das Fenster von meinem Wagen eingeschlagen.»

«Waren Sie dabei?», fragte der Sheriff. «Haben Sie es gesehen?»

«Nein. Es war in der Nacht. Ich hab geschlafen, und der Wagen war geparkt.»

«Wissen Sie, ob jemand anders ihn dabei gesehen hat?»

«Nein.»

«Dann wissen Sie also nicht mit Sicherheit, dass er es war.»

«Er war’s», sagte die junge Frau. «Wer denn sonst?»

«Vielleicht keiner», sagte der Sheriff. «Vielleicht viele. Was sonst noch?»

Die junge Frau schluckte schwer. Sie sah zu Boden und schüttelte den Kopf. Sie wollte etwas sagen und schluckte erneut.

«Nur die Ruhe», sagte der Sheriff.

«Annabelle», sagte die junge Frau. «Er war bei meinem Haus und hat sie erwischt.»

«Annabelle?»

«Meine Katze. Er hat sie umgebracht.»

Der Sheriff nickte. «Die auf Ihrem Rücksitz.»

«Gestern Nacht», sagte die junge Frau. «Sie lag auf der Vordertreppe. Mit durchgeschnittener Kehle. Er hat ihr fast den Kopf abgetrennt.»

«Nur die Ruhe», sagte der Sheriff.

Die junge Frau schluckte und sah noch immer zu Boden. Sie nickte.

«Wollen Sie jetzt einen Kaffee?»

Wieder nickte die junge Frau.

Der Sheriff stand auf, ging zur Kaffeemaschine und schenkte der jungen Frau einen Becher ein. «Milch und Zucker?»

«Nur Zucker.»

Der Sheriff gab einen Teelöffel Zucker in den Becher und rührte um. Dann stellte er den Becher vor der jungen Frau auf den Schreibtisch. Sie nahm ihn und hielt ihn in beiden Händen, als wollte sie sie wärmen. Schlanke, schmale Hände.

Der Sheriff ging wieder zu seinem Stuhl. Er setzte sich.

«Und dann haben Sie Ihre Katze genommen und sind hergefahren, mitten in der Nacht», sagte er.

«Ja.»

«Und falls Blackway sich sehen lassen sollte, wollten Sie ihn mit Ihrem Obstmesserchen abstechen.»

«Besser als nichts», sagte die junge Frau.

«Ach ja?», sagte der Sheriff. «Und Sie haben die ganze Nacht hier gewartet?»

«Ja.»

«Warum?»

Die junge Frau sah ihn an.

«Warum?», sagte sie. «Was soll das heißen: ‹Warum?› Ich hab Ihnen doch gesagt, warum. Ich habe Angst. Ich werde bedroht. Er stellt mir nach. Sie sind der Sheriff. Ich brauche Schutz. Sie müssen mir helfen. Sie müssen was unternehmen.»

«Und was?»

«Was?», sagte die junge Frau. «Ich weiß nicht. Irgendwas. Sie sind doch schließlich der Sheriff, nicht ich. Und nein, ich kann nicht beweisen, dass er Annabelle umgebracht hat. Ich war nicht dabei. Aber ich weiß, dass er es war.»

«Ich hab nicht gesagt, dass er es nicht war.»

«Na gut», sagte die junge Frau. «Und was können Sie tun?»

«Nicht allzu viel.»

«Nicht allzu viel?»

«Ich könnte ihn natürlich besuchen», sagte der Sheriff. «Blackway, meine ich. Ich könnte mit ihm reden. Ich weiß aber nicht, ob das die Sache besser machen würde. Was meinen Sie? Wie ich Blackway kenne, würde es die Sache eher schlimmer machen.»

«Er will mir was tun», sagte die junge Frau. «Er wird mir was tun. Das hat er vor.»

Sheriff Wingate sah sie an. Er nickte.

«Für etwas, das er vorhat, kann ich ihn nicht festnehmen», sagte er. «So funktioniert das nicht. So was wäre gegen das Gesetz. Das wissen Sie.»

«Sagen Sie mir nicht, was ich weiß», sagte die junge Frau.

«So funktioniert das nicht», fuhr der Sheriff fort, «und Sie würden auch nicht wollen, dass es funktioniert.»

