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Mord am Köhlbrand

Als Buch hier erhältlich:

Mord zwischen Containern und Hafenkränen

Bei ihrer Teilnahme am Hamburger Köhlbrandbrückenlauf entdeckt Kommissarin Svea Kopetzki plötzlich unter der Brücke etwas im Wasser treiben – eine Wasserleiche. Sie bricht den Lauf ab und kehrt direkt zu ihrer Arbeit bei der Mordbereitschaft zurück. Weil der Tote ein bekannter Drogendealer ist, wird sofort ein gemeinsames Ermittlungsteam mit Zoll und LKA gebildet. Befinden sich etwa zwei rivalisierende Banden im Drogenkrieg? Oder steckt mehr dahinter?


  • Erscheinungstag: 24.01.2023
  • Aus der Serie: Svea Kopetzki
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904754
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Wie eine Marionette sackte das Schwein vor ihm zusammen. Kein Aufbäumen, kein Röcheln. Alle Fäden gleichzeitig gekappt.

Den Revolver im Anschlag, streifte er den zweiten Handschuh über und kontrollierte die Einschusslöcher. Mitten ins Herz. Zwei Mal. Er presste die Finger an den Hals. Kein Puls.

Als würde er plötzlich auftauen, begann seine Haut zu prickeln. Wärme durchströmte ihn, seine Wangen glühten. Dabei waren es höchstens zehn Grad, der Wind zauste sein Haar, eine Böe zerrte an den Büschen, die ihn von der Straße abschirmten.

Er hatte die Stelle gut gewählt. Trotzdem, so konnte er das Schwein nicht liegen lassen. Zu viel Schiffsverkehr. Bei Tageslicht von der Wasserseite leicht einzusehen.

Er trat dem Toten gegen die Hüfte, schob ihn mit dem Fuß an die Kaikante. Ein Tritt, ein letzter Schubs. Platschend fiel er ins Wasser und versank.

Das hatte er erledigt.

Endgültig.

Er schraubte den Schalldämpfer vom Revolver, verstaute beides in seiner Tasche. Dann zog er die Handschuhe aus und stopfte sie in die mitgebrachte Plastiktüte. Unterwegs würde er sie in einen Mülleimer werfen.

Jäh überkam ihn die Lust, eine zu rauchen. Aber das verkniff er sich besser. Stattdessen vergrub er die Hände in den Hosentaschen und ging leise pfeifend davon. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Ein Spaziergänger an einem ganz normalen Abend. Ein Mann nach getaner Arbeit.

Ein Puppenspieler auf dem Heimweg.

1

Svea Kopetzki lief über die Köhlbrandbrücke. Der Bogen aus Stahl und Beton hing an armdünnen Seilen, ein Fadenspiel zwischen Pylonenfingern. Bei jedem Schritt schwang der Asphalt unter ihren Sohlen, als hätte sie ein Bier zu viel getrunken. Das Gefühl verstärkte sich, je näher sie dem Scheitelpunkt der Brücke kam.

»Hab ich zu viel versprochen?«, fragte Alex neben ihr. Nachdem sie ihm im Sommer erzählt hatte, dass ihr der Hafen am besten an Hamburg gefiel, hatte er sie mit der Anmeldung zum Köhlbrandbrückenlauf am Tag der Deutschen Einheit überrascht. 12,3 Kilometer einmal hin und zurück, vom Windhukkai bis nach Waltershof.

Zwischenzeitlich hatte Svea gefürchtet, absagen zu müssen. Aber die Quetschung am rechten Fuß, die sie sich während der Ermittlungen in ihrem letzten Fall zugezogen hatte, war schneller als gedacht verheilt.

»Nein, es ist der Hammer.« Sie küsste die Luft zwischen ihnen.

Von hier oben war der Freihafen eine schillernde Miniaturwelt, die Ausleger der Containerbrücken ragten darüber wie gigantische Giraffen.

Träge floss unten der Köhlbrand dahin, zerteilte das Panorama in zwei Hälften. An seinem Ufer blitzten die silbernen Eier des Klärwerks in der Sonne. Ein Containerfrachter schob sich davor, winzig wie ein Spielzeugboot, beladen mit Legosteinen.

Zu ihrer Rechten, wo sie an Bergen aus Kohle und Erz vorbeigelaufen waren und der Schlot einer Müllverbrennungsanlage rauchte, tauchte weiter hinten im Fluss eine Landzunge auf, bedeckt mit einem Mosaik aus bunten Flecken. Autos. Tausende.

»Schrott«, sagte Alex. »Wird alles nach Afrika verschifft.« Die kastenartige Fähre hatte bereits ihr Maul aufgerissen.

