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Mein Herz sucht Liebe

Als Buch hier erhältlich:

"Und rosa Schwäne, die auf dem Pool schwimmen …" Courtney ist entschlossen, ihrer Mutter eine Traumhochzeit in Pink zu organisieren. Auch wenn sie selbst, die rosarote Brille schon lange abgesetzt hat. Ihre beiden Schwestern, Rachel und Sienna, sind ihr keine große Hilfe, da diese ebenfalls nach Enttäuschungen dem "schönsten Tag im Leben" mehr als kritisch gegenüberstehen. Oder kann das neue Glück ihrer Mom den drei Schwestern beweisen, dass es nie zu spät ist, sein Herz zu öffnen?

"Berührend, lustig und unglaublich charmant."

New York Times-Bestsellerautorin Susan Elizabeth Phillips

"Einer von Susan Mallerys besten Romanen überhaupt."

New York Times-Bestsellerautorin Debbie Macomber

"Wenn Sie Romane über Schwestern und Hochzeiten sowie mit knisternden Liebensmomenten mögen, ist Mein Herz sucht Liebe genau die richtige Lektüre für Sie." Kirkus Reviews

"Witzig, einfühlsam und bewegend. Mit einigen emotionalen Dramen durchzogen, die jeder, der eine Familienhochzeit erlebt hat, nur zu gut kennt. Mein Herz such Liebe ist das reinste Lesevergnügen und wird Romance-Fans genauso begeistern wie Leserinnen von Frauenunterhaltung."

Library Journal


  • Erscheinungstag: 08.05.2017
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766313
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Kaycee. Ich danke dir so sehr für alles.

Dieses Buch ist für dich.

Als „Mom“ eines bezaubernden, verwöhnten kleinen Hundes kenne ich die Freude, die Haustiere in unser Leben bringen können. Deshalb unterstütze ich schon lange den Tierschutz, indem ich an die Seattle Humane spende. Bei ihrer „Tuxes and Tails“-Wohltätigkeitsfeier konnte man den Namen seines eigenen Haustiers in einem meiner Romane ersteigern.

In diesem Buch werden Sie zwei wundervolle Hunde kennenlernen – Sarge und Pearl. Was für mich das Schreiben so besonders macht, sind die verschiedenen Arten, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Manchmal spreche ich aus Recherchegründen mit ihnen. Andere sind Leser, die mit mir über Charaktere und Handlungsstränge reden möchten. Und wieder andere sind fabelhafte Eltern für ihre Haustiere. Von Sarge und Pearl zu erfahren, war einfach wundervoll. Sie werden beide sehr geliebt und verwöhnt – ganz so, wie man es mit Haustieren machen sollte. Ich habe es genossen, sie in meine Geschichte mit einzubauen, und hoffe, dass Ihnen ihre charmanten Eskapaden gefallen.

Vielen Dank an Sarge und Pearl, an ihre fabelhaften Menscheneltern und die wunderbaren Menschen bei Seattle Humane (www.seattlehumane.org). Denn jedes Tier hat eine liebevolle Familie verdient.

1. Kapitel

Einer der Vorteile, irre groß zu sein, ist, dass man leicht an die oberen Küchenschränke kommt. Die Nachteile hingegen … nun, die lassen sich vermutlich in dem Wort irre zusammenfassen.

Courtney Watson schlug ihre zu langen Beine unter, als sie versuchte, es sich auf einem Stuhl gemütlich zu machen, der viel zu niedrig war. Und sie wollte die Höhe nicht verstellen, da sie an der Rezeption nur für Ramona einsprang, die erneut eine kleine Toilettenpause einlegen musste. Offenbar hatte das Baby sich verlagert und drückte jetzt genau auf ihre Blase. Soweit Courtney das beurteilen konnte, war eine Schwangerschaft nicht nur ziemlich arbeitsintensiv, sondern sorgte auch für reichlich Unbehagen. Das Letzte, was sie tun wollte, war daher, irgendetwas an diesem Stuhl zu verändern, auf dem Ramona den Großteil ihres Tages verbrachte. Für ein paar Minuten könnte Courtney problemlos so tun, als wäre sie eine menschliche Brezel.

An diesem Dienstagabend war die Lobby des Los-Lobos-Hotels ruhig; nur ein paar Gäste waren noch unterwegs, die meisten hatten sich bereits auf ihre Zimmer verzogen, was Courtney ganz recht war. Sie war kein Fan von Gästen, die nachts noch herumwanderten. Die brachten sich meistens nur in Schwierigkeiten.

Die Fahrstuhltür ging auf, und ein kleiner, gut gekleideter Mann trat heraus. Er schaute sich in der Lobby um, bevor er direkt auf Courtney zusteuerte. Nun ja, vermutlich nicht auf sie, sondern eher auf die Rezeption, hinter der sie saß.

Ihr geübtes Lächeln verblasste ein wenig, als sie Milton Ford erkannte, den derzeitigen Präsidenten der California Organization of Organic Soap Manufacturing, einer Vereinigung von Herstellern biologischer Seifen, kurz COOOSM genannt. Mr. Ford hatte das jährliche Treffen hier in der Stadt organisiert, und sämtliche Mitglieder waren im Los Lobos abgestiegen. Das wusste Courtney so genau, weil sie die Reservierung persönlich entgegengenommen hatte. Die Vorträge und die Mahlzeiten hingegen fanden im Anderson House statt, und somit flossen auch die wesentlichen Einnahmen dorthin.

„Hallo.“ Er schaute auf das Namensschild auf dem Tresen. „Ah, Ramona. Ich bin Milton Ford.“

Courtney erwog, ihn wegen ihres Namens zu korrigieren, dachte dann aber, dass das nichts bringen würde. Obwohl er sein ganzes schönes Cateringgeld der Konkurrenz zuschanzte, war es ihre Pflicht, ihren Job – oder in diesem Fall Ramonas – so gut zu erledigen, wie sie konnte.

„Ja, Mr. Ford, was kann ich für Sie tun?“ Sie lächelte, fest entschlossen, nett zu ihm zu sein.

Auch wenn Mr. Ford nun mal entschieden hatte, seinen dämlichen Lunch zur Preisverleihung im Anderson House abzuhalten statt im wunderschönen, großzügigen Ballraum des Los Lobos, würde Courtney sicherstellen, dass sein Aufenthalt und der seiner Kollegen perfekt verlief.

Sei nicht verbittert, würde ihre Chefin sagen, also drehte Courtney ihr Lächeln auf volle Wattstärke. Sobald sie mit Mr. Ford fertig wäre, würde sie auf eine kleine Portion Feierabendeis in die Küche huschen, versprach sie sich im Stillen. Das wäre eine prima Belohnung für gutes Benehmen.

„Ich habe ein Problem“, verkündete Mr. Ford. „Nicht mit den Zimmern, die sind so ausgezeichnet wie immer. Es betrifft die, äh, andere Lokalität, die wir gebucht haben.“

„Das Anderson House.“ Sie bemühte sich, die Worte nicht auszuspucken.

„Ja.“ Er räusperte sich. „Ich fürchte, dort gibt es … Bienen.“

Jetzt war die Schwierigkeit nicht mehr, sich zum Lächeln zwingen zu müssen, sondern vielmehr, dieses Lächeln nicht zum Grinsen ausarten zu lassen. Joyce würde wollen, dass ich professionell bleibe, schoss es ihr durch den Kopf. Schadenfreude war möglicherweise zwar angebracht, doch definitiv nicht höflich. Zumindest nicht vor Mr. Ford. Bienen! Wie großartig.

„Ich habe noch gar nicht gehört, dass sie zurück sind“, erwiderte sie mitfühlend.

„Es hat dort schon mal Bienen gegeben?“

„Ja, alle paar Jahre. Normalerweise halten sie sich von der Stadt fern, wenn sie allerdings auftauchen, gefällt ihnen das Anderson House am besten.“

Mr. Ford tupfte sich die Stirn mit einem sehr weißen Taschentuch ab, das er dann wieder in seine Tasche steckte. „Es sind Hunderte. Tausende. Über Nacht sind praktisch ganze Bienenstöcke aus dem Boden gewachsen. Die Bienen sind überall.“

„Sie sind nicht besonders gefährlich“, versicherte Courtney. „Die Betrunkene Rotnasige Honigbiene ist als ruhig und fleißig bekannt. Oh, und sie ist vom Aussterben bedroht. Als Hersteller von biologischer Seife wissen Sie ja bestimmt um die Bedeutung, die dem Erhalt des Bestands der Honigbienen zukommt. Wenn diese Tiere nach Los Lobos zurückkehren, ist das immer eine gute Nachricht. Es bedeutet, dass die Population gesund ist.“

„Ja. Natürlich. Doch wir können unseren Preisverleihungslunch nicht in dem Haus mit den Bienen abhalten. Ich hatte gehofft, dass Sie hier vielleicht einen Raum für uns haben?“

Hier? Damit meinen Sie wohl den Raum, den ich Ihnen angeboten hatte und den Sie abgelehnt haben, weil Sie meinten, das Anderson House wäre so viel passender für Ihre Ansprüche? Aber diese Gedanken waren nur für sie bestimmt, nicht für den Gast.

„Lassen Sie mich mal schauen“, sagte sie. „Ich denke, ich könnte einen entsprechenden Rahmen für Sie finden.“

Sie bereitete sich mental darauf vor, von ihrem Stuhl aufzustehen. Denn der gut gekleidete Mr. Ford war in all seiner Eleganz großzügig geschätzt höchstens einen Meter achtundsechzig groß. Und sie war deutlich höher gewachsen. Und wenn sie sich nun erhob … war völlig klar, was dann passieren würde.

Sie entwirrte ihre langen Beine und richtete sich auf. Mr. Fords Blick folgte ihr nach oben, dann blieb ihm für eine Sekunde der Mund offen stehen, bevor er ihn wieder zuklappte. Courtney überragte Mr. Ford um gute fünfzehn Zentimeter, wahrscheinlich sogar mehr, doch wer wollte es schon so genau wissen …

„Meine Güte“, murmelte er, während er ihr durch die Lobby hinterherging. „Sie sind aber sehr groß.“

Es gab tausend Erwiderungen auf diese Bemerkung, doch keine davon war höflich, und alle waren am Arbeitsplatz unangemessen. Also biss sie die Zähne zusammen und murmelte dann so wenig sarkastisch, wie es ihr möglich war: „Wirklich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

Courtney beobachtete ihre Chefin dabei, wie sie zwei Löffel Zucker in ihren Kaffee rührte und dann jedem der beiden Hunde einen Streifen Bacon gab. Pearl – eine wunderschöne cremefarbene Pudeldame – wartete geduldig auf ihren Snack, während Sarge alias Sargent Pepper – ein Bichon-Zwergpudel-Mischling – ein hohes Wimmern ausstieß.

Um zehn Uhr am Morgen war der Speisesaal des Los-Lobos-Hotels beinahe leer. Die meisten Frühstücksgäste waren fort und die Mittagsbesucher noch nicht eingetroffen. Courtney war durchaus klar, wie paradox es war, dass sie das Hotel am meisten mochte, wenn keine Gäste da waren. Schließlich gäbe es ohne Gäste kein Hotel, keinen Job und keinen Gehaltsscheck. Und natürlich hatte die Ausrichtung einer verrückten Hochzeitsfeier bei ansonsten ausgebuchtem Haus auch ihre ganz speziellen Reize. Dennoch genoss sie einfach die hallende Stille der leeren Räume.

