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Mit dir für alle Zeit

Als Buch hier erhältlich:

Eine magische Liebesgeschichte

New York, Fünfter Dezember 1937: Weichenmechaniker Joe geht nach Feierabend durch die Grand Central Station – und verliebt sich auf den ersten Blick. In Nora, eine sehr hübsche, doch seltsam altmodisch gekleidete Frau, die verloren unter der berühmten goldenen Uhr steht. Nach einem wundervollen Abend verschwindet sie jedoch spurlos. Und als Joe am nächsten Tag ihre Nummer wählt, informiert ihn ein Mann mit kühler Stimme, dass er Nora nicht sprechen könne: Sie sei vor zwölf Jahren bei einem Zugunglück gestorben. Nora geht Joe jedoch nicht mehr aus dem Kopf. Und am fünften Dezember 1938 steht sie plötzlich wieder vor ihm, unter der goldenen Uhr der Grand Central Station. Hier ist sie gestorben. Und jedes Jahr kehrt sie für einen Tag zurück. Ihre Liebe hat keine Chance – und dennoch wartet Joe fortan Jahr für Jahr auf sie. Gemeinsam suchen sie einen Weg, das Unmögliche zu schaffen: dass Nora für immer bei ihm bleiben kann.

»Ein genialer und charmanter Roman.«
Kirkus Reviews

»Ein Buch, dass sie diesen Sommer lesen müssen.«
TIME Magazine

»Perfekt für Fans von historischen Romanen. Die unvergessliche Geschichte einer magischen Liebe ist ein absoluter Pageturner.«
BookPage

»Diese Liebesgeschichte durch alle Zeiten wird die Leser verzaubern.«
Publisher’s Weekly

»Ein melancholischer Roman mit wertvollen Gedanken im Ansatz, allerdings mit einigen Längen.«
Heilbronner Stimme, 31.10.2020

»Eine magische Liebe, die durch alle Zeiten geht. Romantik pur!«
DIE HARKE am Sonntag, 22.11.2020


  • Erscheinungstag: 26.05.2020
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679312
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Stephen, Ziz und Jonny,

denn es ist uns allen widerfahren

Time after time

I tell myself that I’m

So lucky to be loving you

So lucky to be

The one you run to see

In the evening, when the day is through

I only know what I know

The passing years will show

You’ve kept my love so young, so new

And time after time

You’ll hear me say that I’m

So lucky to be loving you.

– Sammy Cahn and Jule Styne, 1947

If you’re lost you can look

And you will find me,

Time after time

– Cyndi Lauper und Rob Hyman, 1983

1

ICH WEISS,
WOHIN ICH WILL

1937

Sie hatte keinen Koffer dabei, und sie trug keinen Mantel. Das war es, was ihm ins Auge fiel, als er sie zum ersten Mal sah. Es war kurz nach Sonnenaufgang an einem Sonntag Anfang Dezember. Joe war auf dem Weg durch die Bahnhofshalle zum Gleis dreizehn, und da stand sie – ohne Gepäck, ohne Mantel – vor der Westseite der großen Messinguhr und spähte in ein Fenster des Informationsschalters. Wenn sie eine Reisende war, dann eine mit leichtem Gepäck. Wenn sie hier im Bahnhof arbeitete, war sie entweder betrunken oder hätte es besser wissen müssen. Keine Frau, die im Grand Central arbeitete, würde sich um diese Uhrzeit den Jungs vom Schalter nähern, nicht am Ende einer langen Nacht, wenn ihre Schicht endlich vorbei war und sie vermutlich eine Flasche kreisen ließen.

Dann machte offenbar einer von ihnen einen Annäherungsversuch, denn sie wich rasch zurück, und es ertönte schallendes Gelächter, als sie sich umdrehte und wegging. Joe sah, wie jung sie war und dass sie hier völlig fehl am Platz wirkte. Was wollte sie hier in der Morgendämmerung, und warum war sie ohne Begleitung? Doch die Jungs schienen ihr weniger Angst eingejagt als sie verärgert, sogar wütend gemacht zu haben. Ihre Augen waren riesig und von einem leuchtenden Grün, die Lippen so knallrot wie das Licht einer Warnlampe.

Sie entfernte sich von dem Aufruhr, den sie ausgelöst hatte, blieb aber nach wenigen Metern erneut stehen. Ein Herumtreiber, der mit einer Zigarette in der Hand auf der Marmortreppe stand und die Asche wegschnippte, warf ihr einen einladenden Blick zu.

»Hey, Prinzessin«, sagte er. »Hab’n Sie ’nen Tausender übrig?«

Joe, der eigentlich einen Kaffee hatte trinken wollen, war in wenigen Schritten bei ihr. Die Perlen ihrer Ohrringe könnten echt sein, und sie baumelten an glitzernden flammenförmigen Steckern. Aber »Prinzessin«? Das sah Joe nicht so. Ihr hellblaues Kleid war beschmutzt und abgetragen, und ihre Schuhe sahen alt und abgewetzt aus.

»Sie wirken etwas verloren«, sagte er zu ihr.

Der Herumtreiber hinter ihr zeigte ihm den Stinkefinger. Ein Kerl im Schalter stieß einen Pfiff aus.

»Ich bin nicht verloren«, sagte das Mädchen. »Es ist nur –«

»Was?«

»Diese Männer.«

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Joe.

»Nein«, sagte sie. »Nein, ich war schon mal hier.«

»Nun, wieso haben Sie diese Jungs angesprochen?«

»Ich habe sie nur gefragt, was aus der Bank im Untergeschoss geworden ist. Einer von ihnen meinte, es habe dort einen kleinen Brand gegeben, und da fingen alle zu lachen an und sagten Dinge wie ›da unten brennt’s‹.«

Sie blickte zu Boden und sah dann Joe an. »Was meinen Sie, sind die betrunken?«

»Oh ja, die werden sicher betrunken sein«, antwortete Joe.

»Wie unverschämt.«

»Möchten Sie, dass ich sie zusammenstauche?«

Sie lächelte. »Das würden Sie tun?«, fragte sie.

Sie steckte sich ihre Haare hinter die Ohren und hob ihr Kinn leicht an. Joe stellte fest, dass sie nicht einfach nur schön war. Da war noch etwas anderes an ihr, etwas Wildes, Aufregendes. Sie erinnerte ihn an die Katzen in den Tunneln tief unter der Bahnhofshalle: zusammengerollt und auf der Lauer, geballte Energie, undurchschaubar in ihrem Treiben.

Inzwischen war der Stadtstreicher weitergezogen, und auch die Jungs aus dem Schalter setzten sich in Bewegung – verschwanden einer nach dem anderen über die im Schalter versteckte Wendeltreppe nach unten.

»Dann kennen Sie also den Weg zu Ihrem Ziel?«, fragte Joe das Mädchen.

»Ich weiß, wohin ich will«, sagte sie.

»Wohin denn?«

»Turtle Bay Gardens.«

Das war ein Viertel in der Nähe des East River, nur wenige Häuserblocks vom YMCA entfernt, in dem Joe wohnte, doch in jeder anderen Hinsicht trennten es Welten. Turtle Bay war ein Reichenviertel mit hellen Privathäusern, bewohnt von reichen Privatleuten. Und das bedeutete, dass die Perlen echt waren, überlegte Joe. Aber dennoch schien diese junge Frau sich gern, sogar bereitwillig mit ihm zu unterhalten.

So dicht neben ihr konnte er ihr Parfüm riechen: eine Mischung aus Puder und Blumen und etwas Schärferem wie Holz oder Whiskey. Sie war um die sieben Zentimeter kleiner als er. Ihr Haar erinnerte an ein Gewirr aus weichen Kupferdrähten, die sich im Nacken zu einer lockigen Wolke bauschten. Ihre Wangen waren glatt und rosig und von derselben Tönung wie die Fußböden des Bahnhofs aus Tennessee-Marmor.

»Warum benötigen Sie um diese Uhrzeit eine Bank?«, erkundigte sich Joe. »Ich dachte, man habe Ma Barker geschnappt.«

Über diesen Scherz lachte sie nicht. Sie griff in die Tasche ihres Kleids und zog ein Bündel Papiergeld hervor. Die Scheine waren nicht grün, sahen fremdländisch aus. »Das ist alles, was ich habe«, sagte sie. »Ich muss es umtauschen in amerikanische Dollars.«

»Ein paar Blocks von hier entfernt gibt es eine Filiale«, meinte Joe. »Aber vor neun Uhr wird die nicht öffnen. Woher kommen Sie denn, dass Sie kein Bargeld haben?«

»Ich habe Bargeld. Es ist nur französisches Geld.«

»Soweit ich weiß, hat man noch keine Gleise unter dem Atlantik verlegt«, meinte Joe flapsig. »Mit welchem Zug sind Sie denn gekommen? Und warum tragen Sie keinen Mantel?«

Diesmal lachte sie – ein herrliches, selbstsicheres Lachen, viel tiefer, als man es bei jemandem, der so jung aussah, erwartet hätte. Aber sie ging auf keine seiner Fragen ein.

»Sonst noch etwas, was Sie wissen möchten, Mister?«

»Ich wollte nicht unhöflich sein«, erwiderte er.

»Das sind Sie auch nicht!«, rief sie aus. »Sie sind so freundlich.«

Er stellte sich ihr vor und fragte sie nach ihrem Namen.

»Nora Lansing«, sagte sie und reichte ihm die Hand, als hätte er sie zum Tanzen aufgefordert.

Joe schüttelte sie, ließ aber rasch wieder los. »Ihre Hand ist sehr heiß. Geht es Ihnen auch wirklich gut?«

»Mir geht es gut«, sagte sie.

Vorsichtig nahm er erneut ihre Hand und hielt sie einen kurzen Moment zwischen seinen eigenen, als wäre sie ein Schmetterling. Ihre Wärme schien von ihrer Hand auf seine Hände überzugehen und dann wie Strom entlang der Eisenbahngleise an seinem Rückgrat emporzuwandern.