Nur ungern guckte Svea wieder auf die Strecke vor sich. Wie schon auf dem Hinweg pausierten einige Läufer am höchsten Punkt der Brücke. Ein hagerer Typ in warngelber Weste kletterte über die Leitplanke auf den schmalen Notweg. Gehalten nur durch ein bauchhohes Geländer, das Handy am ausgestreckten Arm, lehnte er sich über den Abgrund. Ein Windstoß blähte seine Jacke auf. Kurz fürchtete Svea, er würde hinuntergeweht. Tod durch Selfie. Nicht der Erste.

Direkt vor ihr stoppte eine lilahaarige Frau im Sprintanzug, zückte ebenfalls ihr Handy.

»Ey!«, rief Svea. Im letzten Moment wich sie aus. Dabei knickte ihr Fuß zur Seite, ließ sie stolpern, nach zwei Schritten hatte sie sich wieder gefangen. Sollte sie der Frau die Meinung sagen? Aber wegen diesen Selfieverrückten Zeit verlieren? Nö!

»Alles okay?« Alex zeigte auf ihren Fuß.

Sie nickte.

Nach wenigen Metern zog ihr ein süßlicher Muff in die Nase. Sie waren wieder auf Höhe der Ölmühle angekommen.

»Ekelig«, schimpfte eine Frau neben ihr. »Leichengeruch!«

»Ach was, das riecht gut!« Ihr Begleiter reckte die Nase. »Wie gekochte Nudeln!«

Svea stieß die Luft aus. Wenn er meinte. Alex’ Spaghetti rochen zum Glück anders. Sie atmete durch den Mund ein und lief schneller.

Als Alex und sie sich der Rampe näherten, ab der die Fahrbahn auf Stelzen stand, hörte nicht nur das leise Schwingen unter ihren Sohlen auf, auch die Luft roch wieder besser. Zumindest soweit das im Hafen möglich war. Sie schnupperte.

Schiffsdiesel. Aber das störte sie weniger.

Dafür stach es in ihrem Fuß.

»Humpelst du?«, fragte Alex.

Das Stechen verstärkte sich. Nicht so wie bei ihrem Unfall, aber schlimm genug. Abrupt blieb sie stehen, ging vor Schmerz in die Knie.

Alex stoppte und legte den Arm um sie, um ihr aufzuhelfen.

»Unmöglich!«, kreischte es neben ihnen. »Mitten auf der Strecke stehen bleiben!«

Svea blickte auf und erkannte die Frau im Sprintanzug. Kopfschüttelnd sah sie ihr hinterher. Gestützt von Alex, kam sie hoch, kreiste den Fuß im Gelenk, krümmte und spreizte die Zehen. Nichts. Vorsichtig trat sie auf.

»Wieder okay?«

»Ich glaub schon.« Sie fummelte ihr Handy aus der Tasche der Laufweste hervor. 13:47 Uhr. Alex und sie hatten sich vorgenommen, unter einer Stunde zu bleiben. Noch konnten sie es schaffen.

Beim ersten schnelleren Schritt war das Stechen zurück.

»Mist!« Sie zuckte zusammen. Kaputt mache sie nichts, hatte der Arzt auf ihre Frage, wann sie wieder laufen dürfe, geantwortet. Aber kaputt oder nicht – wie sollte sie weiterlaufen, wenn sich ein Messer zwischen ihre Mittelfußknochen bohrte, sobald sie fester auftrat?

»Lauf allein weiter«, sagte sie zu Alex. Sie würde am Rand der Fahrbahn gehen und zur Not in den Besenwagen steigen, der am Ende die Fußlahmen einsammelte. Ihretwegen sollte Alex nicht noch mehr Zeit verlieren.

»Sicher?«

»Sicher!« Sie küsste ihn. »Lauf!«

»Ruf an, wenn was ist.« Er sprintete los.

Während sie einen Fuß vor den anderen setzte und bei jedem Schritt nachspürte – im Spaziertempo tat zum Glück nichts weh, vielleicht hatte sie nur kurz einen Nerv eingeklemmt –, sah sie Alex hinterher. Inmitten eines bunten Pulks rannte er die Rampe hinunter.

Jetzt war er unten an der Brücke angekommen. Bevor es an der Kreuzung für die Läufer nach links ging, drehte er sich kurz um und winkte.

Sie hielt den Daumen hoch, zum Zeichen, dass alles okay war. Sie wusste, sie könnte ihn jederzeit anrufen, auch zwei Meter vorm Ziel, und er würde sofort zu ihr zurückkommen. Es lief gut zwischen ihnen, seit sie keine Geheimnisse mehr vor ihm hatte. Richtig gut.

Als sie ebenfalls die Kreuzung hinter sich gelassen hatte, waren ihr die meisten Läufer davongerannt. Die wenigen Abgehängten gingen langsam wie sie, humpelten oder saßen am Straßenrand, erschöpft vornübergebeugt. Ein Pärchen, von der Kappe bis zu den Schuhen im Partnerlook, nuckelte abwechselnd an einer Plastikflasche, die der Mann aus seinem profigerechten Marathongürtel hervorgepult hatte.