Joyce Yates sah Courtney an und lächelte. „Ich bin bereit.“

„Die neue Wäschefirma ist gut. Die Handtücher sind sehr sauber und die Laken überhaupt nicht kratzig. Ramona meint, sie würde bis kurz vor der Geburt bleiben können, aber ehrlich gesagt tut es schon weh, sie nur anzuschauen. Sie ist so winzig, und das Baby ist so groß. Was zum Teufel hat Gott sich dabei nur gedacht? Gestern Abend war Mr. Ford von der California Organization of Organic Soap Manufacturing bei mir. Die Bienen sind ins Anderson House eingefallen, und er möchte nun seine ganze Veranstaltung zu uns verlegen. Ich habe ihn nicht aufgezogen, auch wenn er es verdient hätte. Also werden wir jetzt das ganze Brimborium hier durchführen, inklusive aller Mahlzeiten. Ich habe ihn zu Krabbensalat überredet.“

Kurz holte Courtney Luft. „Ich glaube, das ist alles.“

Joyce nippte an ihrem Kaffee. „Dann hattest du ja wieder mal ein volles Programm.“

„Aber nichts Außergewöhnliches.“

„Hast du wenigstens ein bisschen geschlafen?“

„Klar.“

Mindestens sechs Stunden, dachte Courtney und rechnete im Kopf schnell nach. Sie war in der Lobby geblieben, bis Ramonas Schicht um zehn geendet hatte. Dann war sie bis halb elf noch einmal durchs Hotel gegangen, hatte bis ein Uhr gelernt und war um halb sieben aufgestanden, um wieder von vorne zu beginnen.

Okay, es waren nur fünf Stunden.

„Ich schlafe, wenn ich vierzig bin“, meinte sie.

„Das bezweifle ich.“ Joyce klang zwar freundlich, aber ihr Blick war scharf. „Du arbeitest zu viel.“

Diese Worte hört man von Chefs wohl auch nur selten, fiel Courtney ein, doch Joyce war ja auch nicht wie andere Chefs.

Joyce Yates hatte 1958 als Zimmermädchen im Los Lobos angefangen. Sie war damals siebzehn. Binnen zwei Wochen hatte der Besitzer des Hotels, ein attraktiver eingefleischter Junggeselle von Mitte dreißig, sich Hals über Kopf in seine neue Angestellte verliebt. Drei Wochen später heirateten sie und lebten fünf Jahre lang glücklich zusammen, bis er unerwartet an einem Herzinfarkt starb.

Joyce, damals erst zweiundzwanzig und Mutter eines Kleinkindes, hatte das Hotel übernommen. Alle waren sicher, dass sie scheitern würde, aber unter ihrer Leitung war das Geschäft erblüht. Jahrzehnte später kümmerte sie sich immer noch um jedes Detail und kannte die Lebensgeschichte von jedem, der für sie arbeitete. Sie war zugleich Chefin und Mentorin für die meisten ihrer Angestellten und für Courtney immer wie eine zweite Mutter gewesen.

Joyces Güte war genauso legendär wie ihre weißen Haare und die klassischen Hosenanzüge. Sie war fair, entschlossen und gerade exzentrisch genug, um interessant zu sein.

Courtney kannte sie schon ihr ganzes Leben lang. Sie war noch ein Baby gewesen, da war ihr Vater ebenfalls unerwartet gestorben und hatte ihre Mutter Maggie mit drei Töchtern und einer Firma zurückgelassen. Joyce war innerhalb weniger Wochen von einer Kundin zur Freundin geworden. Vermutlich, weil sie selber einst eine junge Witwe mit Kind gewesen war.

„Wie läuft dein Marketingprojekt?“, fragte Joyce.

„Gut. Ich habe die Anmerkungen von meinem Professor zurückgekriegt und kann mich jetzt an die finale Präsentation setzen.“ Wenn sie dieses Marketingseminar abgeschlossen hatte, war sie nur noch zwei Monate von ihrem Bachelor entfernt. Halleluja.

Joyce schenkte sich Kaffee aus der Kanne nach, die auf dem Tisch stand. „Quinn kommt nächste Woche.“

Courtney grinste. „Nein, wirklich? Das hast du in den letzten zwei Wochen höchstens jeden einzelnen Morgen erwähnt. Ich war nicht ganz sicher, wann genau er eintrifft. Bist du sicher, dass es tatsächlich nächste Woche ist? Das hatte ich glatt vergessen.“

„Ich bin alt. Ich kann mich so oft und so lange über den Besuch meines Enkels freuen, wie ich will.“

„Ja, das kannst du. Wir zittern alle schon vor Aufregung.“

Um Joyces Mund zuckte es. „Du bist heute Morgen ganz schön frech, junge Dame.“

„Ich weiß. Das liegt an den Betrunkenen Rotnasigen Honigbienen. Ich werde immer so, wenn sie das Anderson House überfallen. Ich nenne es meine Dankbarkeitsfrechheit.“

„Quinn ist immer noch Single.“

Courtney war sich nicht sicher, ob sie lachen oder schnauben sollte. „Das ist ja sehr subtil. Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen, Joyce, aber seien wir doch mal ehrlich. Uns ist beiden klar, dass ich bessere Chancen habe, Prinz Harry zu heiraten, als Quinn Yates dazu zu bringen, mich auch nur zu bemerken.“ Sie hob eine Hand. „Nicht dass ich an ihm interessiert wäre. Ja, er ist umwerfend. Aber für jemanden wie mich auch viel zu weltgewandt. Ich bin ein Kleinstadtmädchen. Außerdem konzentriere ich mich total aufs College und meine Arbeit. Ich habe keine Zeit für einen Freund.“ Sie wollte nächstes Jahr ihren Abschluss machen und sich dann einen guten Job suchen. Und erst danach kämen die Männer. Oder der Mann. Ja, definitiv nur einer. Der eine. Aber das war für später.

„Du willst erst ausgehen, wenn du vierzig bist?“, fragte Joyce amüsiert.

„Ich hoffe, so lange wird es nicht dauern, aber du hast schon verstanden, worauf ich hinauswill.“

„Das ist zu schade. Quinn muss endlich heiraten.“

„Dann musst du ihm eine Frau suchen, die nicht ich ist.“

Quinn war wirklich umwerfend, aber, ach, du liebe Güte. Sie? Das würde nicht passieren.

Sie hatte ihn ein paarmal getroffen, wenn er seine Großmutter besuchte. Der Mann war unglaublich erfolgreich. Er war im Musikbusiness – Produzent oder so was Ähnliches. Sie hatte nie wirklich zugehört. Bei seinen Besuchen hatte er sich immer nur mit Joyce und ihren Hunden beschäftigt und war ansonsten für sich geblieben. Dann war er ohne großes Aufhebens wieder abgereist. Natürlich herrschte dennoch jedes Mal Aufruhr, wenn er da war, dafür musste er nichts anderes tun, als einfach da zu sein.

Der Mann sah gut aus. Nein, das stimmte nicht. Worte wie „gut aussehend“ oder „attraktiv“ sollten für gewöhnliche Menschen mit außergewöhnlichem Aussehen benutzt werden. Quinn existierte auf einem ganz anderen Planeten. Sie hatte erlebt, dass verheiratete Frauen mittleren Alters in seiner Gegenwart anfingen, affektiert zu kichern. Und ihrer Meinung nach war affektiertes Kichern schon vor Jahrzehnten aus der Mode geraten.

„Meinst du wirklich, dass er nach Los Lobos zieht?“, hakte sie nach.

„Das hat er mir gesagt. Bis er ein eigenes Haus findet, habe ich für ihn den Hausmeisterbungalow reserviert.“

„Nett“, murmelte Courtney. „Da will er bestimmt nie wieder ausziehen.“

Doch um ehrlich zu sein, konnte sie sich nicht vorstellen, dass der berühmte Musikproduzent aus Malibu sein Glück in einem verschlafenen Städtchen in Zentralkalifornien finden würde. Wobei, es waren schon seltsamere Dinge geschehen.

„Ich gucke, wann genau er ankommt, und sorge dafür, dass ich für die Reinigung seines Bungalows eingeteilt bin“, sagte sie zu ihrer Chefin.

„Danke, meine Liebe. Ich weiß die Geste sehr zu schätzen.“

„Das ist keine Geste, das ist mein Job.“

Auch wenn sie im Hotel als Mädchen für alles gehandelt wurde, war ihre offizielle Bezeichnung Zimmermädchen. Die Arbeit war nicht glamourös, doch sie konnte davon ihre Rechnungen bezahlen, und das war im Moment alles, was sie interessierte.

„Das wäre er nicht, wenn du …“

Courtney nahm die Hand hoch, um sie zu unterbrechen. „Ich weiß. Wenn ich einen anderen Job annehmen würde. Wenn ich meiner Familie mein Geheimnis erzählen würde. Wenn ich Prinz Harry heiraten würde. Es tut mir leid, Joyce. Der Tag hat nur eine gewisse Anzahl von Stunden, und ich muss meine Prioritäten setzen.“

„Du wählst aber die falschen Prioritäten. Prinz Harry würde dich lieben.“

Courtney lächelte. „Du bist süß, und ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch. Lass uns über die Hochzeit sprechen.“

Courtney stöhnte. „Muss das sein?“

„Ja. Deine Mutter heiratet in ein paar Monaten. Du kümmerst dich um die Verlobungsparty; wir dürfen allerdings auch die eigentliche Hochzeit nicht vergessen.“

„Hm.“

Joyce zog die Augenbrauen hoch. „Ist das ein Problem?“

„Nein, Ma’am.“

Es störte Courtney nicht, dass ihre Mutter wieder heiratete. Maggie war schon seit Jahrzehnten Witwe. Es war längst überfällig gewesen, dass sie einen tollen Mann fand und mit ihm sesshaft wurde. Nein, die Ehe war nicht das Problem – sondern die Hochzeit. Oder vielmehr die Planung der Hochzeit.

„Du versuchst, mich in Schwierigkeiten zu bringen“, murmelte sie.

„Wer, ich?“ Joyces Versuch, unschuldig auszusehen, misslang.

Courtney erhob sich. „Okay, du clevere Frau. Ich werde sowohl bei der Party als auch bei der Hochzeit mein Bestes geben.“

„Das weiß ich.“

Courtney beugte sich vor und küsste Joyce auf die Wange, dann richtete sie sich auf, drehte sich um und stieß direkt mit Kelly Carzo zusammen – Kellnerin und, bis zu dieser Sekunde, eine Freundin.

Kelly, eine hübsche Rothaarige mit grünen Augen, versuchte, das Tablett mit den Kaffeetassen festzuhalten, das sie in Händen hielt, aber die Wucht war zu groß. Porzellan flog durch die Luft, heiße Flüssigkeit spritzte, und in weniger als drei Sekunden waren Courtney, Joyce und Kelly durchnässt, und die Scherben von sechs Tassen lagen verstreut auf dem Boden.

Im Restaurant war es zuvor relativ ruhig gewesen, doch jetzt wurde es totenstill, und die wenigen verbliebenen Gäste wandten sich zu ihnen um. Zum Glück waren es nicht viele Leute und nur eine Handvoll Angestellte. Nicht dass Courtneys letzte Ungeschicklichkeit gleich wieder blitzschnell die Runde machte.

Joyce stand auf, nahm Sarge auf den Arm und befahl Pearl, sich von den Scherben fernzuhalten. „Was sagt deine Schwester in solchen Fällen doch gleich?“, fragte sie dann.

