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Mit Risiken und Nebenwirkungen

hier erhältlich:

Alle Vierbeiner in Georgebury scheinen im Moment zu schwächeln. Woran liegt das bloß? Natürlich an Ian McFarland, dem gut aussehenden neuen Tierarzt! Sämtliche Tierbesitzerinnen müssen dringend bei ihm vorbeischauen, um ein Auge auf ihn zu werfen. Da ist Callie Grey, Expertin für Fettnäpfchen aller Art, keine Ausnahme. In ihrem Fall braucht allerdings nicht ihr Hund eine Impfung, sondern sie selbst männliche Zuwendung. Denn gerade eben hat ihr Freund sie eiskalt abserviert. Jetzt ist Callie Dreißig, leicht chaotisch, ziemlich verzweifelt und immer noch Single...


  • Erscheinungstag: 10.05.2012
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862784080
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kristan Higgins

Mit Risiken und Nebenwirkungen

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Annette Hahn

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

All I Ever Wanted

Copyright © 2010 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München; iStock

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz / Marie Curtis

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-409-7
ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-408-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Als der Mann, den ich liebte, in mein Büro kam, hatte ich spontan das Bild eines Rehs vor Augen, das von einem Lastwagen überfahren wird. Ich war das Reh und Mark Rousseau der Pick-up des Verderbens.

Denn wie wir alle wissen, erstarrt ein Reh in diesem Moment – daher auch der Ausdruck „wie angewurzelt stehen bleiben“. Das Reh und ich (Callie Grey, seit exakt 9:34 Uhr am heutigen Morgen dreißig Jahre alt) wissen sehr wohl, dass der Laster uns überfahren wird. Aber wir stehen einfach nur da und warten auf das Unvermeidliche, ob es nun ein Pick-up ist (im Falle des Rehs) oder ein athletisch daherschlendernder Mann mit charmantem Lächeln, ansehnlich gelocktem Haar und funkelnden dunklen Augen. Ich wartete – rehäugig. Und das war schrecklich, denn außerhalb Marks Einflussbereichs war ich alles andere als ein scheues Reh, das gleich überfahren wird. Eher so was wie ein bezaubernder kesser Igel.

„Hey“, sagte Mark grinsend.

Bumm! Das war der Aufprall. Das Licht, das durch die Fenster des alten Backsteingebäudes fiel, in dem Mark und ich arbeiteten, ließ ihn wie ein Gemälde von Michelangelo erscheinen. Was ihn noch anziehender machte, war der alte Pullunder, den seine Mutter ihm vor Jahren gestrickt hatte und der mittlerweile ausgeleiert und ausgeblichen war, von dem er sich aber nicht trennen konnte. Ein Sex-Gott und ein guter Sohn!

Es war, als gäbe es zwei Callies … mein klügeres, vernünftigeres Ich (das ich mir wie Michelle Obama vorstellte) und das dümmliche, verliebte Ich … die rehäugige, schmollmündige Betty Boop. Ich wünschte, Michelle würde Betty eine kräftige Ohrfeige verpassen und sie anschließend gut durchschütteln. Doch Betty saß nur wie versteinert da, während die First Lady angewidert das Gesicht verzog.

„Hallo.“ Ich spürte, wie ich rot wurde. Man sollte meinen, dass mein Körper in den vier Jahren, die ich Mark nun fast täglich zu sehen bekommen hatte, eine Art Resistenz gebildet hätte, aber nein. Mein Blut geriet vor Lust und Liebe in Wallung, meine Kehle wurde trocken, meine Finger und Zehen kribbelten. Während ich verzweifelt die intelligente Mitarbeiterin zu geben versuchte, wirkte ich wohl eher wie die schmachtende Schwärmerin.

Mark lehnte sich gegen meinen Schreibtisch, was bedeutete, dass seine exakte Körpermitte so um die fünfzig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war. Nicht, dass das in irgendeiner Weise von Bedeutung gewesen wäre … „Herzlichen Glückwunsch“, sagte er und schaffte es, dass es wie der intimste und anzüglichste Satz der Welt klang.

Gesicht: glühte. Herz: raste. Callie: stand kurz vor dem Orgasmus. „Danke.“

„Natürlich habe ich auch ein Geschenk für dich“, raunte er mit dieser … oh Gott, dieser Stimme! Tief und voll und dennoch weich … dieselbe Stimme, die er im Schlafzimmer benutzte, wie ich sehr wohl wusste. Oh ja, Mark und ich waren mal zusammen gewesen. Fünf Wochen. Fünf wundervolle Wochen. Fast fünfeinhalb, wenn man es genau nahm. Und das tat ich gern.

Er zog ein kleines, rechteckiges Päckchen aus der hinteren Hosentasche. Mein Herz machte einen Satz, während mein Hirn arbeitete. Schmuck? kiekste Betty. Das bedeutet etwas. Das ist romantisch. Soo romantisch! Oh! Mein! Gott! Michelle dagegen gemahnte zur Vorsicht. Beruhige dich, Callie. Warten wir erst einmal ab, was es ist.

„Oh, Mark! Danke sehr! Das wäre doch nicht nötig gewesen“, erwiderte ich atemlos.

Auf der anderen Seite der Wand aus Glasbausteinen, die unsere Büros trennte, knallte Fleur Eames eine Schublade zu. Die Wand war nur drei Meter hoch, während die Decke bis etwa drei sechzig ging – perfekt zum Mithören –, und ich schätze, sie wollte mich aus meiner Trance holen. Fleur, Anzeigentexterin in diesem Betrieb, wusste von meiner Schwärmerei. Alle taten das.

Ich räusperte mich und griff nach dem Päckchen, das Mark noch eine Weile spielerisch festhielt, bevor er es grinsend freigab. Es war in fröhlich gelbes Papier eingewickelt. Gelb war meine Lieblingsfarbe. Hatte ich das ihm gegenüber mal erwähnt? Hatte er dieses kleine Detail abgespeichert, so wie ich alles abspeicherte, was er sagte und tat? Ich meine, das konnte doch kein Zufall sein, oder? Er lächelte mir zu, und mein Herz schien erst zu stocken, um dann wie wild zu rasen. Oh Gott! Konnte das sein? Wollte er endlich wieder mit mir zusammenkommen?

Seit vier Jahren arbeitete ich in Marks Firma Green Mountain Media. Wir waren die einzige Werbe- und PR-Agentur im Nordosten Vermonts. Die Belegschaft war recht übersichtlich: Mark und ich, Fleur, dann Karen, die Firmensekretärin sowie Pete und Leila, die beiden blassen Computerfreaks in der Grafikabteilung. Ach, und Damien, Marks persönlicher Assistent, Empfangschef und Sklave.

Ich liebte meine Arbeit. Und ich war gut darin, wie das große Poster an der Wand bewies, für das ich beinahe einen Clio gewonnen hätte, den Oscar der Werbebranche. Besagte Clio-Verleihung fand vor elf Monaten in Santa Fe statt. Und in jener schönen, romantischen Stadt hatte es zwischen Mark und mir endgültig gefunkt. Doch das Timing für eine ernste Beziehung war denkbar schlecht gewesen – zumindest hatte Mark es damals so formuliert. Mal ehrlich: Haben Sie so was schon mal eine Frau sagen hören? Wenn es um den Mann geht, den sie lieben, haben Neunundzwanzigjährige selten Timing-Probleme. Nein – es war Marks Timing gewesen, das nicht stimmte.

Aber jetzt … ein Geschenk. Konnte es sein, dass das Timing endlich passte? Vielleicht war gerade heute, an dem Tag, an dem ich dreißig wurde und in die Lebensphase eintrat, in der es für eine Frau wahrscheinlicher ist, von einem Grizzly zerfleischt als geheiratet zu werden … vielleicht war gerade heute der Beginn eines neuen Zeitalters.

„Mach es auf, Callie“, drängte er, und ich gehorchte in der Hoffnung, dass er meine zitternden Finger nicht bemerkte. Unter der Verpackung kam eine schwarze Samtschachtel zum Vorschein. Hurra! Ich biss mir auf die Lippe und sah zu Mark, der mit den Schultern zuckte und mich wieder atemberaubend anlächelte. „Schließlich wird mein bestes Mädchen nicht jeden Tag dreißig“, kommentierte er.

„Würg“, frotzelte Damien, der in diesem Moment im Türrahmen erschien. Mark warf ihm einen kurzen Blick zu, dann sah er wieder zu mir.

„Hallo, Damien“, sagte ich.

