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Mit meinem ganzen Leben

Rora kehrt gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter in das idyllische Hastings zurück, um ihren Vater zu pflegen. Dort sieht sie Carl wieder, den ersten Mann, der ihr jemals etwas bedeutet hat. Ein schicksalhafter Tag vor vielen Jahren hat das junge Paar damals auseinandergerissen. Seitdem ist das einzige, was die beiden noch verbindet, ein grausames Geheimnis. An der Klippe in Hastings, an der Roras Leben eine dramatische Wende nahm, zeigt sich nun, ob es für sie beide noch einen Weg geben kann.


  • Erscheinungstag: 05.12.2016
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676090
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Madeleine Reiss

Mit meinem ganzen Leben

Roman

Aus dem Englischen von Valerie Schneider

HarperCollins®

 

 

 

HarperCollins® Bücher
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der englischen Originalausgabe:
This Last Kiss
Copyright © 2016 by Madeleine Reiss
erschienen bei: Zaffre,
an imprint of Bonnier Publishing Fiction Ltd, London

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: Johanna Wiebel / punchdesign, München
Redaktion: Anna Hoffmann
Titelabbildung: Nataleana; Catherinecml; Woodhouse; SelenaMay;
Mrs. Opossum / Shutterstock

ISBN eBook 978-3-95967-609-0

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

PROLOG

Dezember 2012

Sie wusste, dass er drüben im Haus auf sie wartete, und deshalb packte sie schnell, nahm ihr altes Leben auseinander – oder was davon übrig war, nachdem Fremde hier gewohnt und dem Haus ihren Stempel aufgedrückt hatten. Nur noch ein paar weitere Kisten musste sie füllen, dann wäre es geschafft. Sie würde tief durchatmen, zum letzten Mal durch diese Tür gehen und den Schlüssel für die Umzugsleute unter die Fußmatte legen.

Sie sah sich in dem leeren Zimmer um, in dem sie so viele Jahre lang eine Art Halbleben geführt hatte, und spürte noch immer seine Gegenwart. Möglicherweise würde das für den Rest ihres Lebens so bleiben. An manchen Tagen überkam sie Wehmut, wenn sie an all die Möglichkeiten dachte, wie sie Dinge hätte besser machen können, doch sie begriff langsam, dass Kummer und Bedauern über Ungetanes und Ungesagtes zum Leben dazugehörten. Sie konnte nichts weiter tun, als mit aller Macht an der Liebe festzuhalten, sodass es am Ende den Schmerz ihres Verlustes wert gewesen sein würde.

Aus dem Regal nahm sie das letzte Buch, das ganz hinten gestanden hatte. Bevor sie gehen musste, blieb ihr noch genug Zeit, einen kurzen Blick hineinzuwerfen, und wenn es nur war, um Ende und Neuanfang zu besiegeln. Der braune Ledereinband war abgegriffen und die goldgeränderten Blätter leicht aufgedunsen davon, dass jemand das Buch einmal achtlos neben ein undichtes Fenster gelegt hatte. Womöglich hatten sie und ihre Großmutter es auch mit zum Strand genommen, sie wusste es nicht mehr genau. Das Buch der Küsse. Ein paar der verschnörkelten Goldbuchstaben waren abgerieben, doch die Bilder im Inneren wirkten so lebendig wie eh und je. Als sie behutsam das zarte Seidenpapier anhob, das jedes einzelne der mit Überschriften versehenen Bilder bedeckte, leuchteten diese ihr so kraftvoll entgegen, als hätten sie nur auf das Licht gewartet.

Auf Seite zehn beugte sich Guinevere, das Haar mit Blumen geschmückt, von ihrem Pferd herunter, um einen in einer glänzenden Rüstung steckenden Lancelot zu küssen.

„Sir Lancelot stahl seiner Königin einen verbotenen Kuss.“

Auf einem anderen Bild stand Schneewittchens Stiefmutter vor dem Spiegel und drückte ihre pflaumenfarbenen Lippen darauf, die Augen wild und wahnsinnig.

„Sie wusste, dass sie die Schönste im ganzen Land war.“

Eine dralle Lady Marian, die den Rock in die Strümpfe gesteckt hatte – vermutlich um leichter auf Bäume klettern zu können –, wurde an einer frühlingsgrünen Uferböschung ohnmächtig angesichts von Robin Hoods Leidenschaft.

„Die Liebenden umfingen einander, und tief im Wald sang ein Vogel.“

Als Kind hatte Rora sich vorgestellt, wie ihr eigenes Leben auf diese Weise illustriert und untertitelt werden würde, wie ihre größten Momente in Wäldern und Rosengärten stattfänden, Momente, die bedeutend genug waren, um in Tiefrot, Seegrün und Gold verewigt und mit Seidenpapier zugedeckt zu werden.

Das Buch enthielt auch berühmte Kunstwerke: Rodins erhabenes Liebespaar aus Marmor, dessen Lippen sich kaum berührten; die niederträchtige Umarmung des Judas, dessen Verrat Caravaggio im Judaskuss auf Leinwand einfror; die aneinandergeschmiegten Gesichter auf Mary Cassatts Gemälde Mutter und Kind; Brancusis quadratische Essenz eines Kusses, seine schlichten, steinernen Liebenden, die er für alle Ewigkeit aneinanderzementierte. Rora faszinierte die Vorstellung, dass die Küsse in all ihrer Vielfalt – mütterlich, verboten, erotisch, gramvoll und heuchlerisch – nicht das Ende einer Geschichte, sondern vielmehr nur einen Augenblick aus einer solchen darstellten, der davon erzählte, was gewesen war und was noch kommen würde.

„Ich wusste es, sobald ich ihn geküsst hatte.“

Rora konnte die Stimme ihrer Großmutter Isobel so deutlich hören, als wäre diese mit ihr im Raum.

„Ich konnte nicht mehr sagen, wo mein Körper endete und seiner begann.“

Es war stets dieses Buch, nach dem Isobel griff, wenn sie an ihren verstorbenen Ehemann dachte, und obwohl die beiden sich mit Roras Hausaufgaben hätten beschäftigen müssen, lernte Rora vermutlich mehr, als wenn sie bei den schriftlichen Divisionsaufgaben geblieben wären. Sich das Buch anzuschauen fühlte sich stets wie ein Ritual an. Sie öffneten es ehrfurchtsvoll, damit seine makellosen Seiten nicht befleckt wurden, nahmen das grüne Seidenband, das als Lesezeichen diente, behutsam heraus und legten es über den Schoß der Großmutter. Isobel blätterte jedes Mal auf die gleiche Weise durch die Seiten, bis das Buch sich wie von Zauberhand genau an der Stelle öffnete, die sie angeblich gesucht hatte. Rora lernte, lange Gedichtpassagen auswendig aufzusagen, und war bald mit sämtlichen berühmten Liebesszenen in Shakespeares Werk vertraut.

Manchmal – inspiriert von den Filmzitaten im Buch – studierten die beiden die Fernsehzeitschrift und strichen sich einige Nachmittagsfilme an, um sicherzugehen, dass sie keinen so atemberaubenden Moment verpassten wie den unterbrochenen, aber ausgedehnten Kuss in Hitchcocks Berüchtigt, der ganze zweieinhalb Minuten dauerte, wie Isobel anhand der Amor-Uhr in ihrem Schlafzimmer feststellte; oder Burt Lancasters und Deborah Kerrs leidenschaftliche, wellenumspülte Umarmung in Verdammt in alle Ewigkeit. Aus dem Buch und von ihrer Großmutter lernte Rora, dass Liebe und Romantik, wenn man es richtig anstellte, in allem eine zentrale Rolle spielten. Durch Liebe und Romantik wanden Blumen sich zu herrlichen Sträußen. Das Meer bäumte sich auf, Menschen erhoben sich in die Lüfte, und Marmor verwandelte sich in Fleisch.

„An wie viele Küsse du dich wohl erinnern wirst, wenn du alt bist, so wie ich?“, hatte Isobel ihre Enkelin einmal gefragt, Rora die widerspenstigen Locken aus der Stirn gestrichen, ihr die Hand unter das Kinn gelegt und ihr Gesicht ins Licht gedreht, als würde sie darin lesen wollen.

„Das kann man sich heute kaum noch vorstellen, aber du siehst eine Frau vor dir, die mehr als nur ein paar bedeutende Küsse zu verzeichnen hat“, fuhr sie fort, und ihre Augen funkelten schelmisch.