»Schön, Sie kennenzulernen, Miss Lansing.«

»Nora.«

Nora. Es war ein altmodischer Name, und sie wirkte auch ein wenig so, als würde sie aus einer anderen Zeit kommen. Ihr hellblaues Kleid war mit einem schwarzen Kragen, schwarzen Manschetten und kringeligen, flachen schwarzen Knöpfen verziert, die an Lakritzschnecken erinnerten. Joes Kenntnisse über Damenbekleidung hätten in einer Olive Platz gefunden, aber dennoch wusste er, dass dieses Kleid irgendwie seltsam aussah.

Sie neigte sich ihm zu.

»Nun, Joe, dann frage ich Sie, ob es Ihnen vielleicht möglich wäre, mich nach Hause zu begleiten?«

»Nach Turtle Bay Gardens? Und was ist mit der Bank?«

»Na ja, wenn Sie mich nach Hause begleiten, müsste ich gar nicht dorthin.«

Joe blickte hoch zur Golduhr und sah dann Nora an. »Das würde ich wirklich gern«, sagte er. »Ehrlich. Aber ich arbeite hier und bin schon spät dran für ein Treffen, und gleich danach beginnt meine Schicht.«

Die Strahlkraft ihrer Augen wurde trüb. Erstaunt stellte Joe fest, dass er sich plötzlich verpflichtet fühlte, das Leuchten zurückzubringen.

»Soll ich einen Polizisten für Sie suchen, der Sie begleitet?«, fragte er.

»Oh, das ist sehr nett von Ihnen«, erwiderte Nora. »Aber das kann ich selbst auch tun. Das hätte ich von Anfang an tun sollen.«

Inzwischen hatte in der Haupthalle emsiges Treiben eingesetzt: das morgendliche Gedränge von Pendlern und Reisenden, die scheinbar ziellos umherwandelten und es nur dank subtiler Tanzschritte schafften, einander nicht anzurempeln. Keiner blieb stehen, mit Ausnahme vor der Uhr, den Ticketschaltern oder der Tafel, vor der Bill Keogh auf einer Leiter stand und in zitronengelber Kreideschrift Zeiten und Gleisnummern anschrieb.

»Werden Sie auch wirklich zurechtkommen?«, fragte Joe Nora.

»Mit Sicherheit.«

Sie umkreiste mit der rechten Hand ihr linkes Handgelenk. Einen Moment lang machte sie einen verwirrten Eindruck, und er zögerte, wollte sie nicht allein zurücklassen. Dann sagte sie resolut: »Nun gehen Sie schon, Joe. Sie wollen doch nicht zu spät kommen.«

Sie entfernten sich in entgegengesetzte Richtungen, und Joe warf einen Blick auf die Uhr, als er durch die Bahnhofshalle eilte. Als er stehen blieb, um sich umzublicken, mischte sich Erregung in seine Verlegenheit, denn er sah, dass auch Nora sich umgedreht hatte. Ihre Blicke trafen sich, wie ihre Hände sich begegnet waren: voller Hitze und Überraschung. Schließlich wandte Joe sich zum Gehen und begann nach einem weiteren Blick auf die Uhr loszurennen.

2

ALS WÜRDE DIE SONNE
VORBEIRAUSCHEN

1937

Das Treffen, dem Joe zustrebte, hatte nichts mit dem Grand Central Terminal zu tun, obwohl jeder, der daran teilnahm, dort irgendwo einer Arbeit nachging. Es war eine Andacht, die ein Gepäckträger namens Ralston Crosbie Young abhielt, auch bekannt als Red-Cap-Prediger. Wie praktisch alle Red Caps war Ralston von gleichbleibender Höflichkeit. Seit Eröffnung des Terminals 1913 hatte er das Gepäck der Passagiere geschleppt und Auskünfte erteilt. Doch seit einigen Jahren fanden unter seiner Leitung an mindestens drei Tagen in der Woche Andachten in einem leeren Zugwaggon auf Gleis dreizehn statt. Joe war katholisch geboren und aufgewachsen, nahm an Gottesdiensten aber nur noch teil, wenn er seine Familie in Queens besuchte. Ralstons Versammlungen waren mehr nach seinem Geschmack. »Hört mal, Leute«, sagte Ralston häufig. »Gott hat einen Plan für euer Leben.«

Es gab einige Dutzend Stammgäste wie Joan, die bei DeLevie’s für Maniküre zuständig war und immer schon auf Joe wartete. Dann waren da noch Wallace und Delroy, Red Caps wie Ralston, die ohne ihre Mützen unvollständig aussahen. Weitere Stammgäste waren Doug aus der Oyster Bar, der mit den in den Sohlen seiner Schuhe steckenden Muschelresten über den Boden schrappte; Tommy, der Junge, der im Friseurladen den Boden wischte; Mr. Walters, der in Anzug und Krawatte kam, sodass sich keiner traute, ihn zu fragen, was er machte.

Joe gehörte nicht zu den regelmäßigen Andachtsbesuchern, aber die Gruppe schien ihn immer willkommen zu heißen. Er war jetzt zweiunddreißig, hatte aber seinen ersten Job am Terminal mit siebzehn angetreten, sodass selbst Leute, die ihn nicht schon seit Jahren kannten, das Gefühl hatten, er wäre ihnen vertraut. Irgendwie sah er noch immer aus wie ein Jugendlicher. Sein leicht schiefer Mund schien immer zu lächeln, egal, in welcher Stimmung er war. Seine Ohren passten nicht zusammen: Eins war gerade, das andere lief spitz zu wie bei einem Elf. Und obwohl er sein dichtes schwarzes Haar akkurat gescheitelt trug, fielen ihm doch immer ein paar Lockenkringel in die Stirn. Trotz seiner Jugendlichkeit war Joe in jeder Hinsicht eine stämmige Erscheinung. Sein breites Gesicht, eher freundlich als hübsch, verriet die irische Abstammung und war so unerschütterlich wie sein Körper.

Ralston hatte bereits angefangen, als Joe eintraf, machte aber eine Pause und zeigte mit seinem schlanken braunen Finger auf ihn und sagte: »Ich hatte gehofft, dich heute Morgen zu sehen.«

Joe imitierte lächelnd seine Geste. »Ich hatte auch gehofft, Sie zu sehen.«

Ralston räumte einige Zeitungen vom Sitz neben ihm.

»Hier ist dein Platz«, sagte er gelassen, und Joe setzte sich.

Joe besuchte die Andachten von Ralston sporadisch, aber die Versammlungen, die am fünften Dezember und am sechsten Januar stattfanden, verpasste er nur selten. Dies waren besondere Andachten, weil sie an besonderen Morgen stattfanden. Bei klarem Wetter konnte man an diesen beiden Morgen im Jahr von verschiedenen Seitenstraßen aus beim Blick von West nach Ost sehen, wie die aufgehende Sonne sich exakt am Straßenraster von Manhattan ausrichtete. Dasselbe Ereignis ließ sich auch an zwei Sommerabenden verfolgen, wenn man im Westen den Sonnenuntergang beobachtete. Joe hatte gehört, dass bei diesen Sonnenaufgängen und Sonnenuntergängen die Wolkenkratzer von Manhattan die Sonne auf die gleiche Weise rahmten wie die aufragenden Felsblöcke in Englands Stonehenge.

Von diesen besonderen Tagen wussten nicht viele, aber die Eingeweihten warteten darauf. Manchmal wurden sie Manhattan-Sonnenwenden genannt, weil sie – aufgrund des besonderen Winkels von New Yorks Straßen – mehrere Wochen vor und nach den tatsächlichen Winter- und Sommersonnwenden auftraten. Im Terminal verwendete man dafür den Begriff Manhattanhenge, und ein Manhattanhenge-Sonnenaufgang gehörte zu den wenigen Dingen, die sogar alte Hasen dazu brachten, im Morgengrauen zu arbeiten. Wenn man sich nicht scheute, in der Kälte und im Dunkeln auszuharren, sah man als Erstes den heller werdenden Himmel, dann einen kleinen Halo am Horizont, der langsam größer wurde, als würde vom Rand der Welt ein Engel aufsteigen. Und dann tauchte schließlich die Sonne auf, und ihr Licht kam die Straße entlanggejagt.

Wenn man sich bei Sonnenaufgang aus welchem Grund auch immer zufällig im Gebäude anstatt außerhalb aufhielt, konnte man diesen erstaunlichen Lichtstrahl durch die Mitte der drei hohen Bogenfenster schießen sehen. Die Sonne flutete den Boden und belebte die berühmte blaue Decke mit blassviolettem Licht. In einem Gebäude aus Marmor, Kalkstein, Stahl und Messing, wo fast jeder unter der Erde arbeitete und sich abhängig von elektrischer Beleuchtung um den ständigen Kreislauf der Züge kümmerte, erinnerte Manhattanhenge dran, dass es Macht, Ordnung und Schönheit auch in der natürlichen Welt gab.

Ralston Young dachte normalerweise nicht lange über die Themen für seine Predigten nach. Es kam vor, dass er eine Seite aus dem Sears-Roebuck-Katalog herausriss und darin eine Botschaft von Gott fand. Aber heute, eine Stunde nach dem Manhattanhenge-Dezembersonnenaufgang, brauchte Ralston nicht nach zusätzlicher Inspiration zu suchen. An diesem Morgen predigte Ralston, dass man der Majestät von Gottes Universum Dankbarkeit erweisen solle. Man sollte dankbar sein dafür, wie die Planeten die Sonne umkreisten, wie die Alten Stonehenge angelegt hatten und wie William K. Vanderbuilt das Grand Central Terminal erbaut hatte.

Joe hätte Stonehenge gern mit eigenen Augen gesehen. Es war einer von hundert Orten, die eines Tages aufzusuchen er sich geschworen hatte – sollte die elende Weltwirtschaftskrise je ein Ende finden und er das Geld oder die Gelegenheit dazu bekommen. Aber auch Manhattanhenge war ein verdammt gutes Ereignis, zumal wenn sein besonderes Licht von Ralston Young in der Dunkelheit eines ausrangierten Zugabteils gepriesen wurde. Heute schloss Joe die Augen und versuchte, mit klarem Kopf die Herrlichkeit von Gottes Schöpfung zu bewundern. Sah dabei aber ständig die in der Menge verschwindende Nora vor sich – ihr kupferfarbenes Haar, den Funken in ihren grünen Augen, die Lakritzknöpfe ihres Kleids –, und sein einziger Gedanke war der, dass er sie um ihre Telefonnummer hätte bitten sollen, bevor er sie weggehen ließ.