„Hallo-o-o.“ Er zog das Wort in vier verächtliche Silben …

Damien hatte sich gerade wieder einmal von seinem Freund getrennt und hasste nun Liebe in allen erdenklichen Formen. „Muriel auf Leitung zwei, Chef.“

Marks Gesicht zeigte eine kurze Regung – vermutlich Ärger. Muriel war die Tochter unseres neuesten Kunden Charles deVeers, Eigentümer und Gründer von Bags to Riches, was ein Wortspiel mit Rags to Riches war – vom Tellerwäscher zum Millionär – und in diesem Fall bedeutete, dass diese Firma Kleidung für Besserverdiener unter anderem aus Plastik-Einkaufstüten herstellte. Es war unser bislang größter Kunde und der wichtigste Auftrag für Green Mountain, deren Kunden sonst nur aus New England kamen. Bags to Riches war in San Diego, Kalifornien, stationiert, und Mark war bereits mehrere Male hin- und hergeflogen. Diese Muriel hatte ich ein einziges Mal gesehen, und das nur kurz, doch vermutlich hätten wir bald öfter das Vergnügen, da Charles seine Tochter gebeten hatte, den PR-Auftrag von Vermont aus zu beaufsichtigen.

Damien, der vor Freude über die Aufgabe, Marks Tage zu organisieren, förmlich zitterte, wartete vergeblich auf einen weiteren Kommentar. „Chef?“, hakte er nun etwas schärfer nach. „Muriel? Weißt du noch? Sie wartet.“

„Dann lassen wir sie eben noch etwas länger warten“, erwiderte Mark gelassen und zwinkerte mir zu. „Das hier ist wichtig. Mach die verdammte Schachtel auf, Callie.“ Damien seufzte so dramatisch, wie nur ein Schwuler es kann, und entfernte sich eilends.

Meine Wangen brannten. Ich öffnete die samtene Schachtel und sah ein Armband aus feinen Silberfäden, die ineinander verschlungen waren wie Efeu. „Oh, Mark, das ist wunderhübsch“, flüsterte ich und fuhr mit dem Finger über das zarte Geschmeide. Ich biss mir auf die Unterlippe und merkte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. „Vielen Dank.“

„Gern geschehen. Du bedeutest mir viel. Das weißt du, Callie, oder?“ Er beugte sich vor, küsste meine Wange, und sofort war jedes Detail für immer in mein Hirn gebrannt: seine weichen, warmen Lippen, der Duft seines Parfüms – Hugo Boss – und die Wärme seiner Haut.

Die Hoffnung, die seit zehn Monaten in Trümmern lag, begann sich neu aufzubauen.

„Denkst du, du schaffst es nachher zu meiner Party?“ Ich versuchte, keck und munter zu klingen, nicht sehnsüchtig und lüstern. Meine Eltern richteten eine kleine Party im Elements aus, dem gemütlichsten Restaurant in der Gegend, und ich hatte alle Arbeitskollegen eingeladen. Wem sollte ich was vormachen? Ich wurde dreißig und konnte ruhig ein paar Geschenke abgreifen.

Mark richtete sich auf, schob auf meiner kleinen Couch einen Stapel Akten beiseite und setzte sich. „Äh … hör mal, ich muss dir was sagen. Muriel hast du doch kennengelernt, oder?“

„Ich habe sie damals das eine Mal gesehen. Sie scheint mir … sehr …“ Hm. Sie hatte ein sexy schwarzes Kostüm getragen und schwarze Killer-High-Heels … echt extrem. „Sehr geschäftsorientiert.“

„Ja, das ist sie. Callie …“ Mark zögerte. „Muriel und ich sind zusammen.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis das zu mir durchdrang. Wieder einmal war ich das dumme Reh, das wie versteinert auf den Laster starrt. Mein Herz schien mit einem Schlag stillzustehen. Einen Moment lang konnte ich nicht atmen. Michelle Obama stand daneben, schüttelte den Kopf und verschränkte mitleidig die Arme. Ich merkte, dass mir der Mund offen stand. Ich klappte ihn zu. „Oh“, hörte ich mich sagen.

Mark sah zu Boden. „Ich hoffe, das ist dir nicht … unangenehm. Im Hinblick auf unsere frühere Beziehung.“

Ich hörte ein weißes Rauschen, einen reißenden Fluss in der Schneeschmelze, der jede Menge Geröll mit sich führt. Er war mit jemandem zusammen? Wie konnte das sein? Wenn das Timing bei Muriel passte, warum dann nicht bei mir? Ach, verdammt!

„Callie?“, fragte er sanft.

Wie war das noch mal mit dem Lastwagen? Manchmal springt das Reh doch auch davon, oder? Es saust in den Wald, als wollte es sagen: Huh, das war knapp! Wie gut, dass nichts passiert ist. Äh … mir ist doch nichts passiert, oder? Ach, wissen Sie was? Eigentlich fühle ich mich ein bisschen seltsam. Ich glaube, ich lege mich eine Weile hin. Und wenn es dann aufwacht, ist es tot.

Eindringlich fuhr Mark fort: „Das Letzte, was ich will, ist, dir wehzutun.“

Sag etwas, kommandierte die First Lady. „Nein, nein“, zwitscherte ich also, „ich habe … Das ist … kein Problem, Mark. Keine Sorge.“ Es fühlte sich an, als ob ich lächelte. Lächelte und nickte. Ja, ich nickte. „Und? Wie lange seid ihr schon … zusammen?“

„Ein paar Monate“, erwiderte Mark. „Es ist … also … ziemlich ernst.“ Er beugte sich vor, nahm das Armband aus der Schachtel und befestigte es um mein Handgelenk. Dabei berührte er die empfindliche Haut an der Innenseite, und ich wäre am liebsten davongesprungen.

In den vielen Jahren, die ich Mark kannte, war er mit keiner einzigen Frau „ein paar Monate“ zusammen gewesen. Ein paar Wochen, ja – und ich glaube, fünfeinhalb waren schon ein Rekord gewesen.

Ah! Mein Körper schien erst jetzt darauf zu reagieren, dass er gerammt worden war. Es schnürte mir die Kehle zu, meine Muskeln spannten sich für den Fluchtreflex, und ein scharfer Schmerz durchfuhr meine Brust. „Genau. Prima. Weißt du was? Ich muss noch meinen Führerschein verlängern lassen. Das hatte ich fast vergessen. Du weißt schon … Geburtstag. Führerschein. Verlängerung um weitere vier Jahre.“ Atme, Callie. „Ist das in Ordnung, wenn ich etwas früher in die Mittagspause gehe?“ Meine Stimme brach, und ich räusperte mich erneut, während ich Marks mittlerweile mitleidigem Blick auswich.

„Aber sicher. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, Callie.“ Die Freundlichkeit in seiner Stimme verursachte mir spontane Mordgelüste. „Es wird nicht lange dauern“, flötete ich. „Danke für das Armband. Bis bald!“

Ich griff nach meiner praktischen pinkfarbenen XXL-Tasche, stand auf und ging zur Tür, sorgsam darauf bedacht, Mark nicht zu berühren, der immer noch auf der Couch saß. „Es tut mir leid, Callie.“

„Aber nein! Du musst dich für nichts entschuldigen“, trällerte ich. „Ich muss los. Die machen heute schon mittags zu. Tschüss!“

Eine halbe Stunde später stand ich in der Schlange der Führerscheinstelle in der Stadtverwaltung und spürte nun die volle Wirkung des emotionalen Überrolltwerdens von dem Mann, den ich liebte … und mittlerweile hasste … aber immer noch liebte. Da sie bedauernd feststellen musste, dass mir nicht zu helfen sei, hatte Michelle Obama mich kurzerhand sitzen lassen, und Betty Boop presste die Lippen zusammen und versuchte, ihre Tränen zurückzublinzeln. Um der Ablenkung willen sah ich mich aufmerksam um. Graue, abgetretene Fliesen. Schmuddelweiße Wände. Die etwa zehn Leute in meiner Schlange waren apathisch, lustlos und depressiv … jedenfalls kam es mir so vor.

Die ganze Szene wirkte wie aus einem französischen Existenzialistenstück. Die Hölle sind nicht die anderen – die Hölle ist die Stadtverwaltung. Roboterartige Beamte schlurften hinter den Schaltern herum, hassten ganz offensichtlich ihr Leben und fantasierten über die einfachste Form von Harakiri oder Veruntreuung, damit sie diesen öden Ort verlassen könnten. Die Uhr an der Wand schien mich zu verhöhnen. Die Zeit verfliegt, mein Kind. Dein Leben zieht an dir vorüber. Alles Gute zum Scheiß-Geburtstag!