„Dass ich die Courtney mache.“ Courtney zog sich die nasse Bluse vom Körper und lächelte Kelly entschuldigend an. „Ist mit dir alles in Ordnung?“

Kelly wischte sich über ihre schwarze Hose. „Mir ging es noch nie besser, aber die Reinigung geht auf deine Kosten.“

„Versprochen. Gleich nachdem ich dir geholfen habe, das Chaos zu beseitigen.“

„Ich ziehe mich um“, verkündete Joyce. „Das ist der Vorteil, wenn man die Besitzerin des Hotels ist.“

„Es tut mir wirklich leid“, rief Courtney ihr hinterher.

„Ich weiß, Liebes. Ist schon gut.“

Nein, dachte Courtney, als sie loszog, um einen Besen und einen Wischmopp zu holen. Es war nicht gut. Aber es war nun mal ihr Leben.

„Ich will, dass es zu meinem Kleid passt. Nur eine Strähne. Mo-om, bitte, das kann doch nicht so schlimm sein.“

Rachel Halcomb massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen, hinter denen sich die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen meldeten. Der Samstag, an dem der Frühlingsball der Los-Lobos-Highschool stattfand, war immer ein verrückter Tag im Schönheitssalon, in dem sie arbeitete. Die Mädchen kamen, um sich frisieren und auch sonst dem Anlass entsprechend stylen zu lassen. Sie fielen immer in Gruppen ein, was Rachel an sich nicht störte. Aber das schrille Kreischen und Gekicher der aufgekratzten Teenager zerrten an ihren Nerven.

Und nun wollte ihre Kundin Lily also unbedingt eine knallviolette Strähne, die zu ihrem bodenlangen Kleid passte. Ihr Haar war lang und wellig und hatte einen wunderschönen Kastanienton. Rachel hatte andere Kundinnen, die Hunderte von Dollar für genau diese Farbe ausgeben würden, während Lily einfach nur in der Haarlotterie gewonnen hatte.

Lilys Mutter biss sich auf die Unterlippe. „Ich bin mir nicht sicher“, meinte sie zweifelnd. „Dein Vater wird einen Anfall kriegen.“

„Es sind nicht seine Haare. Und auf den Fotos wird es super aussehen. Komm schon, Mom. Aaron hat mich gefragt. Du weißt, was das heißt. Ich muss umwerfend aussehen. Wir wohnen erst seit drei Monaten hier. Ich muss einen guten Eindruck machen. Bitte?“

Ah, Der tollste Junge aller Zeiten hat mich eingeladen gepaart mit dem immer wirksamen Ich bin neu an der Schule – Argument. Ein Doppelschlag. Lily kannte sich aus mit Erfolg versprechenden Strategien. Rachel war zwar nie zum Ziel dieser speziellen Taktik geworden, doch aus eigener Erfahrung konnte sie sagen, wie überzeugend Kinder sein konnten. Ihr Sohn war erst elf, doch bereits Experte darin, bei ihr genau die richtigen Knöpfe zu drücken. Sie konnte sich nicht daran erinnern, in seinem Alter schon ein solches Talent entwickelt zu haben.

Lily wandte sich an Rachel. „Sie können doch sicher etwas nehmen, das sich rauswäscht, oder? Damit es nur vorübergehend ist?“

„Ja, das hält zwar ein paar Haarwäschen, aber du kannst es herauswaschen.“

„Siehst du!“, stieß Lily triumphierend hervor.

„Nun, du gehst ja tatsächlich mit Aaron hin“, murmelte ihre Mom, nachgebend.

Lily quiekte und umarmte ihre Mutter. Rachel schwor sich, dass sie, sobald sich eine kurze Fluchtmöglichkeit in den Pausenraum bot, nicht nur eine, sondern zwei Kopfschmerztabletten schlucken und sie dann mit dem größten Eistee der Welt herunterspülen würde. Sie musste unwillkürlich über sich lächeln. Ja, so war sie eben – immer zu großen Träumen aufgelegt.

Lily lief los, um sich einen Umhang zu holen. Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Ich hätte vermutlich nicht einknicken sollen. Manchmal ist es einfach zu schwierig, Nein zu sagen.“

„Vor allem heute.“ Rachel nickte zu den gackernden Teenagern, die jeden Stuhl besetzten. Die Mädchen befanden sich in verschiedenen Stadien des Zurechtmachens. Einige trugen immer noch Jeans und T-Shirt. Andere hatten Umhänge um oder Bademäntel an. Und wieder andere führten ihre Ballkleider für den Abend vor. „Und immerhin wird sie ja mit Aaron tanzen.“

Die andere Frau lachte. „Als ich in ihrem Alter war, hieß der begehrteste Junge Rusty.“ Sie seufzte. „Er war umwerfend. Ich frage mich, was aus ihm geworden ist.“

„In meiner Klasse hieß er Greg.“

Die Mutter grinste. „Lassen Sie mich raten. Es war der Captain des Footballteams?“

„Natürlich.“

„Und jetzt?“

„Ist er bei der Feuerwehr von Los Lobos.“

„Sie sind in Verbindung geblieben?“

„Ich habe ihn geheiratet.“

Bevor Lilys Mutter weitere Fragen stellen konnte, kehrte Lily zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Ich bin bereit“, verkündete sie aufgeregt. „Das wird super.“ Sie lächelte Rachel an. „Sie machen mir doch auch diese Smokey Eyes, oder?“

„Wie gewünscht. Ich habe hier ein dunkles Violett und einen violettgrauen Lidschatten, wie gemacht für dich.“

Lily klatschte mit ihr ab. „Sie sind die Beste, Rachel. Vielen Dank.“

„Dafür bin ich ja da.“

Zwei Stunden später hatte Lily die violette Strähne im Haar, das elegant hochgesteckt war, und genügend Schminke um die Augen, um einem Victoria’s-Secret-Model Konkurrenz zu machen. Eben noch ein junger Teenager, sah sie jetzt aus wie ein It-Girl von Mitte zwanzig.

Lilys Mom machte mit ihrem Smartphone mehrere Fotos, bevor sie Rachel eine Handvoll Geldnoten in die Hand drückte. „Sie sieht wunderschön aus. Vielen Dank.“

„Es war mir ein Vergnügen. Lily, bring mir nächstes Mal ein Bild von dir und Aaron mit.“

„Das tue ich, versprochen.“

Rachel wartete, bis Mutter und Tochter verschwunden waren, bevor sie das Trinkgeld zählte. Es war sehr großzügig, was sie immer freute. Sie wollte, dass ihre Kundinnen – und deren Mütter – mit ihrer Arbeit zufrieden waren. Wenn jetzt noch eine dieser exzentrischen Milliardärinnen hereinkommen, ihre Arbeit lieben und ihr ein paar Tausender als Trinkgeld geben würde, wäre das fantastisch. Sie könnte endlich einen größeren Anteil ihres Darlehens abzahlen und müsste sich nicht darüber sorgen, dass sie keinen Notgroschen hatte. Bis dahin allerdings brauchte Josh einen neuen Baseballhandschuh, und ihr Auto machte so ein seltsames, zirpendes Geräusch, das ziemlich teuer klang.

Wenn sie irgendetwas davon gegenüber Lilys Mutter erwähnt hätte, hätte die ihr vermutlich geraten, mit Greg zu reden. Dafür waren Ehemänner ja schließlich da.

Dieser Plan hatte nur einen großen Fehler – sie und Greg waren nicht mehr verheiratet. Der tollste Junge der Schule Schrägstrich Football-Captain Schrägstrich Ballkönig hatte sie tatsächlich geheiratet. Und ein paar Wochen vor ihrem zehnten Hochzeitstag hatte er sie betrogen, und sie hatte sich von ihm scheiden lassen. Jetzt, mit dreiunddreißig, gehörte sie zu den mitleiderregendsten Gestalten überhaupt: eine geschiedene Frau mit einem Kind, das kurz vor der Pubertät stand. Es existierten nicht genügend Smokey Eyes oder Haarfarben auf der Welt, um diese Situation auch nur ansatzweise hübsch aussehen zu lassen.

Sie räumte schnell auf und zog sich für ein paar Minuten in den Pausenraum zurück, bevor ihre beiden letzten Kundinnen des Tages an der Reihe waren: sechzehnjährige Zwillinge, die wollten, dass ihre Frisuren für den Ball „gleich, aber anders“ aussahen. Rachel griff nach der Packung Kopfschmerztabletten, nahm zwei heraus und schluckte sie – mit Wasser, nicht mit dem erträumten Eistee.

Ihr Handy piepte. Sie schaute auf das Display.

Hey du. Toby hat zugesagt, am Donnerstagabend auf beide Jungs aufzupassen. Also sollten wir beide ausgehen und Spaß haben. Ein echter Mädelsabend. Sag Ja.

Rachel dachte über die Einladung nach. Die rationale Stimme in ihrem Kopf sagte, dass sie ihrer Freundin den Gefallen tun und Ja sagen sollte. Mal aus ihrer Routine ausbrechen. In etwas Hübsches schlüpfen und Zeit mit Lena verbringen. Sie konnte sich offen gestanden nicht mehr daran erinnern, wann sie so etwas das letzte Mal gemacht hatte.

Der Rest von ihr hingegen wies darauf hin, dass sie nicht nur seit Tagen keine Wäsche mehr gewaschen hatte, sondern außerdem mit allen anderen Aufgaben im Haushalt hinterherhinkte, die nötig waren, um ihr nicht funktionierendes Leben halbwegs rundlaufen zu lassen. Außerdem, wo war der Sinn? Sie würden in eine Bar am Pier gehen, und dann was? Lena war glücklich verheiratet. Sie war nicht daran interessiert, Männer kennenzulernen. Und auch wenn Rachel Single war und da draußen ihr Lächeln aufblitzen lassen sollte, fehlte ihr dazu die Energie. Sie war jede Sekunde des Tages beschäftigt. Ihre Vorstellung von einer guten Zeit bestand darin, lange zu schlafen und jemand anderen das Frühstück machen zu lassen. Aber es gab niemand anderen. Ihr Sohn brauchte sie, und sie stellte sicher, dass sie immer da war und sich um alles kümmerte.

Sie war neun gewesen, als ihr Vater unvermittelt gestorben war. Neun und die Älteste von drei Mädchen. Sie erinnerte sich immer noch daran, wie ihre Mutter vor ihr in die Hocke gegangen war, die Augen voller Tränen. „Bitte, Rachel. Du musst jetzt Mommys tapferes Mädchen sein. Du musst mir helfen, mich um Sienna und Courtney zu kümmern. Kannst du das für mich tun? Kannst du hier die Stellung halten?“

Sie hatte solche Angst gehabt. War so unsicher gewesen, was als Nächstes passieren würde. Sie hatte sagen wollen, dass sie doch selbst noch ein Kind war, und nein, die Stellung zu halten war keine Option. Aber das hatte sie nicht getan. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um für alle das zu sein, was sie brauchten. Vierundzwanzig Jahre später hatte sich daran nichts geändert.

Willst du stattdessen nicht lieber auf ein Glas Wein und ein paar Erdnussbutter-Sandwiches vorbeikommen?

Ich komme auf Wein und Käse vorbei. Und den Käse bringe ich mit.

Perfekt. Wann soll ich Josh vorbeibringen?

Sagen wir um 19 Uhr. Klappt das?

Rachel schickte das Daumen-hoch-Zeichen, legte ihr Handy zurück in den Spind und schloss die Tür. Dann habe ich wenigstens etwas, auf das ich mich freuen kann, sagte sie sich. Pläne an einem Donnerstagabend. Sieh einer an – sie war beinahe normal.

2. Kapitel

„Mrs. Trowbridge ist tot.“

Sienna Watson schaute von ihrem Schreibtisch auf. „Bist du sicher?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Was ich meinte, ist, wie schrecklich. Ihre Familie muss am Boden zerstört sein.“ Sie atmete tief ein. „Bist du dir sicher?“, wiederholte sie.