Überstürzt erhob er sich.

»Alles in Ordnung mit dir, Joseph?«, fragte Ralston ihn.

»Tut mir leid«, erwiderte Joe. »Bin einfach nur spät dran für meine Schicht.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr, als er über die Rampe hoch zur Haupthalle sprintete. Eigentlich blieben ihm noch zwanzig Minuten, bis seine Schicht begann. Bis zur letzten Sekunde verbrachte er diese vor der goldfarbenen Messinguhr und suchte die Menge nach Nora ab. Er wünschte sich, er wäre der Glückliche gewesen, der sie nach Hause begleitete.

Joe Reynolds war Stellwerker, der jüngste in der Geschichte des Grand Central. Seine Aufgabe bestand darin, die ankommenden Züge während ihrer letzten Kilometer unter der Park Avenue ins Terminal zu lotsen. Mit seiner zweigeschossigen Anordnung verfügte Grand Central über achtundvierzig Gleise, die zu jeder Zeit benutzt werden konnten, und wenn wirklich viel Betrieb war, konnte alle zwanzig Sekunden ein neuer Zug einfahren.

Joe war für den Stellwerkturm A abgestellt, wobei der Begriff Turm irreführend war, denn sein Arbeitsplatz befand sich im stickigen Obergeschoss eines schmalen zweigeschossigen Backsteinbaus im Untergrund unter der Park Avenue und der Fiftieth Street, einen knappen Kilometer von der Haupthalle, der Main Concourse, entfernt. Joe war dafür verantwortlich, die Hebel zu drücken und zu ziehen, die mit unterirdischen Kabeln verbunden waren und rechtzeitig vor Eintreffen der Züge die Weichen der Gleise stellten. Allein im Stellwerk A gab es mehr als dreihundert Hebel, allesamt nummeriert und in einer gewaltigen brusthohen Konsole untergebracht, die von den Männern »das Piano« genannt wurde. Die Griffe waren aus Messing, das dort, wo es oft angefasst wurde, glänzte wie die Jackenknöpfe der Red Caps. Es gab fünf dieser Stellwerktürme im Grand Central, jeweils drei Männer am Piano, für jeden Mann vierzig oder fünfzig Hebel und über jedem Mann eine Tafel, auf der die vielen zusammenlaufenden Gleise zu sehen waren.

Außer Licht und Lärm und Männern gab es in einem Stellwerkraum nicht viel. Hier fanden keine Schönwetter-Gespräche statt. Es gab keine Zigaretten, kein Essen, keinen Kaffee – nur an den Schreibtischen, wo die Fahrdienstleiter an den Telefonen saßen und die Routen und Gleisänderungen bekannt gaben. Es roch immer nach Metall und Schweiß.

Egal, welche Jahreszeit oder Stunde herrschte, es war immer hell. Gott hatte bei der Erschaffung der Welt Tag und Nacht voneinander geschieden, aber seit der Ingenieur William J. Wilgus das Turmsystem erschuf, gab es immer Tag und Licht, das entweder flimmerte oder einen blendete. Da waren die winzigen grünen Smaragde, die auf den Tafeln flimmerten und die Positionen der Züge anzeigten. Die Deckenlampen strahlten so stark, dass jeder, der den Raum betrat, die Augen abschirmen musste. Und dazu kamen noch die Lichtblitze, ausgelöst von den Zügen, die an den Turmfenstern vorbeiratterten. Alle paar Minuten Aufblitzen und Getöse, als würde die Sonne vorbeirauschen. Alles zusammen erschuf seine eigene Musik, mit den Rhythmen von Lichtern und Klängen, den Bewegungen der Stellwerker sowie der Fahrdienstleiter, die von ihren Schreibtischen und Telefonen aus wie Dirigenten das Tempo vorgaben. Die Lampen strahlten eine so große Hitze ab, dass die Männer immer mit hochgekrempelten Ärmeln arbeiteten, sich nach jeder Schicht duschten und in ihren Spinden immer einen Stapel frischer Hemden liegen hatten. Die Arbeit war anstrengend, aber Joe hatte Geschick dafür. Wie Steady Max Sullivan, der Joe angelernt hatte, als er noch keine zwanzig war, verfügte er über das richtige Maß an Aufgewecktheit und Flinkheit, er besaß die perfekte Mischung aus zu sorglos und zu besorgt.

Es gab eingebaute Sicherungssysteme, aber Zielvorgabe war, diese niemals zu benötigen. An der Wand hing in einem verstaubten schwarzen Rahmen ein inzwischen vergilbter Artikel aus der New York Times von 1913. Mit einem dicken schwarzen Stift hatte jemand vor langer Zeit einen Passus zur Inspiration eingekreist:

In einem Stellwerk ist jeder Moment ein Ernstfall, egal, ob es tatsächlich so ist oder nur die Möglichkeit besteht. »Ich esse und trinke den Ernstfall bei meiner Arbeit, ja, sogar die Luft, die ich ein- und ausatme, ist aus ihm gemacht«, meinte einer der Stellwerker. »Schon komisch, aber mich kann man nicht mehr überraschen.«

3

SIE SIND ES!

1938

Es war ein Jahr später, und sie sah ihn zuerst, bevor er sie entdeckte. Er kam die Rampe herunter, die zu den Restaurants im Untergeschoss führte, und trug einen kurzen schwarzen Mantel und eine karierte Mütze, um den Hals einen flauschigen roten Schal. Beim letzten Mal hatte ihre Begegnung am frühen Morgen am Informationsschalter stattgefunden, und er war freundlich und galant gewesen wegen des Kerls, der sie »Prinzessin« genannt hatte. Diesmal war es kurz nach sechs Uhr abends, und Nora stand vor der Oyster Bar, dem ältesten Restaurant des Terminals. Sie brauchte ihre Stimme gar nicht erst zu erheben. Sie sagte nur »Joe«, und er blieb wie angewurzelt stehen.

Seine Augen weiteten sich, und er schaute nach links und rechts, in der Hoffnung, einen Zeugen zu finden. »Sie wieder!«, rief er aus. »Sie sind es!«

»Nora«, sagte sie.

»Ich habe es nicht vergessen. Nora Lansing«, sagte Joe. »Aus Paris.«

»Joe Reynolds«, erwiderte sie. »Direkt von hier.«

Lächelnd löste er den Schal, den er gerade zugeknotet hatte. Er nahm die Mütze vom Kopf und wischte sich mit seiner großen Hand die schwarzen Locken aus der Stirn. Sie hatte vergessen, wie gutmütig sein nicht ganz ebenmäßiges Gesicht war.

»Nun erzählen Sie mir nicht, dass Sie niemanden gefunden haben, der Sie nach Hause begleiten wollte«, sagte er mit einem Grinsen. »Haben Sie die ganze Zeit auf mich gewartet?«

Nora lachte, aber auf Joe Reynolds hatte sie tatsächlich gewartet.

Er musterte sie jetzt sehr genau. »Warum sind Sie …«, setzte er an, überlegte es sich dann aber offenbar anders. Er zeigte auf das Restaurant. »Wie war Ihr Essen?«, fragte er stattdessen. »Waren Sie mutig? Haben Sie den Austerneintopf probiert?«

»Nein.«

»Das Pfannengeröstete?«, hakte er nach.

»Nein, ich habe nichts gegessen.«

»Sind Sie denn wieder ganz allein hier?«

Er wirkte verwirrt und erregt, aber ehe er noch eine weitere Frage stellen konnte, kam ein Paar mittleren Alters, offenbar beschwipst, Arm in Arm aus dem Lokal. Wer wen stützte, hätte man nicht sagen können.

»Wollen wir, Jack?«, fragte die Frau.

Sie waren keinen Meter von Joe und Nora entfernt und schielten auf die berühmte Flüstergalerie, in der sich die Stimmen durch die Bogenwölbung der gefliesten Decke übertrugen, wenn man sich einige Meter voneinander entfernt in einer Diagonale mit den Rücken zueinander aufstellte und in die Ecken hineinflüsterte.

Der Mann stieß einen theatralischen Seufzer aus, als wollte er sie damit aufziehen, oder so, als wäre er tatsächlich ungehalten.

»Ach, komm schon, Jack«, bat sie.

»Na gut, Patsy.«

Ein wenig unsicher auf den Beinen ließen sie einander los und schlurften in die gegenüberliegenden Ecken.

Patsy sah sich dabei ständig nach Jack um.

»Jack«, sagte sie, aber er drehte sich nicht um.

»Jack!«, blaffte sie.

»Was ist?«, schrie er zurück und wandte sich um.

»Denk dran!«, brüllte sie fast. »Flüstern! Flüstern!«

Joe und Nora sahen sich amüsiert an.

»Haben Sie das schon mal gemacht?«, fragte er sie.

»Was? Die Flüstergalerie? Natürlich nicht«, antwortete sie. »Ich bin keine Touristin. Ich bin hier aufgewachsen. Und Sie, haben Sie es schon mal versucht?«

»Ich? Die Leute hier würden mir das immer unter die Nase reiben.«

Aber noch während Joe dies sagte, scheuchte er Nora bereits in die Ecke, die Patsy gerade verlassen hatte.

Zehn Meter voneinander entfernt stellte jeder sich in seine Ecke.

»Nora Lansing«, flüsterte Joe in den Winkel des Alkovens. Seine Stimme kam von fern, war aber deutlich zu verstehen. »Möchten Sie mit mir zu Abend essen?«

»Joe Reynolds«, flüsterte sie zurück. »Nur, wenn Sie bezahlen.«

Sie wandten sich einander zu und lächelten wie Menschen, die merken, dass sie denselben Song lieben.

»Abgemacht, Patsy«, sagte Joe zu ihr.

»Hand drauf, Jack«, erwiderte sie.