„An einige Küsse erinnere ich mich mit Freude, an andere nicht so sehr, doch sie alle sind Teil meiner Geschichte und haben sich mit den Jahren aneinandergereiht wie Perlen auf einer Kette.“

Obwohl Rora zu ihm zurückwollte, sich danach sehnte, wieder seine Arme um sich zu spüren, holte die Vergangenheit sie ein, hielt sie in dem Zimmer fest, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie saß auf dem staubigen Holzfußboden, auf dem sich gespenstisch die Umrisse der fehlenden Möbel abzeichneten, und Erinnerungen überschwemmten ihren Geist wie unzählige Schwalben, die einen Himmel verdunkeln, oder wie nervöse Schafe, die sich auf einer Wiese tummeln. Es war ihre Version des Buches der Küsse, an die sie sich erinnerte – die Geschichte davon, wie sie hierhergelangt war, an diesem Tag in diesen Raum, erfüllt von der Aussicht, nach Hause und zu ihm zu kommen sowie zu einem Weihnachtsbaum, der dekoriert werden wollte. Die Bilder, die sie heraufbeschwor, erzählten ihre eigene Geschichte von Verlust und Glückseligkeit. Sie trugen ihre eigene funkelnde Pracht in sich.

KUSS 1

„Sie erwachte vom Druck seiner Lippen auf ihren Mund.“

15. Mai 1996

Zum ersten Mal küsste sie ihn, als sie gerade vierzehn Jahre alt geworden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Rora kaum mit ihm gesprochen. Einmal hatte sie ihn auf dem Vergnügungspier von Hastings in einer Gruppe von Jungen erblickt. Er hatte sich aufgespielt, indem er seine Kameraden anrempelte, auf den Lehnen der Bänke balancierte und den Clown mimte. Etwas an seiner Prahlerei und der Art, wie sein dunkles Haar ihm schräg ins Gesicht fiel, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie ertappte sich dabei, wie sie ihm nachstarrte. Er bemerkte ihren Blick nicht, doch einer seiner Freunde tat es, schubste ihn in ihre Richtung und gab irgendeinen spöttischen Kommentar von sich, woraufhin Rora rot anlief und sich abwandte. Sie hatte gehört, wie einer von den Jungen seinen Namen genannt hatte: Carl. Sie fand, dass er zu ihm passte. Er klang kompakt und zäh, so als würde alles an ihm abprallen und ihn vollkommen unversehrt lassen.

Er war im September auf ihre Schule gekommen, doch obwohl sie ihn oft beobachtete, sprach sie nie mit ihm. Es kam ihr vor, als wäre er stets mitten im Geschehen, sie hingegen zog die ruhigen Ecken vor, in denen sie unbemerkt sitzen konnte. Im zweiten Halbjahr machten sie einen Schulausflug nach Fairlight, einem Waldgebiet auf einer Klippe östlich der Stadt. Ihre Aufgabe war es, vier verschiedene Arten von Farn sowie vier Wildblumenarten zu bestimmen und die Pflanzen zum Pressen zwischen Löschpapier und Pappe unter einen flachen Stein zu legen. An einem Bach auf einer kleinen Lichtung hatten sie gelernt, Zelte aufzubauen und ein Feuer zu machen, über dem sie in Alufolie gewickelte Kartoffeln backen konnten. Sie erinnerte sich an den Geruch von Feuchtigkeit und Gummi-Zeltböden, an den trockenen, süßen Duft der Farne und daran, wie es sich anfühlte, schnell zu rennen und die weiche Erde unter den Füßen zu spüren. Doch vor allem erinnerte sie sich daran, wie erfüllt sie gewesen war von der Erwartung auf das Leben und auf die Freuden, die noch vor ihr lagen.

Mit Ausnahme von Roras bester Freundin Hannah, die sämtliche Jungs zugunsten eines eher müde aussehenden Ponys namens Rust links liegen ließ, waren alle Mädchen in Roras Klasse vollkommen fixiert auf die Suche nach einem festen Freund. Dem Gefängnis des Klassenzimmers entflohen zu sein hatte diese Besessenheit nur noch verstärkt, und im Zeltlager brodelten die Intrigen. Rora ertappte Carl mehrfach dabei, wie er sie ansah, und war über seine Aufmerksamkeit erstaunt und erschrocken zugleich. Bei dem Gedanken, er könnte jeden Moment auf ein Gespräch herüberkommen und sie würde dann die richtigen Worte finden müssen, wurde ihr mulmig. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihm nahe zu sein, und dem Bedürfnis, ihn auf Abstand zu halten.

Als sich eine Gelegenheit dazu ergab, stahl sie sich heimlich davon. Sie ging tiefer in den Wald hinein, geradewegs durch das Unterholz, sprang über das niedrige Gesträuch und ignorierte die Brennnesseln, die ihr die Knöchel verbrannten, und die vereinzelten Äste, die zurückschwangen und ihr ins Gesicht schlugen. Mit einem Unterarm hatte sie eine wilde Brombeerhecke gestreift, deren Dornen sich grausam in ihre zarte weiße Haut gekrallt und leuchtend rote Punkte und dunkelviolette Kratzer darauf hinterlassen hatten. Sie hatte das Blut aus den Wunden gesaugt und seinen metallischen Geschmack auf der Zunge wahrgenommen. Obwohl der Baldachin, den die Buchen und Eichen über ihr bildeten, nur wenig Sonne hindurchließ, war sie genau an einer Stelle stehen geblieben, an der die Bäume lichter standen, sodass sie die letzte schwache Hitze des Tages auf ihrem gen Himmel gewandten Gesicht spüren konnte. Es war die Stelle, an der die Glockenblumen am dichtesten wuchsen. Als eine einzige Fläche schienen sie wie purpurfarbener Nebel über dem Boden zu schweben.

Sie erinnerte sich noch daran, dass ein Gefühl der Schwere sie überkommen hatte, so als hätte der ermüdende Lauf durch den Wald ihr die letzte Kraft geraubt. Sie atmete noch immer schnell vor Anstrengung und nahm zugleich das leise Summen des Lebens um sich herum wahr – die kleinen Bewegungen in den Blättern und Zweigen über dem Boden, das Geräusch von Wasserrinnsalen, die über Gestein plätschern, und ein Vogel, der irgendwo eigenartig zitterige Töne von sich gab, als wäre er sich seines eigenen Gesangs nicht sicher. Sie roch den Moschusduft der Erde, die unter ihrer Schicht aus Vegetation gefangen war, sowie den pilzartigen Geruch von morschem Holz. Unter ihren geschlossenen Augen erahnte sie die Wanderbewegungen der Asseln mit ihren winzigen Beinchen, wie sie die Erdspalten erkundeten und durch das leuchtende Moos krabbelten.

Es war, als wäre alles, was sie an diesem Tag fühlte und sah, intensiver und lebendiger als sonst – das Brennen der Kratzer auf ihrem Arm, das Jucken des Nesselausschlags, der sich auf ihren nackten Knöcheln ausgebreitet hatte, der pochende Puls an ihrem Hals, ihr neuer BH mit seiner Synthetik-Spitze, den sie in einem Anfall von Optimismus eine Nummer zu groß gekauft und der beim Laufen gegen ihre Brustwarzen gerieben hatte, sodass diese sich nun heiß und wund anfühlten. Ihr Haar hatte sich beim Rennen gelöst und schmiegte sich warm an ihren Nacken. Sie spürte eine Anspannung, ein Ziehen im Bauch, wenn sie an Carl dachte, an die Art, wie er sich sein Haar aus dem Gesicht strich, und an seine Schultern, die stets straff und gerade schienen, als würde er jederzeit mit einem Kampf rechnen.