Seth, Mitte dreißig und Leiter von The Helping Store, lehnte am Türrahmen. „Ich habe es direkt von ihrem Anwalt gehört. Sie ist vor zwei Wochen verschieden und wurde letzten Samstag beerdigt.“

Sienna runzelte die Stirn. „Warum hat uns niemand informiert? Ich wäre gerne zur Beerdigung gegangen.“

„Du nimmst deinen Job zu ernst. Es ist ja nicht so, als hätte sie gewusst, dass du da bist.“

Sienna nahm an, dass das stimmte. Immerhin war Mrs. Trowbridge ja tot und so. Trotzdem … Anita Trowbridge war jahrelang eine treue Unterstützerin des Helping Stores gewesen. Sie hatte sowohl Waren für den Laden gespendet als auch Geld für verschiedene gute Zwecke. Nach ihrem Tod sollte der Secondhandladen ihre gesamte Kleidung und Küchenausstattung sowie zehntausend Dollar erben.

Unglücklicherweise war Sienna vor sechs Monaten benachrichtigt worden, dass Mrs. Trowbridge gestorben wäre. Nachdem der Anwalt ihr grünes Licht gegeben hatte, hatte sie einen Lieferwagen und zwei Männer zum Haus der alten Dame geschickt, um den Nachlass abzuholen … Wo sie dann allerdings von Mrs. Trowbridges Urenkelin Erika Trowbridge empfangen wurden, die sie informierte, dass ihre Urgroßmutter noch sehr lebendig sei und sie ihre Aasgeierhintern vom Hof schwingen sollten, bis sie etwas anderes hörten.

„Das war nicht deine Schuld“, sagte Seth jetzt und schob die Brille auf der Nase hoch. „Der Anwalt hat dir den Schlüssel zum Haus gegeben.“

„Was er nicht hätte tun sollen. Du weißt, das wäre nicht passiert, wenn sie einen Anwalt aus dem Ort engagiert hätten. Aber nein, sie mussten ja einen aus Los Angeles holen.“

Sienna hatte sich persönlich bei Mrs. Trowbridge entschuldigt. Die alte Dame, die schmal und zerbrechlich in ihrem Bett im Pflegeheim lag, hatte nur gelacht und Sienna versichert, dass sie es verstünde. Urenkelin Erika hatte jedoch keinerlei Verständnis gehabt. Natürlich war Erika immer noch verbittert darüber, dass Sienna ihr seinerzeit nicht nur die Rolle der Sandy in der Highschool-Produktion von Grease weggeschnappt hatte, sondern auch – und das war vermutlich noch wichtiger – in der zwölften Klasse das Herz von Jimmy Dawson.

„Sie war eine nette alte Dame“, murmelte sie. Sie hätte gerne Blumen geschickt. Stattdessen würde sie die Summe in Mrs. Trowbridges Namen an The Helping Store spenden. „Ich frage mich, ob in ihrer Küche noch irgendetwas zurückgeblieben ist.“

„Du glaubst, die Enkelin hat sich die Sachen geschnappt?“

„Urenkelin. Und ja, das würde ich ihr durchaus zutrauen. Wenn es nach ihr ginge, würde Erika das gesamte Haus ausräumen. Wenigstens bekommen wir die Geldspende.“

„Ich treffe mich morgen früh mit dem Anwalt.“

Sienna war die Spendenkoordinatorin für The Helping Store und eine von einer Handvoll Angestellten. Der große, lebhafte Secondhandladen wurde von Freiwilligen geführt. Alle Gewinne aus dem Laden sowie sämtliche Geldspenden gingen an ein Heim, das sich um Frauen kümmerte, die vor häuslicher Gewalt geflohen waren. Räumlicher Abstand war oft schon der halbe Sieg. Im Laufe der Jahre war es The Helping Store gelungen, mehrere kleine Wohnungen am Stadtrand zu kaufen. Sie waren schlicht, aber sauber und – was für die Frauen auf der Flucht am wichtigsten war – weit weg von den Tätern.

Ihr Chef nickte in Richtung des Ladens. „Bist du bereit für den Stepptanz?“

Sienna stand lächelnd auf. „So ist es nicht. Ich mag meine Arbeit.“

„Du lieferst eine gute Show.“ Er hob eine Hand. „Glaub mir, ich beschwere mich nicht. Du bist die Beste. Meine größte Angst ist, dass irgendeine riesige Non-Profit-Organisation aus der großen Stadt dir ein Angebot macht, das du nicht ablehnen kannst, und ich Sienna-los zurückbleibe. Ich kann mir kein traurigeres Schicksal vorstellen.“

„Ich werde nirgendwo hingehen“, versprach sie. Ja, sicher, ab und zu dachte sie darüber nach, wie es wohl wäre, in Los Angeles oder San Francisco zu leben, aber diese Gefühle vergingen immer wieder. Die Kleinstadt hier war alles, was sie kannte. Hier war ihre Familie.

„Ist David nicht von irgendwo an der Ostküste?“, fragte Seth.

Sie zog ihre Schreibtischschublade auf und nahm ihre Handtasche heraus, dann trat sie auf den Flur. „Aus St. Louis. Seine gesamte Familie wohnt dort.“

Seth stöhnte. „Sag mir, dass er nicht vorhat, dorthin zurückzuziehen.“

In diesem Satz schwang viel Unausgesprochenes mit. Dass es zwischen ihr und David ernst genug war, um diesen Faktor überhaupt in Betracht zu ziehen. Dass sie eines Tages verheiratet wären. Und dass sie, sollte er in seine Heimatstadt zurückkehren wollen, mitgehen würde.

Sie tätschelte ihrem Chef den Arm. „Du greifst da viel zu sehr vor. Wir sind erst seit ein paar Monaten zusammen. So ernst ist die Sache nicht. Er ist ein netter Kerl und alles, aber …“

„Keine Funken“, murmelte Seth mitfühlend. „Tut mir leid zu hören.“

„Wir können nicht alle unsere eine wahre große Liebe finden.“

„Da hast du wohl recht. Gary ist wirklich einmalig wundervoll. Okay, dann zisch mal ab ins Anderson House, damit du die guten Menschen umhauen kannst, die … Vor wem sprichst du heute noch mal?“

„Vor der California Organization of Organic Soap Manufacturing, und sie tagen im Los-Lobos-Hotel, weil im Anderson House mal wieder die Bienen eingefallen sind.“

Seths Miene hellte sich auf. „Die Betrunkenen Rotnasigen Honigbienen? Ich liebe diese kleinen Kerle. Wusstest du, dass ihr Rohhonig dreißig Prozent mehr Antioxidantien enthält als jeder andere Rohhonig in Kalifornien?“

„Nein, das wusste ich nicht, und ich hätte den Tag auch gut ohne diese Information überstanden.“

„Du bist nur eifersüchtig, weil ich so klug bin.“

„Nein, du bist eifersüchtig, weil ich hübsch bin und unsere Welt oberflächlich ist, sodass Aussehen mehr zählt als Intelligenz.“

Seth lachte. „Okay. Sei hübsch mit den Seifenmenschen und bring uns ein bisschen Geld mit.“

„Mach ich.“

Sienna fuhr zum Hotel. Sie kannte den Weg. Nicht nur, weil ihre Heimatstadt eher klein war, sondern auch, weil beinahe jedes wichtige Fest hier gefeiert wurde.

Das Los-Lobos-Hotel stand auf einer Klippe über dem Pazifik. Das Hauptgebäude war eine Mischung aus Fünfzigerjahre-Architektur und spanisch-kalifornischem Stil, mit vier Stockwerken, blendend weißen Wänden und einem roten Ziegeldach. Der hintere Flügel war in den 1980er-Jahren angebaut worden, und auf dem Grundstück verteilt standen mehrere luxuriöse Bungalows.

Dank des angenehmen Klimas in Zentralkalifornien fanden die meisten größeren Events draußen auf dem weiten Rasen am Pool statt. Es gab zwei Pavillons, einen großen zwischen Pool und Meer und einen kleinen neben dem Teich, auf dem man Paddelboot fahren konnte.

Sienna stellte ihren Wagen ab und sammelte ihre Unterlagen zusammen. Auf dem Weg zum rückwärtigen Eingang des Hotels sah sie, dass die Fenster glänzten und die Hecken perfekt getrimmt waren. Joyce leistet wirklich hervorragende Arbeit mit dem Hotel, dachte sie. Außerdem war sie eine großzügige Unterstützerin vom Helping Store. Und nicht nur mit Geld. Mehr als einmal hatte Sienna sie angerufen, um zu fragen, ob es wohl ein freies Zimmer für eine heimatlose Familie oder eine Frau auf der Flucht gab. Vor einem Jahr hatte Joyce ihr angeboten, ein kleines Zimmer für diesen Zweck ständig frei zu halten.

Frauen in Not zu helfen, war etwas, das Joyce schon immer getan hatte. Vor beinahe vierundzwanzig Jahren, als Sienna und ihre Schwestern ihren Vater verloren hatten und ihre Mutter Maggie plötzlich Witwe war, stürzte die Familie ins Chaos. Ohne Lebensversicherung und nur mit ihrem geringen Einkommen hatte Maggie ganz schön kämpfen müssen, um ihre drei Mädchen durchzubringen. Innerhalb weniger Monate hatten sie damals ihr Haus verloren.

Joyce hatte sie alle aufgenommen und im Los-Lobos-Hotel wohnen lassen. Bei der Erinnerung lächelte Sienna. Sie war damals erst sechs gewesen. Natürlich hatte sie ihren Vater vermisst, aber sie hatte hier die Freuden des Lesens entdeckt: An dem Tag, als die Watsons in einen der Hotelbungalows einzogen, gab Joyce ihr eine Ausgabe von Eloise. Sienna hatte sich sofort als die charmante Heldin des Buches gesehen und das Hotel zu ihrem Zuhause gemacht. Auch wenn es nicht das Gleiche war, wie im Plaza zu wohnen, war es doch nah genug dran, um ihr durch ihre Trauer zu helfen.

Sienna fiel wieder ein, wie sie damals den Zimmerservice angerufen und der Person am anderen Ende der Leitung gesagt hatte, sie solle es „einfach aufs Zimmer buchen“. Vermutlich waren diese Rechnungen direkt an Joyce und nicht an Maggie gegangen. Und als sie ihre Mutter angebettelt hatte, ihr eine Schildkröte zu kaufen, weil Eloise auch eine hatte, war ein Gast eingesprungen und hatte ihr eine gekauft.

Auch wenn einige der Erinnerungen schmerzhaft waren, musste sie doch zugeben, dass es Spaß gebracht hatte, in einem Hotel zu wohnen. Ihr zumindest. Für ihre Mutter war es vermutlich eine ganz andere Geschichte gewesen.

Sie betrat das Haus durch den Hintereingang und ging den Flur hinunter zu den Konferenzräumen. Ganz am Ende sah sie eine vertraute Gestalt mit einem Staubsauger kämpfen. Während sie sie beobachtete, stolperte Courtney über das Kabel und wäre beinahe mit dem Gesicht zuerst gegen die Wand geknallt. Eine Mischung aus Liebe und Frust wallte in Sienna auf. Es gab einen Grund für den Ausdruck „die Courtney machen“. Denn wenn jemand stolpern, fallen, stürzen, ausrutschen oder etwas zerbrechen würde, war es ihre jüngste Schwester.

„Hey du“, sagte sie im Näherkommen.

Courtney drehte sich um und lächelte sie an.