Joe ergriff ihre Hand und drückte sie gleich darauf, offenbar erschreckte ihn deren Hitze nicht so sehr, wie es im Jahr zuvor der Fall gewesen war.

»Was ist mit Ihrer Hand?«, fragte er.

»Was sollen Ihre Fragen?«

In Alvas Little Coffee Shop begrüßte eine dünne, große Frau mit eng stehenden Augen Joe, indem sie ihm einen Lippenstiftschmatzer auf die Wange drückte und ihm danach mit ein paar Speisekarten einen Klaps auf den Allerwertesten verpasste. Sie führte sie zu einer Nische mit roten Lederbänken, lehnte sich gegen den dazugehörigen Mantelständer und musterte Nora von Kopf bis Fuß.

»Na, wen haben wir denn da?«, fragte sie Joe, ohne Nora aus den Augen zu lassen.

Nora steckte sich die Haare hinter die Ohren in der Hoffnung, dass sie nicht allzu zerzaust aussah.

»Alva, Nora«, stellte Joe sie vor. »Nora, Alva. Musst du eigentlich keinen Kaffee aufbrühen, Alva? Oder jemand anderen quälen?«

»Ich gebe euch eine Minute«, sagte Alva, legte die Speisekarten auf den Tisch und verrieb mit ihrem Daumen den Lippenstift, den ihr Kuss auf Joes Wange hinterlassen hatte.

»Also sie scheint Sie ja bestens zu kennen«, sagte Nora.

Achselzuckend erwiderte Joe: »Jeder, der hier arbeitet, kennt jeden.«

Er zog seinen Mantel aus und legte ihn neben sich ab.

»Aber jetzt muss ich Sie einfach fragen«, sagte er. »Tragen Sie denn nie einen Mantel? Es hat heute geschneit. Und ist das Ihr einziges Kleid?«

»Ich hätte Sie nicht für jemanden gehalten, der sich für Damenmode interessiert«, konterte sie.

»Wie bitte, wo ich doch derart schicke Klamotten trage?«, entgegnete Joe. Dabei zog er am Kragen seines blauen Köperhemds, beugte sich vertraulich nach vorn und berührte einen beschmutzten Teil von Noras Ärmel. »Nun mal ganz ehrlich: Hat das Glück Sie verlassen?«

Von wirklich jedem, den Nora je gekannt hatte, war sie – das reiche Mädchen, als das sie aufgewachsen war –, entweder mit Ehrerbietung oder Missachtung behandelt worden. Sie sah Joe verwundert an.

»Sind Sie es?«, hakte er nach.

Sie war so gerührt, dass es ihr schwerfiel, eine Antwort zu finden. Schließlich sagte sie: »Dies ist nur mein Reisekleid.«

»Und woher kommen Sie diesmal angereist?«, hakte Joe nach. »Lassen Sie mich raten. China? Peru? New Jersey?«

»Jersey dürfte wohl am nächsten dran sein«, sagte sie.

»Und das soll heißen?«

»Soll heißen, dass es unwichtig ist.«

»Oh, eine Frau voller Geheimnisse«, sagte Joe.

Das wollte sie nicht sein. Sie hätte ihm gern alles erzählt – angefangen mit Paris und danach den langen Weg bis zu diesem Abend. Er strahlte eine solche Rechtschaffenheit und Verlässlichkeit aus, dass sie sich sicher war, er würde sie verstehen. Aber sie wollte ihn nicht abschrecken. Vielleicht würde ja alles gut werden, wenn er sie einfach nach Hause begleitete.

»Was kann man hier denn empfehlen?«, fragte sie ihn stattdessen.

»Alles bis auf den Kaffee«, sagte Joe. »Was möchten Sie denn?«

»Ich mag Kaffee«, sagte sie lächelnd. »Und ich mag Käsetoast.«

»Also eine Frau, die weiß, was sie will.«

»Das ist mein absolutes Lieblingsessen«, ergänzte Nora. »In Paris machen sie den mit Schinken und Senf, und man nennt ihn Croque-Monsieur. Wenn man ihn mit einem Ei obendrauf bestellt, heißt er Croque-Madame. Warum, weiß ich auch nicht.«

»Weil Frauen komplizierter sind als Männer«, meinte Joe.

Nora lachte entzückt. »Joe!«

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Was?«

»Nein, nichts«, sagte er.

»Was?«

»Es ist nur Ihr Lachen.«

»Gefällt es Ihnen, oder hassen Sie es? Meine Mutter kann es nicht ausstehen. Sie sagte immer, es sei nicht damenhaft.«

»Ist es auch nicht, Nora«, sagte Joe. »Es ist famos.«

Es gefiel ihr, wie er ihren Namen aussprach. Es war bloß ihr Name, aber es war lange her, dass sie ihn gehört hatte.

Sie lächelten einander noch immer an, als Alva zurückkam. »Was soll’s denn sein, ihr Turteltäubchen?«

Joe bestellte Käsetoast für Nora und einen Teller Silver Dollar Pancakes für sich selbst.

»Bitte auch Kaffee«, sagte Nora.

»Sie werden es bereuen, glauben Sie mir«, warnte Joe sie und bekam dafür von Alva einen Klaps auf den Kopf.

»Abgesehen von Käsetoast«, fragte er Nora, als Alva gegangen war, »was hat Ihnen denn noch in Paris gefallen?«

Ein Dutzend Bilder stellten sich in rascher Folge ein, als würde sie durch die Seiten eines ihrer Skizzenblöcke blättern. Der höchste Turm von Notre-Dame, der wie ein Kompasspfeil aufragte. Die Dachwohnung, die sie und ihre Freundin Margaret sich geteilt hatten, mit der kupfergerahmten Dachluke und den schiefen Böden. Die Cafés, in denen die Kellner schwarze Westen und frisch gestärkte weiße Schürzen trugen und vor denen sie im Freien gesessen und ihren Café au Lait getrunken und die Passanten skizziert hatte.

»Alles«, sagte Nora. »Ich liebte einfach alles. Aber am schönsten fand ich wohl, dass ich dort auf mich allein gestellt war. Ich hatte dort einen Job, wissen Sie, einen Gehaltsscheck und eine Wohnung, und vermutlich habe ich es einfach genossen, mich erwachsen zu fühlen.«

»Erwachsen.«

»Ja«, sagte Nora. »Wissen Sie, was ich meine?«

Joe räusperte sich. »Alle, die ich kenne, wurden an dem Tag erwachsen, als die Börsenkurse in den Keller fielen«, sagte er. Einen Moment lang sah er sie verdutzt an. »Sie sind irgendwie anders«, schob er nach.

»Nein, Sie sind irgendwie anders.«

»Ich?«, wunderte sich Joe. »Wie das?«

»Weil Ihnen auffällt, dass irgendwas anders ist an mir.«

4

BITTE SCHÖN

1938

Joe versuchte entweder auf Noras Stirn, ihre Schultern, den Tisch oder seine Hände zu blicken, aber unweigerlich schweiften seine Augen immer wieder ab zu den ihren. Er nahm sich vor, sich intensiver auf ihre Worte zu konzentrieren.

»Was haben Sie denn in Paris gemacht?«, fragte er.

»Nun, ich reiste dorthin, nachdem ich meinen Abschluss erlangt hatte.«

»Am College?«

Nora nickte.

»Dann haben Sie also den Eiffelturm gesehen? Die Mona Lisa

»Natürlich.«

»Und so eine Bootsfahrt auf dem Fluss gemacht?«

»Der Seine.«

»Genau«, sagte Joe. »Und Notre-Dame?«

»Ich habe mir das alles angesehen«, antwortete Nora. »Dort Touristin zu sein, machte mir nichts aus. Aber ich habe auch in einer Kunstgalerie gearbeitet. Und sehr viel gemalt.«

»Sie waren Malerin in Paris?«

»Nun, an meinen besten Tagen war ich das.«

»Ich bin noch nie einer Malerin begegnet«, sagte Joe, als wäre dies das Aufregendste an ihr.

Jetzt ruhten seine Augen auf Noras Lippen, die im selben Warnlampenrot glänzten wie im Jahr davor.

»Waren Sie denn schon mal in Paris?«, fragte sie ihn.

»Ich bin noch nicht mal in den Turtle Bay Gardens gewesen.«

Sie lachte – es war das überraschend tiefe Lachen.

Mit einem Grinsen brachte Alva ihnen ihr Essen und schenkte zwei Kaffeebecher voll. Nora griff nach einer Papierserviette und platzierte diese elegant auf ihrem Schoß. Turtle-Bay-Manieren, sagte sich Joe. Dann umkreiste sie anmutig mit dem Finger den dicken Rand des Tellers und sah ihr Sandwich erwartungsvoll an, jedoch ohne es in die Hand zu nehmen.

Sie fragte Joe, wo er aufgewachsen war.

»Sunnyside«, antwortete er.

»Und wo ist Sunnyside?«, fragte sie.

Mit seinem Daumen schob er den verchromten Riegel der Sirupflasche zurück und tropfte eine Acht über die mundgerechten Pfannkuchen auf seinem Teller.

»Sunnyside ist in Queens«, erklärte er.

»Queens?«

»Queens ist ein Stadtteil von New York City, Nora.«

»Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, Joe.«

Sie trank ihren Kaffee und verzog das Gesicht.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass er grausig ist«, kommentierte Joe.

»Haben Sie hier schon oft gegessen?«, fragte Nora.

»Höchstens an die tausendmal.«

Sie saßen schweigend da, erlaubten ihren Augen aber endlich Blickkontakt. Dann spießte Joe mit der Gabel mehrere Pfannkuchen auf und biss hinein.

»Essen Sie was«, empfahl er Nora, »das hilft, den Kaffee runterzuspülen.«

Sie hielt ihr Sandwich hoch, als wär’s eine Hostie – und biss hinein. »Himmlisch«, sagte sie, und ihre Augen schienen sich mit Licht zu füllen.

Es war schon fast neun Uhr abends, als Alva ihre Teller abräumte, sich erkundigte, ob sie noch mehr Kaffee wollten, ein wenig fluchte, weil beide es zu schnell ablehnten, und dann lachen musste.