Nach einer Weile ließ sie sich an einem Baumstamm zu Boden gleiten und lehnte den Kopf an die sonnenwarme Rinde, und als ihr dies nicht mehr bequem genug war, legte sie sich flach auf die Erde und bettete den Kopf auf die Farne. Die Blätter über ihr waren von einem so hellen, frischen Lindgrün, als hätten sie die Sonne mit ihrer klebrigen Jugend an den leuchtenden Rändern eingefangen. Rora wusste nicht, was sie mit diesem Gefühl für Carl anfangen sollte. Sie konnte es noch nicht einmal näher bestimmen. Es weckte in ihr eine Art Erregung, eine gewisse Angst und – auch wenn sie es sich selbst nicht genau erklären konnte – sogar ein wenig Scham. Obwohl Isobel und sie die Romantik zu ihrem Spezialgebiet erkoren hatten, war sie nicht in der Lage, die Hochglanz-Illustrationen, die sie so häufig betrachtet hatten, mit dem Gefühl in Verbindung zu bringen, das sie innerlich zerriss und so verletzlich machte. Doch so jung sie auch war, sie wusste zumindest, weshalb sie vor ihm weggerannt war. Das Laufen half ihr, die bebende Sehnsucht in Schach zu halten.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, an solch einem Ort einzuschlafen, doch es war, als hätte man ihr ein Betäubungsmittel verabreicht. So hörte sie sein verstohlenes Anschleichen durch den Wald nicht und sah auch nicht, dass er vor ihr stand und sie betrachtete, als würde das, was er sah, ihm Angst machen. Sie erwachte vom Druck seiner Lippen auf ihren Mund. Ihr erster Impuls war, ihn wegzuschubsen, doch dann sah sie in seine klaren braunen Augen, die sie entschlossen anblickten, spürte seine Finger sanft in ihrem Haar und schloss wieder die Augen. Und es war genau so, wie Isobel vorausgesagt hatte. Sie spürte dieselbe schmelzende Zärtlichkeit, die ihre Großmutter beschrieben hatte. Sie wusste nicht mehr, wo ihre Körper endeten und die Erde begann.

Mai 2010

Es war gar kein typisches Maiwetter: Im Taxi war es unerträglich heiß. Der Vanille-Duftbaum aus Pappe, der am Rückspiegel hing, vermochte den Geruch nach Schweiß und einem hastig verschlungenen Mittagessen kaum zu übertünchen. Der Fahrer hatte dickes schwarzes Haar, das im Nacken feucht glänzte, als hätte er gerade erst seinen Kopf unter Wasser gehalten.

„Machen Sie hier Urlaub?“, fragte er in einem unbestimmten Versuch, höflich zu sein, obwohl er vermutlich von Roras Gesicht ablesen konnte, dass sie nicht der Typ war, der auf eine Unterhaltung aus war.

„Wir besuchen meinen Großvater“, sagte Ursula. „Ich hab ihn noch nie gesehen.“

Ursula war neun Jahre alt und teilte Fremden manchmal nur allzu gern Dinge mit, die Rora lieber für sich behalten hätte.

„Er ist sehr krank“, fuhr Ursula fort und klemmte sich – auf die liebenswert überkorrekte Art, die sie an sich hatte – die Haare hinter die Ohren, als fühlte sie sich von ihrem widerspenstigen, dunklen Lockenkopf im Stich gelassen. Eigentlich hätte sie mit einem ordentlichen, glatten Bob zur Welt kommen müssen.

„Wir machen einen Barmherzigkeitsbesuch“, sagte sie.

„Tatsächlich?“, fragte der Taxifahrer und lächelte sie durch den Rückspiegel an.

„Ja. Wir müssen ihm Medizin geben und zu trinken und aufpassen, dass seine Kissen immer aufgeschüttelt sind“, erklärte Ursula und wandte ihre Aufmerksamkeit erneut dem Inhalt ihrer pelzigen, lilafarbenen Handtasche zu.

Rora hatte irgendwann aufgegeben zu zählen, wie oft ihre Tochter während der Fahrt von London hierher ihre akribische Bestandsaufnahme durchgeführt und sämtliche Gegenstände neben sich ausgebreitet hatte: ihre kleine Haarbürste, die ungeöffnete Süßigkeitenpackung, ihre Lieblingspuppe, ein Malbuch, einen Glücksstein, eine Feder, eine Packung Heftpflaster und – besonders wichtig – das Päckchen mit Feuchttüchern, das sie andauernd mit triumphierendem Gesichtsausdruck hervorzog, um selbst das kleinste bisschen Vergossenes oder Verschmiertes aufzuwischen. Rora machte sich Sorgen um ihre Tochter, wegen ihres ständigen Bedürfnisses, ihre Habseligkeiten wieder und wieder durchzugehen. Sie verspürte einen plötzlichen Stich bei dem Gedanken, dass dies eine Folge dessen war, was man Ursula in der Schule angetan hatte: sie glauben zu lassen, ihr könnte jederzeit alles weggenommen werden. Das bekannte Gefühl von Hilflosigkeit gepaart mit Wut überkam Rora. Sie hätte ihre Tochter besser beschützen müssen.

Rora öffnete das Fenster des Taxis, lehnte sich hinaus und atmete den scharfen, durchdringenden Meeresgeruch ein, der sich klar über den Gestank des stockenden Verkehrs und den medizinischen Geruch der Ringelblumen in den städtischen Beeten erhob. Sie spürte die alte Furcht, die die Straßen säumte, in den Vorhängen der vorbeiziehenden Fenster hing und wie Nebel über den goldenen Sandsteinklippen lag. Sie trug diese Furcht stets mit sich. Doch als Rora jetzt die Straßen entlangfuhr, die sie noch so gut in Erinnerung hatte, schien die Geschichte, die sie zu vergessen versucht hatte, auf schreckenerregende Weise wieder allgegenwärtig. Die Bilder der Vergangenheit waren verblasst und ihr weniger lebendig vorgekommen, während sie fort gewesen war, doch hier gab es kein Entkommen. Panik stieg in ihr auf, eine irrationale, beinahe chemische Reaktion, da inzwischen ganz sicher niemand mehr da sein würde, der sich noch an das Geschehene erinnerte. All das ist lange her, redete sie sich gut zu, doch es beruhigte sie nicht. Während sie aus dem Fenster sah, war die Angst so lebendig, als wäre es erst gestern geschehen.

Als Hannah angerufen hatte, um ihr die Neuigkeiten über ihren Vater zu erzählen, war ihr erster Instinkt gewesen, einfach nicht zuzuhören, sich die Finger in die Ohren zu stecken und einen monotonen Singsang von sich zu geben, wie sie es als Kind getan hatte.

„Er ist sehr krank, Rora. Ich glaube, er hat nicht mehr lange zu leben“, hatte Hannah einen Monat zuvor zögernd durchs Telefon gesagt, wohl wissend, dass sie dünnes Eis betrat. „Er hat Leukämie. Ich habe mit einer der Krankenschwestern gesprochen, als sie aus dem Haus kam.“

„Und warum sollte mich das interessieren?“, fragte Rora und hielt den Hörer vom Ohr weg. Hannah hatte eine unnötig laute Telefonstimme.

„Ich weiß, dass du ihm nichts schuldig bist. Gar nichts. Es ist nur so, dass du diese Chance nicht noch einmal bekommen wirst.“

„Und was, wenn ich diese Chance gar nicht will?“ Rora wusste, wie kindisch sie klang, war jedoch unfähig, ihren Widerwillen zu verbergen.

„Ich denke dabei genauso sehr an dich wie an ihn“, sagte Hannah, die nicht nachgeben wollte, obwohl sie die Eiseskälte in Roras Stimme wahrnahm.

„Ich habe seit Jahren kaum mit ihm gesprochen. Warum glaubst du, dass ich ihn jetzt sehen will?“, fragte Rora. „Der Mann ist ein kaltherziger Mistkerl, und es ist mir scheißegal, dass er es nicht mehr lange macht.“

„Rora!“, rief Hannah, schockiert über ihre harten Worte. „Das meinst du nicht ernst.“

„Doch, absolut“, erwiderte Rora und lächelte leicht über Hannahs empörten Ton.

„Denk einfach mal drüber nach. Wenn es dir zu viel ist, bei ihm zu wohnen, bist du hier jederzeit willkommen, das weißt du.“

„Ja, ich weiß“, sagte Rora. Ihre Stimme wurde sanfter beim Gedanken an Hannahs warmes, belebtes Haus. Sie sah ihre Freundin vor sich, wie sie in ihrem hellgelb gestrichenen Flur stand, dessen Wände voller Spuren von schlammverkrusteten Stiefeln und Fahrradgriffen waren. Sicher trug sie eines dieser Sweatshirts mit Aufnähern, die sie so sehr mochte.

„Er ist der einzige Vater, den du hast. Du, ich muss jetzt aufhören. Die Katze hat gerade auf den Teppich gekackt“, hatte Hannah gesagt und aufgelegt.