Sienna bemühte sich, beim Anblick von Courtneys Uniform nicht zusammenzuzucken. Nicht dass die Kakihose und das Polohemd so schlimm waren, aber an ihrer Schwester sahen sie irgendwie falsch aus. Während die meisten Menschen es für einen Vorteil hielten, groß zu sein, war die Größe an Courtney einfach nur ungünstig. Wie jetzt – die Hose war zu kurz, und obwohl Courtney ziemlich dünn war, bauschte der Stoff sich an Hüften und Oberschenkeln. Das Polohemd wirkte zwei Nummern zu klein und hatte vorne einen Fleck. Sie war nicht geschminkt, und ihr blondes Haar – mit Abstand das Beste an ihr – war in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war, um ehrlich zu sein, eine Katastrophe. Und das war sie schon, solange Sienna sich zurückerinnern konnte.

Courtney hatte irgendeine Lernschwäche. Sienna war sich nicht sicher, was für eine genau, aber sie hatte ihrer Schwester die Schulzeit sehr schwer gemacht. Trotz der Versuche ihrer Mutter, Courtney auf irgendeine Berufsschule zu schicken, schien das jüngste der drei Watson-Mädchen zufrieden damit, einfach nur ein Zimmermädchen zu sein. Wirklich erstaunlich.

„Bist du hier, um vor Mr. Fords Gruppe zu sprechen?“, fragte Courtney.

„Ja. Ich werde bei diesen Seifenherstellern schön auf die Tränendrüse drücken, damit sie ordentlich was springen lassen.“

„Daran habe ich keinen Zweifel. Der Beamer und das Mikrofon sind schon aufgebaut. Ich habe es vorhin getestet.“

„Danke.“ Sienna tätschelte ihre große Handtasche. „Ich habe meine Sachen dabei.“ Sie schaute zum Konferenzraum, dann wieder zu ihrer Schwester. „Wie läuft es mit Moms Verlobungsparty? Brauchst du Hilfe?“

„Nein, alles gut. Das Menü steht fast, und ich habe mich um die Dekoration und die Blumen gekümmert. Das wird alles ganz zauberhaft.“

Sienna hoffte, dass das stimmte. Nachdem Maggie und Neil ihre Verlobung verkündet hatten, beschlossen die drei Schwestern, für ihre Mom eine große Party zu schmeißen. Natürlich war das Hotel der angemessene Rahmen. Doch dann hatte Courtney gesagt, dass sie sich um alles kümmern würde. Und wo Courtney war, war das Desaster nicht weit.

„Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid“, beschwor Sienna sie. „Ich helfe dir gerne.“ Sie würde außerdem nach dem Vortrag noch kurz mit Joyce reden, nur um sicherzugehen, dass alles so lief, wie es sollte.

In Courtneys blauen Augen blitzten kurz Gefühle auf, aber bevor Sienna herausfinden konnte, was sie dachte, lächelte ihre Schwester. „Sicher. Kein Problem. Danke für das Angebot.“ Sie trat zurück, stieß gegen die Wand und straffte die Schultern. „Du solltest, äh, zu deiner Veranstaltung gehen.“

„Du hast recht. Wir sehen uns später.“

Courtney nickte. „Viel Glück.“

Sienna lachte. „Auch wenn ich den Wunsch zu schätzen weiß, werde ich es nicht benötigen.“

Sie winkte und ging zum Stewart-Salon. Der Konferenzraum war mit Wein und mehreren warmen und kalten Häppchen eingedeckt. An einem Ende gab es eine große Leinwand, ein Podium und ein Mikrofon. Sienna nahm ihren Laptop aus der Tasche und schaltete ihn an. Während er hochfuhr, verband sie ihn mit dem Beamer. Sie startete das Video und war erfreut, die Bilder auf der Leinwand zu sehen und die Musik durch die Lautsprecher zu hören.

„Perfektion durch Planung“, murmelte sie und spulte das Video zum Anfang zurück.

Zehn Minuten später kamen die Mitglieder der COOOSM in den Salon und bedienten sich bei Wein und Häppchen. Sienna schlenderte durch den Raum und unterhielt sich mit so vielen Menschen wie möglich. Sie wusste, wie so was lief – sich vorstellen, viele freundliche Fragen stellen und alles in allem charmant und zugänglich wirken, sodass sie später, wenn sie ihre Rede hielt, für alle jemand war, den sie kannten und mochten.

Mit den Frauen gab sie sich genauso viel Mühe wie mit den Männern. Auch wenn verschiedene Studien sich nicht einig waren, welches Geschlecht eher bereit war, zu spenden, hatte Sienna festgestellt, dass Großzügigkeit oft aus unerwarteten Ecken kam, und sie würde keine Möglichkeit verschenken, indem sie sich an Stereotype hielt. Jeder Dollar, den sie einnahm, war ein Dollar, den die Organisation nutzen konnte, um zu helfen.

Milton Ford, der Präsident der COOOSM, näherte sich ihr. Der kleine Mann reichte ihr kaum bis zur Schulter. Wie bezaubernd. Sie lächelte.

„Ich kann jederzeit loslegen, wann immer Sie so weit sind, Mr. Ford.“

„Danke, meine Liebe.“ Er schüttelte den Kopf. „Diese Stadt hat aber auch wirklich ein paar große Frauen. Da ist eine junge Frau, die hier im Hotel arbeitet. Ich glaube, sie heißt Ramona.“

Sienna wusste, das Ramona nur knapp unter eins sechzig groß war, korrigierte ihn aber nicht. Zweifelsohne hatte Courtney irgendetwas getan, um Mr. Ford zu verwirren, aber das hier war nicht der Zeitpunkt, um ihn aufzuklären. Nicht, wo Spenden auf dem Spiel standen.

„Sollen wir?“, fragte er und zeigte auf das Podium.

Sie trat ans Mikrofon und schaltete es an. Dann lächelte sie in die Runde. „Guten Tag. Ich danke Ihnen allen, dass Sie sich bei Ihrem vollen Terminplan die Zeit genommen haben, um heute hierherzukommen.“ Sie zwinkerte einem älteren bärtigen Mann zu, der einen Overall trug. „Jack, haben Sie sich schon zu Ihrem zweiten Glas Wein durchgerungen? Ich glaube, es wird Ihnen helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.“

Alle lachten, und Jack prostete ihr zu. Sie lächelte ihn an, dann startete sie das Video auf ihrem Laptop. Musik drang aus den Lautsprechern. Langsam und vorsichtig ließ Sienna ihr Lächeln verblassen. Das Bild einer großen amerikanischen Flagge erschien auf der Leinwand.

„Zwischen 2001 und 2012 wurden gut sechstausendfünfhundert US-Soldaten im Irak und in Afghanistan getötet. Im gleichen Zeitraum …“ Auf der Leinwand erschien jetzt das Gesicht einer misshandelten Frau, die zwei kleine Kinder an sich drückte, „… wurden beinahe zwölftausend Frauen von ihren Ehemännern, Freunden oder Expartnern ermordet. Selbst jetzt werden an jedem einzelnen Tag drei Frauen von den Männern getötet, die behaupten, sie zu lieben.“

Sie machte eine Pause, um diese Information sacken zu lassen. „Durch die Spenden, die wir vom Helping Store einnehmen, können wir Frauen in Not und ihren Familien einen sicheren Hafen zur Verfügung stellen. Wir werden ihnen landesweit empfohlen. Wenn sie hier ankommen, bieten wir ihnen alles, von einem Dach über dem Kopf über juristischen Beistand bis zu medizinischer Versorgung und Hilfe dabei, irgendwo anders neu anzufangen. Wir kümmern uns um ihre Körper, ihre Herzen, ihre Seelen und ihre Kinder. Laut Statistik wird eine von vier Frauen irgendwann in ihrem Leben eine Form von häuslicher Gewalt erfahren. Wir können das nicht weltweit verhindern, aber wir können unsere Ecke der Erde sicher machen. Ich hoffe, Sie helfen mir dabei.“

Sie hielt inne, als eine Stimme im Video anfing, zu sprechen. Sie hatte den Keim gelegt. Das Material, das sie mitgebracht hatte, würde den Rest erledigen.

Zwei Stunden später war der letzte Gast gegangen. Sorgfältig verstaute Sienna die Spendenquittungen. Die Gruppe war nicht nur großzügig gewesen, sondern sie wollte auch andere Verbände ihrer Organisation dazu bewegen, die gleiche Summe zu spenden.

„Wie geht es dem hübschesten Mädchen der Welt?“

Die Stimme kam von der Tür her. Sienna zögerte kurz, dann drehte sie sich um. „Hi, David.“

„Wie ist es gelaufen?“ Ihr Freund kam auf sie zu. „Warum frage ich überhaupt? Du hast sie beeindruckt. Das weiß ich.“

Er zog sie an sich und gab ihr einen Kuss. Sienna gestattete seinen Lippen, einen Moment zu verweilen, bevor sie zurücktrat.

„Ich arbeite“, sagte sie lachend.

„Aber hier ist außer uns keiner.“ Er legte seine Hände auf ihren Hintern und zog sie erneut an sich. „Wir könnten die Tür abschließen.“

Falls seine Worte nicht deutlich genug gewesen waren, übermittelte die Erektion, die er an ihrem Bauch rieb, die Nachricht klar und deutlich. Wie romantisch – es auf einem Büfetttisch zu treiben, umgeben von schmutzigen Tellern und halb vollen Weingläsern.

Sienna schalt sich, weil sie die Geste nicht in dem Sinn aufnahm, wie David sie gemeint hatte. Er war erfolgreich und klug. Er liebte seine Familie und Hunde und war, soweit sie das beurteilen konnte, alles in allem ein feiner Kerl.

„Erinnerst du dich noch, als du mir erzählt hast, wie du einmal ein Mädchen mit nach Hause gebracht hast, damit deine Eltern sie kennenlernen, und dann gemerkt hast, dass du es in deren Haus nicht tun kannst?“, fragte sie neckend.

Er lachte leise. „Oh ja. Das war peinlich.“

„Joyce, die Besitzerin des Hotels, ist für mich so was wie eine Großmutter.“

„Autsch.“ Er zog sich zurück. „Großmutter ist noch schlimmer als Mutter.“ Er knabberte an ihrem Hals. „Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“

„Abgemacht. Danke.“

Er ließ sie los. „Fährst du noch ins Büro zurück?“

Sie hatte nach der Präsentation eigentlich direkt nach Hause fahren wollen. Sie könnte die Spendenquittungen auch morgen bei ihrem Chef abliefern. Aber wenn sie das jetzt sagte, würde David Pläne mit ihr machen wollen. Wow. Sie würde lieber zurück zur Arbeit fahren, als den Abend mit ihrem Freund zu verbringen? Was sollte das denn?

Sie schaute ihn an. Er war ungefähr so groß wie sie und hatte braune Haare und dunkle Augen. Eine ganz gute Figur. Er war nicht umwerfend attraktiv, aber das hatte sie noch nie sonderlich interessiert. Solange ein Mann nicht aussah wie ein Troll, war sie zufrieden.

David Van Horn war fünfunddreißig und Senior Vice President der kürzlich in die Stadt gezogenen Designfirma für Luft- und Raumfahrt. Eigentlich sollte er der Mann ihrer Träume sein. Sie hatte weiß Gott lange genug danach gesucht. Sie ging auf die dreißig zu und hatte keine Ahnung, warum es ihr bisher nicht gelungen war, den einen zu finden. Vielleicht stimmte mit ihr irgendetwas nicht.

Keine Unterhaltung, die ich im Moment mit mir führen will, dachte sie. Oder überhaupt jemals.

„Ich muss nicht zurück ins Büro“, sagte sie.