«Sagen Sie mir nicht, was ich will.»

Der Sheriff gab keine Antwort. Er sah die junge Frau über den Schreibtisch hinweg an und wartete.

«Hören Sie», sagte die junge Frau und stellte den Kaffeebecher auf den Tisch, «hab ich mich irgendwie unklar ausgedrückt? Er hat meine Katze umgebracht. Meine Scheiß-Katze. Er hat ihr die Scheiß-Kehle durchgeschnitten. Also sagen Sie mir nicht, was ich will.» Sie stand auf und wandte sich zum Gehen.

«Setzen Sie sich», sagte der Sheriff.

Sie sah ihn an und setzte sich wieder.

«Warum?», sagte sie. «Warum soll ich mich setzen? Sie sagen, Sie können nichts für mich tun. Sie sagen, ich muss warten, bis er irgendwas tut, bis er mich kriegt und mich umbringt, bevor Sie irgendwas tun können.»

«So könnte man es ausdrücken», sagte der Sheriff.

«Wie würden Sie es denn ausdrücken?»

«Genau so.»

«Tja, dann …» Sie erhob sich wieder.

«Setzen Sie sich», sagte der Sheriff. «Gibt es hier in der Gegend Leute, die Sie kennen? Verwandte?»

«Nein. Niemanden.»

«Woher stammen Sie?»

«Nicht von hier.»

«Dann gehen Sie weg», sagte der Sheriff.

«Nein.»

«Warum nicht?»

«Weil ich nichts getan hab. Blackway hat was getan. Soll Blackway doch weggehen.»

«Blackway ist aber von hier», sagte der Sheriff.

Sie schwiegen einen Augenblick.

«Haben Sie Freunde?», fragte der Sheriff. «Irgendjemand? Hier in der Gegend, meine ich. Sind Sie nicht mit Russell Bays Sohn zusammen? Mit Kevin?»

«Kevin ist weg», sagte die junge Frau. «Er ist abgehauen. Hat sich davongemacht. Und sonst hab ich niemand. Ich meine, ich kenne niemand. Und selbst wenn – Sie sagen ja, dass mir niemand helfen kann, stimmt’s?»

«Ich sage, dass das Gesetz Ihnen nicht helfen kann», sagte der Sheriff. «Das ist nicht ganz dasselbe.»

Die junge Frau lehnte sich zurück. Sie hörte ihm jetzt aufmerksam zu.

«Nein», sagte sie, «das ist nicht dasselbe.»

«Kennen Sie die Fabrik?», fragte der Sheriff. «Auf der anderen Seite der Stadt? Ein großes, altes Gebäude, direkt an der Straße. Früher wurden da mal Stühle gemacht.»

«Die Stuhlfabrik? Ich hab das Schild gesehen.»

«Da könnten Sie mal hingehen», sagte der Sheriff. «Meistens sitzen da ein paar Leute herum. Fragen Sie nach Whizzer. Kennen Sie ihn?»

«Whizzer?»

«Fragen Sie nach Whizzer. Sagen Sie ihm, ich hab Sie geschickt. Erzählen Sie ihm von Blackway. Und fragen Sie nach Scotty.»

«Scotty?»

«Scotty Cavanaugh», sagte der Sheriff. «Er kennt Blackway. Er und Blackway hatten mal miteinander zu tun, könnte man sagen. Vielleicht kann Scotty Ihnen in dieser Sache helfen.»

«Wie denn?»

«Das müsste er entscheiden», sagte der Sheriff. «Oder?»

«Und wenn er mir nicht helfen will?»

«Das wird er schon, wenn Whizzer ihn darum bittet.»

«Wer ist Whizzer?», fragte die junge Frau.

«Whizzer ist da drüben so was wie der Boss», sagte Sheriff Wingate. «Die Fabrik gehört ihm. Reden Sie mit ihm. Reden Sie mit Whizzer.»