Svea hatte nichts zu trinken mitgenommen, am Wendepunkt in Waltershof weder Wasser noch Banane gewollt. Unnötig bei der kurzen Strecke, hatte sie gedacht. Von wegen. Jetzt bereute sie es. Aber bevor sie fragte, ob die beiden ihr einen Schluck abgaben, ertrug sie lieber die kratzige Trockenheit in ihrer Kehle. Nicht mehr lange, dann trank sie mit Alex zusammen ein Wasser oder Weizenbier. Bis zum Ziel waren es höchstens zwei Kilometer, eher weniger.

Sie überholte einen rotgesichtigen Mann, der so kleine Schritte machte, dass er fast auf der Stelle tänzelte. Danach lag die Strecke grau und gerade vor ihr, ein Teppich aus Asphalt, ausgerollt nur für sie. Am Horizont, zwischen Kirchtürmen und alten Hafenkränen, ragte das Dach der Elbphilharmonie auf, von hier aus wirkte sie winzig.

Als sie trotz der Sonne fröstelte, sie trug nur ein ärmelloses Shirt unter der dünnen Weste, startete sie einen erneuten Laufversuch.

Vergeblich.

Zwar stach kein Messer mehr zu, aber es pikste trotzdem. Vielleicht schmerzte gar nicht ihre alte Verletzung? War sie nicht umgeknickt bei ihrem Ausweichmanöver oben auf der Brücke? Besser, sie riskierte nichts und ging den letzten Rest der Strecke brav spazieren. Sie hatte keine Lust, schon wieder tagelang an Krücken zu humpeln.

Um warm zu werden, kreiste sie mit den Armen. Sie lief vorbei an rostigen Zäunen und graffitibeschmierten Mauern. Dahinter ein maroder Schuppen nach dem anderen. Türme aus Containern.

Auch wenn sie lieber an der Seite von Alex im Ziel eingelaufen wäre, genoss sie die Kulisse. Wo manche nur Dreck, Krach und Gestank wahrnahmen, fühlte sie sich wohl. Der Hafen erinnerte sie ans Ruhrgebiet, an ihre Kindheit und Jugend. Gigantische Industrieanlagen, vor denen die Menschen zu Ameisen wurden.

Sie schnaufte, als die Straße leicht bergan führte. Es ging auf eine Brücke zu, darunter die Schleuse, durch die Alex und sie bei ihrer Hafenrundfahrt letzten Monat gefahren waren. Es hatte den ganzen Tag geregnet, aber sie hatten die geplante Tour nicht absagen wollen. Allein mit einem Bootsführer, dessen launige Sprüche nicht besonders lustig gewesen waren, waren sie über die Elbe und durch die Kanäle geschippert. Sie erinnerte sich an das Gefühl, als die Barkasse in der Schleusenkammer schwankte und das Tor hinter ihnen zurumste. Die glitschigen hohen Wände, die tiefe Schwärze um sie herum. Einen Moment hatte Panik in ihr pulsiert.

Jetzt war das Tor ebenfalls geschlossen, das Wasser trübgrün wie in einem Aquarium voller Algen. Aber dort, wo der Wind es kräuselte, schimmerte es silbrig wie Fischhaut, schwappte friedlich gegen die Mauern.

Lag es nur am Wetter? Oder nahm sie ihre Umgebung anders wahr, weil es ihr so viel besser ging als vor einem Monat?

Sie wollte den Blick abwenden, als sie im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Direkt unter der Wasseroberfläche trieb etwas Dunkles. Vorgestern war ein Seehund in der Elbe gesichtet worden, die Mopo hatte ein Foto veröffentlicht. Hatte er sich in die Schleusenkammer verirrt? Sie trat näher an den Rand der Brücke.

Falls er verletzt war, musste sie die Feuerwehr rufen, damit die ihn versorgte. Und falls nicht, musste sie sich darum kümmern, dass das Tor geöffnet wurde, bevor das nächste Schiff kam und der Seehund in die Schraube geriet. Oder war er schon tot? Er bewegte sich nicht, trieb, seit sie ihn entdeckt hatte, an derselben Stelle.

Suchend sah sie sich um. Zwischen seinen Sprüchen hatte der Bootsführer sie mit zahlreichen Fakten zum Hafen versorgt. Wenn es stimmte, was er gesagt hatte, gab es zwar keinen Schleusenwärter mehr; die meisten Schleusen in Hamburg waren auf Fernsteuerung per Video umgestellt worden. Aber selbst wenn das ehemalige Schleusenwärterhaus leer stand, musste doch irgendwo jemand sitzen, der das Ganze überwachte. In einem der beiden Häuschen auf dem Streifen zwischen den Schleusenkammern? Aber wie gelangte sie dorthin? Gab es eine Treppe?