„Super. Dann lass uns hier gemeinsam essen.“

„Das wäre schön.“

Eine Aussage, die die Wahrheit etwas mehr als nur ein bisschen dehnte, aber das musste ja keiner erfahren.

3. Kapitel

„Soll ich dir einen Schuss Wodka in deinen Drink geben?“, fragte Kelly, als sie Courtney ein Tablett mit Gläsern voller Limonade reichte.

„Schön wär’s“, sagte Courtney. „Aber nein, ich habe noch ein Meeting.“

„Oh, oh. Mit deiner Mom. Gib mir einfach ein Zeichen, dann fange ich an zu schreien. Das ist eine gute Ausrede für dich, dich zu entschuldigen.“ Kelly zog die Nase kraus. „Ich muss mir nur noch einen Grund ausdenken. Vielleicht einen gebrochenen Knöchel.“

„Du würdest mit einem Gips ganz bezaubernd aussehen. So winzig und zerbrechlich. Die Männer würden sich um dich reißen.“

Kelly grinste. „Das könnte ich gut gebrauchen.“

Courtney lachte immer noch, als sie aus der Bar in Richtung Pool ging, wo Joyce mit Maggie an einem der Tische auf der anderen Seite zusammensaß. Ein großer Sonnenschirm schützte sie vor der Maisonne. Sarge und Pearl lagen ein paar Meter entfernt auf dem Rasen.

Joyce trug eines ihrer üblichen St.-John-Outfits – heute war es eine gestrickte schwarze Hose und ein schwarzes Strickhemd mit dreiviertellangen Ärmeln. Ein blau-schwarz-grau gemusterter Schal komplettierte den Look. Maggie war direkt aus dem Büro hierhergekommen. Ihr maßgeschneidertes dunkelgrünes Kleid brachte die Farbe ihrer Augen gut zur Geltung und passte hervorragend zu ihren blonden Haaren.

Sobald sie Courtney entdeckte, erhob sie sich hastig. Maggies Eile, zu ihrer Tochter zu kommen und das Tablett zu retten, wäre komisch gewesen, wenn sie nicht eine Metapher für ihre gesamte Beziehung wäre. Egal, was los ist, geh einfach davon aus, dass Courtney nicht damit umgehen kann. Obwohl Courtney das angesichts ihrer Fähigkeit, aus dem Nichts eine Katastrophe heraufzubeschwören, vermutlich nicht überraschen sollte.

„Ich mache das schon“, sagte ihre Mutter lächelnd und nahm ihr das Tablett ab, um es zum Tisch zu bringen.

Courtney zögerte nur eine Sekunde, dann folgte sie ihr. Zu schade, dass Neil nicht mitgekommen war. Er brachte immer eine angenehme Ruhe in ihre Zusammenkünfte. Courtney und ihre Schwestern verbrachten gerne Zeit mit ihm. Er war süß und hatte einen skurrilen Sinn für Humor. Aber heute gab es keinen Neil-Puffer, und da Joyce sich genauso als Maggies Freundin wie als Courtneys Freundin betrachtete, war von ihr auch keine Hilfe zu erwarten.

Courtney setzte sich neben Joyce und griff nach einem Glas Limonade. Während sie daran nippte, dachte sie, dass sie Kellys Angebot mit dem Wodka vielleicht doch hätte annehmen sollen. Das hätte dem Treffen die Kanten genommen.

„Wie schon besprochen“, setzte Joyce an, „wird die Party hier draußen stattfinden.“ Sie zeigte auf den Rasen vor dem Pool. „Für das Essen bauen wir ein offenes Zelt auf, aber ich hoffe, das Wetter spielt mit, und wir können die Drinks und Häppchen unter den Sternen einnehmen.“

„Die Sonne geht gegen zehn nach acht unter“, fügte Courtney hinzu. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch und schaltete ihr Tablet ein. „Wir werden also Drinks und Vorspeisen zum Sonnenuntergang servieren.“

„Das wird so schön.“ Maggie lächelte ihre Tochter an und beugte sich dann zu Joyce. „Was gibt es zu essen?“

Joyce sah Courtney an, wobei sie eine Augenbraue hochgezogen hatte. „Wie sieht das Menü aus?“

Courtney fand die Datei der Speisekarte. „Wir haben an ein Büfett gedacht. Das lässt uns die meisten Möglichkeiten. Du und Neil, ihr mögt beide pikante Speisen, also schlage ich vor, wir servieren scharfes Hühnchen und gegrillte süß-scharfe Shrimps als Hauptgang.“

Sie beschrieb die Beilagen und Vorspeisen und schlug vor, als Cocktail des Tages Wassermelonen-Mojitos zu servieren.

„Die sind pink“, erklärte sie ihrer Mutter. „Wir könnten auch Cosmopolitans machen.“ Das wäre wesentlich einfacher und würde ihr Pluspunkte beim Barpersonal einbringen. Denn normalerweise wollte die Cateringabteilung möglichst nichts Arbeitsintensives wie einen Mojito als speziellen Drink auf einer Veranstaltung, aber sie hatte ein paar Gefallen eingefordert, um es doch möglich zu machen.

„Ich liebe Pink“, murmelte Maggie nachdenklich und schaute zwischen den beiden hin und her. „Und Neil würde sagen, ich soll nehmen, was immer mich glücklich macht. Ach, machen wir die Cosmopolitans. Die erinnern mich an ‚Sex and the City‘.

Courtney hörte förmlich das kollektive erleichterte Aufseufzen vom Barpersonal. Sie machte sich eine entsprechende Notiz auf ihrem Tablet.

Als ihre Mutter angefangen hatte, mit Neil Cizmic auszugehen, hatte sich keine ihrer Töchter viel dabei gedacht. In ihren vierundzwanzig Jahren als Witwe hatte Maggie sich immer mal wieder mit Männern getroffen, einige Beziehungen hatten sogar ein paar Monate lang gehalten, aber es war nie ernst geworden. Dann war Neil aufgetaucht.

Oberflächlich betrachtet könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Maggie war groß und dünn. Neil war mindestens fünf Zentimeter kleiner und wesentlich runder. Aber er hatte sie mit seinem gütigen Herzen und seiner ehrlichen Liebe für sich gewonnen. Und nun würden sie heiraten. Ab und zu prüfte Courtney in ihrem Herzen, ob es ihr etwas ausmachte, dass ihr verstorbener Vater ersetzt würde, aber nein. Es war mehr als ausreichend Zeit vergangen. Wenn Neil zu heiraten ihre Mom glücklich machte, sollte sie es tun.

Was den „Bis dass der Tod euch scheidet“-Teil der Gelübde anging, nun, Courtney war schließlich nicht diejenige, die heiratete. Sie war durchaus gewillt, zuzugeben, dass sie nie verliebt gewesen war, aber nach allem, was sie mitbekommen hatte, endeten die meisten Beziehungen böse. Und was die nicht romantische Liebe anging – nun ja, die tat auch weh.

„Die Cosmopolitans werden so hübsch aussehen“, schwärmte Joyce. „Und wir haben natürlich auch eine offene Bar für alle, die etwas anderes trinken wollen.“

Maggie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Ich bin so aufgeregt. Ich habe schon immer eine Verlobungsparty haben wollen, aber meine Mutter meinte damals, wir könnten uns nur eine Feier leisten.“ Sie schaute Joyce an. „Ich war erst achtzehn, als Phil und ich uns verlobt haben, und neunzehn, als wir heirateten. Meine Mutter hat alle Entscheidungen getroffen. Es war schrecklich. Ein Jahr lang haben wir uns deswegen jeden Tag gestritten. Ich wollte andere Kleider für die Brautjungfern, eine andere Torte. Ich hasste die Blumen, die sie ausgewählt hatte. Also schwöre ich, dass ich dieses Mal alles so machen werde, wie ich es will. Pfeif was auf die Traditionen.“

„Du hast einen guten Geschmack, Mom. Wir machen uns keine Sorgen“, versicherte Courtney ihr. Den guten Geschmack hatte sie an ihre beiden anderen Töchter vererbt. Sienna schaffte es, eine Papiertüte wie Haute Couture aussehen zu lassen, und Rachel verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Haar- und Make-up-Stylistin. Courtney wusste, dass sie die Einzige in der Familie war, der das Stil-Gen fehlte.

Ihre Mutter grinste. „Ein paar Sorgen solltest du dir schon machen. Ich habe mit vierzehn angefangen, meine Hochzeit zu planen. In der Zeit haben sich viele Ideen in mir angestaut.“ Sie schaute zum Pool. „Ist der gechlort?“

Joyce wirkte von der Frage ein wenig überrascht. „Natürlich. Warum?“

„Oh, ich hatte nur gedacht, dass es nett wäre, Schwäne zu haben. Aber die können nicht in gechlortem Wasser schwimmen, oder?“

Courtney riss die Augen auf. „Nein. Und Schwäne machen überall hin, Mom. Den Pool danach zu reinigen, wäre ein Albtraum.“

Ihre Mutter seufzte. „Wie schade. Denn ich habe immer Schwäne gewollt.“

Joyce warf Courtney einen besorgten Blick zu. Schnell blätterte Courtney durch die Dateien auf ihrem Tablet und drehte es dann so herum, dass ihre Mutter das Foto auf dem Display sehen konnte.

„Ich habe ein wenig auf Pinterest recherchiert und mit ein paar Ideen herumgespielt. Zum Beispiel könnten wir einen Champagnerbrunnen für den Toast aufbauen. Kelly, eine unserer Kellnerinnen, weiß, wie man die Gläser stapeln muss, und wird mir dabei helfen. Wäre das nicht toll?“

Sie wusste, es war das erwachsene Äquivalent des Schlüsselschüttelns vor dem Gesicht eines weinenden Babys – und die Chancen, dass es funktionierte, standen auch genauso gut.

Maggie beugte sich vor und nickte langsam. „Das ist zauberhaft. Das würde Neil und mir sehr gefallen.“

„Gut.“ Courtney blätterte zu einem anderen Foto. „Das hier ist der Läufer für den Haupttisch.“

Ihre Mutter schaute eine Sekunde lang überrascht hin, dann weiteten sich ihre Augen und füllten sich mit Tränen. „Wie hast du das gemacht?“, fragte sie leise.

„Das war ganz leicht. Ich habe die Bilder auf die Website hochgeladen und zusammengestellt. Die Firma druckt den Läufer aus und schickt ihn per Post hierher.“

Der speziell angefertigte Läufer bestand aus einer Collage von Fotos. Die meisten Bilder waren von den drei Mädchen in den verschiedenen Phasen ihres Lebens. Ein paar zeigten auch Maggie mit ihren Töchter. Dazwischen befanden sich Fotos von Maggie und Neil auf ihren vielen Reisen.

„Wo hast du die her?“, fragte ihre Mutter. „Die sind wunderschön.“

„Rachel hatte viele auf ihrem Computer. Und als wir letztes Mal zum Abendessen bei dir waren, habe ich mir ein paar alte Fotoalben ausgeborgt. Die Bilder von dir und Neil habe ich von ihm.“

„Das ist wunderschön. Vielen Dank. Was für eine zauberhafte Idee.“

Courtney war von dem Lob überrascht. Angenehm, natürlich, aber dennoch überrascht. Das war gut. Sie machten Fortschritte. Und keine Schwäne mussten gezwungen werden, in gechlortem Wasser zu schwimmen.