DIE DEAD RIVER STUHLFABRIK

Alonzo Boot, genannt Whizzer, erwachte auf dem Sofa. Er verbrachte oft die Nacht auf dem Sofa. Er sah keinen Grund, zu Bett zu gehen – er schlief sowieso kaum noch. Er wälzte sich auf den Rücken, griff nach dem Seil, das von einem der Balken herabhing, und setzte sich auf. Dann packte er seine Beine und schwang sie vom Sofa. Er stemmte sich hoch und hievte sich in den Rollstuhl. Im Sitzen konnte er aus dem Bürofenster sehen: Dichter Nebel lag über dem Fabrikhof und dem Wald, doch er bewegte sich, wurde dünner, löste sich auf.

Whizzer wendete den Rollstuhl in Richtung Klotür. Er schaltete den Motor ein, der ein leises Summen von sich gab, und drehte am Griff.

«Na dann», sagte er.

Der offizielle Name der Fabrik lautete Dead River Stuhlfabrik. Sie stand am Stadtrand, neben dem Bach, der einst die diversen Maschinen angetrieben hatte. Auf einem alten Holzschild an der Straße stand in verblassten, dreißig Zentimeter hohen goldenen Lettern «Dead River Stuhlfabrik». In den letzten fünfzig Jahren wäre allerdings jeder, der hier aufgekreuzt wäre, um einen Stuhl zu kaufen, bloß ausgelacht worden.

Schon vor dem Bürgerkrieg hatte hier eine Fabrik gestanden. Im Lauf der Zeit war so ziemlich alles hergestellt worden, was man aus dem Holz der Bäume in den Hügeln von Vermont herstellen konnte: nicht nur Stühle, sondern auch Fässer, Bottiche, Schalen, Spulen, Fensterrahmen, Fensterläden, Kisten, Kinderschlitten, Eishockeyschläger, Körbe und Gewehrschäfte. Zweimal war sie restlos abgebrannt, und 1910 schließlich hatte man diese Stuhlfabrik gebaut: ein großes neues Gebäude mit lauter Maschinen, die nicht mehr vom Bach, sondern von einer Dampfmaschine angetrieben wurden.

Die Stuhlfabrik war seit drei Generationen im Besitz der Familie Boot. Sechzig Jahre lang florierte das Geschäft. Im Ersten Weltkrieg beschäftigte die Fabrik vierzig Arbeiter. In ihren besten Zeiten wurde gut abgelagertes Stammholz – Esche, Eiche, Ahorn – innerhalb weniger Tage zu hervorragenden Windsor-Stühlen verarbeitet.

Zu Lebzeiten von Whizzer Boots Großvater und Vater wurden in der Fabrik weiterhin Stühle produziert, aber als Whizzer den Betrieb übernahm, war dieser schon auf dem absteigenden Ast. Offenbar wurden in North Carolina oder Taiwan bessere Stühle hergestellt als in Vermont. Whizzer ging beinahe pleite. Er verkaufte so viele Maschinen wie möglich – der Rest stand mit Spinnweben und Fledermausscheiße überzogen herum. Das Sägewerk betrieb er weiterhin, verlegte es aber aus der Fabrik in einen Wellblechschuppen auf dem Hof. Die neue Säge wurde nicht vom riesigen, launischen Boiler der Fabrik angetrieben, sondern von einem Dieselmotor, nicht größer als ein Fernseher, der mit einem Fass Sprit eine ganze Woche lief – man konnte zusehen und Bier trinken. Bis zu seinem Unfall fällte und verarbeitete Whizzer die Bäume selbst. Danach stieg er in die Verwaltung auf.

Nach und nach kam es so weit, dass die Fabrik, die einmal einem ganzen Dorf Lohn und Brot gegeben hatte, nur noch Whizzer und ein paar Helfer ernährte. So stand es jedenfalls in den Büchern. Aber keiner von denen, die darin standen, zerriss sich vor lauter Arbeit.

Whizzers Unfall lag jetzt zehn Jahre zurück. Er hatte ihm einiges genommen und anderes beschert. Was sie ihm genommen hatte, lag in der Vergangenheit; es war Vergangenheit. Das andere war weiterhin da. Der Unfall hatte Whizzer eine neue Art der Fortbewegung, ein neues Einkommen und einen neuen Job beschert. Und einen neuen Namen. In den langen Wochen der Genesung, als er sich mit dem neuen elektrischen Rollstuhl vertraut machte, in dem er den Rest seines Lebens verbringen sollte, hingen er und die anderen oft im Sägewerk herum und tranken Bier, und er probierte das Ding aus: vorwärts, rückwärts, links, rechts, halbe Geschwindigkeit, volle Geschwindigkeit. Die anderen nannten den Rollstuhl «Whizzer», und im Lauf der Zeit übertrug sich der Name vom Gefährt auf den Gefahrenen.