Sie stieg über die Leitplanke am Fahrbahnrand und beugte sich über das Brückengeländer. Erneut fixierte sie den länglichen dunklen Körper im Wasser. Jetzt bewegte er sich doch, waberte hin und her.

Was hing da an den Seiten herunter? Algen? Plastikmüll? Sie hatte einen Artikel gelesen über alte Fischernetze. Fische und Seevögel verfingen sich darin und strangulierten sich selbst.

Und immer öfter traf es Seehunde. Aber …

Seehunde hatten Flossen.

Keine Arme und Beine.

Oder Haare auf dem Kopf.

Obwohl vor ihr kein fünfzig Meter tiefer Abgrund aufbrach und die Schleusenbrücke, statt an Seilen zu hängen, auf dicken Betonpfeilern ruhte, schwankte der Boden unter Sveas Füßen. Schlagartig begriff sie:

Das war kein Seehund.

Das war ein Mensch.

Sie zerrte ihr Handy hervor und wählte 110.

2

Die Kaffeetasse in der Hand, stand Tamme Claußen am Wohnzimmerfenster und sah in den Garten. Vorm Kaninchengehege, mit dem Rücken zu ihm, hockte Imke. Das knallgrüne T-Shirt-Kleid, das sich früher um ihre Kurven geschmiegt hatte, warf Falten auf ihrem Körper, ließ ihn an einen Frosch mit zu viel Haut denken. Der Stoff war nicht ausgeleiert, seine Frau war schmaler geworden in den letzten Monaten.

Marits Juchzen drang durch die angelehnte Terrassentür. Seine Kleine. Sie lief auf Imke zu, eine karamellfarbene Fellkugel in den Händen.

Nachdem Tamme einen Stall zusammengezimmert und drumherum einen Zaun gezogen hatte, hatten sie heute Vormittag zwei Angorakaninchen beim Züchter abgeholt. Eins für Marit und eins für Rike. Bente hatte das Gesicht verzogen. Kinderkram. Stattdessen hatte seine Älteste Imke eine neue Jeans abgeschwatzt. Und eine Handyhülle. Auf sein »Muss das sein?« hatte Imke ihn in die Seite geknufft. Hauptsache, die Kinder waren glücklich.

Glücklich! Darunter ging es für Imke nicht. Er stöhnte. Zufriedenheit würde ihm schon reichen. Erst vor einer Viertelstunde war er von seinem Mittagsschlaf aufgestanden. Wenn nicht um kurz nach zwei irgendein Idiot in der Nachbarschaft seine Kettensäge angeschmissen hätte, läge er noch im Bett und schliefe. Keine Ahnung, warum er in letzter Zeit so müde war. Er trank einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee, setzte die Tasse wieder ab und betrachtete die Wölbung, die neuerdings unter der Schlafanzugjacke wuchs.

Er war nicht schmaler geworden.

Imke hatte eine Küchenmaschine gekauft. Ein teures Ding, das fast von selbst kochte. Jeden Abend überraschte sie die Kinder und ihn mit einem neuen Gericht. Auch wenn es manchmal blass aussah, die Maschine konnte nur kochen und nicht braten, schmeckte es Tamme meist gut. Zu gut.

»Mama!« Rikes Schrei ließ ihn aufblicken. Durch das Gitter des Geheges erkannte er ihren Umriss. Sie kniete auf dem Boden, den Kopf vorgebeugt, als suchte sie etwas im Gras. Wie ein Kollege von der Spurensicherung.

War ihr Kaninchen verschwunden? Bitte nicht! Nachdem ihr Hamster gestorben war, hatte sie wochenlang getrauert. Aber was machte sie da? Jetzt legte sie sich hin. War ihr übel?

Er hatte noch keinen Schritt in Richtung Tür gemacht, da sprang Rike auf, das weiße Pendant zu Marits Fellkugel an ihre schmale Brust gepresst. Sie strahlte. Imke sagte etwas zu ihr, das sie lachen und noch mehr strahlen ließ. Kurz darauf setzte sie das Kaninchen wieder auf den Rasen. Sofort flitzte es los und verschwand in einem Erdloch; während Tamme geschlafen hatte, hatte das kleine Tier offenbar ordentlich gebuddelt.

Als Rike aus dem Gehege stieg, zeigte sie in seine Richtung. Hatte sie ihn entdeckt? Imke drehte sich um und gestikulierte. Was sie sagte, verstand er nicht. Er hob den Arm, um zurückzuwinken.

Und stockte.

Was machte er hier? Er sollte längst neben Imke am Gehege hocken, die Kaninchen streicheln, mit den Kindern lachen! Das letzte Aufbäumen des Sommers genießen.

Stattdessen stand er hinter der Scheibe. Verschlafen, zerknittert. Bestimmt roch er schlecht. Er hatte geschwitzt unter der Winterdecke mit der Flanellbettwäsche, die er letzte Woche aufgezogen hatte. Niemand hatte damit gerechnet, dass es heute über zwanzig Grad warm werden würde.