„Klingt, als hätten wir alles unter Kontrolle“, sagte Joyce und stand auf. „Ausgezeichnet. Ich muss nach ein paar ankommenden Gästen sehen. Sie sind neu hier und klangen, um ehrlich zu sein, am Telefon etwas zwielichtig.“

Courtney stöhnte. „Hast du die Reservierung angenommen? Wir haben doch darüber gesprochen. Du musst dich vom Telefon fernhalten.“

Joyce, die ein sehr netter Mensch war, neigte dazu, mit neuen Gästen etwas zu gesprächig zu sein. Die meisten Leute wollten einfach nur wissen, ob ein Zimmer frei war und was es kostete. Joyce hingegen wollte, dass sie ihr ihre Lebensgeschichte erzählten, und wenn sie die Informationen nicht herausrückten, wurden sie sofort als „zwielichtig“ gebrandmarkt.

„Das ist mein Hotel. Ich kann hier tun, was ich will.“

Courtney grinste. „Das stimmt wohl.“ Sie wandte sich an Pearl und Sarge. „Seid lieb zu den neuen Gästen. Ich bin mir sicher, sie sind sehr nett.“

„Meine Hunde verfügen über eine exzellente Menschenkenntnis. Versuch ja nicht, sie zu beeinflussen.“

„Ich versuche, sie davon abzuhalten, die Gäste zu verschrecken.“

Joyce lächelte. „Wo wollen sie denn sonst hin? Im Anderson House herrschen die Bienen.“

„Du bist unmöglich.“

„Ich weiß. Das ist Teil meines Charmes.“

Joyce winkte und ging auf das Hotel zu. Courtney drehte sich wieder zu ihrer Mutter um und sah, dass Maggie sie musterte.

„Was ist?“

„Ich freue mich, dass du und Joyce so gut miteinander zurechtkommt und sie sich um dich kümmert.“

Langsam steckte Courtney ihr Tablet in die Hülle zurück und wappnete sich. Auf gewisse Weise war es schwerer, mit Maggie umzugehen, als mit Sienna. Ihre mittlere Schwester hielt sie einfach nur für unfähig und langweilig normal. Ihre Mutter hingegen fürchtete, sie wäre … gebrochen.

„Sie ist eine gute Freundin und eine tolle Chefin“, erwiderte Courtney leichthin. „Ich habe Glück.“

Maggie presste die Lippen zusammen. „Ich weiß. Ich wünschte nur, du hättest ein wenig mehr Ehrgeiz. Ich mache mir Sorgen um dich. Fürchtest du, es nicht besser zu können, oder willst du es einfach nicht?“

Atmen, befahl Courtney sich. Einfach nur atmen. Bei diesem Thema konnte sie nicht gewinnen. Sie musste das Gespräch lediglich überstehen und dann mit ihrem Leben weitermachen.

„Dass du bei der Organisation meiner Verlobungsparty hilfst, hat mich auf den Gedanken gebracht, ob du nicht mehr tun willst, als nur als Zimmermädchen zu arbeiten.“ Ihre Mutter griff in ihre Handtasche und holte eine Broschüre heraus. „Ich weiß, du hast gesagt, du wärst nicht daran interessiert, Zahnarzthelferin zu werden, aber was ist mit Massagetherapeutin? Du magst Menschen, du bist sehr fürsorglich und körperlich stark.“

Courtney nahm die Broschüre und betrachtete die erste Seite. Sie wusste wirklich nicht, was sie dazu sagen sollte. Joyce würde darauf hinweisen, dass es ihre eigene Schuld war. Sie war diejenige, die ihre Familie in dem Glauben ließ, sie würde als Zimmermädchen im Hotel arbeiten. Nun ja, technisch gesehen arbeitete sie ja auch als Zimmermädchen, aber nur Teilzeit, während sie ihr Studium absolvierte. Das war der Teil, von dem die anderen nichts wussten.

Sie schätzte, sie könnte einfach die Wahrheit sagen – aber das wollte sie nicht. Sie wollte warten, bis sie ihr Diplom auf den Tisch knallen und sehen konnte, wie sie es alle ungläubig anstarrten. Dieser Moment war es wert, zu warten.

„Danke, Mom“, sagte sie lächelnd. „Ich werde darüber nachdenken.“

„Wirklich? Das wäre ja wundervoll. Ich würde dich bei der Bezahlung der Ausbildung gerne unterstützen. Ich denke, du würdest dich da gut machen.“ Maggie zögerte. „Es gibt so viele großartige Gelegenheiten da draußen. Ich würde nur ungern sehen, dass du dein Leben vergeudest.“

„Ich weiß. Und ich weiß das sehr zu schätzen.“

Ihre Mutter nickte. „Ich liebe dich, Courtney. Ich will nur das Beste für dich.“

Das waren die richtigen Worte. Warme, liebevolle Gedanken. An ihren guten Tagen konnte Courtney sie sogar glauben. An ihren schlechten Tagen … nun, manchmal war es schwer, die Vergangenheit so weit loszulassen, dass man verzeihen konnte.

„Danke, Mom. Ich liebe dich auch.“

„Ein Handschuh ist wichtig, Mom.“

„Ich weiß.“

„Ich brauche wirklich einen neuen.“

Daran hatte Rachel keinen Zweifel. Josh war an sich ein gutes Kind. Er jammerte nicht, er verlangte nicht viel. Seine Leidenschaften waren überschaubar – alles, was mit Sport zu tun hatte, und ab und zu ein Computerspiel. Mehr nicht. Seine Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke drehten sich meist um den Sport, an dem er gerade interessiert war. Was seit drei Jahren bedeutete: im Frühling und Sommer Baseball.

Los Lobos hatte kein eigenes Little-League-Team, aber es gab eine County-Liga. Josh hatte drauf bestanden, dass sie ihn zum frühestmöglichen Zeitpunkt dort anmeldete, ein Wunsch, den sie ihm nur zu gern erfüllte. Er war jetzt elf, und sie schätzte, dass sie noch zwei, vielleicht drei Jahre hatte, bis die männlichen Hormone durchdrehten und nichts mehr mit Sicherheit vorherzusagen war.

„Dad meinte, er würde ihn mir kaufen, aber ich sollte erst mit dir sprechen.“

Zum Glück saß sie gerade am Steuer ihres Wagens und hatte so eine Entschuldigung, Josh nicht anzusehen. Denn das konnte sie nicht – zumindest nicht, ohne dass er die Wut in ihren Augen sehen würde. Verdammt, Greg, dachte sie verbittert. Natürlich konnte er es sich leisten, seinem Sohn einen neuen Baseballhandschuh zu kaufen. Greg hatte ja nur sich selbst, um den er sich kümmern musste.

Ihr Exmann verdiente gutes Geld als Feuerwehrmann in Los Lobos. Außerdem hatte er eine ausgezeichnete Krankenversicherung – deren Vorteile sie mit der Scheidung leider verloren hatte. Doch noch nervtötender war sein lächerlicher Einsatzplan, der vorsah, dass er sechs Tage lang im Wechsel vierundzwanzig Stunden Dienst und vierundzwanzig Stunden frei hatte, gefolgt von vier vollen freien Tagen. Was ihm ausreichend Zeit gab, zu spielen. Und spielen konnte er gut. Dazu die Tatsache, dass er zurück zu seinen Eltern gezogen war und so praktisch keine Ausgaben hatte. Kein Wunder, dass der Mann sowohl in Geld als auch in Freizeit schwamm.

Denk nicht darüber nach, befahl sie sich. Darüber zu grübeln, wie gut es Greg ging, machte sie nur noch wütender. Sie musste sich daran erinnern, dass der Mann den Unterhalt für Josh immer pünktlich bezahlte. Das war doch was. Und was den Rest anging … nun, sie konnte nicht anders, als ihm zu verübeln, wie leicht er es hatte.

Ja, ihr ging es im Salon gut. Sie konnte sich und ihren Sohn ernähren. Der Unterhalt deckte die monatliche Darlehensrate für das Haus ab, und sie bezahlte alles andere. Aber es war nicht so, dass sie am Ende des Monats ein ganzes Bündel Bargeld übrig hatte. Sie bemühte sich mit allen Kräften, einen Notgroschen zusammenzusparen und mit Reparaturen am Haus immer auf dem neuesten Stand zu sein. Da blieb nichts übrig für Dinge wie Baseballhandschuhe.

Als sie sich wieder so weit im Griff hatte, dass sie fröhlich und erfreut klingen konnte, sagte sie: „Dann mach das, Josh. Du brauchst einen neuen Handschuh. Es ist schön, dass dein Dad es sich leisten kann, ihn dir zu kaufen. Weißt du schon, was du willst, oder musst du noch ein bisschen recherchieren?“

„Ich weiß genau, was ich brauche.“ Und schon legte er los und erklärte ihr den Handschuh in allen Einzelheiten, bis hin zur besonderen Form der Nähte.

Oh, noch einmal so jung und unschuldig zu sein, dachte sie mit Bedauern. Darauf zu vertrauen, dass alles genau so werden würde, wie es werden sollte. An „glücklich bis ans Lebensende“ zu glauben.

So war sie einst auch gewesen. Sie hatte Hoffnungen und Träume gehabt – hauptsächlich davon, ihren hübschen Prinzen zu finden. Und als sie Greg das erste Mal sah, hatte sie einfach gewusst, dass er der eine war. Damals hatte jede geglaubt, dass Greg der eine war. Er war der Junge, den jedes Mädchen wollte.

Und sie war das Mädchen, das ihn bekommen hatte – bis zu dem Moment, in dem er sie betrog.

Sie bog um die Ecke und fuhr auf Lenas Auffahrt. Josh war schon aus dem Wagen, bevor sie noch richtig angehalten hatte.

„Bye, Mom, bis später.“

Er rannte ins Haus, ohne vorher zu klopfen. Sie schüttelte immer noch den Kopf, als ihre Freundin auf die Veranda trat. Lena drehte sich zu ihrem Ehemann um, gab ihm einen Kuss, und eilte dann zum Wagen. Sie stieg ein und hielt die große Tüte hoch, die sie in der Hand hielt.

„Großartiger Käse und dunkle Schokolade. Bin ich gut zu dir, oder was?“

Sie umarmten einander.

„Du bist die Beste“, erwiderte Rachel. „Danke, dass du heute Abend zu mir kommst. Ich kann ein wenig Mädchenzeit gebrauchen.“

„Ich auch. Sag mir, dass der Wein rot ist.“

„Er ist rot, und ich habe zwei Flaschen.“

„Perfekt.“

Sie und Lena waren seit der Grundschule miteinander befreundet. Körperlich waren sie vollkommene Gegensätze – Lena war klein und kurvig, mit braunen Haaren und dunklen Augen. Rachel war groß und blond.

Sie hatten zusammen gespielt, geträumt und waren später gegenseitig ihre Trauzeuginnen gewesen. Sie hatten jung geheiratet und ihre Söhne mit wenigen Monaten Abstand bekommen. Aber jetzt war alles anders. Lena und Toby waren immer noch glücklich zusammen.

„Was?“, fragte ihre Freundin. „Du siehst so ernst aus.“

„Nichts. Mir geht es gut. Nur der übliche Mist.“

„Greg?“

Rachel seufzte. „Ja. Josh braucht einen neuen Baseballhandschuh, und sein Dad wird ihm den kaufen.“

Ihre Freundin sagte nichts.

Rachel bog in ihre Straße ein. „Ich weiß, was du denkst. Ich sollte dankbar sein, dass er ein so engagierter Vater ist. Dass er sein Geld auch für Frauen und Alkohol verprassen könnte, es aber stattdessen für seinen Sohn ausgibt.“

„Du lieferst bereits alle Argumente.“

Rachel fuhr auf ihre Auffahrt. „Ich wünschte nur …“

„Dass ihm ein großer Fels auf den Kopf fällt?“

Sie lächelte. „Das vielleicht nicht, aber etwas in der Art.“

Denn es war Gregs Schuld, dass ihre Ehe gescheitert war. Er hatte sich für einen One-Night-Stand mit einer Touristin entschieden. Sie hatte es in der Sekunde gewusst, in der sie ihn gesehen hatte – und erraten, was er getan hatte. Er hatte nicht versucht, es zu leugnen, und das war das Ende ihrer Ehe gewesen.