Nora erkundigte sich bei Joe, was er im Bahnhof machte.

Er erzählte ihr, dass er Stellwerker war.

»Ich bin noch nie einem Stellwerker begegnet.«

Er lächelte.

»Und was ist das?«, hakte sie nach.

»Ich arbeite in einem Stellwerk an den Hebeln, die dafür sorgen, dass die Weichen die Gleise bewegen.«

»Dann sind Sie also so etwas wie ein Ingenieur«, schloss sie.

»Nein«, sagte er noch immer lächelnd. »Ich bin so was wie ein Stellwerker.«

»Verzeihung«, sagte Nora. »Ich kenne mich mit Zügen nicht besonders aus. Was macht ein Stellwerker denn?«

»Wollen Sie das wirklich wissen?«, fragte er.

Sie nickte.

Joe stand auf, holte Besteck vom Tresen und legte, als er zurückkam, zwei Messer nebeneinander.

»Eisenbahngleise, habe ich recht?«, fragte Nora.

»Und da dachten Sie, Sie wüssten nicht viel über Züge.«

Dann griff er zu einer Gabel und einem Messer und noch weiteren Messern, um ihr die Grundlagen zu demonstrieren, wie man mittels eines Hebels von einem geraden Gleis ein abzweigendes Gleis abtrennen konnte.

»Und Sie bedienen die Gabel«, sagte sie.

»Ganz genau. Nur dass im Grand Central jeder Stellwerker für über fünfzig Gabelungen gleichzeitig zuständig ist.«

Er kam nicht umhin, ein wenig stolz zu sein, als er Noras bewundernden Blick einfing, aber es war bereits nach einundzwanzig Uhr, und Alva stand vor ihm. Er warf einen Blick auf die Rechnung, legte ein paar Scheine auf den Tisch und hielt dann inne.

»Was ist denn?«, wunderte sich Nora.

»Ihre Telefonnummer«, sagte er. »Kann ich Ihre Nummer haben?«

»Meine Telefonnummer?«

»Ich muss Sie wiedersehen. Darf ich Sie morgen anrufen?«

Ihr Blick wurde plötzlich unsicher. »Versuchen können Sie es«, sagte sie ihm.

Joe kramte in den Taschen seines Mantels und fand einen gelben Bleistiftstummel und den Kontrollabschnitt einer Kinokarte.

»Was meinen Sie damit, ich kann es versuchen?«

Nora griff nach Bleistift und Kontrollabschnitt. »Manchmal«, erwiderte sie, »kommt man nur schwer durch.«

»Wohl zu viele Romeos in der Leitung?«

»Ich würde es Ihnen erklären, wenn ich davon ausgehen könnte, dass Sie es verstehen.«

»Und warum sollte ich es nicht verstehen?«

»Ist egal«, sagte sie und schrieb ihre Nummer auf. »Vielen Dank für das Abendessen.«

Sie gab ihm die Karte zurück, die mit der Nummer darauf plötzlich das Ticket für etwas Neues zu sein schien. Er steckte sie in seine Manteltasche und erinnerte sich, als er dicht neben ihr stand, wieder an das leicht scharfe Aroma von Holz und Whiskey ihres Parfüms. Sie schlugen den Weg zur Haupthalle ein und nahmen dann den Ausgang zur Forty-Second Street.

»Wie kriegen wir jetzt einen Mantel für Sie?«, fragte er.

»Keine Sorge, mir ist nie kalt.«

»Bitte schön«, sagte er schroff. »Nehmen Sie meinen Mantel.« Er legte ihn über Noras Schultern.

»Oh, Joe«, sagte sie, und dabei war ihr Gesicht ganz dicht an seinem, als würde sie ihm ein Geheimnis verraten.

Er lächelte sie an. »Aber meine Mütze und meinen Schal bekommen Sie nicht.«

»Klugschwätzer«, sagte sie, drehte sich dennoch herum und schlüpfte in die Ärmel. Der steife Wollkragen streifte ihre linke Wange. Sie sog den Geruch ein. »Der riecht so gut«, meinte sie. »Wie frische Wäsche! Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie wie frische Wäsche duften?«

»Aber sicher«, gab Joe zurück. »Ständig.«

Sie lachte wieder, und ihm wurde klar, dass er sich verliebt hatte. Dann stiegen sie die Treppen hoch.

Joes Mantel reichte Nora bis über die Knie und ließ nur wenige Zentimeter ihres blauen Kleides frei. Sie neigte sich ihm zu – und diesmal berührte ihr Gesicht fast seinen Hals –, bedankte sich bei ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Die Erschöpfung des Tages fiel von ihm ab. Es hätte genauso gut früher Morgen sein können. Er zog die Tür auf, aber jetzt war sie diejenige, die zögerte.

»Kommen Sie«, forderte Joe sie auf. »Sehen wir zu, dass wir Sie sicher und wohlauf nach Hause bringen.«

Gemeinsam folgten sie der Forty-Second Street in östlicher Richtung, vorbei am stattlichen Commodore Hotel, den wie Hirtenstäbe gebogenen Straßenlampen und dem Taxistand mit schlafenden Fahrern. Zwei Straßenbahnen ratterten wie müde alte Männer aneinander vorbei.

Als Joe und Nora in die Lexington Avenue einbogen, schlug ihnen ein scharfer Wind entgegen.

»Sie frieren sicher«, sagte sie.

»Nein.«

Sie blieb stehen und wandte sich ihm zu.

»Was ist denn?«, fragte er.

Wortlos griff sie nach oben und zog den Schirm seiner Mütze nach unten, nahm dann seinen Schal und wickelte ihn zweimal um seinen Hals.

»So, Joe Reynolds«, sagte sie zärtlich. »Vielleicht hilft das ja.«

Sie kamen an einem Kleidergeschäft und einem Zigarrenladen vorbei, beide dichtgemacht für die Nacht. Es war nur wenig Verkehr auf der Straße. Um diese Uhrzeit fuhren für gewöhnlich nur noch wenige Autos Richtung Norden zu den Nachtklubs in Harlem und ein paar von Pferden gezogene Karren Richtung Süden zu den Märkten und Lagerhäusern.

»Arbeiten Sie denn immer so spät?«, wollte Nora wissen.

»Na ja, die Schichten dauern alle acht Stunden, aber die BRT hat festgelegt, dass wir uns bei den Spätschichten abwechseln. Das ist die Brotherhood of Railroad Trainmen, unsere Interessenvertretung.« Joe zeigte dabei auf die rote Gewerkschaftsnadel, die am Revers seines Mantels steckte. »Bin Mitglied seit zwölf Jahren«, erklärte er. Dann wurde er verlegen, weil er so viel von sich erzählte.

»Sie sind ein Unikum, wissen Sie«, sagte er.

»Ein Unikum?«

Er fragte sich, ob es sie womöglich nervös machte, so spät noch unterwegs zu sein, selbst in seiner Begleitung. Die Straßen waren ziemlich bedrohlich, waren es während der ganzen Krisenjahre gewesen. Nur wenige Häuserblocks vom Terminal entfernt wühlten zwei Männer in einer Mülltonne. Einen halben Block weiter versuchte eine Straßendirne vergeblich einen properen Eindruck zu machen. Irgendwo schrie jemand: »Glaub ja nicht, dass ich das nicht tue!« Gleich darauf hörte man, wie Glas zu Bruch ging.

Nora blieb wieder stehen. »Warten Sie, Joe«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu bereit …«

»Es ist alles gut«, beruhigte er sie. »Keine Sorge.«

Sie hatten gerade die Straße an der Kreuzung Lexington und Forty-Sixth überquert, als ein junger Mann aus einem Hauseingang getorkelt kam. Anfangs hielt Joe ihn nur für einen Betrunkenen, aber der Jugendliche pflanzte sich breitbeinig vor ihnen auf, fuchtelte mit den Armen und schrie: »Stopp!«

Instinktiv – beschützend und flink – stellte Joe sich vor Nora.

»Ich will Ihre Uhr«, sagte der Jugendliche.

»Aha?«, sagte Joe. »Meine Uhr ist Schrott, aber sie gefällt mir trotzdem.«

Der Junge grinste, als wären sie beim Pokerspiel, und er hätte die Hand voller Asse, obwohl er bestimmt nicht älter als achtzehn war. Und schon holte er sein Schnappmesser heraus, an dessen Klinge sich das Licht brach, sodass sie wie ein Eiszapfen schimmerte. Joes Bruder Finn war Polizist, aber schon als Jugendliche hatten sie einander beigebracht, wie man kämpfte. Und so verpasste Joe jetzt, fast als wär’s ein Spiel auf dem Hinterhof zu Hause in Queens, dem Jugendlichen einen Schlag aufs Handgelenk. Ganz leicht fiel das Messer aus seiner Hand. Joe kickte das Messer in den Rinnstein. Als er aufblickte, sah der Junge ihn verängstigt an.

»Hau ab!«, schrie Joe ihn an und jagte ihn einen halben Häuserblock weit. »Zisch ab!«, rief er ihm hinterher.

Das alles hatte weniger als eine Minute gedauert.

Ein wenig außer Atem und ebenso stolz blickte Joe dem Jungen hinterher, bis er ihn aus den Augen verlor. Dann drehte er sich um und lief zu Nora zurück. Aber Nora war verschwunden.

Der kalte Wind peitschte Joes Haare und blähte sein Hemd am Rücken. Er hielt in jede Richtung Ausschau, ließ seine Blicke über die Häuserfronten und ihre leeren Schatten wandern. Mit einem Kloß im Hals rief er ihren Namen. Rief ihn lauter. Hatte jemand sie sich geschnappt? War sie einfach weggerannt?

»Nora!«, schrie er. »Nora!«

Joe ging zurück zu der Ecke, wo der Junge aus dem Hauseingang gekommen war, überquerte erneut die Forty-Sixth Street, und da sah er ihn: seinen Mantel, der auf dem Gehweg lag. Er warf ihn sich über und fing zu rennen an, aber irgendwie war ihm jetzt kälter als vorhin.