Als die Sonne im Glas des Gewächshauses aufblitzte, stellte er die Tasse mit einem Ruck auf den Esstisch und wandte sich um.

Schnell unter die Dusche, kalt am besten! Und dann würde er den Rest des Nachmittags mit Imke und den Kindern im Garten genießen. Noch war es nicht zu spät. Vielleicht könnten sie ausnahmsweise die Maschine in Ruhe lassen und den Grill anschmeißen. Im Tiefkühler lagen Würstchen.

Er eilte nach oben.

»Tamme!« Klopfen an der Badezimmertür. »Tamme!«

»Bin gleich fertig!« Während er mit dem Handtuch die letzten Tropfen von seiner geröteten Haut rieb, betrachtete er sich im Spiegel. Wenn er den Bauch einzog, war er doch gut in Form für seine dreiundvierzig.

Er wartete, bis er Imke die Treppe hinuntersteigen hörte, dann eilte er ins Schlafzimmer und streifte sich Unterhose, Shorts und T-Shirt über. Socken brauchte er keine bei dem Wetter. Er wollte spüren, wie das Gras unter seinen Sohlen kitzelte.

Auf dem Weg nach unten fühlte er sich wach und fit. Die Dusche hatte geholfen. Aber den Mittagsschlaf am Wochenende sollte er sich trotzdem wieder abgewöhnen. Irgendwas daran tat ihm nicht gut, anschließend war er oft zerschlagener als vorher.

Als er ins Wohnzimmer kam, war die Terrassentür geschlossen, der Garten leer. Das hellbraune Kaninchen hoppelte durchs Gehege, das weiße hatte sich wohl wieder in sein Loch zurückgezogen. Tamme musste dringend einen Graben um den Zaun ausheben und einen Buddelschutz einlassen. Mindestens einen halben Meter tief. In der Garage standen alte Estrichmatten, die er halbieren konnte. Nicht dass eins der Tiere entwischte und von Fuchs oder Marder gefressen wurde.

Die Sonne verschwand gerade hinter dem Wäldchen, als er hinaus in den Garten trat. »Rike!«, rief er, »Marit! Wo seid ihr, Kinder?«

Ein Rascheln ließ ihn herumfahren.

Imke. Sie stand direkt hinter ihm auf dem Rasen, lächelte und klimperte mit den Lidern. Oder zwinkerte sie ihm zu?

»Billie hat die beiden abgeholt.«

»Abgeholt?«

»Hast du die Party vergessen?«

Welche Party? »Nein, nein«, murmelte er.

»Ich habe dich gerufen, damit du dich von ihnen verabschieden kannst. Sie übernachten dort.«

»Tut mir leid. Ich habe dich nicht gehört.« Zumindest das Erste war nicht gelogen.

»Wir können uns einen schönen Abend machen. Nur wir zwei.« Als er irritiert guckte, fügte sie hinzu: »Bente ist auch los, mit Mara ins Kino.«

Er sah an Imke hinab. Während er geduscht hatte, hatte sie sich umgezogen, trug ein rotes eng sitzendes Kleid. Als sie sich an ihn schmiegte und er die Hand um ihre Taille legte, fühlte es sich fast so an wie früher. War das Froschkleid doch ausgeleiert?

»Wollen wir nachher grillen?«, hörte er sich fragen.

»Gerne. Hoffentlich hast du keinen Einsatz!«

»Bestimmt nicht.« Er hatte Rufbereitschaft. Aber wenn sich bis jetzt niemand gemeldet hatte, blieb es meistens ruhig.

Meistens.

Er hatte die Tür des Tiefkühlers geöffnet, kalter Nebel schlug ihm entgegen, da klingelte sein Handy.

»Hoffentlich ist es deine Mutter!«, rief Imke. Sonst hasste sie es, wenn seine Mutter am Wochenende anrief und ihm detailliert aus dem Kuhstall in Tating berichtete.

Es war Hauptkommissar Brandt vom Kriminaldauerdienst.

An Imkes angespannter Kehle sah er, wie sie die Enttäuschung hinunterschluckte. Es gehörte zu ihren Absprachen, nicht mehr an seinem Job herumzunörgeln. Lange genug hatte er seine Karriere wegen der Familie zurückgestellt. Im letzten halben Jahr war ihm klar geworden, wie sehr ihn das erdrückt hatte.

»Ich beeil mich.« Er küsste sie auf die Wange.

Erst als er im Flur die kalten Fliesen unter seinen Füßen spürte, fiel ihm auf, dass er immer noch barfuß war.

3

»Ellerholz Lock. Ellerholz Lock.« Ein Kollege von der Wasserschutzpolizei funkte den Schleusenmeister an, der ein paar Kilometer weiter in der Leitzentrale an der Kattwykbrücke saß.