Sie war überrascht gewesen, als Rora einen Tag später anrief, um ihr zu sagen, sie würde doch zurückkehren.

„Ich bin so froh, dass du dich entschieden hast, das Richtige zu tun“, hatte sie beifällig gesagt.

Rora war sich keineswegs sicher, dass sie das Richtige tat. Es war eine impulsive Entscheidung gewesen. Keine, zu der sie sich aus einem Pflichtgefühl ihrem Vater gegenüber durchgerungen hätte – sie fühlte keine derartige Verbundenheit. Sie hatte schlicht und einfach den Wunsch, Ursula an einen Ort zu bringen, der für sie frei war von unglücklichen Erinnerungen. Die Seeluft, eine neue Schule, ein wenig Zeit zu zweit – das sollte ausreichen, um ihrer Tochter wieder zum Glück zu verhelfen. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, welchen Schaden ihre Rückkehr ihr selbst zufügen könnte.

Sobald sie die Entscheidung gefällt hatte, erledigte Rora alles so schnell wie möglich, um sich keine Gelegenheit zu geben, ihre Meinung noch einmal zu ändern. Die Leichtigkeit, mit der sie sämtliche Vorbereitungen dafür traf, London zu verlassen, machte ihr klar, wie wenig sie an dem Leben hing, das sie für sich selbst und Ursula dort aufgebaut hatte. Sie hatte vor dem Umzug alle infrage kommenden Schulen in Hastings durchtelefoniert und ausführliche Gespräche mit einer Reihe von Schulleitern geführt. Die Grundschule, die sich ihrer Meinung nach am besten anhörte und auf die auch Hannahs Tochter ging, lag im Einzugsgebiet von Roras Vater, und sie hatte die Adresse und seine Krankheit als Grund dafür vorgeschoben, Ursula dort unterzubringen. Zunächst wurde ihr gesagt, dass kein Platz frei sei und das Schuljahr für einen Schulwechsel schon zu weit fortgeschritten sei. Doch nach einem weiteren Telefonat, in dem Rora erwähnte, dass sie historische Romane für Kinder schrieb und nur zu gerne einen Vortrag in der Schule halten würde, vielleicht sogar einen kleinen Workshop anbieten könnte, und sie das Ganze mit einem strategischen Zittern in der Stimme unterstrich, als sie über ihren dahinsiechenden Vater sprach, da hatte sie es geschafft. Die Schulleiterin gab endlich klein bei.

Rora vermietete ihre Wohnung in Lewisham für sechs Monate unter und lagerte einige persönliche Habseligkeiten sowie den Inhalt von Ursulas Kinderzimmer ein. Sie ließ keinerlei Beziehungen zurück, die von Bedeutung gewesen wären – es war ihr immer zu anstrengend gewesen, die dafür notwendige Intimität zu erzeugen. Ihr letztes Projekt hatte sie einen Monat zuvor abgeschlossen – ein Kinderbuch, geschrieben aus der Sicht eines Mädchens von acht Jahren, das am Hof Heinrichs des VIII. als Akrobatin arbeitete. Sie konnte sich daher eine Pause leisten, ehe sie darüber nachdachte, was sie als Nächstes schreiben wollte. Sie würde eine kleine Tournee durch Schulen machen und ein paar Lesungen abhalten, doch das konnte sie von überall aus tun. Nicht lange, und Rora würde die nächste Idee verfolgen – in ihrem Kopf wimmelte es nur so von Geschichten, und sie wusste, dass sie gut darin war, sich Charaktere und Situationen auszudenken, mit denen Kinder sich identifizieren konnten. Doch ihre Priorität bestand nun darin, Ursula aus ihrem alten Leben zu holen.

Sie hätte überall hingehen können, und doch war sie zurück nach Hastings gekommen. Im Taxi zu sitzen schien vollkommen verrückt zu sein, hatte sie sich doch geschworen, niemals zurückzukehren. Vielleicht sollte sie den Fahrer bitten, kehrtzumachen und sie zurück zum Bahnhof zu bringen. Er würde murren, und sie käme sich töricht vor, doch sie würde sich noch retten können. Sie hatte ihr altes Leben mit Leichtigkeit hinter sich gelassen, und daher könnte sie es auch genauso leicht wieder aufnehmen. Sie könnte eine andere Schule für Ursula in London finden, selbst wenn das bedeutete, die Wohnung zu verkaufen und woanders hinzuziehen. Beinahe hätte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen, doch genau in diesem Moment drehte Ursula sich mit dem breiten, hoffnungsvollen Lächeln zu ihr um, das Rora so lange nicht mehr an ihrer Tochter gesehen hatte.

„Das wird toll, oder, Mum?“, sagte Ursula. „Ein richtiges Abenteuer.“

Also sank Rora zurück in den Sitz und ließ das Taxi weiterfahren.

Sie bogen von der Küste ab und setzten die Fahrt durch die ansteigenden Straßen der Altstadt fort, vorbei an einer Mischung aus georgianischen Gebäuden und mittelalterlichen Fachwerkhäusern. Dieser Teil der Stadt schien keinen Bezug zum Rest von Hastings mit seinen von Wind und Seeluft angegriffenen Häusern zu haben. Es war, als fände das wahre Leben woanders statt und als würden diese Straßen und ihre vom Zufall bestimmte Vergangenheit nicht mehr den wahren Charakter dieses Ortes repräsentieren, sondern diesen nur noch zur Schau stellen – die letzten Zeugnisse der Pracht einer anderen Zeit. Sie erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken, wie es sein würde, ihren Vater wiederzusehen, doch plötzlich hatte sie ein Bild des Hauses vor Augen, wie es, verbarrikadiert und dunkel, auf sie wartete. Sie dachte an den Dachboden im Gebälk, an das winzige Fenster hoch oben in der Wand. An den Raum, den nachher niemand mehr von ihnen betreten hatte. Sie hatte den Schock nie verkraftet, und auch jetzt konnte sie spüren, wie er ihr in die Glieder fuhr und die Kehle zuschnürte.

Als kleines Kind hatte sie die knarrenden Böden und die schrägen Decken des Hauses ebenso geliebt wie die Tatsache, dass es so viele Orte darin gab, an denen man sich verstecken konnte. Wenn sie von einer Reise zurückkehrte, schien das Haus sie jedes Mal mit einer Umarmung zu begrüßen. Alles an ihm liebte sie und war ihr vertraut: die warme Stelle auf ihrem Schlafzimmerboden über dem Heizungskessel, die seidige Glätte des Küchentischs an ihren Unterarmen, das Gurgeln des Wassers in den Hähnen, wenn Badezeit war. Einmal hatte eine Schulfreundin bei ihr übernachtet, die panisch hochgeschreckt war, weil sie Gestalten in dem abbröckelnden Putz auf Roras Schlafzimmerwand gesehen hatte.

„Das sind keine Monster“, hatte Rora über die eingebildeten Kreaturen gesagt, die die Freundin in den Rissen und Kerben ausgemacht hatte. „Das sind meine Freunde.“

Doch all das hatte sich mit einem einzigen Drehen eines Türgriffs geändert. Was sie an jenem Nachmittag gesehen hatte, beraubte sie der Sicherheit und Geborgenheit, die sie in dem Haus stets empfunden hatte. Von einem Tag auf den anderen war es ihr fremd geworden, belastet von nur halb ergründeten Geheimnissen – seinen Geheimnissen und ihren sowie allen, die darauf folgten.

Das Taxi blieb abrupt stehen, sodass Mutter und Tochter leicht nach vorn geworfen wurden. Doch Rora war so sehr in die Vergangenheit vertieft, dass sie es kaum bemerkte. Sie war noch immer ein Kind in einem Haus, das sich nicht mehr wie ein Zuhause anfühlte.

„Sind wir bald da?“, fragte Ursula, die ihre Habseligkeiten zurück in ihre Tasche geräumt hatte und nun die Nase ans Fenster presste

„Ja, fast“, erwiderte Rora.

„Diese verdammten Kids“, sagte der Taxifahrer gereizt, als ein paar Skateboarder vor dem Auto über die Straße schossen. Er rieb sich seinen speckigen Nacken, als wäre er von einer Wespe gestochen worden.

„Verdammt ist ein Schimpfwort“, bemerkte Ursula tadelnd.