Whizzers Unfall hatte ihm auch seinen ersten und einzigen Flug beschert – allerdings hatte er keinerlei Erinnerung daran. Eigentlich konnte er sich an gar nichts erinnern. Er hatte am Little Blue Mountain Baumstämme ins Tal gebracht, den Skidder angehalten, die Bremse angezogen und war abgestiegen, um zu pinkeln. Aufgewacht war er im grellen Licht einer Notaufnahme, umgeben von Gesichtern, die sich über ihn beugten. Keins davon kannte er. Er wollte sie fragen, wo er war und was eigentlich passiert war, konnte sich aber anscheinend nicht verständlich machen.

Ein Baum war auf ihn gefallen, eine Eiche. Sie hatten Eichen geschlagen. Der Wind war in den Wipfel eines angeschnittenen Baums gefahren; der Baum hatte sich gedreht und war in die falsche Richtung gefallen, genau auf Whizzer. Eichenholz ist schwer. Eine Eiche dieser Größe wiegt ein paar Tonnen. Und diese Eiche hatte Whizzer so übel erwischt, dass er, wie Coop oder D. B. oder die anderen behaupteten, noch fünf Jahre nach dem Unfall hauptsächlich Eicheln schiss.

Sie zogen ihn unter dem Baum hervor und trugen ihn aus dem Wald auf eine Wiese, wo ein Hubschrauber ihn abholte und ins Krankenhaus brachte. Ins Dartmouth-Hitchcock-Krankenhaus in New Hampshire. Als Whizzer nach einigen Tagen begriff, wo er gelandet war, kam er zu dem Schluss, er sei in mehr als nur einer Hinsicht erledigt. In der ganzen Gegend galt es als gesicherte Tatsache, dass das Dartmouth-Hitchcock nichts anderes war als ein Wartezimmer vor dem Jenseits – nein, kein bloßes Wartezimmer, sondern eine regelrechte Vertriebsstelle, eine Art Zollamt, wo die irdische Habe des Dahingeschiedenen restlos unter den diversen Angehörigen der medizinischen Branche aufgeteilt wurde.

«Tot oder pleite», sagte Whizzer. «Oder beides.»

Aber nein. Keineswegs. Zehn Jahre später war er noch immer lebendig und mehr oder weniger flüssig, denn er kassierte eine auf die harte Tour verdiente Vollbehindertenrente und erfreute sich der Aufmerksamkeit, der Achtung und der liebevollen Fürsorge einer kleinen Gruppe treuer Freunde, denen er nun nicht mehr entkommen konnte.

Die Fabrik bestand aus einer langen, von Schatten erfüllten Halle, deren schmutzige Fenster nur trübes Licht einließen und in der die Schritte auf den Bodendielen lauter klangen, als einem lieb war. Zu beiden Seiten des Mittelgangs standen die verstaubten Werk- und Drehbänke, die Bandsägen, die Abrichten und andere Maschinen, und im Halbdunkel unter der Decke hingen Kabel, Laufkatzen, Treibriemen und Räder. Nur am Ende des Saals war es wirklich hell, im ehemaligen Büro des Betriebsleiters, das jetzt Whizzers Reich war.

Es war ein kleiner, quadratischer Raum mit einem Fenster auf den Hof, den Bach und die bewaldeten Berge und einem anderen, durch das man in die Produktionshalle sah. Im Büro standen ein gusseiserner Holzofen, Whizzers altes, abgewetztes, rissiges Ledersofa, zwei mit nutzlosen, vergessenen Papieren vollgestopfte Stahlschränke und ein halbes Dutzend Sitzmöbel: Schaukelstühle, Campingstühle, Sessel.