Mein Puls beschleunigte, in mir kribbelte es wie in einem Bienenstock voll wütender Bienen. Tränen brannten in meinen Augen, und an meinem Handgelenk baumelte das blöde Geschenk. Ich sollte es einfach abreißen. Es zu einer Kugel schmelzen und Mark damit erschießen. Oder mich selbst. Oder es im Ganzen verschlucken, sodass es sich in meinen Eingeweiden verhedderte und per Notoperation entfernt werden müsste, und dann käme Mark ins Krankenhaus und würde erkennen, wie sehr er mich doch liebte. Nicht, dass ich ihn dann noch genommen hätte! (Aber sicher, Callie! Mrs Obama war wieder da. Du würdest einen Säugling verschlingen, wenn ihn das wieder zu dir zurückbrächte!)

Na ja. Vielleicht keinen Säugling. Aber die Vorstellung, dass Mark mit jemandem zusammen war … ein paar Monate schon … ziemlich ernst … ach, verdammt! Panik lauerte – wie das Maul eines großen weißen Hais, unverhofft und furchterregend. Die blöde Muriel mit ihrem schwarzen Haar und der weißen Haut … ein Vampir in klasse Schuhen! Wann, zum Teufel, hatten sie bloß angefangen, sich zu treffen?

Ach, verdammt! Sollte ich gehen? Nein. Ich musste meinen Führerschein verlängern lassen. Heute war der letzte Tag, an dem ich ohne Strafgebühr davonkam. Und ich hatte mich so chic gemacht – mit rotweiß gemusterter Bluse, rotem Minirock, großen Goldohrringen, selbst mein Haar saß heute perfekt, glänzend und locker … Außerdem, was sollte ich sonst tun? Mich ins Auto setzen und flennen? Gegen einen Baum treten? Einen Elch erwürgen? Dazu war ich nicht der Typ. Die einzige Alternative, die einigermaßen verlockend erschien, war, mich in meinen Schaukelstuhl zu setzen und rohen Kuchenteig zu essen.

Ein trockenes Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Ach, Mist! Verdammter Mist! Bockmist im Quadrat!

„Der Nächste“, rief eine der Amtsdrohnen, und wir alle schlurften fünfzehn Zentimeter weiter. Der Mann hinter mir stöhnte hörbar auf.

Einer plötzlichen Eingebung folgend wühlte ich in der Tasche nach meinem Handy. Wo war es nur? Wo war es, verdammt! Tampon … nein. Hörbuch … nein. Foto von Josephine und Bronte, meinen kleinen Nichten … Selbst ihre niedlichen Gesichter konnten mich jetzt nicht aufmuntern. Wo war das Handy? Ah, da! Ich tippte die Kurzwahltaste von Annie Doyle. Mist! Nur die Mailbox. Irgendwie empfand ich das als persönliche Beleidigung. Wie konnte meine beste Freundin in dieser eklatanten Notsituation nicht erreichbar sein? Hatte sie mich denn nicht mehr lieb?

Der weiße Hai schwamm deutlich schneller, also suchte ich den nächsten passenden Ansprechpartner. Meine Mutter? Oh Gott, nein … das wäre für sie nur die Bestätigung, dass das Y-Chromosom aus der Menschheit getilgt werden sollte. Meine Schwester? Auch nicht viel besser. Aber immerhin besser als nichts. Zum Glück ging Hester sofort ran, obwohl ich wusste, dass sie bei der Arbeit war.

„Hester? Hast du eine Minute Zeit?“

„Hallo, Geburtstagskind! Was gibt’s?“, dröhnte die dauerlaute Stimme meiner Schwester aus dem Handy, und ich hielt es ein Stück von meinem Ohr weg.

„Er ist mit einer anderen zusammen“, legte ich los. „Er hat mir ein wunderschönes Armband geschenkt und mich geküsst, und dann hat er gesagt, dass er mit einer anderen zusammen ist. Schon seit ein paar Monaten, und es ist ziemlich ernst, aber ich liebe ihn noch immer!“

„Himmel, Mädchen, nun reißen Sie sich doch zusammen“, murmelte der Mann hinter mir. Ich wirbelte herum und starrte ihn böse an. Der Typ hob missbilligend die Brauen – Idiot! –, aber ich sagte nichts, denn wir wurden inzwischen von mehreren Wartenden angestarrt. Wunderbarerweise war heute niemand hier, den ich kannte. Die Führerscheinstelle war in Kettering, einem Nachbarort von Georgebury – also wenigstens etwas.

„Sprichst du etwa von Mark?“, fragte Hester nach, als hätte ich im letzten Jahr auch mal von irgendeinem anderen Mann gesprochen. Also gut, den letzten zwei Jahren. Oder vier? Ach, verdammt!

„Ja, Mark ist mit dieser Muriel aus Kalifornien zusammen. Muriel, die Tochter unseres größten Kunden! Ist das nicht toll?“

Der Mann hinter mir räusperte sich geräuschvoll.

„Tja, ich habe ja schon immer gedacht, dass dieser Mark ein Arschloch ist“, meinte Hester.

„Das hilft mir jetzt auch nicht weiter!“, zischte ich. Warum war Annie nicht ans Telefon gegangen? Sie war in solchen Dingen so viel besser. Sie war normal, im Gegensatz zu meiner Schwester.

„Na ja, was soll ich denn sagen? Dass er ein Prinz ist? Wo bist du überhaupt?“, wollte Hester wissen.

„Bei der Führerscheinstelle. In Kettering.“

„Was machst du bei der Führerscheinstelle?“

„Mein Führerschein läuft heute aus. Es stand in meinem Kalender … Führerschein verlängern. Und ich musste da raus … Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.“ Ich unterdrückte ein Schluchzen. „Ach, Hester … Ich hab immer gedacht …“ Krampfartig atmete ich ein und versuchte, leiser zu sprechen. „Er sagte damals, es sei nur falsches Timing gewesen. Er ist noch nie ernsthaft mit jemandem zusammen gewesen. Und jetzt sind sie schon seit einigen Monaten ein Paar!“ Dieser Betrug tat richtig weh, und ich presste eine Hand auf mein geschundenes Herz, während mir heiße Tränen über das Gesicht liefen.

Die Frau vor mir drehte sich um. Sie hatte das wettergegerbte Gesicht und die breiten Schultern einer Milchbäuerin. „Alles in Ordnung, Liebes?“, erkundigte sie sich in breitem Vermont-Akzent.

„Ja, alles okay.“ Meine zitternde Stimme klang wenig überzeugend. Tapfer versuchte ich ein Lächeln.

„Ich hab Sie grad gehört, Sie armes Ding“, sprach sie weiter. „Männer können ja solche Arschlöcher sein. Mein Mann Norman, der setzt sich eines Tages zum Essen hin und sagt, er will die Scheidung und dass er die Sekretärin unten in der Molkerei bumst. Und das, nachdem wir zweiundvierzig Jahre verheiratet waren!“

„Ach, du meine Güte, das tut mir ja so leid“, sagte ich und griff nach ihrer Hand. Sie hatte recht. Männer waren Arschlöcher. Mark war ein Arschloch. Ich sollte wegen ihm keinen Liebeskummer haben. Aber ich liebte diesen Mistkerl immer noch, verdammt!

„Hallo? Ich bin immer noch dran, Callie“, erinnerte meine Schwester mich scharf. „Was willst du denn, das ich sage?“

„Ich weiß auch nicht, Hes … Was soll ich denn jetzt tun?“

„Rausgehen?“, schlug der Mann hinter mir vor.

„Wie soll ich das wissen?“ Hester stieß einen tiefen Seufzer aus. „Die längste Beziehung, die ich je hatte, dauerte sechsunddreißig Stunden. Was, wie du weißt, für mich sehr gut funktioniert hat.“

„Aber, Hes“, erwiderte ich verzweifelt. „Ich werde sie jeden Tag zusammen sehen.“ Die Vorstellung machte mich völlig fertig.

„Ja, das wird sicher ganz schön beschissen“, stimmte meine Schwester zu.

„Sie armes, armes Ding!“ Die ältere Frau vor mir drückte meine Hand.

Die Arbeit wäre nie mehr dieselbe. Green Mountain Media, die Firma, die ich mit aufgebaut hatte, würde nun Muriels Heimat werden. Überhaupt: Muriel! Was für ein blöder Name! Ein Reiche-Mädchen-Name. Kalt und überheblich. Nicht wie Callie, das liebenswert und fröhlich klang!