Rora lächelte und drückte die Hand ihrer Tochter. Ursula sagte immer genau das, was sie dachte. Hatte diese Angewohnheit die anderen Kinder dazu veranlasst, sie zu schikanieren? Was hatte Ursula an sich, das solche Boshaftigkeit hervorrief? Doch dann schalt Rora sich für ihre Gedanken. Nichts von all dem war Ursulas Schuld.

Sie krochen im Schritttempo die Haupteinkaufsstraße entlang, mussten im Verkehrschaos immer wieder stehen bleiben und anfahren. Die Minuten auf dem Taxameter schienen noch schneller durchzulaufen, wenn sie sich überhaupt nicht bewegten. Wochenendeinkäufer auf der Suche nach alten Apothekerflaschen und Filzkissen schlenderten über den Bürgersteig und malten sich dabei aus, wie sie ihr Zuhause verschönerten. Ein Mann, der sich auf dem überfüllten Bürgersteig einen Weg durch die Menge bahnte, zog Roras Blick auf sich. Es war sein Gang, an dem sie ihn als Erstes erkannte: seine leicht wiegenden, ausgedehnten, zügigen Schritte. Sie erstarrte. Das konnte nicht er sein. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ließ sie Geister sehen. Ganz sicher handelte es sich nur um eine Sinnestäuschung. Der Mann blieb stehen, um einem Paar Platz zu machen, das aus der anderen Richtung kam, und drehte kurz den Kopf zur Seite. Sie sah sein Profil und das dunkle Haar über seiner Stirn. Es war tatsächlich Carl. Sie hatte nicht einen Moment darüber nachgedacht, dass er wieder in der Stadt sein könnte. Beinahe sprach sie seinen Namen laut aus, schluckte ihn jedoch eilig herunter. Es war seltsam, dass sie nach all der Zeit instinktiv nach ihm rufen wollte. Ihr drehte sich der Magen um. Er sah älter und härter aus, hatte jedoch noch immer die gleiche entschlossene Zielstrebigkeit an sich. Sie kauerte sich auf ihrem Sitz zusammen, das Herz hämmerte in ihrer Brust, und Hitze stieg ihr ins Gesicht. Sie hoffte, dass er sich nicht noch einmal umdrehen und sehen würde, wie sie ihn durch das Autofenster anstarrte. Die Furcht hatte sie vorher schon geplagt, aber nun hatte sie das Gefühl, von ihr überrollt zu werden. Warum war sie ihrem Instinkt nicht gefolgt und fortgeblieben? Als sie wieder hinschaute, war er an ihnen vorbeigegangen, und das Taxi beschleunigte auf der nun leeren Straße.

KUSS 2

„Die Erde öffnete sich unter ihren Füßen, und sie war verloren.“

9. Juli 1996

Nach ihrem Kuss im Wald schienen sie und ihre Klassenkameraden es für ganz selbstverständlich zu halten, dass Rora und Carl ein Paar waren. Die beiden verbrachten jede Mittagspause zusammen, und da Carl nie eigenes Essen dabeihatte, teilte Rora häufig die riesigen Doppeldecker-Sandwiches mit ihm, die Isobels Spezialität waren. Die Leute gewöhnten sich daran, sie nah aneinandergeschmiegt und ins Gespräch vertieft mit gesenkten Köpfen vorbeigehen zu sehen. Da Hannah ihre Freundin nun teilen musste, die sie vorher immer für sich allein gehabt hatte, war sie erwartungsgemäß abweisend zu Carl.

„Ich kann seine Allüren nicht ertragen“, sagte sie eines Tages hochmütig, als sie mit Rora zusammen nach Hause ging. Sie war ganz vernarrt in das Wort Allüren und benutzte es in allen möglichen Zusammenhängen, vor allem, wenn sie von ihrem leidenschaftlichen Verlangen nach Mr. Brampton sprach, ihrem Physiklehrer, der morgens mit dem Motorrad zur Schule kam, von Kopf bis Fuß in eine ziemlich alberne Lederkluft gehüllt. Er wohnte nur zehn Minuten entfernt, und Rora fand, dass er sich für den kurzen Weg wirklich nicht kleiden musste, als nähme er am Grand Prix teil.

„Carl versteht mich“, sagte Rora und fügte, als sie sah, wie Hannah ein langes Gesicht machte, eilig hinzu: „Du verstehst mich auch. Aber du hast eine Million Leute in deiner Familie, und Carl ist ein wenig einsam, genau wie ich.“

„Er ist beängstigend unreif“, sagte Hannah und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, als sie in ihre Straße einbog. „Und ein bisschen zwielichtig“, fügte sie im Weggehen boshaft hinzu.

„Was habt ihr nur so viel zu bereden?“, fragte eine Lehrerin, irritiert davon, dass Carl und Rora wieder einmal während des Unterrichts miteinander flüsterten, statt sich auf die kreuzweise geschnürten Strumpfbänder von Shakespeares Held Malvolio zu konzentrieren.

„Gar nichts“, sagte Rora, die bis zu ihrer Verbindung mit Carl verlässlich fleißig und aufmerksam gewesen war, doch inzwischen regelmäßig für ihr Reden im Unterricht und ihre Unaufmerksamkeit gerügt wurde.

„Ich hab angefangen“, sagte Carl und verschwand ein Stück in dem Kragen seines grauen Schulhemdes. Da er bereits als Störenfried bekannt war, hatte er nichts zu verlieren und nahm Rora gerne aus der Schusslinie.

Samstags, wenn sie aus dem Haus schlüpfen konnte, ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, traf sie sich mit Carl, und zusammen liefen sie die steilen Stufen zum Café auf dem West Hill hinauf, wo sie zwei Stunden bei einer Cola saßen. Von dieser hohen Warte aus, mit dem Ausblick über die Stadt und auf das Meer, fühlten sie sich, als würde ihnen die ganze Welt gehören. Manchmal folgten sie den Wanderwegen des Naturschutzgebiets oberhalb der Stadt und nahmen dann hinunter zum Strand einen abschüssigen, gefährlichen Pfad, den sie entdeckt hatten. An dessen Ende mussten sie nur darauf achten, den FKK-Anhängern mit ihren seltsam geformten Hüten und grauenvollen Sandalen aus dem Weg zu gehen. An anderen Tagen schlugen sie ihr Lager in der verlassenen Hütte am Ende der Klippe auf, einer alten Aussichtswarte, die nun Liebespaaren, Kaninchen und dem Wind überlassen war, der vom Meer her durch das offene Fenster hereinwehte.

Wenn das Wetter sehr schlecht war, suchten sie Zuflucht auf dem Vergnügungspier. Der notdürftig zusammengeflickte Steg, von dem aus man einen guten Blick auf Pelham Crescent und die Burg darüber hatte, war für Rora in ihrer Kindheit immer ein glamouröser und aufregender Ort gewesen. Ein Jahr zuvor hatte ihn ein heftiger Sturm beschädigt, und nun stand der Pier am Rande des Bankrotts. Mit den Jahren war er immer mehr heruntergekommen und wurde jetzt vor allem von Anglern, Bingo-Spielern und betagten Tänzern bevölkert, die sich an Freitagnachmittagen mit steifer Grazie in ihren besten Schuhen über die Tanzfläche bewegten. Doch da waren immer noch die Spielhallen, in denen es an Regentagen warm war und moderig roch, da war der köstliche Geruch von gebratenen Zwiebeln und die Wahrsagerin, die ihre mit einem Vorhang versehene Bude neben dem Süßigkeitenstand an der Anlegestelle des Piers hatte. Ihr Name war Sophie, und sie war eine Bekannte von Isobel. Sie trug ihr Haar zu einem raffinierten Knoten hochgebunden. Manchmal lugten Rora und Carl durch den purpurfarbenen Samtvorhang und unterdrückten ein Kichern, wenn Sophie, mit eigentümlich wippender Frisur, den Kopf über die Hände ihrer Besucher beugte, die allesamt mit sonnenverbrannten Schultern und hoffnungsvollen Fragen dasaßen. Carl machte sich über die absurde Theatralik des Ganzen lustig, doch Rora, die weniger zynisch war als er, beeindruckte diese geheimnisumwobene Feierlichkeit. Es rührte sie, dass die Leute sich dazu verleiten ließen, zu glauben, jemand könnte aus der trüben Glaskugel und ihren Handlinien die Zukunft lesen. Rora verstand einfach, wie begierig diese Leute waren, ihre eigenen Geschichten zu hören. Einmal ließ Carl ihre Tarnung beinahe auffliegen, weil er so laut nieste, dass beide Personen im Raum abrupt aufschauten und die Wahrsagerin zum Eingang kam und die beiden Lauscher noch weglaufen sah.