5

HAST DU WAS
LECKERES?

1938

Kein Ort hätte für Joes Leben angenehmer oder passender sein können als das YMCA an der East Forty-Seventh Street. Es lag nur einen kurzen Fußweg vom Terminal entfernt und wurde Railroad Branch genannt, weil es die Vanderbuilts als Heimatstandort für Eisenbahner und Ingenieure gebaut hatten. Die Räume oben waren klein und spärlich eingerichtet, die Gemeinschaftsräume unten hingegen üppig ausstaffiert mit Ledermöbeln und Holzvertäfelungen, die kostbare Verzierungen mit den typischen Vanderbuilt-Eicheln und dem Eichenlaub aufwiesen.

Als er durchgefroren und aufgewühlt von seiner Suche nach Nora hereinkam, nickte Joe einem halben Dutzend Männer zu, die im Klubraum noch wach waren, lief jedoch an ihnen vorbei zur Telefonkabine am hinteren Ende. Erschöpft nahm er auf der kleinen Holzbank Platz und starrte auf die Wählscheibe mit ihren weißen Blütenblättern für die winzigen roten Buchstaben und schwarzen Nummern. Dann nahm er den Hörer ab, holte seinen Kartenabriss hervor und wählte Noras Nummer. Als sich ein Mann meldete, dachte Joe, Nora habe ihm womöglich absichtlich die falsche Nummer gegeben.

Er beugte sich vor, um in das glockenförmige Mundstück des Telefons zu sprechen. »Könnte ich Nora Lansing sprechen?«, fragte er.

»Oh Gott.«

»Wie bitte?«

»Ich habe mich schon gefragt, ob ich noch mal einen Anruf bekomme«, sagte der Mann.

»Ich suche Nora Lansing«, sagte Joe.

»Ich weiß.«

»Sind Sie ihr Vater?«

»Nein.«

»Ist sie da?«

»Nein.«

»Wann erwarten Sie sie zurück?«

»Ich erwarte sie nicht. Nicht unbedingt jedenfalls. Sie wohnt hier nicht mehr«, sagte der Mann.

»Was meinen Sie mit ›Nicht unbedingt‹? Sie gab mir diese Nummer.«

»Richtig.«

»Turtle Bay?«

»Richtig.«

Joe überlegte einen Moment. »Verzeihen Sie, aber können Sie mir vielleicht sagen, wo ich sie finden kann?«

Der Mann gab Joe seine Adresse und sagte ihm, er solle am nächsten Tag nach der Arbeit vorbeikommen.

»Ich verstehe nicht«, entgegnete Joe. »Können Sie es mir nicht jetzt gleich sagen?«

»Ich werde Ihnen das persönlich erklären müssen«, erwiderte der Mann.

»Und warum?«, fragte Joe.

»Weil Sie dann einen Drink brauchen werden.«

Joe fand keinen Schlaf. Er konnte sich an keine andere Nacht erinnern, in der sein Zimmer sich so leer angefühlt hatte. Ständig malte er sich aus, was Nora passiert sein könnte, versuchte dahinterzukommen, was der Mann am Telefon gemeint haben könnte.

Um zwei Uhr morgens hörte er seinen Nachbarn Mitchell grölend und scheppernd von der Arbeit zurückkommen.

»Joseph Damian Reynolds!«, brüllte Mitchell und trommelte im Vorbeigehen hämisch an Joes Tür. Mitchell war auch Stellwerker, beendete aber seine Nachtschichten nie ohne eine Art Feier. Joe ignorierte ihn einfach. Das Aroma von Zigarrenrauch hing noch in der Luft, nachdem seine Schritte sich entfernt hatten, aber Joe glaubte, außerdem noch immer Noras Parfüm riechen zu können. Unwillkürlich ging er die Szenen immer wieder im Geiste durch. Die Flüstergalerie. Die rote Ledernische. Ihr Gesichtsausdruck, als sie den Käsetoast aß. Und dann der Jugendliche mit dem Messer.

Um fünf Uhr stand Joe auf, um noch mal einen Blick auf den Kartenabriss zu werfen, den einzigen Beweis, den er dafür hatte, dass er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. Dann döste er vor sich hin, aber um sieben Uhr gab er es auf, noch mal Schlaf zu finden. Obwohl seine heutige Schicht erst um zehn Uhr anfing, hatte er bereits um acht Uhr geduscht und das Y verlassen. So traf er im Terminal rechtzeitig zum Höhepunkt der morgendlichen Rushhour ein und sah die Pendler gruppenweise und nicht mehr nur vereinzelt von den Bahnsteigen nach oben drängen.

Grob dreitausend Menschen arbeiteten im Grand Central, und wie die meisten von ihnen hatte Joe schon lange aufgehört, die zahllosen Reisenden wahrzunehmen, die sich hindurchbewegten. Genauer gesagt nahm er sie wahr, aber selten als Individuen. Für ihn gehörten sie zu einem System: etwa einem Schwarm Bienen oder Fische.

Grand Central Terminal war das Ziel und der Abfahrtsort für eine halbe Million Reisende am Tag. Jedoch für die Tausenden, die hier arbeiteten, war es eher so etwas wie eine Heimatstadt: beige, rosa und bernsteinfarben, kühl im Sommer und warm im Winter. Grand Central hatte seinen eigenen Marktplatz, den Main Concourse, und es hatte eine Hauptstraße, den Lower Concourse – auch Untergeschoss, Pendlergeschoss, Speisemeile genannt – mit seinen Coffeeshops und Restaurants, dem Friseur, der Bank und den Schuhputzständen.

Grand Central hatte sogar eine Kunstgalerie und ein Wochenschaukino, das Joe in den Pausen regelmäßig aufsuchte, um sich über die große weite Welt zu informieren, die Welt, die er bisher mangels Gelegenheit oder Geld nicht mit eigenen Augen hatte sehen können. Im Terminal lungerten Stadtstreicher und stadtbekannte Säufer herum, es gab einen Drugstore und eine Bäckerei, eine Arztpraxis und sogar ein kleines Leichenschauhaus. Wenn Joe morgens durch den Bahnhof lief, kam das für ihn dem Weg gleich, den sein Vater früher zurückgelegt hatte, um an den Nachbarn in Queens vorbei zur Arbeit zu gelangen. Also nickte auch Joe allen einen Morgengruß zu – Patsy, der Blumenverkäuferin, oder Jim vom Drugstore. »Du brauchst einen Haarschnitt!«, rief Charlotte ihm dann womöglich vom Friseurladen zu. Und er konterte dann: »Du aber auch!«

Aber dieser Morgen war anders. Joe fühlte sich ausnahmsweise einmal wie ein Bauerntrampel – der mit großen Augen glotzte –, als er in der Halle stand und die sich ständig bewegende Menschenmasse musterte und dabei nicht nur erstaunt die Vielfalt der Individuen wahrnahm, sondern auch sein Hoffen und Bangen bei seiner ungewohnten Suche nach nur einer einzigen Person. Er verweilte lange Zeit so und hielt Ausschau nach Nora, bis er sich ein wenig zögerlich auf den Weg machte, um sein Frühstück zu besorgen.

Big Sal, die gerade einem Kunden von Bond’s Bakery Wechselgeld rausgab, winkte Joe zu sich.

»Hast du was Leckeres?«, fragte er sie und beäugte die Plunderteilchen und Muffins, die sie immer mit militärischer Präzision aufreihte.

»Nein, aber wie ich höre, hast du was.«

»Ach, Sal«, sagte er. »Wer hat dir denn heute schon wieder Lügen aufgetischt?«

»Ach, Joseph«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Sie war alt, und ihre Lider waren schwer, sodass ihr Zwinkern eher wie ein Zucken aussah.

»Also gut, Sal. Was hast du gehört?«, fragte er.

»Du weißt, was ich gehört habe. Eine ziemliche Granate war dieses Mädel, Mr. Movie Star. Alva meinte, du hättest sie mit deinen Augen verschlungen.«

Joe seufzte der Wirkung halber, aber die Hänselei störte ihn nicht wirklich. Sal gehörte zu den alten Hasen, die das Gefühl hatten, ihn praktisch aufwachsen gesehen zu haben.

»Ich war der perfekte Gentleman«, berichtete Joe Sally.

»Perfekt ist keiner, Joseph, bis auf unseren Herrn Jesus Christus.«

»Schwarzen Kaffee und ein Quarkteilchen, Sal.«

»Nun erzähl schon, was ist das für eine Geschichte?«, bohrte Sal nach.

»Du willst eine Geschichte. Dann kauf dir doch eine Zeitschrift.«

Sein Frühstück nutzte er als Ausrede, wieder in die Haupthalle zurückzukehren, wo er an die Marmorstufen gelehnt langsam sein Plunderteilchen aß und erneut suchend die Menge beobachtete. Über ihm spannte sich das berühmte Deckengewölbe, ein Innenraumhimmel mit einem glänzenden Rahmen und zweitausendfünfhundert Sternen, die vor einem unwahrscheinlich blaugrünen Himmelszelt funkelten.

Vor vielen Jahren hatte Jacob, der Uhrenmeister, Joe erzählt, dass das Deckengemälde völlig falsch gemalt worden sei – die Konstellationen in der Draufsicht waren verkehrt herum dargestellt und stammten zudem aus verschiedenen Bereichen des Himmels. Die Vanderbuilts widersprachen dieser Behauptung und meinten, das Deckengemälde habe zeigen sollen, wie Gott die Sterne vom Himmel aus sah. Jacob allerdings ließ sich nicht davon abbringen, dass die Maler es einfach versiebt hatten.

Die Absicht dahinter interessierte Joe nicht, denn ihm gefiel das Gemälde so, wie es war – ungeachtet der Tatsache, dass die Farbe des Himmels noch unrealistischer war als seine Sterne. Joe hatte sich die Namen der Konstellationen eingeprägt: Löwe, Orion und all die anderen, die fest an ihren Plätzen verharrten, so berechenbar wie alle Bahnhöfe entlang einer Eisenbahnstrecke. Wäre einer dieser Sterne plötzlich wie ein Komet davongeschwirrt und von der Decke herabgestürzt, Joe hätte das genauso überrascht wie die Begegnung mit Nora und ihr Verschwinden.