Drinnen im Wohnzimmer schenkten sie sich Wein ein. Rachel betrachtete die schöne Ecke Brie und wusste, dass in diesem Stück weicher Köstlichkeit mindestens fünftausend Kalorien steckten, aber ehrlich gesagt war es ihr egal. Hatte sie in letzter Zeit zugenommen? Vermutlich. Aber na und? Ihre Kleidung passte noch, zumindest die weiter geschnittenen Teile. Sie hatte hart gearbeitet und sich eine Belohnung verdient. Außerdem gab es in ihrem Leben niemanden, für den sie gut aussehen musste.

Sie nippte an ihrem Wein und wusste, die richtige Antwort wäre, dass sie für sich gut aussehen sollte. Dass sie es sich wert war und all die anderen dummen Plattitüden. Dass sie sich, wenn sie sich besser fühlen wollte, besser um sich kümmern musste. Doch das sorgte auch nicht dafür, dass die Wäsche gewaschen und die Badezimmer geputzt wurden.

„Du musst über ihn hinwegkommen.“

Lenas Kommentar stand in einem solchen Kontrast zu Rachels Gedanken, dass sie eine Sekunde brauchte, um herauszufinden, was ihre Freundin meinte.

„Über Greg? Bin ich doch. Wir sind seit beinahe zwei Jahren geschieden.“

„Ja, offiziell seid ihr geschieden, aber emotional seid ihr immer noch miteinander verstrickt.“

Rachel verdrehte die Augen. „Hast du zu viel Zeit im Wartezimmer beim Arzt verbracht und in irgendwelchen Frauenmagazinen geblättert? Verstrickt? Das Wort benutzt niemand.“

„Du hast es gerade getan.“

Rachel gab ein ersticktes Geräusch von sich. „Ich will nicht über ihn nachdenken“, gab sie zu. „Ich will mit meinem Leben weitermachen.“

„Einen Mann finden? Dich verlieben?“

„Klar.“

Eine Lüge, dachte sie, aber eine, die ihre Freundin hören wollte. Sich verlieben? Sie konnte sich nicht vorstellen, mit jemandem auszugehen, der nicht Greg war. Er war ihr erstes Date gewesen, ihr erstes Mal, ihr erstes alles. Die Welt teilte sich immer noch fein säuberlich in Greg und Nicht-Greg auf. Wie sollte sie das je hinter sich lassen?

„Du bist so eine Lügnerin“, erwiderte Lena fröhlich. „Aber ich weiß es zu schätzen, dass du mich bei Laune halten willst.“

„Ich will ja weitermachen“, sagte Rachel. „Ich weiß nur nicht, wie. Vielleicht ginge es, wenn ich von ihm wegkönnte. Aber da wir Josh zusammen haben, gibt es für mich keinen Ausweg.“

„Du könntest umziehen.“

Der Vorschlag kam so leise, als wüsste Lena, was Rachel darüber denken würde. Rachel bemühte sich, ruhig zu bleiben, auch wenn sie innerlich schreien könnte.

Umziehen? Umziehen! Auf keinen Fall. Das könnte sie nicht. Sie liebte ihr Haus. Sie brauchte ihr Haus und alles, wofür es stand. Es war der Beweis, dass es ihr gut ging. Sie würde im Notfall sogar einen zweiten Job annehmen, um es zu bezahlen.

Was überhaupt keinen Sinn ergab. Das verstand sie sehr wohl. Sie wusste außerdem, dass sie auf ein traumatisches Ereignis in ihrer Kindheit reagierte – auf den Tod ihres Vaters und die Tatsache, dass ihre Familie wenige Monate später aus ihrem Haus vertrieben worden war.

Rachel erinnerte sich, wie sehr sie das Leben im Los-Lobos-Hotel gehasst hatte. Rückblickend wusste sie, dass sie dankbar sein sollte, weil Joyce sie aufgenommen und so davor bewahrt hatte, in ein Obdachlosenheim zu kommen. Aber sie hatte nie den schmerzhaften Schock überwunden, eines Tages von der Schule nach Hause zu kommen und eine schluchzende Mutter vorzufinden, die ihr erzählte, dass sie alles verloren hätten und es die Schuld ihres Vaters wäre. Sie hatte solche Angst gehabt. Daddy war tot – wie konnte er ihnen trotzdem noch Probleme bereiten?

Erst als sie älter war, hatte sie erkannt, dass ihr Vater kein schlechter Mann gewesen war – nur finanziell zu sorglos. Es hatte keine Lebensversicherung gegeben, keine Ersparnisse.

Als sie und Greg heirateten, war sie wild entschlossen gewesen, ein Haus zu kaufen. Sie waren jung, und es war eine finanzielle Herausforderung, vor allem mit dem Baby, aber sie hatten es geschafft. Das hier war ihr Zuhause – und das würde sie niemals verlassen.

Der Preis war jedoch, mit den Geistern ihrer verlorenen Ehe leben zu müssen. Die Erinnerungen an Greg lauerten noch in jedem Zimmer.

„Vielleicht könnte ich jemanden engagieren, um das Haus spirituell reinigen zu lassen. Mit Salbei. Und Salz. Braucht man dazu Salz?“

Lena schloss kurz die Augen. „Ich liebe dich wie meine beste Freundin.“

„Ich bin deine beste Freundin.“

„Ich weiß, also versteh bitte, warum ich das jetzt sage. Das Haus ist nicht das Problem, Rachel. Du bist es. Und es gibt auf der ganzen Welt nicht genügend Salbei oder Salz, um dir über Greg hinwegzuhelfen. Du wirst dich ein für alle Mal entschließen müssen, dich emotional weiterzuentwickeln. Bis dahin bleibst du für immer gefangen.“

So liebevoll die Wahrheit auch ausgesprochen worden war, sie schmerzte trotzdem höllisch.

Rachel blinzelte ein paarmal, dann griff sie nach dem Wein. „Wir werden die zweite Flasche so was von brauchen.“

4. Kapitel

„Gefällt dir das, Baby? Ich habe das Leder passend zu deinem wunderschönen lockigen Haar ausgesucht.“

Quinn Yates wartete darauf, dass seine Gefährtin etwas sagte, aber Pearl starrte nur den Wagen an, als erwarte sie, dass er die Beifahrertür für sie öffnete. Was er auch tat. Die große Pudeldame sprang anmutig hinein und richtete ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf ihn, offenbar in der Erwartung, gelobt zu werden.

„Du siehst gut aus“, versicherte er ihr. „Wo willst du hin? Wollen wir einen Burger essen fahren?“

„Sie zieht Eiscreme vor.“

Er drehte sich um und sah seine Großmutter die Stufen neben dem Hotel hinunterkommen. Sie trug wie immer einen ihrer geliebten St.-John-Strickanzüge und Ballerinas von Chanel. Ihre weißen Haare waren zu diesem puffigen Altdamenstil geföhnt, den er wohl immer mit ihr in Verbindung bringen würde. Er wusste, dass sie nach L’Air du Temps und Vanille duften würde. Er ging über die Auffahrt auf sie zu und zog sie in eine Umarmung. Die Spannung, die ihn auf der Fahrt hierher begleitet hatte, fiel von ihm ab.

„Du hast es geschafft.“ Sie schlang ihre Arme um ihn, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.

Das hatte er schon immer an ihr gemocht. Joyce war gut darin, Menschen zu umarmen. Als Kind war sie sein Anker gewesen. Als er älter wurde, war sie immer für ihn da, stets bereit, ihm einen Rat oder einen Tritt in den Hintern zu geben, je nachdem, was er ihrer Meinung nach gerade benötigte. Inzwischen war sie schlicht so etwas wie sein Zuhause.

Er hielt sie noch ein paar Sekunden lang fest, erfreut, dass sie nicht zerbrechlicher wirkte als bei seinem letzten Besuch vor sechs Monaten. Sie war schon weit über siebzig, aber so vital und scharfsinnig wie immer. Trotzdem hatte er sich in letzter Zeit immer öfter Sorgen um sie gemacht.

„Eiscreme, hm?“, fragte er mit einem Blick auf den Hund, der auf dem Beifahrersitz seines Bentleys saß. „Dann ab zur Eisdiele.“

Joyce trat einen Schritt zurück. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter und musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen schauen zu können. „Du fährst jetzt nicht mit dem Hund zum Eisessen. Ich weiß nicht, was für Albernheiten ihr in Los Angeles so treibt, aber hier in der echten Welt essen Hunde kein Eis.“

Er hob eine Augenbraue. „Ich bin keine dreißig Sekunden zurück, und schon lügst du mich an.“

Sie lächelte. „Okay. Tun sie doch. Aber nur zu Hause. Wir gehen mit ihnen nicht in eine Eisdiele. Außerdem, wenn du Pearl mitnimmst, musst du auch Sarge mitnehmen. Sonst wird er eifersüchtig.“

Als wenn er seinen Namen gehört hätte, raste ein weißer Flauschball durch die offene Tür und den Weg hinunter. Pearl sprang aus dem Bentley und rannte los, um ihren Kumpel zu begrüßen.

Die beiden waren ein seltsames Paar. Der große, prächtige goldene Pudel und der kleine weiße Bichon-Pudel-Mischling. Pearl war beinahe viermal so groß wie Sarge, und doch hatte er eindeutig das Sagen. Jetzt umkreisten sie Quinn, beschnüffelten ihn und fiepten. Er hockte sich hin, um sie an seinen Händen schnuppern zu lassen, und streichelte sie dann.

„Dein Butler ist gestern angekommen“, informierte seine Großmutter ihn.

„Er ist mein Assistent, Joyce, nicht mein Butler. Wir leben schließlich nicht in einem Cary-Grant-Film aus den Fünfzigerjahren.“

„Aber wäre das nicht lustig? Ich habe versucht, ihn im Hotel einzuchecken, aber er meinte, er würde woanders unterkommen.“

Quinn richtete sich auf und schloss die Beifahrertür des Bentleys. „Das stimmt. Wayne und ich arbeiten am besten zusammen, wenn wir nicht ständig aufeinanderhocken.“

„Du ziehst doch aber nicht wieder hierher, weil du glaubst, dass ich alt werde, oder?“

Sie redete nicht gerne um den heißen Brei herum. Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich halte dich schon seit einer ganzen Weile für alt, und nicht immer geht es um dich.“

Sie berührte sein Gesicht. „Du redest so einen Unsinn.“

„Stimmt.“ Er hielt ihr den Arm hin. Sie legte ihre Hand in die Beuge seines Ellbogens und ließ sich von ihm zum Hotel zurückführen.

Quinns Mutter war Joyces einziges Kind gewesen. Er hatte in seiner Jugend genauso viel Zeit mit ihr wie mit seiner Mom verbracht. Als er vierzehn war, hatte seine Mutter ihn verlassen, und er war dauerhaft ins Hotel gezogen.

Mit siebzehn hatte er es kaum erwarten können, von hier fortzukommen, aber jetzt, gut zwanzig Jahre später, war er froh, wieder hier zu sein.

Die Hunde liefen voraus in die Bar. Er und Joyce setzten sich an einen Ecktisch. Pearl und Sarge legten sich zu ihren Füßen.

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