„Ständig musst du niesen“, sagte Rora vorwurfsvoll, nachdem Carl und sie weit genug gerannt waren und sie wieder zu Atem gekommen war. „Als Spion wärst du vollkommen nutzlos. Du würdest dich dauernd selbst verraten.“

„Ich kann nichts dafür“, sagte er. „Ich muss immer niesen, wenn mein Blick plötzlich von der Dunkelheit ins Licht wechselt. Das nennt man photischen Niesreflex, hab ich gelesen, zwanzig Prozent der Bevölkerung haben den. Ist genetisch: Ich bin ein Sonnenanbeter und ein Sonnennieser.“

Einmal hatten sie den Liebesdetektiv ausprobiert, einen Automaten in der Spielhalle, mit dem Paare testen konnten, wie gut sie zusammenpassten. Sie mussten ihre Sternzeichnen und ein paar weitere Informationen eingeben, zum Beispiel, was ihre Lieblingsfarbe war und welchem Tier sie am meisten ähnelten. Carl und sie hatten eine Kompatibilität von achtundneunzig Prozent erreicht, und Rora fragte sich unwillkürlich, worin die zwei Prozent bestanden, die ihnen zum hundertprozentig perfekten Paar fehlten. Manchmal, wenn sie nachts im Bett lag und an ihn dachte, fürchtete sie, dass genau diese letzten zwei Prozent Carl und sie am Ende auseinanderbringen würden. Es nagte an ihr, dass sie diese mögliche Schwachstelle in ihrer Beziehung nicht genau ausmachen und daher auch nicht beseitigen konnte.

Carl mochte sich nicht um Prozentzahlen scheren und ihre Ängste damit abtun, dass sie auf unwissenschaftlich erhobenen Daten beruhten. Doch er hatte seine eigene Methode zu testen, ob Rora die Richtige für ihn war. Kaum eine Woche verging ohne eine neue, Furcht einflößende Aufgabe, die er ihr stellte. Auch wenn er es nie zugab, sogar sich selbst nicht eingestand, nahm er Roras Bereitschaft, die ausgefallenen Dinge zu tun, als Beweis dafür, dass sie mit ihm zusammen sein wollte.

Als er zum ersten Mal die Mutprobe auf den Klippen erwähnte, hatte Rora sich geweigert, auch nur darüber nachzudenken. Unter anderem hatte sie bereits Ladendiebstahl-Bingo gespielt, wobei sie fünf rote Gegenstände in weniger als einer Stunde hatte klauen müssen; sie war zum Kopf der Statue von Königin Viktoria am Warrior Square hinaufgeklettert und hatte ihn mit einem Stück Lametta bekränzt; sie hatte sich eine Augenbraue abrasiert, die Gegenstände auf dem Altar der örtlichen Kirche neu arrangiert und im Gottesdienst so getan, als würde sie ohnmächtig. Nach all der Mühe, die sie sich bereits gegeben hatte, fand sie, dass sie sich ihre Sporen verdient hatte.

Roras Eltern, die meistens nur eine dunkle Ahnung davon hatten, was sie trieb, bestanden darauf, Carl zum Tee einzuladen, damit sie den Menschen kennenlernen konnten, der ihre Tochter auf Abwege führte. Rora hatte sich Sorgen gemacht, sie könnten ihn für einen zu wilden und ungeeigneten Freund halten, doch sie stellte verblüfft fest, dass Carl über eine bislang gut verborgene soziale Kompetenz verfügte. Er hatte sich am Tisch sehr mitteilsam gezeigt, drei Portionen von Sandis Gemüsecurry gegessen, Isobel erzählt, wie sehr er sich eine Großmutter wünschte, und sich mit Frank über die Geschichte von Hastings Castle unterhalten. Als er ging, sagte Sandi, er habe Augen aus Flusswasser und die Hände eines Künstlers.

„Das ist vollkommen ungefährlich“, sagte Carl und kitzelte das Innere ihres Ohrs mit einem Grasstängel, während sie auf einer Bank auf dem West Hill saßen.

„Ungefährlich? Wie das denn bitte?“, fragte sie. „Du willst, dass ich mit verbundenen Augen am Rand der Klippe oberhalb von Rock-A-Nore balanciere? An der Stelle, die am steilsten abfällt?“

„Ich werde dich die ganze Zeit über lotsen“, sagte Carl. „Dir genau sagen, wo du hintreten sollst.“

„Warum willst du, dass ich das mache?“, fragte sie.

„Das ist der ultimative Test“, erwiderte er. „Danach weiß ich, dass du dein Leben in meine Hände legen würdest. Wie wär’s, wenn ich es zuerst mache? Dann wär’s ausgeglichen.“

„Ich will nicht, dass du das machst, und ich will es auch nicht tun“, sagte Rora. „Ich geh nach Hause.“

Doch Carls Überzeugungskraft war so stark, dass Rora eine Woche später am Rand der Klippe stand und die Schlafmaske trug, die er eigens zu diesem Zweck in der Drogerie gestohlen hatte. Sie war sehr nervös; große Höhen waren ihr nie geheuer gewesen, doch sie wusste, bei Carls Aufgabe ging es nicht darum, ihren Mut zu beweisen, sondern lediglich darum, ihre Ergebenheit auf die Probe zu stellen. Ihre vernünftige Seite widersetzte sich der Vorstellung, sich derart zu unterwerfen, doch der anderen fiel es schwer, ihn zurückzuweisen. Außerdem hatte auch sie ihren Stolz und war wild entschlossen, nicht ihr Gesicht zu verlieren.

Obwohl sie nichts sah, spürte sie den Abgrund zu ihrer Rechten und die Brise, die das Gras an ihren Füßen leicht bewegte. Sie war sich des bröckeligen Gesteins am Rand der Klippe bewusst, das wie pockennarbig von Aushöhlungen und Kormorannestern durchzogen war. Über die melancholische Melodie des Eiswagens und das heitere Gesumme der sommerlichen Stadt hinweg hörte sie ihren Herzschlag. Carl nahm sie bei den Händen und wirbelte sie dreimal im Kreis, sodass sie vollkommen die Orientierung verlor.

„Jetzt mach einen kleinen Schritt nach vorn“, wies Carl sie an, „und dann noch einen.“

Sie bewegte sich schlurfend vorwärts und spürte das rutschige Gras unter ihren Flipflops.

„Jetzt dreh dich leicht nach links“, sagte er. „Nicht zu weit, nur ein ganz klein wenig.“

„Wie weit bin ich jetzt von der Kante entfernt?“, fragte Rora.

Genau an dieser Stelle war im letzten Sommer eine Frau von ihrem Hund in den Abgrund gezogen worden. Vor ihrem geistigen Auge sah Rora das geworfene Stöckchen, den vorwärts springenden Hund und die Besitzerin, die aus Zuneigung und Gewohnheit die Leine nicht losließ. Rora streckte die Arme aus, als fürchtete sie, gegen eine Mauer zu laufen.

„Da ist nichts vor dir“, sagte Carl, „geh einfach genau in die Richtung weiter. Immer schön geradeaus.“

„Wie lange noch?“

„Noch zwanzig Schritte. Zwanzig kleine Schritte. Ein bisschen nach rechts, und ein bisschen nach links“, sagte Carl, unfähig, sein Lachen noch länger zu unterdrücken. Sie schrie auf, als er auf sie zustürzte und sie ins Gras warf.

„Carl! Was machst du denn da?“ Rora lag schwer atmend da, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Er zog ihr die Maske herunter, und sie sah sein grinsendes Gesicht über sich, so nah, dass sie den Flaum über seiner geschwungenen Oberlippe sehen und seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Sie lagen sichere drei Meter vom Rand der Klippe entfernt. Sie war genau in die entgegengesetzte Richtung gegangen, als sie geglaubt hatte.

„Denkst du wirklich, ich hätte riskiert, dass du fällst?“, fragte er sie.

„Lass mich aufstehen, ich liege auf etwas Spitzem“, sagte sie schließlich, bevor die Art, wie er sie ansah, ihr gänzlich den Atem rauben konnte. Er zog sie auf die Füße.