Die Umkleideräume in den Stellwerken bebten, wenn die Züge einfuhren, aber die Duschen waren sauber, und es gab Hafermehlseife, die zwar rau wie Sandpapier war, mit der man sich aber den Arbeitsschweiß abschrubben konnte. Nach seiner Schicht stemmte Joe sich gegen die geflieste Wand, als wollte er sie wegschieben. Dann ließ er das brühheiße Wasser über seinen Nacken, seine Schultern, seinen Schädel rinnen. Er schaute so lange in den beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken, bis er sein Gesicht erkennen konnte. Grau und fragend sahen seine Augen ihn an.

Den ganzen Nachmittag über hatte es geschneit, und der Winterhimmel war fast violett, als Joe um fünf Uhr den Bahnhof verließ. Der Schnee betonte die Konturen des Gebäudes. Hoch über dem Eingang schien die riesige Statue des Merkur mit einem gewaltigen Schneeball bewaffnet zu sein.

Joe machte einen zweiten Knoten in seinen Schal, zog den Schirm seiner Mütze in die Stirn und eilte los nach Turtle Bay.

Das Haus Nummer 229 in der East Forty-Eighth Street lag eingebettet in eine Reihe eleganter Turtle-Bay-Stadthäuser, deren Messinghausnummern und große Türklopfer im Dämmerlicht glänzten. Den tiefer liegenden Eingang erreichte man über eine kurze Treppe, auf deren vereisten Stufen Joe beinahe ausgerutscht wäre. Er klingelte und wartete. Der Wind hatte aufgefrischt, und seine Wangen waren taub. Er klingelte noch einmal und griff bereits nach dem Türklopfer, als er hörte, wie im Haus eine Tür geöffnet und geschlossen wurde. Gleich darauf ging die Vordertür auf, und ein stämmiger Mann in gestreiftem Hemd, Tweedhose mit hohem Bund und runder Brille stand vor ihm.

»Arthur Fox«, stellte der Mann sich vor und streckte Joe die Hand entgegen. »Nennen Sie mich Artie.«

»Joe Reynolds«, sagte Joe. »Joe.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Was also wollten Sie mir am Telefon nicht erzählen?«, fragte Joe. Seine Augen tränten von der Kälte. Ein Windstoß hob Arties Krawatte an.

»Kommen Sie rein«, forderte Artie Joe auf, legte ihm die Hände auf die Schultern und bugsierte ihn ins Haus. Die Eingangsdiele war warm, und es roch nach Dampfheizung. Es war düster, und außer einer geblümten Tapete und ein paar goldenen Wandlampen mit flammenartigen Glühlampen, die ihn an Noras Ohrringe erinnerte, konnte Joe nichts erkennen.

Arties Wohnzimmer hätte in keinem krasseren Gegensatz zu dem Mann selbst stehen können. Er machte einen taffen Eindruck und trat mit der Selbstsicherheit eines Mafioso auf, die Stühle jedoch waren mit Seide oder einem ähnlich glänzenden Stoff bezogen, und die schweren Vorhänge, die von fransigen Raffseilen zurückgehalten wurden, erinnerten an große Frauen in schicken Roben.

Artie setzte sich in einen dunkelblauen Sessel und beugte sich unternehmungslustig vor. Er bedeutete Joe, ebenfalls Platz zu nehmen, aber Joe blieb stehen.

»Sie sind ihr im Grand Central begegnet, nicht wahr?«, fragte Artie.

»Woher wissen Sie das?«

»Und sie trug, was, keinen Mantel? Nur ein Kleid?«

Joe nickte.

»Und sie wollte nach Hause?«

Joe nickte wieder.

Artie reagierte mit übertriebenem Erschaudern. »Setzen Sie sich«, forderte er Joe auf, und jetzt tat er es.

Artie griff über ein geschwungenes Marmortischchen und öffnete eine polierte Holzkiste. Er holte eine Zigarre heraus und rollte sie abwägend über seinen Daumen.

»Mr. Fox«, sprach Joe ihn an.

»Artie.«

»Artie, ich bin nicht hier, um Ärger zu machen. Ich bin nur in Sorge um sie.«

»Um sie brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, erwiderte er.

Artie zündete ein Streichholz an und führte dessen Flamme mit einem Lächeln an die Zigarre heran.

Joe war es nie wichtig gewesen, der Klügste im Raum zu sein, aber für dumm verkaufen ließ er sich verdammt noch mal nicht. »Darf ich erfahren, ob Nora jemals hier gewohnt hat?«

Artie war noch mit dem Anzünden der Zigarre beschäftigt und paffte so lange, bis orangefarbene Glut an der Spitze zu sehen war. »Sie ist hier aufgewachsen«, sagte er. »Begegnet bin ich ihr nie, aber ich habe ihrer Mutter dieses Haus abgekauft. Ihr bin ich begegnet. Elsie Lansing.« Er zeigte mit großer Geste auf den Raum. »Das meiste davon ist von ihr. Nicht wirklich mein Stil, aber die Frau hatte es eilig. Außerdem gefiel es meiner Frau.« Artie zog wieder an seiner Zigarre. »Exfrau«, ergänzte er.

»Tut mir leid.«

Artie zuckte mit den Achseln.

Joe fragte: »Und wo ist Mrs. Lansing jetzt?«

»In Connecticut«, antwortete Artie. »Ich rief sie ein paar Mal an und erzählte ihr, was ich gehört hatte. Dass Leute ihre Tochter gesehen hatten.«

»Und?«

»Sie hat es nicht hören wollen. Kalt wie die Eier eines Eskimos.«

»Dann hatte Nora also einen Nervenzusammenbruch oder so? Denn sie geht offenbar davon aus, dass dies noch immer ihr Zuhause ist. Sie schrieb mir diese Telefonnummer auf.«

Joe holte den Kartenabschnitt hervor, der bereits leicht verschmutzt und abgegriffen war. Artie legte seine Zigarre in einen Aschenbecher, beugte sich vor und sah sich das Ticket an. »Aha. So ungefähr«, sagte er. »Fällt Ihnen an dieser Nummer was auf?«

Joe schüttelte den Kopf.

»Lesen Sie sie mir vor«, bat Artie.

Joe las: »P-L-A-4-9-8-8.«

»P-L-A«, wiederholte Artie. Er hob das Telefon hoch, das auf dem Beistelltisch stand, und zeigte es Joe von vorn, sodass er die in der Mitte der Wählscheibe aufgedruckte Nummer lesen konnte.

»Jetzt lesen Sie mir die vor«, forderte Artie ihn auf.

»P-L-2-4-9-8-8.«

»P-L-2«, wiederholte Artie.

»Ich verstehe nicht«, sagte Joe.

»Erinnern Sie sich noch? Vor den Dreißigerjahren begannen die Telefonnummern mit drei Buchstaben?«

Joe nickte bedächtig. »Nicht mit zweien.«

»Richtig.«

»Als die Stadt mehr Telefonleitungen benötigte, wurden die dritten Buchstaben durch Ziffern ersetzt.«

»Genau«, erwiderte Artie. »Nach 1929 hätte niemand mehr seine Telefonnummer so aufgeschrieben.«

»Wollen Sie damit sagen, dass sie mir die falsche gegeben hat?«

»Ich sage damit, dass sie Ihnen die richtige Nummer gab – aber für das falsche Jahrzehnt.«

Joe starrte Artie verständnislos an.

»Jetzt ist es Zeit für einen Drink«, verkündete Artie.

Er stellte das Telefon zurück, erreichte mit drei Schritten eine große Eichenkonsole und öffnete die Tür, hinter der sich eine Minibar verbarg. Er griff nach einer Flasche Bourbon, füllte zwei Gläser und reichte eins davon Joe.

»Sehen Sie, nichts davon ergibt einen Sinn«, erklärte Artie. »Ich meine, wirklich nichts. Sind Sie verwirrt? Ich bin es. Wenn andere mir von ihr erzählen, sind sie verwirrt. Trinken Sie.«

Nach kurzem Zögern kippte Joe den Bourbon hinunter. Er war weich und hatte nichts gemein mit dem Old Crow, den er manchmal mit seinem Vater oder Finn trank.

»Wann wurde sie denn von anderen Leuten gesehen?«, fragte Joe.

»In der ersten Dezemberwoche«, sagte Artie und lehnte sich zurück. »Wann immer sie auftaucht, es ist die erste Dezemberwoche. Die Leute sehen sie, und dann verschwindet sie. Letztes Jahr hat sie selbst hier angerufen. Oder auch jemand, der vorgab, sie zu sein. Ich legte auf, ohne nachzudenken. Wünschte, ich hätte es nicht getan.«

Joe lief ein kalter Schauer über den Rücken.

»Und was tun Sie – was machen Sie …«

»Was ich dagegen unternehme?«, fragte Artie. »In der ersten Dezemberwoche trinke ich.« Er erhob sein Glas, als wollte er einen Toast aussprechen, und nahm dann einen kräftigen Schluck. »Wissen Sie denn, was 1925 in jener Woche passiert ist?«

Das wusste Joe nur zu gut.

»Es gab ein schlimmes Unglück im Grand Central«, sagte Artie. »Ein Unglück in der Subway. Jede Menge Opfer.«

»Ich war dort«, sagte Joe leise. Niemals würde er diesen Tag und dessen Folgen vergessen: das Chaos, die Panik, den Rauch, die Gerüche – und die Veränderung, die er für ihn bedeutet hatte.

»Sie verstehen es noch immer nicht«, sagte Artie.

»Was?«, fragte Joe ungeduldig. »Was verstehe ich nicht?«

»Nora ist bei diesem Unfall ums Leben gekommen. Sie ist seit dreizehn Jahren tot.«

6

SCHNELLER, HÖHER,
STÄRKER

1924

Nora wusste nicht, wo sie war.