Während Svea den Anweisungen zuhörte – die Tore der Schleuse sollten geschlossen bleiben und die Schiffe umgeleitet werden –, betrachtete sie das Treiben um sich herum.

Zwei Löschfahrzeuge standen quer vor der Ellerholzbrücke auf der Fahrbahn und sicherten den Einsatzort. Hinter dem Absperrband rechts neben Svea parkte die Drehleiter, an der Stelle hatte sie vor einer Viertelstunde allein am Geländer gelehnt und in die Tiefe gestarrt. Jetzt tummelten sich dort zahlreiche Feuerwehrleute und die Kollegen von der Wasserschutzpolizei.

Das WSPK 2 lag nicht mal hundert Meter entfernt auf der anderen Seite der Schleuse; nachdem Svea den Notruf gewählt hatte, waren die Kollegen als Erste eingetroffen. Allerdings nur zu Land mit zwei Streifenwagen. Da alle Boote draußen waren, hatten sie auf die Feuerwehr warten müssen. Zum Glück kam der Löschzug nach wenigen Minuten aus Wilhelmsburg herangebraust. In Sekundenschnelle hatten die Kollegen ein Schlauchboot aufgeblasen und mit einer Seilvorrichtung, die an eine riesige Triangel erinnerte, an die Drehleiter gehängt.

Als die Taucher jetzt aus ihrem Wagen stiegen, trugen sie bereits ihre Taucheranzüge und hatten ihre Geräte auf den Rücken geschnallt. Wie gewichtige schwarze Enten wackelten sie auf das Boot zu.

Svea konnte nichts tun, als zusehen und abwarten. Noch war sie nicht wieder im Dienst. Sie trat zu der Notärztin ans Brückengeländer, ein Kollege von der WS stellte sich zu ihnen. Es war derselbe, der den Funkruf abgesetzt hatte, Svea erkannte ihn am Feuermal auf der Wange. Vukovic, stand auf seinem Namensschild. Er nahm seine Mütze ab und wies damit zur Schleusenkammer, wo der aufgedunsene Körper im Wasser trieb. »Wenn der noch lebt, bin ich der Osterhase.«

Die Notärztin hob eine Augenbraue. »Bevor eine Wasserleiche bei diesem Wetter durch Fäulnisgase an die Oberfläche kommt, dauert es mindestens zwei Tage.« Etwas gewählter drückte sie aus, dass auch sie nicht mehr damit rechnete, der Person helfen zu können. Sie wartete nur darauf, offiziell den Tod festzustellen.

Trotzdem beeilten sich die beiden Taucher, nach dem Steuermann ins Boot zu klettern.

»Tauchtrupp zum Einsatz fertig!«, befahl der Tauchereinsatzführer. Wie ein Köder an der Angel wurde das vollbesetzte Schlauchboot von der Drehleiter angehoben, übers Geländer geschwenkt und in die Schleusenkammer hinuntergelassen.

Dort angekommen, setzten sich die beiden Taucher auf den Rand des Bootes und rutschten ins Wasser.

»Frau Kopetzki?« Svea hörte eine altbekannte Stimme hinter sich.

»Tach, Herr Brandt.« Sie drehte sich zu dem Kollegen vom Kriminaldauerdienst um.

»Sind Sie zufällig hier?« Er musterte ihre Laufkleidung, winkelte die Arme an und bewegte sie wie beim Joggen.

»Ja.« Sie zögerte. Mit Sicherheit wusste er von ihrer Suspendierung Ende August. Aber sie hatte keine Lust, ihm vor Zuhörern zu erklären, welche ungeahnte Wendung ihr Fall genommen hatte und dass das Disziplinarverfahren gegen sie nach drei Wochen eingestellt worden war.

»Eigentlich habe ich noch Urlaub, offiziell geht’s erst Montag wieder los.«

»Freut mich!« Brandt lächelte auch mit den Augen. Wenn er sich wunderte, so zeigte er es nicht.

Sie wandte sich wieder zur Schleusenkammer. Die beiden Taucher hatten der Person rechts und links in die Kleidung gegriffen und zogen sie ins Boot. Was Svea zuerst für Seehundhaut gehalten hatte, war ein dunkler Lederblouson. Wo normalerweise der linke Fuß saß, ragte ein Stumpf aus einer grünen Hose.

Von wegen Algen! Plötzlich war sie froh, nichts im Magen zu haben.

Sie schluckte und zwang sich, weiter zuzusehen.

Sobald die Taucher sicher saßen, gab der Einsatzführer sein Kommando, das Boot wurde wieder an den Haken gehängt und mit der Drehleiter aus dem Wasser gehoben. Auch wenn der Leichnam auf dem Bauch lag, waren die Fäulniszeichen mit jedem Meter besser zu erkennen: die verfärbten Hände, die aufgedunsene Haut im Nacken.

Zwei Feuerwehrleute traten an das Boot, bückten sich und hievten ihn heraus. »Der lebt nicht mehr«, erklärte der jüngere von ihnen überflüssigerweise.