Ich schluchzte laut auf, und Mr Intolerant hinter mir knurrte. Das reichte. Ich fuhr herum. „Hören Sie, Mister, es tut mir ja leid, wenn ich Sie belästige, aber ich habe einen richtig beschissenen Tag, okay? Verstehen Sie? Mein Herz bricht gerade auseinander!“

„Schon in Ordnung“, erwiderte er kühl. „Machen Sie mit Ihrem emotionalen Durchfall ruhig weiter.“

Oh, was für ein Mistsack! Er sah aus, als hätte er den sprichwörtlichen Stock im Arsch … lief ausgerechnet in Vermont im Anzug herum! Er trug einen langweiligen Militärhaarschnitt, hatte kalte blaue Augen, und mit seinen ausgeprägten slawischen Wangenknochen wirkte er irgendwie hochmütig. Ich drehte mich wieder um. Der konnte natürlich nicht wissen, was es heißt, zu lieben. Unglücklich verliebt zu sein. Abgewiesen zu werden. Das zarte, treue Herz gebrochen zu bekommen.

Nachdem ich bis hierhin gedacht hatte, dämmerte mir allerdings, dass er vielleicht gar nicht so unrecht hatte.

„Ich glaube, ich mache jetzt lieber Schluss“, flüsterte ich meiner Schwester zu. „Ich ruf dich später noch mal an.“

„Okay. Wie blöd, dass das ausgerechnet an deinem Geburtstag passiert. Aber, hör mal, wegen dem Kinderkriegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich kann dich im Handumdrehen schwängern. Ich kenne die besten Samenspender.“

„Ich will von dir nicht geschwängert werden“, platzte ich heraus.

„Du liebe Zeit!“, stöhnte Mr Hohe Wangenknochen.

Die betrogene Milchbäuerin sah mich fragend an.

„Meine Schwester ist Ärztin für Reproduktionsmedizin“, erklärte ich. Ich klappte mein Handy zu und wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. „Eine sehr gute.“

„Oh, wie schön“, kommentierte meine bäuerliche Freundin. „Meine Tochter hatte auch eine künstliche Befruchtung. Hat Zwillinge gekriegt. Jetzt sind sie zu viert.“

„Herzlichen Glückwunsch“, erwiderte ich mit nassen Augen.

„Der Nächste“, dröhnte ein Amtsroboter. Schlurf, schlurf, schlurf. Der Mann hinter mir seufzte erneut.

Plötzlich hatte ich lauter Szenen mit Mark vor Augen – unseren ersten Kuss, als ich vierzehn war; wie er sich Jahre später bei der Arbeit über meinen Computer beugt und mir freundschaftlich die Hand auf die Schulter legt; wie ich erst letzte Woche auf der Farm, die wir promoteten, von Ahornsirup fast betrunken war; unseren ersten Kuss; der schicksalhafte Flug nach Santa Fe; habe ich unseren ersten Kuss schon erwähnt?

Heiße Tränen liefen mir aus den Augen, und ich holte zitternd Luft.

Plötzlich erschien neben meinem Kopf ein sauber gefaltetes Taschentuch. Ich drehte mich um. Mr Intolerant mit den grausamen Wangenknochen bot mir sein Taschentuch an! „Hier, bitte“, sagte er, und ich nahm es. Es war gebügelt. Vielleicht sogar gestärkt. Wer machte so was denn noch? Ich schnäuzte mir geräuschvoll die Nase und sah ihn wieder an.

„Behalten Sie es“, schlug er vor, den Blick über meinen Kopf gerichtet.

„Danke“, quäkte ich.

„Der Nächste“, rief einer der Beamten von seinem Schalter aus. Wir schlurften wieder ein Stück vorwärts.

Eine Ewigkeit später war ich endlich im Besitz eines neuen Führerscheins. Na toll: Für weitere Ewigkeiten würde ich mich bei Polizeikontrollen als entflohene Irre präsentieren … verschmierte Wimperntusche, verquollenes gerötetes Gesicht, schiefes unsicheres Lächeln … So viel zu meinem schicken Outfit!

Als ich die Autoschlüssel aus der Tasche fischte, sah ich, wie die ältere Frau am Ausgang eine dieser riesigen Sonnenbrillen aufsetzte, die man nach einer Operation am grauen Star tragen muss. Ich hatte Mitleid mit ihr. Immerhin war ich nicht von meinem Ehemann betrogen worden. Nach zweiundvierzig Jahren!

„Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir trinken?“, fragte ich sie.

„Wer, ich?“, fragte sie zurück. „Nein, Schätzchen, ich muss wieder arbeiten. Aber ich wünsche Ihnen viel Glück!“

Ich nahm sie spontan in die Arme. „Norman ist ein Idiot“, versicherte ich.

„Und Sie sind ein helles Köpfchen“, entgegnete sie und tätschelte meinen Rücken. „Dieser Mann weiß gar nicht, was er verpasst.“

„Danke.“ Ich hätte schon wieder heulen können. Meine neue Freundin winkte und ging zu ihrem Wagen.

Mein Handy klingelte. Mom. Na toll. „Herzlichen Glück-wunsch zum Geburtstag, Calliope!“, flötete sie.

„Hallo, Mom.“ Ich hoffte inständig, dass sie meiner Stimme nichts anmerkte. Sie tat es nicht.

„Hör zu, ich habe schlechte Nachrichten. Im Elements ist ein Rohr gebrochen, und es gab eine Überschwemmung.“

Leider war das keine so große Überraschung, da das Elements in einem hundertfünfzig Jahre alten Industriegebäude untergebracht war. „Aha“, entgegnete ich. „Eigentlich bin ich sowieso nicht richtig in Stimmung.“ Zumindest würde ich nun keine Geburtstagsfeier mehr über mich ergehen lassen müssen. Ich konnte einfach nach Hause gehen und Kuchenteig essen.

„Sei nicht albern“, zwitscherte Mom. „Ich habe alle schon angerufen. Wir feiern die Party hier.“

Ach, herrje! „Hier? Was meinst du mit hier?“

„Na, im Beerdigungsinstitut, mein Schatz. Wo denn sonst?“

2. KAPITEL

Kaum zu glauben, dass du schon dreißig bist“, sagte meine Mutter am Abend und drückte mir mitfühlend die Hand. „Ach, die Familie von Mr Paulson empfängt heute Gäste im Ruheraum“, fügte sie hinzu, als ein gut gekleidetes Paar verstört meine Geburtstagsluftballons musterte.

„Wie kann unser kleines Mädchen dreißig sein, wo du doch keinen Tag älter aussiehst als fünfundzwanzig, Eleanor?“, murmelte mein Vater an meiner anderen Seite und umarmte mich so stürmisch, dass ich beinahe meinen zweiten Cosmopolitan verschüttet hätte. Mom ignorierte ihn, eine Haltung, die sie seit ihrer Scheidung vor vielen Jahren beibehalten hatte. Dad nahm es wie ein Mann. „Callie, ich habe mich vom ersten Augenblick an in dich verliebt. Du warst so ein hübsches Baby! Und bist es immer noch! Wunderhübsch!“

„Hat … dein Vater … getrunken, Callie?“, erkundigte sich meine Mutter, ohne meinen Vater auch nur eines Blickes zu würdigen. „Falls ja, dann fordere ihn bitte auf zu gehen.“ In diesem Haus war „dein Vater“ ein Synonym für „Drecksack“.

„Hast du getrunken, Dad?“, fragte ich freundlich.

„Nicht viel“, antwortete er gelassen. „Nicht genug, sollte ich vielleicht sagen“, fügte er leiser hinzu.

„Oha“, murmelte ich zurück und nahm einen Schluck meines pinkfarbenen Cocktails. In Anbetracht dessen, dass a) der Mann, den ich liebte, etc., etc., b) Verdis Requiem gespielt wurde, c) meine Party in einem Bestattungsinstitut stieg, hatte ich beschlossen, d) meinen besonderen Abend mit Grey-Goose-Wodka und Cranberrysaft durchzustehen.

Irritiert, dass sie es nicht geschafft hatte, meinen Vater aus der Fassung zu bringen, warf Mom mir einen bösen Blick zu. Achtung! „Die Party ist toll, Mom“, log ich und lächelte lieb.

Versöhnt lächelte sie zurück. „Ich fand schon immer, dass es das schönste Gebäude der Stadt ist“, sagte sie. „Aber ich gehe jetzt lieber mal zu Mr Paulson.“ Damit verschwand sie zur Totenwache in den angrenzenden Raum.