Sie hatte den Plan dabei, den der Hotelangestellte ihr gegeben hatte, war aber offenbar irgendwo falsch abgebogen. Nun lief sie schon länger als eine Stunde umher, und jede Straße war kleiner als die vorherige, so wie aus Baumstämmen Äste und aus diesen dann Zweige wurden. Ich befinde mich auf einem Zweig, überlegte sie. Je suis sur un … Aber wie war noch mal das französische Wort dafür? Je suis sur un twig? Normalerweise hatte sie keine Mühe, ihren Weg zu finden. Aber hier war sie in Paris, nicht in New York, und sie war erst tags zuvor angekommen und nach wie vor ein wenig unsicher auf den Beinen nach fast einer Woche an Bord eines Schiffs. Und jetzt fand sie nicht mehr zurück zu einer der breiten, offenen Avenuen, an denen sie auf ihrem Weg von Le Havre zum Hotel die Metroschilder gesehen hatte.

Sie trug ein neues grün-weiß kariertes Kleid, dazu grüne Schuhe und einen weißen Schlapphut und fand sich trotz ihrer Müdigkeit wunderbar modisch. Es war erst zehn Uhr morgens, aber die Julihitze machte sich selbst im Schatten dieser kleinen Gassen bemerkbar, eine hartnäckige Hitze, wie sie zwischen Fieberschüben lauert.

Ein Mann mit grau wirkenden Wangen und weißem Stoppelbart näherte sich ihr.

»Pardon, mademoiselle«, sprach er sie an.

»Oui?«

»Vous vous êtes perdue?«

»Nein, ich habe mich nicht verlaufen«, sagte sie, als hätte der Mann sie beleidigt. »Non«, ergänzte sie. »Je sais où je suis.«

Der Mann winkte ab, als würde er eine Rauchwolke vertreiben. »Bon«, sagte er. »Ça va.«

Nora faltete ihren viel zu auffälligen Plan zusammen und beschloss, ihren Instinkten zu trauen. Es war ein Sommermorgen in Paris. Wie schlimm konnte es da schon sein, sich zu verlaufen?

Sie genoss es, allein unterwegs zu sein. Im Hotel hatte sie auf Margarets Nachttisch eine Nachricht hinterlegt und sich dann auf Zehenspitzen davongeschlichen. Sie wollte Margaret schlafen lassen, ihre ersten Schritte in der unbekannten Stadt aber ohnehin lieber ohne Begleitung unternehmen. Das hatte nichts mit Margaret zu tun, die sie mochte, aber Nora war im festen Glauben nach Paris gekommen, sich sofort in diese Stadt zu verlieben, wobei eine Anstandsdame nicht nur überholt, sondern auch hinderlich wäre, egal, ob es um einen Mann oder eine Stadt ging.

Jetzt lief sie durch die verschlafenen Straßen und fragte sich, wo die Menschen waren, bis sie endlich Autohupen, Menschengeschrei und Trillerpfeifen hörte. Durch Versuch und Irrtum gelangte sie schließlich zusammen mit einer zielstrebigen Menge zu einem lauten, lebhaften Boulevard. An sämtlichen Gebäuden und Straßenlampen sah sie Olympiaplakate: drei Männer, die stolz vor wehenden blau-weiß-roten französischen Fahnen standen, ihre blassen Oberkörper wie Taubenbrüste vorgereckt, die Arme zum Gruß erhoben unter den fetten Großbuchstaben: PARIS – 1924.

Nora war jetzt Teil einer der Metro zuwogenden Menge, deren Sog sie mit nach unten und in das Gedränge des heißen Bahnsteigs zog, wo alle sich mit kollidierenden Hüten, die Taschen fest an sich gedrückt, einen Wettkampf um bessere Positionen lieferten. Eine ältere Dame auf dem Schiff hatte sie gewarnt, dass es bei einem Boxkampf zu Ausschreitungen zwischen Franzosen und Italienern gekommen war, und als Nora sich erst mal im Waggon der Metro befand, spürte sie regelrecht die Anspannung unter den mitfahrenden Stammesgemeinschaften, deren laute Stimmen und Sprachen sich wie unsichtbare Schwerter in der Luft kreuzten. Doch sie fand dieses Spannungsgefüge weniger bedrohlich als erregend. Sie belauschte die Argumente und sagte nicht einmal dann etwas, als ein Mann seine Mütze abnahm und ihr – auf Spanisch oder Italienisch, sie war sich da nicht ganz sicher – seinen Platz anbot. Sie nickte bloß dankend und setzte sich, wobei sie die verdrießlichen Mienen der Frauen ignorierte, die übergangen worden waren.

»Was sind Sie denn, eine Herzogin?«, sprach eine davon sie mit irischem Akzent an.

Nora gab vor, sie nicht zu verstehen. Solange sie nicht sprach, glaubte sie frei zu sein, die sein zu können, die sie sein wollte – sie hätte von überallher kommen können. Auf den Programmen für dieses Ereignis, in Magazinen und Zeitungsannoncen hatte sie das olympische Motto gelesen: Citius, Altius, Fortius – »Schneller, Höher, Stärker.« Sie verstand es als persönliches Mandat.

Das olympische Wettkampfbecken hatte man in einem Außenbezirk von Paris errichtet, an der letzten Metrostation. In den angrenzenden Straßen herrschte fast das gleiche Gedränge wie im Zug, Menschen mit kleinen Nationalflaggen oder solchen mit dem olympischen Symbol, Eintrittskarten in der Hand und immer wieder einen Blick in den Reiseführer werfend, versuchten sich ihren Weg um oder zwischen den Menschengruppen hindurch zu bahnen, die vor ihnen liefen.

Im Stadion konnte Nora noch ein Ticket ergattern, wenn auch nur einen Platz oben in den Rängen. Der Himmel über ihr war von reinstem Blau. Das große Becken unter ihr glitzerte wie ein Saphir im Carréeschliff, um den sich die Zeitnehmer und Fotografen mit ihren in der Sonne leuchtenden Strohhüten wie weitere Edelsteine einfügten. Wie mochte sich das wohl anfühlen, fragte sich Nora, als sie beobachtete, wie die Schwimmerinnen sich ihre Badekappen aufsetzten und ihre Bademäntel ablegten, um dann unter den Blicken von tausend Menschen mit nackten Schultern und Beinen am Becken entlangzustolzieren? Selbst die amerikanischen Schwimmerinnen – die vermutlich mit denselben schweren Badekleidern aus Wolle und schwarzen Strümpfen aufgewachsen waren wie Nora – wirkten darin sehr natürlich, fast sogar ein wenig stolz.

Zusätzlich zu dem Kleid, das Nora trug, hatte sie sich am Tag vor ihrer Abreise bei Saks in der Fifth Avenue noch zwei kurze Flapperkleider gekauft, und als sie die selbstsicher einherschreitenden Schwimmerinnen sah, konnte sie es kaum erwarten, ihre neuen Sachen zu tragen.

»Auf welche setzt du?«, fragte ein rotwangiger, pummeliger junger Mann zu Noras Linken seinen Freund.

»Ich bin für die mit dem I«, sagte der Freund, und Nora verstand, dass er damit das Mädchen meinte, das die italienische Flagge vorne auf ihrem Schwimmanzug trug.

»Nicht doch, Hugh, bist du blind? Du bist blind! Schau dir doch mal die Schwedin an.«

»Ohhhh«, erwiderte Hugh, als hätte man ihm die schwedische Schwimmerin auf den Schoß gesetzt, um ihm die Schläfen zu streicheln und das Haar zu zerzausen. »Ja, guck dir mal diese Titten an. Die treibt natürlich oben.«

Sie lachten so laut, dass sich ein paar Leute umdrehten. Nora bedachte sie mit demselben Blick, mit dem ihre Mutter einen Bediensteten abgestraft hätte, der ein Silbertablett hatte fallen lassen.

»Pst, Mann«, sagte der Freund, als könnte Nora ihn nicht hören.

Aber Hugh wollte nicht still sein. »Ihnen wäre es wohl lieber, wenn sie bedeckter wären«, sagte er an Nora gewandt. »Altmodisch.«

Nora beschwor den frostigen Ton ihrer Mutter herauf. »Eigentlich«, sagte sie, »würden sie vollkommen nackt viel schneller schwimmen.« Dann wandte sie sich von den beiden ab und genoss es, sie schockiert zu haben. Immer mal wieder musste sie sich eingestehen, dass es nicht schlecht war, Elsie Lansings Tochter zu sein.

Elsie wusste um ihre Macht. Und anhand von Beispielen, Auseinandersetzungen oder beidem hatte sie Nora gelehrt, sich ihrer eigenen bewusst zu sein.

»À vos marques«, sagte ein Ansager, und Nora beugte sich mit dem Rest der Menge vor, um zu verfolgen, wie die ersten fünf dieser fabelhaften Frauen sich am Rand des Beckens aufstellten.

»Prêts«, verkündete der Ansager, und die Frauen gingen in Tauchposition.

»Partez!«, sagte er, und man hörte das Platschen des Wassers und die Jubelschreie der Menge.

Nora verfolgte die vier Durchgänge und das Halbfinale der Frauen im Hundert-Meter-Freistil und feuerte dabei die Amerikanerinnen an, die sich die drei ersten Plätze sicherten. Danach kamen die Kunstspringer, aber es war inzwischen bereits ein Uhr nachmittags, und Nora fühlte sich ein wenig schummerig. Es war heiß, sie hatte noch nichts gegessen, und das Schwanken des Ozeans steckte ihr noch in den Gliedern.

»Wirklich nett, Sie kennengelernt zu haben«, sagte sie trocken, als sie sich an den beiden rotgesichtigen Männern vorbeiquetschte.

Sie lief durch den Gang und dann eine Treppe nach der anderen hinunter, was ihren Zustand nicht verbesserte. Als sie unten angekommen war, hörte sie die Jubelrufe aus der Arena sogar noch lauter, und sie blickte sich bedauernd um.

Am Ausgang hielt ihr ein kahlköpfiger, nass geschwitzter Mann, der fürchterlich nach Schweiß roch, die Tür auf und drückte ihr eine Postkarte von der Arena in die Hand.

»Merci«, sagte sie und ging weiter, während sie sich die Karte ansah.

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