Als sie ihn umdrehten und auf den Leichensack betteten, erstarrte Svea. Die letzten Wasserleichen im Hafen waren allesamt ertrunken. Alkoholselig nach einer Party ins Wasser gestürzt und zu spät wieder aufgetaucht.

Einfach ins Wasser getorkelt und ersoffen war der hier bestimmt nicht. Die Lederjacke bis zu den Rippenbögen geöffnet, waren die beiden Einschusslöcher in der Brust gut zu erkennen.

Der junge Feuerwehrmann stöhnte, dann hob er zusammen mit seinem Kollegen den Leichensack auf die Trage, damit die Notärztin und Brandt den Inhalt begutachten konnten.

»Sieht so aus, als könnten Sie schon heute anfangen«, rief Brandt zu ihr herüber und griff zum Telefon. »Die Kollegen Claußen und Grüner haben Rufbereitschaft.«

Ihr altes Team. Svea spürte ein Prickeln. Mit ihrem Stellvertreter Tamme hatte sie letzte Woche telefoniert. Sie hatte ihn über den Ausgang ihres Verfahrens informiert und er sie über sein Privatleben. Franzi war kein Thema zwischen ihnen gewesen. Svea hatte ihre Mitarbeiterin seit Ende August nicht mehr gesehen, und ihr offizieller Stand war, dass Franzi so schnell wie möglich kündigen wollte. Anscheinend hatte sie es sich anders überlegt. Das freute Svea sehr.

Während Brandt telefonierte, lud er Svea mit einer Handbewegung ein, zu ihm an die Trage zu treten.

Sollte sie? Sie schwankte. Noch war sie nicht offiziell wieder im Dienst, und ihre Chefin Uta Wienecke legte Wert darauf, dass der Dienstweg eingehalten wurde. Svea wollte es sich nicht gleich mit ihr verscherzen. Andererseits müsste sie dann warten, bis Tamme kam und im Präsidium meldete, dass sie die Leitung der Mordbereitschaft übernahm. Davon ging sie zwar aus. Aber während manchen Kollegen – darunter auch Tamme – Berichte, Fotos oder neuerdings die Aufnahmen vom Laserscanner genügten, schwor Svea auf den ersten unmittelbaren Eindruck. Mit allen Sinnen. Auch wenn es Schöneres gab als den käsefüßigen Mief einer Wasserleiche.

Entschlossen trat sie rechts an die Trage, gegenüber von Brandt und mit dem Wind im Rücken.

Sie zog die Handschuhe über, die er ihr reichte; es kam ihr vor, als hätte es ihre Zwangspause vom Job nie gegeben. Brandts Aufforderung, ab sofort an den Ermittlungen teilzunehmen, hatte etwas in ihr gelöst. Sie hockte nicht mehr länger auf der Zuschauertribüne, ihre Fragen und Vermutungen rannten wild übers Feld: Wer war der Tote? Wo kam er her? War der Fundort überhaupt der Tatort? Wenn nein, wie war der Mann in die Schleusenkammer gelangt? War er erst erschossen und dann ins Wasser gestürzt worden? Oder hineingesprungen und dabei erschossen worden? Suizid war unwahrscheinlich, konnte aber nicht ausgeschlossen werden. Vielleicht wollte es der Tote so aussehen lassen, als wäre er ermordet worden.

Sie stieß die Luft aus. Der Leichnam musste schnellstens obduziert werden, um zumindest darüber Gewissheit zu haben!

»Können Sie was zur Liegezeit sagen?«, fragte sie die Notärztin.

»Schwer.« Die Frau verzog die Stirn. »Wie’s aussieht, lag er höchstens eine Woche im Wasser, eher weniger. Genaueres müssen Ihnen die Kollegen aus der Rechtsmedizin sagen.«

»Ob er uns verrät, wer er ist?« Brandt beugte sich über den Toten und zuppelte am halb geöffneten Reißverschluss der Lederjacke. Es knirschte, mit einem Ruck riss er die Jacke auf und fasste in die Innentaschen.

Ein Schlüsselbund. Ein Handy. Er hielt seine Fundstücke in die Höhe, bevor er sie in einen Beweisbeutel steckte.

Als Letztes zerrte er ein aufgequollenes Portemonnaie hervor und drückte es Svea in die Hand.

Im Münzfach steckten vier Eineurostücke und etwas Kupfergeld. Im Fach dahinter zwei durchweichte Fünfzigeuroscheine. Und ein Führerschein. Zum Glück kein grauer oder rosa Lappen, damit wäre womöglich nichts mehr anzufangen gewesen.

»Wilke, Niko«, entzifferte sie den Namen auf der Plastikkarte. »Geboren am 12.08.84 in Hamburg.« Sie hielt das Schwarz-Weiß-Foto neben das aufgedunsene bräunlich grüne Gesicht des Toten.