Misinskis Bestattungsinstitut war tatsächlich ein beeindruckendes viktorianisches Gebäude. Im Erdgeschoss war das Bestattungsunternehmen untergebracht, und der erste und zweite Stock dienten als Wohnraum für meine Mutter und seit Kurzem auch für meinen Bruder Freddie. Ich war hier aufgewachsen. Im Keller fanden natürlich all die ekligen Sachen statt. Für meine Mutter war absolut nichts Seltsames daran, eine Geburtstagsfeier neben einer Totenwache abzuhalten; das Unternehmen gehörte ihrer Familie seit drei Generationen, und diese ganze „Der Tod ist ein Teil des Lebens“-Philosophie war unauslöschbar in ihr Gemüt graviert. Was war schon dabei gewesen, als Freddie mit drei Jahren sein Mittagsschläfchen nirgendwo anders als im Sarg halten konnte? Oder dass Mom unseren Thanksgiving-Truthahn im selben Kühlfach aufbewahrte, in dem sie ihre Kunden lagerte?

Draußen schien die Sonne – Vermont genoss seine zwei Wochen Sommer. Der Himmel war strahlend blau, die Luft roch frisch nach Kiefern. Nun ja, hier drin … nicht so sehr. Das Bestattungsinstitut war wie eine Zeitblase, in der sich nie etwas änderte. Der Geruch von Lilien, der Klang trauriger klassischer Musik, der Anblick dunkler schwerer Möbel … die Särge … die Toten … Ich seufzte.

„Und? Wie geht’s meinem hübschen Mädchen?“, wollte Dad wissen. „Meinen Scheck hast du bekommen, oder?“

„Ja, hab ich, danke. Vielen herzlichen Dank, Dad! Und es geht mir prima.“ Ich hatte mir angewöhnt, in Anwesenheit meiner Eltern immer fröhlich zu sein, auch wenn das hin und wieder ein paar Lügen erforderte.

„Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen, Pudelchen?“, fragte Dad, während er jemandem auf der anderen Seite des Andachtsraumes zuwinkte.

„Sicher, Daddy.“ Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter.

„Nun, da ich im Ruhestand bin, will ich eure Mutter wieder.“

„Wieder was?“, fragte ich nach, in der Annahme, es ginge um Rache.

„Wieder zurückerobern. Sie umwerben. Verführen.“

Abrupt richtete ich mich wieder auf. „Oh. Ja, also … nein. Für den Fall, dass du es vergessen hast: Sie ist … äh … sie hasst dich, Dad.“

„Aber nein!“ Er grinste. „Na ja, vielleicht denkt sie das. Aber deine Mutter ist die einzige Frau, die ich je geliebt habe.“ Er zwinkerte auf seine eigene, charmante Art. Dad war ein gut aussehender Kerl, silbergraues Haar, dunkle Augen, nette Grübchen. Ich sah ihm sehr ähnlich, von dem grauen Haar einmal abgesehen. (Aber das wird bald kommen! schluchzte Betty Boop. Und Mark hat eine andere!)

„Das halte ich für keine gute Idee, Daddy.“ Ich nippte an meinem Drink.

„Warum nicht?“ Mein Mangel an Begeisterung schien ihn zu irritieren.

„Vielleicht, weil du sie betrogen hast, als sie mit Freddie schwanger war. Das ist natürlich nur so eine Vermutung.“

Er nickte. „Das war keine Glanzleistung, ich weiß.“ Er hielt inne und leerte sein Glas. „Ein Riesenfehler. Aber mittlerweile habe ich zweiundzwanzig Jahre dafür gebüßt. Ich hoffe, sie wird mir vergeben.“

„Liebst du sie wirklich noch, Dad?“

„Aber natürlich! Ich habe nie damit aufgehört.“ Er drückte mich. „Du hilfst mir doch, oder?“

„Oh. Ich weiß nicht … Der Zorn einer Mutter … du weißt schon.“ Wenn Mom böse war, kam man sich vor wie in einem Tornado der Stärke fünf … Schlimme Dinge konnten einem an den Kopf fliegen, man wurde verletzt …

„Ach, komm schon, Pudelchen“, bat Dad. „Ich dachte, wir sind uns da ähnlich. Wir sind Romantiker, oder? Hester kann ich ja, weiß Gott, nicht fragen.“

„Das stimmt.“ Immerhin war Dads schlechtes Beispiel der Grund, weshalb meine Schwester sich darauf spezialisiert hatte, Frauen in Abwesenheit eines Mannes zu schwängern. „Aber, Dad … mal im Ernst? Denkst du wirklich, ihr könnt diese ganzen … Sachen hinter euch lassen?“

Auf einen Schlag wurde das sonst immer fröhliche Gesicht meines Vaters ernst. „Wenn ich noch mal von vorn anfangen könnte“, sagte er ruhig und sah auf sein Glas, „würde ich alles anders machen, Callie. Wir waren einmal sehr glücklich, und ich … na ja.“ Es war, als würde in seinen Augen das Licht ausgeschaltet.

„Ach, Daddy“, seufzte ich mitfühlend. Ich war acht gewesen, als meine Eltern sich trennten, und spürte nur, dass meine Welt auseinanderbrach. Jahre später, als Hester mich über das Warum aufklärte, war ich schockiert und böse auf meinen Vater gewesen … Aber er war tatsächlich schon sehr lange dafür bestraft worden. Hester hatte jahrelang kaum mit ihm gesprochen, und meine Mutter wetzte bei jeder Gelegenheit die Messer, was ihr gutes Recht war. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich meinen Vater nicht hassen. Seine Untreue war ein Rätsel, um das ich mir lieber keine Gedanken machte. Soweit ich wusste, war mein Vater trotz seines Cary-Grant-Charmes und den funkelnden Augen seit der Scheidung allein geblieben. Nie hatte ich eine Freundin an seiner Seite gesehen oder auch nur von einer Verabredung zum Essen gehört. Tatsächlich schien es, als hätte mein Vater noch vor Freddies Geburt angefangen, für seine Tat zu büßen.

„Sie hat mich auch einmal geliebt“, sagte Dad ruhig, fast wie zu sich selbst. „Ich kann sie wieder daran erinnern, warum.“

Ja. Irgendwo versteckt und abseits der Erinnerungen an Moms Heulorgien auf der Couch oder himmelschreiende Flüche über meinen Vater, als Freddie fünf Monate an Koliken litt, waren auch schöne Szenen abgespeichert. Mom, wie sie auf Dads Schoß saß. Wie die beiden im Wohnzimmer tanzten, ohne Musik, wenn Dad von einer langen Geschäftsreise nach Hause kam. Ihr Lachen, das aus dem Schlafzimmer drang und so tröstlich und beruhigend war wie der Duft von frischem Vanillekuchen.

„Wirst du mir helfen, Pudelchen?“, fragte Dad noch einmal. „Bitte, mein Schatz.“

Ich atmete tief durch. „Also gut. Mach ich. Es wird ein Kampf gegen Windmühlen werden, aber ich helfe dir.“

Dad begann zu strahlen und sah wieder aus wie ein charmanter George Clooney. „Das ist mein Mädchen. Du wirst schon sehen, ich kriege sie.“ Er gab mir einen Schmatz auf die Wange, und ich musste schmunzeln. Zweiundzwanzig Jahre waren als Strafmaß ja wohl wirklich genug, oder? Dad hatte eine zweite Chance verdient.

Ich aber auch, verdammt! Betty Boop hörte auf zu flennen und schien mich erstaunt anzusehen. Tatsächlich? Wirklich und ehrlich?

„Willst du noch einen Drink?“, fragte mein Vater und trabte, ohne eine Antwort abzuwarten, zur provisorischen Bar in der Ecke.

Auf einmal fühlte ich mich besser. Mein Vater wollte die Liebe seines Lebens zurückerobern. Das sollte ich auch versuchen. Damals hatte Mark mich auserwählt … Vielleicht war ich in jenen fünf Wochen zu … gefühlsduselig oder klammernd oder was weiß ich gewesen. Seit Santa Fe schmachtete ich ihm nun schon hinterher. Vielleicht sollte ich mich einfach wieder in die fröhliche, pfiffige, liebenswerte Frau von vorher zurückverwandeln, und Mark würde erkennen, dass ich die Richtige für ihn war, nicht Muriel. Vielleicht würde es helfen, wenn er mich mal mit einem anderen sehen würde.

Der … wie hatte der Mann bei der Führerscheinstelle es genannt? … ach ja, der emotionale Durchfall war reinigend gewesen. Alles war wieder gut, wie man Kindern sagte. Oder würde wieder gut werden. Ich konnte jemand anderen finden. Selbst wenn Mark mich nicht mehr wollte – ich zuckte zusammen, blieb aber ruhig –, könnte ich einen anderen finden. Jawohl! Keine depressiven oder bitteren Gedanken mehr! Schließlich war ich Callie Grey, die einstige Abschlussballkönigin! Alle mochten mich. Wirklich!