„Ich hätte dich nicht fallen lassen“, wiederholte Carl noch einmal ernst, strich ihr sanft das zerzauste Haar aus dem Gesicht und steckte es hinter einem Ohr fest.

„Ich weiß, das hättest du nicht“, sagte Rora und küsste ihn. Seine Lippen fühlten sich trocken an und schmeckten süßsauer. Sie spürte die Form seiner knochigen Schultern unter ihren Händen und wie sein Körper unter ihrer Berührung zusammenzuckte, als hätte Carl sich verbrannt. Die Erde öffnete sich unter ihren Füßen, und sie war verloren. Es war, als würde sie doch noch von der Klippe stürzen. Ihr Kuss mochte eine Minute oder auch eine Stunde dauern, er war so voller schwindelerregender Leidenschaft, dass das schwer zu sagen war, doch als sie von ihm wegtrat, lächelte Carl.

„Das könnte ich den ganzen Tag tun“, sagte er.

„Dann würdest du gar nichts mehr hinkriegen“, erwiderte sie, denn abweisend zu sein half ihr dabei, die Welt wieder mit klarem Blick zu sehen und ihr wild pochendes Herz zu beruhigen.

„Na und?“, erwiderte er und sprang auf. Und sie stand da und sah zu, wie er ein perfektes Rad nach dem anderen schlug, den gesamten Hügel hinab.

Mai 2010

Das Taxi hielt am hintersten Ende der Pilgrim Street, vor einem Weg, der auf der einen Seite von schmalen Reihenhäusern aus der Regency-Epoche in unterschiedlichen Renovierungsstadien gesäumt war und auf der anderen von einem Parkstreifen mit einer Bank und einem Stückchen Wiese. Einige der Häuser wiesen deutliche Zeichen der Gentrifizierung auf: glänzend schwarze Treppengeländer, Haustüren, die im obligatorischen Olivgrün gestrichen waren, sowie glasüberdachte Seitenanbauten. Andere wiederum waren weitgehend unangetastet geblieben: Unkraut wuchs zwischen den Spalten der Gehwegplatten, und der Lack der Fensterrahmen hatte aufgrund der Sonneneinstrahlung Blasen geworfen.

„Näher zum Haus kann ich Sie nicht bringen“, sagte der Taxifahrer. Er quälte sich widerwillig aus dem Wagen, wobei er den muffigen Geruch von gärendem, ungewaschenem Fleisch verströmte, und machte sich ächzend daran, ihre Taschen aus dem Kofferraum zu hieven.

„Ich würd Ihnen ja mit dem Gepäck helfen“, sagte er, „aber ich hab es ein wenig mit dem Rücken.“

Rora gab ihm dennoch zu viel Trinkgeld und ärgerte sich wieder einmal über ihre Feigheit und ihren Drang, es allen recht zu machen. Sie fühlte sich noch immer zittrig, beinahe weinerlich nach dem Schock, Carl gesehen zu haben, und ihre Schwäche gab ihr das Gefühl, noch weniger in der Lage zu sein, ihrem Vater gegenüberzutreten.

„Ich kann dich nicht davon abhalten“, war alles, was er am Telefon zu ihr gesagt hatte, als sie anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie und Ursula kommen würden. Während des kurzen Gesprächs hatte sie nicht erwähnt, dass sie ihr ganzes Leben hinter sich zusammengepackt hatte, denn sie zog es vor, ihren Besuch zwanglos und kurz entschlossen erscheinen zu lassen, als könnte sie ihn jederzeit abbrechen. Sie zog ihren Koffer die Straße hoch, wobei sich dessen Rollen immer wieder auf dem unebenen Pflaster verhakten. Ursula, die sich ihre Handtasche nun diagonal über die Schulter hängte, damit sie die Hände frei hatte, folgte ihr mit ihrem eigenen Gepäckstück, einem kleinen Köfferchen, das Form und Aussehen eines Marienkäfers hatte, ein weiteres Behältnis, auf das sie übermäßig stolz war.

Rora blieb am Fuß der Treppe stehen, die zur Eingangstür der Pilgrim Street 14 führte, und blickte auf zum Haus. Es sah genauso aus wie das letzte Mal, als sie es gesehen hatte: Der cremefarbene Fassadenstuck wies Spuren von Feuchtigkeit auf, die sechste Stufe war seit jeher in der Mitte durchgebrochen, und die Dachziegel waren grün und fleckig. Der Vorgarten und der Teil, den sie vom hinteren Garten sehen konnte, waren von Nesseln, Winden und wucherndem Efeu überwachsen, der die Wand hochrankte. Es war, als würde die Außenwelt in die Substanz des Gebäudes eindringen, seine Ecken abrunden und es verschwommen wirken lassen. Trotz der offensichtlichen Vernachlässigung und seines verschlossenen, wehrhaften Aussehens verströmte das Haus eine gewisse Eleganz. Die Fenster hatte man in ansprechender Entfernung voneinander eingelassen, eines neben der Eingangstür und dann jeweils zwei in den übrigen Stockwerken. In den obersten Fenstern hingen zwei hochgezogene Rollos, die wie Augenbrauen wirkten. Im zweiten Stock befand sich ein Balkon mit schmiedeeisernem Geländer, zu dem man von beiden Zimmern aus Zugang hatte und der so zart wie Filigranschmuck aussah. Rora kam es wie ein Wunder vor, dass er noch nicht weggerostet war.

„Bleib mal kurz bei den Koffern“, sagte sie zu Ursula und stieg die Treppe zur bogenförmigen Eingangstür des Hauses ihres Vaters hinauf, die von zwei dorischen Säulen mit abblätternder Farbe umrahmt war und deren kleine Fenster ein Muster aus verschlungenen Farnen zierte. Sie drückte auf die Klingel, hörte jedoch kein Schellen. Einen Türklopfer gab es nicht, also klapperte sie mit dem Briefkastendeckel. Nach ein paar Sekunden öffnete eine Frau mittleren Alters in einer blassgrünen Uniform die Tür. Sie hatte stark nachgezogene Augenbrauen und trug einen strengen Pony, was den Eindruck erweckte, als gehörte die obere Hälfte ihres Gesichts nicht zum Rest.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie. Sie sprach langsam und mit einem leichten Akzent der Region, die Endungen der Worte verschluckend.

„Ich bin hier, um meinen Vater zu besuchen“, erklärte Rora. Die Frau warf ihr einen wachsamen, prüfenden Blick zu.

„Er hat nicht erwähnt, dass er Besuch erwartet“, sagte sie. „Sie kommen wohl besser mal rein.“

Sie trat beiseite und ließ Rora und Ursula ihre Koffer die Treppe hoch und durch die Tür ziehen.

„Er ist im Wohnzimmer“, sagte sie, als sie schließlich im Flur standen. „Den Rest überlasse ich Ihnen.“

Die Tür zum Wohnzimmer war verschlossen, und Rora wurde bewusst, dass sie die Luft anhielt. Wäre Ursula nicht gewesen, hätte sie womöglich kehrtgemacht und das Haus wieder verlassen, ohne ihn zu treffen, doch ihre Tochter blickte sie erwartungsvoll an, und so musste sie zumindest den Anschein erwachsenen Verhaltens wahren, auch wenn sie sich wieder wie ein Kind fühlte. Das Haus fing sie ein, mit seiner herrschaftlichen, verlassenen Atmosphäre, als hätte es nur darauf gewartet, sich ihr zu zeigen, und als hätte es sich durch ihre Abwesenheit vernachlässigt gefühlt. Sein Gewicht legte sich auf sie, mit der ganzen Schwere der Zimmer über ihr, und das verworrene Grün des Gartens drückte gegen die Wände, als hätten sich die Pflanzen verschworen, das Haus zu versiegeln. Die Luft hatte etwas Übelriechendes und Abgestandenes an sich, dabei mussten die Krankenschwestern, die sich um ihren Vater kümmerten, die Fenster geöffnet und das Bettzeug gelüftet haben. Das machten Schwestern doch so. Ihre Hand lag zögernd auf dem Türgriff. Nach all den Jahren des Schweigens, die zwischen ihnen lagen wie ein dunkler Fluss, schien es ihr plötzlich unmöglich, das kleine Zimmer zu betreten und eine beiläufige Unterhaltung zu führen. Vielleicht würde er denken, sie hätte ihm verziehen, auch wenn er eigentlich wissen müsste, dass dies niemals passieren würde. Was er getan hatte, war der Anfang all der Angst und Traurigkeit gewesen, die sie nun mit diesem Haus, dieser Stadt verband. Sie schluckte schwer und drückte die Tür auf.