Whizzer hatte nie geheiratet, und das Büro war weder hell noch aufgeräumt oder sauber. An den Wänden, in den Ecken, auf den Regalen und den Stahlschränken hatten sich spinnwebüberzogene Erinnerungsstücke angesammelt, die Generationen unsentimentaler Männer nicht hatten wegwerfen wollen. Da gab es genagelte Stiefel und alte Koppelschlösser, rostige Äxte und gleichermaßen rostige Baumsägen, es gab Wellen, Zahnräder und Vergaser von Motorsägen. Und gerahmte sepiabraune Fotografien, auf denen Gruppen von Männern mit Hosenträgern und schweren Schnurrbärten vor Stapeln riesiger Baumstämme standen, im Hintergrund die Fabrik.

Hoch oben an einer Wand hingen Kopf und Geweih eines großen Karibus. Whizzers Vater war Großwildjäger gewesen. Er hatte diese Trophäe aus Alaska mitgebracht, wo er 1948 mit dem großen Elwood «Grizzly» Singleton, dem berühmtesten Führer Alaskas, in die Brooksberge gegangen war. Dort hatte der alte Boot in jagdlicher Hinsicht eine glatte Niete gezogen. In zwei elenden Wochen hatten weder er noch Singleton auch nur einen einzigen Schuss abgefeuert. Der Karibukopf stammte von einem Tierpräparator in Vancouver. Whizzers Vater pflegte zu erzählen, Grizzly Singleton habe darauf bestanden, ihm den Kopf zu schenken, bevor der enttäuschte Jäger wieder in den Canadian Pacific stieg, um die lange Heimreise nach Neuengland anzutreten. Singleton hatte seinem Kunden eine Trophäe versprochen und war ein Mann von Ehre, wenn auch – wie jeder Hobbyjäger von San Francisco bis Fairbanks wusste – ein lausiger Führer.

Eine weitere Trophäe in Whizzers Büro stammte von ihm selbst: ein großer Uhu, der mit wütenden Glasaugen von einem Regal hinter der Tür herabstarrte. Er hatte eines Morgens vor langer Zeit tot auf dem Fabrikhof gelegen, und Whizzer, damals noch Highschool-Schüler, hatte beschlossen, ihn auszustopfen. Wie das ging, hatte er in einem Magazin für Jungen gelesen. Er hatte den Vogel gehäutet, einen der Arbeiter gebeten, ihm eine Art hölzernen Football zu machen, und den Balg darüber gezogen. Dann hatte er die verbliebenen Hohlräume mit Sägemehl ausgestopft, das Ding zugenäht und es mit Draht an einen Ast gebunden, den er auf ein Brett genagelt hatte. Die Glasaugen hatte er sich per Post aus Chicago kommen lassen. Sie waren das Ansehnlichste – oder vielmehr das am wenigsten Unansehnliche – an diesem Ausstellungsstück. Abgesehen von den Augen hatte sich Whizzers Uhu nicht gut gehalten. Er sah aus, als hätte man ihm lieber gleich eine anständige Beerdigung zuteilwerden lassen sollen, denn er neigte sich schwer zur Seite, und im Lauf der Zeit hatten sich Mäuse in ihm eingenistet. Wenn sie dort drinnen herumtobten, zuckte der ausgestopfte Vogel manchmal leicht, als wäre er noch lebendig. An manchen Tagen bewegte Whizzers Uhu sich mehr als Whizzer selbst.

Das Fabrikgebäude war vor beinahe hundert Jahren ganz aus Holz gebaut worden; die Balken, Zapfen, Bohlen und Schindeln waren mit uraltem Fett und Öl getränkt, und so war das Ganze praktisch ein Feuerwerk, das nur auf ein Streichholz wartete. Eine Versicherung konnte Whizzer sich nicht leisten. Im Grundbuchamt der Gemeinde behandelte man das Anwesen wie eine verrückte, auf dem Dachboden versteckte Tante: Es war eine Peinlichkeit, über die man nicht sprach. In den vergangenen fünfzehn Jahren hätte man die Fabrik jederzeit wegen unbezahlter Grundsteuern beschlagnahmen können, aber man hatte es nicht getan. Warum auch? Die Gemeinde wollte das Ding nicht haben. Keiner wollte es haben. Es lohnte sich nicht, es abzureißen. Es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken. Eines Tages würde es einfach abbrennen.

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