„Sieht das nicht hübsch aus?“, fragte Josephine, nahm meine Hand und deutete auf die Dekoration. Meine fünfjährige Nichte war heute wie eine kleine Popstar-Schlampe gekleidet, mit Netzjäckchen über dem Leoparden-Body, pinkfarbenem Rüschen-Minirock und Flipflops.

„Wunderhübsch“, antwortete ich lächelnd. „Fast so hübsch wie du.“ Sie strahlte mich an, und ich tippte ihr auf die Stupsnase.

Der Andachtsraum war mit gelben und pinkfarbenen Wimpeln geschmückt. Farblich passende Luftballons hingen vor dem Buntglasfenster, auf dem der von den Toten erweckte Lazarus abgebildet war, und auf dem Tisch, auf dem normalerweise der Sarg abgestellt wurde, stand nun meine Geburtstagstorte. Bronte hatte ein großes Banner bemalt, auf dem „Alles Gute zum Dreißigsten“ stand.

Es waren eine Reihe Freunde und Verwandte da und außerdem ein paar verwirrt aussehende Leute, die vermutlich zur Totenwache im Ruheraum gehörten. Auch Freddie war gekommen, mein Bruder, der sich gerade ein Jahr von der Uni freinahm, wo er bislang offenbar hauptsächlich Schwänzen und Saufen studiert hatte. Er hob sein Glas in meine Richtung und winkte. Meine Schwester, die ein bisschen wie ein Nilpferd gebaut war, stand neben ihm, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hielt sie ihm wohl gerade eine Standpauke. Pete und Leila, meine unzertrennlichen Kollegen, begutachteten gerade die Käseplatte.

„Herzlichen Glückwunsch, Calliope“, ertönte eine tiefe und beunruhigend sanfte Stimme hinter mir. Ich bekam eine Gänsehaut. „Du siehst heute sehr hübsch aus. Geradezu perfekt.“

„Danke, Louis“, murmelte ich und sah mich sofort hilfesuchend nach Schwester, Bruder, Vater, Mutter, Freund oder Freundin um (oder Priester für den Fall, dass Louis tatsächlich ein Untoter war, der von einem Geistlichen exorziert werden musste).

Louis Pinser war der Assistent meiner Mutter, und sie hielt große Stücke auf ihn, aber da war sie die Einzige. Da ihre Kinder sich allesamt geweigert hatten, in das Familienunternehmen einzusteigen, hatte sie anderweitig suchen müssen. Und anderweitig (sicher unterirdisch, feucht und düster, wie ich mir vorstellte) fand sie dann Louis, einen großen, leicht dicklichen Mann mit beginnender Glatze, grünen Glupschaugen und der erforderlichen tiefen und beruhigenden Stimme eines typischen Bestatters. Einmal hatte ich gehört, wie er auf der Toilette übte: „Ihr Verlust tut mir außerordentlich leid, Ihr Verlust tut mir außerordentlich leid.“ Natürlich fand er mich außerordentlich attraktiv. Alle seltsamen Männer taten das.

„Ich würde gern mit dir ausgehen, um deinen Geburtstag richtig zu feiern“, murmelte er und starrte auf meine Brüste. Er hob sein Glas und suchte mit der Zunge nach dem Strohhalm, während er mir weiter auf den Busen starrte. Igitt!

„Aha. Ja … das ist ganz lieb von dir“, sagte ich. „Aber ich bin so … das war eine verrückte … du weißt schon. Viel Arbeit. Und so Sachen. Was ist?“ Ich tat so, als hätte ich etwas gehört. „Ja, Hester? Du willst mich sprechen? Aber sicher!“ Schwupp, eilte ich in den Vorraum, in den ich Hester gerade hatte entschwinden sehen, und atmete ein paar Mal tief durch.

„Nein, du darfst dir das Haar nicht glätten“, sagte Hester gerade zu ihrer ältesten Tochter. „Nächste Frage?“

Bronte drehte sich zu mir um. „Findest du nicht auch, dass ein Teenager mit seinem Haar das machen darf, was er will?“, erkundigte sie sich in der Hoffnung auf Zustimmung.

„Ähm … Mütter wissen das am besten?“, schlug ich vor.

„Sei du mal die einzige Schwarze in der Schule!“, knurrte Bronte. „Und dann noch mit diesem blöden Namen!“

„Hör mal“, erwiderte ich, „du sprichst hier mit deiner Tante Calliope, benannt nach Homers Muse. Was Namen angeht, kannst du von mir kein Mitleid erwarten.“

„Und ich bin nach der Schlampe in Der scharlachrote Buchstabe benannt!“, kommentierte Hester. „Immerhin trägst du den Namen einer tollen Schriftstellerin. Den noch nicht einmal ich ausgesucht habe, wie du sehr wohl weißt.“ Bronte war sieben gewesen, als Hester sie adoptierte. Obwohl meine Schwester künstliche Befruchtungen durchführte und ihre Kinder auf diese Weise hätte bekommen können, hatte sie ihre beiden Kinder adoptiert. Brontes biologischer Vater war Afroamerikaner, ihre Mutter Koreanerin und das Ergebnis ein umwerfend hübsches Mädchen. Da Vermont allerdings der weißeste Staat der Staaten ist, war ihr ihre Andersartigkeit mittlerweile deutlich bewusst, vor allem seit der Pubertät, wo das Aussehen auf einmal ungeheuer wichtig wird. Josephine dagegen war weiß und sah Hester rein zufällig ausgesprochen ähnlich.

„Tja, mit sechzehn werde ich mich in Sheniqua umbenennen“, verkündete Bronte und sah uns herausfordernd an.

„Das klingt toll“, erwiderte Hester ruhig, worauf Bronte sich enttäuscht verkrümelte. Meine Schwester sah mich fragend an. „Alles okay bei dir?“

„Aber ja“, log ich, auch wenn die Frage mir einen Stich versetzte. „Viel besser. Danke, dass du mir heute Nachmittag zugehört hast.“

In diesem Augenblick kam meine Mutter aus dem Ruheraum. „Habt ihr beiden zufällig Mr Paulson gesehen?“, erkundigte sie sich nach dem Mann, für den gerade Totenwache gehalten wurde. „Hervorragende Arbeit! Louis ist ja so talentiert.“ Sie eilte davon.

„Herzlichen Glückwunsch, Callie“, sagte Pete, der gerade aus dem Andachtsraum kam, seine Angebetete wie immer dicht an seiner Seite. „Wir würden ja gern noch bleiben …“

„… aber wir müssen leider gehen“, beendete Leila seinen Satz. Nervös blickte sie in den anderen Raum, in dem Mr Paulson im offenen Sarg zu sehen war.

„Danke, dass ihr gekommen seid.“ Ich lächelte freundlich.

„Callie, weißt du eigentlich, wann Muriel anfängt?“, wollte Pete wissen.

Ich wurde rot. „Nein, weiß ich nicht“, erwiderte ich mit gespielter Gleichgültigkeit. Die jungen Liebenden tauschten Blicke. Arme Callie. Lass uns so tun, als wüssten wir nichts von Mark und ihr.

„Dann bis Montag, Callie“, murmelten die beiden gleichzeitig. „Und noch ein schönes Wochenende.“

Eng umschlungen schlichen sie davon, hinaus in Sonnenschein und frische Luft. Noch ehe die Tür zuschlug, tauchte eine höchst willkommene Person auf.

„Komm mit nach draußen“, sagte meine beste Freundin. „Ich habe Wein dabei, und die Luft ist fantastisch. Warum sollen wir an deinem Geburtstag in einem beschissen muffigen Bestattungsinstitut hocken?“ Obwohl Annie Bibliothekarin an einer Schule war, fluchte sie – außer Reichweite von Kinderohren, versteht sich – wie ein Pirat im Vollrausch, wofür ich sie besonders liebte.

Es war wirklich wunderschön draußen, und Annie hatte tatsächlich eine Flasche Wein und einige Pappbecher dabei. Sie umarmte mich kurz und zog mich dann um das Haus herum in den Garten.