Ihr Vater saß in einem Sessel am leeren Kamin, als wartete er auf eine andere Jahreszeit, darauf, dass es kalt genug wäre, das Anzünden von Holzscheiten und Tannenzapfen zu rechtfertigen, die ihre Mutter immer wegen ihres süßen Harzduftes verbrannt hatte. Rora war überrascht, wie klein er aussah. Es war, als hätte jemand oder etwas seinen Kopf und seine Schultern eingedrückt, während er dort im Sessel saß.

Bis zu seiner Pensionierung war Frank Geschichtsdozent in Teilzeit an der Universität von Sussex gewesen. Doch während der meisten Zeit von Roras Kindheit hatte das Hauptaugenmerk seiner Arbeit darauf gelegen, ein Buch über Hastings zu schreiben, ein weitschweifiges Werk, das stets nur ein Kapitel von seiner Fertigstellung entfernt zu sein schien. Er war so zerstreut gewesen, dass es beinahe absurd war, hatte regelmäßig Schlüssel und Hüte verlegt, Autos, Haustiere und einmal auch die kleine Rora selbst nicht mehr wiedergefunden, als er sie in ihrer Babytrage in einem Bus stehen ließ. Er war immerzu vertieft in Details: Er recherchierte, wie Fischernetze in früher viktorianischer Zeit gefertigt wurden, oder erstellte Straßenpläne der engen Durchgänge, „twittens“ genannt, welche die Altstadt durchzogen. Er war eine unauffällige Erscheinung im Haus gewesen, er vergaß zu essen, seine Kleidung zuzuknöpfen oder seine Pantoffeln gegen Schuhe zu tauschen, wenn er in die Stadt ging. Sobald er einmal lange genug aus der Vergangenheit auftauchte, um sich bewusst Gedanken über seine Lebensumstände machen zu können, empfand er sich als glücklichen Mann: Er hatte eine Frau, die er über alles liebte, und eine Tochter, die sein Augapfel war, trotz seiner häufig verwirrten Art.

Dieser Mann existierte nicht mehr. Seine geschrumpfte Statur wurde durch die hohen Decken und das kunstvoll gearbeitete Gesims des Raums noch betont. Selbst im dämmerigen Licht konnte sie sehen, dass die Krankheit ihn in ihren Klauen hatte. Seine Haut hatte einen Gelbstich, und seine Augen waren durch den Gewichtsverlust weiter auseinandergezogen, was seinem Gesicht eine eigentümliche, neue Offenheit verlieh. Obwohl sie sich innerlich gewappnet hatte, brachte sein Anblick sie aus dem Gleichgewicht. Er schien auf eine Art und Weise verletzlich zu sein, die sie sich im Traum nicht ausgemalt hätte.

„Du bist also gekommen“, sagte er, und seine Stimme war vollkommen ausdruckslos und frei von jeglicher Erwartung.

„Ja“, erwiderte sie. „Hallo, Dad.“ Das Wort fühlte sich ungewohnt an auf ihrer Zunge.

„Und du musst Ursula sein.“ Er blickte an Rora vorbei zu ihrer Tochter, die zögernd hinter ihr stand.

„Ursula, das ist dein Großvater Frank.“

Nicht zum ersten Mal war Rora dankbar für Ursulas nüchterne Art und ihren Mangel an sichtbarer Schüchternheit.

„Freut mich sehr, dich kennenzulernen“, sagte sie, kam hervor und stellte sich vor ihn hin, bereit, sich begutachten zu lassen. Frank sah sie einen Moment lang mit ernster Miene an.

„Du siehst genauso aus wie deine Mutter“, sagte er. Seine Stimme hatte einen etwas wärmeren Ton angenommen. „Warum gehst du nicht mal in die Küche, den Flur entlang und dann rechts die Treppen runter, und fragst Pauline – das ist meine Pflegerin, musst du wissen –, ob sie ein Glas Saft für dich hat? Dir muss heiß sein nach eurer Reise“, sagte Frank, und Ursula tat folgsam wie geheißen.

„Falls du gekommen bist, weil du gehört hast, dass ich krank bin“, sagte er, sobald sich die Tür hinter Ursula geschlossen hatte, „brauchst du dich nicht genötigt zu fühlen.“

„Ich fühle mich nicht genötigt. Ich dachte nur, du könntest vielleicht etwas Hilfe gebrauchen.“

Jegliches Mitleid, das sie bei ihrer Ankunft verspürt hatte, verflüchtigte sich wieder, und sie sah ihren Vater, wie er gewesen war, bevor der Tod begonnen hatte, ihn hinwegzuraffen. Sie empfand ihren Ärger als tröstlich, denn er machte sie stärker, versetzte sie besser in die Lage, mit ihm umzugehen.

„Ich habe alle Hilfe, die ich brauche“, sagte Frank.

Wie aufs Stichwort kam die Pflegerin ins Zimmer, lief beschützend um Franks Sessel herum und zupfte dann an der Decke, die über seinen Knien lag. Ursula kam mit einem Glas in der Hand hinter ihr her.

„Ihr Vater sollte nicht gestört werden“, sagte Pauline. „Er ist Besuch nicht gewohnt.“

„Keine Sorge, wir werden hier nicht übernachten“, antwortete Rora. „Wir bleiben die Nacht über bei Hannah.“

„Ach, Mum!“, sagte Ursula und verzog das Gesicht. „Ich will aber nirgendwo anders hin. Ich hab Grandad doch noch gar nicht richtig kennengelernt.“

„Wir können morgen wieder zu Besuch kommen“, erwiderte Rora so ruhig sie konnte. Der nervöse Tic, den sie immer bekam, wenn sie besonders müde oder gestresst war, ließ bereits ihr linkes Augenlid unkontrolliert zucken.

„Lass uns doch bitte hierbleiben“, bettelte Ursula in einem nervtötenden Tonfall.

Rora sah zu ihrem Vater und bemerkte sein verkniffenes, triumphierendes Lächeln, obwohl er den Kopf senkte, um es zu verbergen. Er genoss ihr Unbehagen sichtlich.

„Na schön“, sagte sie schließlich. Ihr blieb keine große Wahl. Es würde seltsam aussehen, schon wieder zu gehen, nachdem sie gerade erst angekommen waren, und Ursula schien wild entschlossen zu bleiben. „Nur für ein paar Tage.“

Nachdem sie Ursula aus den spärlichen Vorräten, die die Küchenschränke boten, Pasta mit Thunfisch gekocht hatte, packte Rora den Marienkäfer-Koffer aus und richtete ihrer Tochter das Zimmer her, das früher ihrer Großmutter gehört hatte. Ursula war so müde von der Reise und der Aufregung darüber, an einem unbekannten Ort zu sein, dass eine Geschichte genügte, um ihre Lider schwer werden zu lassen.

„Mann, ist hier viel Zeug im Zimmer“, sagte Ursula und betrachtete die Gemälde, die beinahe jeden Zentimeter der Wände bedeckten.

„Deine Urgroßmutter war eine Art Sammlerin“, erklärte Rora mit einem plötzlichen Anflug von Trauer. Sie erinnerte sich daran, wie Isobel ihr immer Geschichten über ihre erstaunlichen Heldentaten erzählt hatte. Halb Verführerin, halb Spionin, hatte ihre Großmutter die Heiratsanträge von fünfzehn hoffnungslos verliebten jungen Männern abgelehnt, wichtige Dokumente im Futter ihres BHs geschmuggelt, mit bloßen Händen Tiger abgewehrt und sich selbst beigebracht, unter Wasser fünfzehn Minuten lang die Luft anzuhalten. Rora wünschte, Isobel wäre jetzt hier und könnte ihnen eine ihrer Geschichten erzählen oder vielleicht Das Buch der Küsse aus dem Regal holen und alle anderen Gedanken für eine Stunde vertreiben.

„Das ist ein komisches Haus“, sagte Ursula und schob die Decke von sich, unter der sie lag. Obwohl es sieben Uhr abends war, hatte die Hitze nicht nachgelassen, und Rora schob das Fenster hoch, um hereinzulassen, was an leichter Brise da war.

„Was meinst du?“, fragte Rora.

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