„Hallo, was ist denn da los? Schleichst du dich etwa schon davon und verzichtest auf den Geburtstagsthron, Callie?“

Annie schnitt eine Grimasse. „Hallo“, sagte ich. „Komm mit, Fleur. Es ist so schön hier draußen.“

Fleur und Annie waren beide meine Freundinnen. Annie kannte ich schon seit Kindertagen. Mit dreiundzwanzig hatte sie ihre Jugendliebe geheiratet und ein Jahr später Seamus bekommen, mein geliebtes Patenkind. Sie war wunschlos glücklich. Fleur dagegen war Single wie ich, und hin und wieder beklagten wir über einem Mittagessen oder Feierabenddrink gemeinsam das elende Single-Dasein. Sie war ziemlich witzig, und da sie während ihres Studiums drei Wochen in England verbracht hatte, sprach sie gelegentlich mit aufgesetztem britischem Akzent. Die zwei Frauen mochten einander nicht besonders.

Wir setzten uns an den Gartentisch, den Mom noch immer unter dem großen Ahorn aufgestellt ließ, auch wenn meines Wissens keiner mehr daran saß und aß. Über uns sang eine Walddrossel, und eine neugierige Meise beobachtete uns.

„Also. Das mit Mark und Muriel ist nicht gerade amüsant, hm?“ Fleur zündete sich eine Zigarette an, inhalierte genüsslich und blies den Rauch weg von Annie und mir.

„Nein.“ Dankbar nahm ich den Pappbecher voll Wein entgegen.

„Ohne ihn bist du viel besser dran“, kommentierte Annie entschieden, reichte Fleur einen Becher und schenkte sich dann selbst etwas ein. Sie hatte am Nachmittag eine lange E-Mail mit detaillierter Schilderung meines Unglücks erhalten. „Er ist ein Arschloch.“

Ich seufzte. „Das Problem ist nur, dass er es nicht ist.“

„Nein, wirklich nicht“, echote Fleur.

„Callie, es tut mir leid, aber ich hasse ihn. Er hat dich abserviert, irgendeinen Blödsinn über Timing gefaselt, und jetzt hat er eine andere. Arsch. Loch.“ Über ihre goldene Brille hinweg funkelte sie uns aufgebracht an.

„Gut, da ist was dran“, lenkte ich ein. „Aber das sind nur Details. Mark ist … Er ist …“ Ich seufzte. „Irgendwie perfekt.“

„Jetzt verteidigst du ihn auch noch“, brummte Annie. „Mein Gott, wie erbärmlich!“

„Du klingst wie mein Großvater“, sagte ich.

„Es kann schließlich nicht jeder seinen Märchenprinzen aus der dritten Klasse heiraten, oder?“, meinte Fleur zu Annie. „Für den Rest von uns ist die Auswahl leider beschränkt. Verglichen mit allem anderen, was da draußen so rumläuft, ist Mark ganz prima. Und wenn er die Liebe ihres Lebens ist, sollte sie sich auf ihn stürzen, oder, Callie?“

„Tja, ich finde, du kannst einen Besseren kriegen“, meinte Annie treuherzig. „Du musst bloß mal ein bisschen suchen, Callie. Einen anderen finden.“

„Oder noch besser“, fiel Fleur ein, „du eroberst ihn zurück. Zeig ihm, wie toll du bist. Finde einen anderen, mach Mark eifersüchtig und – bums! – bist du wieder im Geschäft.“

Obwohl ich vorhin dasselbe gedacht hatte, schwieg ich jetzt.

„Nein. Lass ihn hinter dir, Callie“, riet Annie. „Du hast was Besseres verdient. Schreib’s auf und häng’s dir an den Spiegel: Ich hab was Besseres verdient als dieses Arschloch Mark!

„Willst du etwa flachgelegt werden, Calorie?“, warf mein Bruder dazwischen, der plötzlich in der Hintertür stand. „Meine früheren Klassenkameraden finden dich alle heiß. Du könntest dir einen jungen Stecher angeln, wie wäre das?“

„Dafür bin ich selbst noch zu jung“, erwiderte ich. „Ich bin doch erst dreißig. Außerdem will ich jemanden, der nicht mehr bei seiner Mutter lebt.“ Ich wandte mich wieder an meine Freundinnen. „Ist Gerard Butler noch Single?“

„Jetzt greifst du aber ein bisschen nach den Sternen, Schätzchen“, murmelte Fleur. Hmpf.

„Wie wär’s mit Kevin Youkilis?“, schlug Freddie vor und kam zu uns an den Tisch. „Dann würden wir immer Tickets für die Sox kriegen.“

„Nee“, meinte Annie. „Der hat einen Eierkopf. Denk doch bitte an deine zukünftigen Nichten und Neffen, Freddie! Aber wie wäre es mit diesem süßen Mittelfeldspieler? Ellsbury. Der ist heiß!“

Während meine Freundinnen und mein Bruder immer haarsträubendere Vorschläge machten, dachte ich nach. Annie hatte recht. Ich musste über Mark hinwegkommen. Seit Monaten hatte ich nun schon Liebeskummer. Ich hatte viele Tränen um Mark Rousseau vergossen, viele schlaflose Nächte verbracht, viel rohen Kuchenteig gegessen. Die Arbeit wäre in Zukunft die reinste Hölle, wenn ich mich nicht aus seiner Macht über mein Herz befreite. So wie jetzt wollte ich mich nicht viel länger fühlen: allein in einer Liebesbeziehung für zwei.

Selbst wenn er sich wie der Richtige angefühlt hatte. Selbst wenn ich immer gedacht hatte, dass wir zusammen alt werden würden. Selbst wenn er mein Herz noch immer fest im Griff hatte.

3. KAPITEL

Als ich später in der Nacht nach Hause kam, stolperte ich über eine Beinprothese, was mich nicht weiter überraschte. „Noah!“, rief ich laut. „Wenn du dir nicht angewöhnst, dein Bein wegzuräumen, werd ich dich eines Tages noch damit erschlagen.“

„Ja, ja, schon recht. Hau dem Krüppel noch eins drauf!“, ertönte die heisere Stimme meines Großvaters aus dem Wohnzimmer.

„Du denkst wohl, ich mache Witze, wie?“

Bowie, mein Husky-Mischling, kam aus der Küche gesprungen, fiepte vor Freude und Hundeliebe, schlug mir seine Rute gegen die Beine und verlor dabei jede Menge Haare. „Hallo, Bowie“, grüßte ich in meiner speziellen Hundestimme zurück. „Ja, ich hab dich auch lieb! Ja, mein Hübscher! Ganz doll lieb!“ Nachdem Bowie mich abgeleckt, mir gegen das Kinn gestupst und sich etwa ein Dutzend Mal um die eigene Achse gedreht hatte, lief er ins Wohnzimmer. Ich hob Noahs künstliches Bein auf und folgte meinem treuen Hund.

„Der Arzt hat gesagt, du sollst die tragen“, mahnte ich und gab meinem Großvater einen Kuss auf die bärtige Wange.

„Ach, scheiß auf den Arzt“, erwiderte Noah munter. Sein Stumpf lagerte auf einem Stapel Kissen.

„Nicht fluchen, Grumpy“, sagte ich. „Macht dein Bein Probleme?“

„Dass ich kein Bein habe, macht Probleme“, konterte er. „Aber auch nicht mehr als sonst.“ Er rieb bedächtig über den Stumpf, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.

Noah war Bootsbauer, Gründer und einziger Mitarbeiter von Archenoah (ein Name, den ich mir mit vier Jahren ausgedacht hatte, worauf ich immer noch stolz war). Seine Boote waren Legenden – wunderschöne hölzerne Ruderboote, Kajaks und Kanus, jedes einzelne von ihm entworfen, eigenhändig gebaut und für Tausende von Dollar pro Stück verkauft. Hier oben in der nordöstlichsten Ecke von Vermont mit seinen wilden Flüssen war Noah fast so etwas wie ein Gott.

Unglücklicherweise hatte er vor zwei Jahren einen Schlaganfall gehabt. Noch unglücklicher war, dass er dabei gerade mit einer mobilen Kreissäge arbeitete und sich so heftig ins Bein sägte, dass es knapp oberhalb des Knies amputiert werden musste. Der Arzt hatte die Familie einberufen und eine Einrichtung für betreutes Wohnen empfohlen. Noah, der seit dem Tod meiner Großmutter allein gelebt hatte, war bleich geworden. Ohne nachzudenken, hatte ich daraufhin angeboten, bei ihm einzuziehen, bis er sich an die neue Situation gewöhnt hätte. Und selbst wenn der griesgrämige alte Kauz das nie zugeben würde, dachte ich doch, dass er sich gefreut hatte.

Noah sah die Wiederholung einer berühmten Doku-Serie über Krabbenfischer. Wir beide liebten Reality-TV, und dies war unsere absolute Lieblingsserie. Während sich die harten Männer aus Alaska durch die Beringsee kämpften, setzte ich mich gemütlich auf die Couch und kraulte meinem Hund den Kopf. Bowie hatte ein braunes und ein blaues Auge, was ich äußerst charmant fand. Ich warf ihm durch die Luft einen Kuss zu, und er drehte mir sofort seine süßen dreieckigen Ohren zu, als würde ich ihm gleich die wichtigste Botschaft der Welt eröffnen. „Du“, sagte ich, „bist ein ganz braver, ganz lieber Hund.“ Und mal ehrlich: Welche Botschaft konnte wichtiger sein als diese?

Als ich mich umsah, merkte ich, dass Noah meine Bitte, die Wohnung möglichst aufgeräumt zu halten, wie üblich ignoriert hatte. Zerfledderte Zeitungsseiten lagerten um seinen Sessel sowie eine Schüssel mit einer Pfütze geschmolzener Eiscreme und eine leere Bierflasche. Lecker.

Noah und ich wohnten in einer alten Mühle. Die eine Hälfte war seine Werkstatt, die andere unsere Behausung. Im Erdgeschoss gab es eine Küche, ein Wohnzimmer und einen riesigen Raum mit zwölf Meter hoher Decke und dicken Balken. Ringsherum verlief auf Höhe des zweiten Stockwerks eine Art Galerie mit Geländer, von der aus man in zwei Schlafzimmer gelangte. Meines war ziemlich groß und sonnig, mit viel Platz für mein Bett, den Schreibtisch und meinen Schaukelstuhl, von dem aus ich durch die zwei großen Fenster den Trout River überblicken konnte. Außerdem hatte ich ein tolles Badezimmer, komplett mit Jacuzzi und separater Dusche. Noahs Zimmer war ein Stück weiter vorn, und zum Glück hatte auch er ein eigenes Bad. Schließlich kann eine Enkeltochter auch nicht alles ertragen.

In der Werbepause drückte Noah die Stummtaste. „Und? Hattest du eine schöne Feier?“

Ich zögerte. „Na ja … die Party fand im Bestattungsinstitut statt. Mom und Dad waren beide da. Es war nett.“

„Klingt nach einem Bad im Haifischbecken“, erwiderte er trocken.

„Du hattest recht damit, zu Hause zu bleiben“, bestätigte ich ihm. Noah mied Familienzusammenkünfte, als wären sie Brutstätten für Ebola. Zu meinem Vater, seinem Sohn, hatte er kein besonders gutes Verhältnis. Dads Bruder Remy war mit zwanzig Jahren bei einem Autounfall gestorben, und aus dem wenigen, das Dad erzählt hatte, hörte ich heraus, dass Remy genau der Sohn gewesen war, den Noah sich immer gewünscht hatte: kernig, ruhig, handwerklich begabt. Mein Vater dagegen hatte sein Leben damit verbracht, als Pharmavertreter anderen Leuten Honig um den Bart zu schmieren. Und natürlich war da die Scheidung. Noah, der meine Großmutter verehrt und sie aufopfernd durch das Grauen des Bauchspeicheldrüsenkrebses gepflegt hatte, war strikt dagegen gewesen. „Ich habe dir aber Kuchen mitgebracht“, fügte ich hinzu.

„Wusst ich’s doch, dass ich dich nicht umsonst hierbehalten habe“, knurrte er. „Hier.“ Er griff in seine Brusttasche und zog ein kleines, handgeschnitztes Tier heraus … einen Hund. Einen Husky.

„Oh! Danke, Noah, danke, danke!“ Ich gab ihm einen Kuss, den er mit einem Brummen quittierte. Seit ich mich erinnern kann, schenkte er seinen Enkeln – und Urenkeln – diese kleinen Tiere. Ich hatte also schon eine hübsche Sammlung.

„Du wirkst niedergeschlagen“, stellte Noah fest. Von einem Mann, der sich wenig mit Stimmungen, geschweige denn deren Analysen abgab, klang das ziemlich hellsichtig. Tatsächlich war Noah der am wenigsten gefühlsduselige Mensch, den ich kannte. Nie sprach er über meinen Onkel Remy, aber es stand ein Bild von ihm in Noahs Zimmer – das einzige dort, das er nie abstauben musste. Als Granny starb – damals war ich sechs –, vergoss er keine einzige Träne. Dennoch war sein Kummer spürbar. Ich hatte ihm monatelang jede Woche eine Karte gemalt, um ihn aufzumuntern. Selbst als die Bandagen um sein Bein das erste Mal abgenommen wurden, sagte er nur: „Verdammt hässlich!“ Kein Selbstmitleid, keine rührselige Trauer um sein verlorenes Bein. Dass er nun meine emotionale Befindlichkeit kommentierte, war … geradezu schockierend!

Ich starrte ihn an, aber er wandte den Blick nicht vom stumm gestellten Fernseher. „Äh … nein. Alles in Ordnung.“ Ich sah auf mein Handgelenk, an dem ich noch immer Marks Geschenk trug, erbärmlich, wie ich bin. „Aber ich finde, ich sollte mir vielleicht einen …“ – das Wort „Freund“ klang irgendwie lahm – „… einen passenden Partner suchen.“ Herrje, das klang auch nicht besser. Eigentlich sogar noch schlimmer. „Magst du nicht deinen reichen Schatz an Erfahrung mit mir teilen?“

„Tu’s nicht“, erwiderte er. „Das gibt nichts als Kummer und Elend.“ Unter seinem weißen Bart (Noah sah wie ein unterernährter und möglicherweise obdachloser Weihnachtsmann aus) begann sein Mund zu zucken. „Du kannst für immer hier wohnen bleiben und dich um mich kümmern.“

„Und ich liebe es, mich um dich zu kümmern“, sagte ich. „Wie wäre es mit einer netten Darmspülung vor dem Schlafengehen?“

„Werd nicht frech, Klugscheißer.“

„He, sei lieb zu mir. Ich bin heute dreißig geworden“, erinnerte ich ihn. Bowie leckte mir die Hand und drehte sich dann auf den Rücken, sodass sein großer weißer Bauch zum Streicheln neben mir lag.

„Andererseits wäre es vielleicht auch nicht schlecht, wenn du in deinem Leben mal einen Schritt weitergehst, Callie“, sagte Noah dann überraschend. „Du musst nicht für immer hierbleiben.“

„Aber wer würde es denn sonst mit dir aushalten?“

„Das ist natürlich ein Argument. Willst du die ganze Nacht weiterreden, oder kann ich jetzt sehen, wie Jonathan diesen Typen rettet?“

„Ich gehe ins Bett. Brauchst du noch etwas?“

„Nein, alles bestens.“ Er riss sich kurz vom Fernseher los und sah mich an. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Schöne.“

Ich stutzte. „Wow! Ist es so schlimm?“

Sein Bart zuckte. „Ich gebe mir Mühe.“

Wenige Minuten später saß ich gewaschen und geputzt in meinem bequemsten Schlafanzug (rosa-gelb gestreifte Shorts, gelbes Oberteil) im Schaukelstuhl. Der dreißigste Geburtstag war ein einschneidendes Ereignis für eine Frau. Außerdem musste ich … ich weiß nicht. Dinge verarbeiten. Und dafür gab es keinen besseren Platz als meinen Morelock-Stuhl, den ich genau zweiundzwanzig Jahre zuvor geschenkt bekommen hatte.

Vermont besteht aus zwei Teilen, dem alten und dem neuen Vermont. Im alten Vermont lebten herbe, knarzige Typen, die gern den typischen Dialekt ohne „R“ sprachen und dreißig Jahre lang mit demselben uramerikanischen Pick-up herumfuhren. Sie spürten keine Kälte und waren gegen Kriebelmücken immun. Zu ihnen gehörte Noah – es konnte sein, dass er mit seinem Nachbarn kein Wort wechselte, aber falls dieser Nachbar krank wurde, ging er hin und hackte und stapelte ihm fünf Klafter Holz. Im neuen Vermont … tja, da lebten Menschen, die Volvos und Toyotas fuhren, teure Bergwanderschuhe kauften und ihre Wäsche demonstrativ umweltbewusst an der Luft trocknen ließen. Sie waren freundlich und fröhlich … und damit ganz das Gegenteil von Noah.

David Morelock gehörte ebenfalls zum alten Vermont. Er war Tischler und Langzeitfreund meines Großvaters. Eines Sommers machte zufällig ein Reporter Urlaub in St. Albans, wo Mr Morelock lebte, kam in sein Möbelgeschäft, erfuhr, dass Mr Morelock keine reguläre Ausbildung hatte und nicht einmal elektrisches Werkzeug benutzte – er ging einfach jeden Tag in seine Werk...

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