Eine gewisse Ähnlichkeit. Aber zur offiziellen Identifizierung brauchten sie Röntgenbilder oder das Zahnschema und mussten den Toten zum Abgleich ins CT schieben lassen. Es sei denn, Wilke war bereits erkennungsdienstlich behandelt worden.

Brandt rief in der Einsatzzentrale an und gab die Personalien durch.

»Bingo.« Er grinste triumphierend. »Unser Freund ist mehrfach aktenkundig, unter anderem vorbestraft wegen Drogenhandels. Letzten Monat wurde er festgenommen, ein Einbruchdiebstahl, aber freigelassen aus Mangel an Beweisen. Eine Vermisstenmeldung liegt nicht vor.«

Er schüttelte den Kopf. Sein Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war, sein Blick schweifte zu dem geschlossenen Schleusentor, vor dem eine voll besetzte Barkasse abdrehte.

Dachte Brandt das Gleiche wie Svea? Säße der Mann in Haft, würde er jetzt nicht hier liegen. Vorausgesetzt, es handelte sich um Wilke.

Svea betrachtete die schrumpeligen Finger des Toten. Noch hatte sich die Waschhaut nicht abgelöst.

»Kann man Abdrücke nehmen?«

Die Notärztin nickte. »Da gehe ich von aus.« Fragend sah sie Brandt an.

Er hob den Daumen, und sie zog den Reißverschluss des Leichensacks zu. Je schneller der Mann in die Rechtsmedizin kam, umso besser. An Feiertagen passierte es leicht, dass sich die Leichenwannen vorm Obduktionssaal stauten.

Als Svea dem kleiner werdenden Rettungswagen mit dem Leichnam darin hinterhersah, schob sich jäh das Gesicht eines anderen Mannes vor ihr inneres Auge. Yunan, ihr Ex-Freund aus Dortmund. Auch er hatte gedealt, und nicht nur das. Demnächst erwartete ihn eine Strafe wegen eines Apothekeneinbruchs, woran Svea nicht unschuldig war.

Ein Frösteln überlief sie, und sie verscheuchte das Bild wieder. Erst jetzt bemerkte sie die graue Wand, die sich am Himmel über der Köhlbrandbrücke aufbaute. Der Schönwettereinbruch war dabei, sich zu verflüchtigen. Sollte sie kurz ins Kommissariat der Wasserschutzpolizei hinübersprinten und sich umziehen? Nach dem Anruf beim Notruf hatte sie Alex gebeten, ihre Jeans, ihren Rucksack und ein Sweatshirt aus dem Kofferraum ihres Wagens dort vorbeizubringen.

Ehe sie es schaffte, sich bei Brandt abzumelden, erkannte sie Tammes roten Toyota auf der Gegenfahrbahn. Neben ihm auf dem Beifahrersitz glänzte Franzis blonder Schopf.

Sie musste wohl noch etwas in den Laufklamotten ausharren.

»Moin, Svea.« Tamme begrüßte sie beiläufig, so als wäre sie nie weg gewesen und hätte erst gestern mit ihm im Präsidium zusammengesessen. Franzi reichte ihr lächelnd die Hand: »Schön, dass du wieder da bist!« Sie wirkte energiegeladen, nicht mehr so blass wie im Sommer, die Schatten um ihre Augen waren verschwunden.

Sie schien sich ehrlich zu freuen, Svea zu treffen. Und genau wie Tamme zeigte sie sich nicht im Geringsten verwundert über ihren Aufzug. Brandt hatte die beiden offenbar aufgeklärt.

Brandt! Wo steckte der Kollege vom Kriminaldauerdienst? Suchend sah Svea sich um. Die Feuerwehrleute hatten mittlerweile die Luft aus dem Boot gelassen. Eine rote Riesenflunder, die sie zu viert zusammenfalteten und zügig auf dem Löschfahrzeug verstauten. Ihre anderen Kollegen waren bereits in den Fahrzeugen verschwunden. War etwas passiert? Zusammen mit dem Gesamteinsatzleiter kam Brandt hinter der Drehleiter hervor, das Funkgerät am Ohr.

»Großbrand auf der Veddel, der Löschzug rückt ab, die WS kümmert sich um die Absperrung der Brücke. Ich muss auch weiter. Informieren Sie Ihre Kollegen?« Er nickte Tamme und Franzi zu. Begrüßung und Abschied gleichzeitig.

»Mach ich, und – danke!«

Er klopfte ihr auf die Schulter. »Bis zum nächsten Mal!«

Tamme grinste. »Was war das denn?«

»Erklär ich dir später.« Während der Löschzug der Feuerwehr unter Sirenengeheul zum nächsten Einsatz fuhr, schilderte Svea ihm und Franzi die Lage.

Dann traf endlich die Spurensicherung ein.

Tamme bat die Kollegen, den Bereich um die Schleusenkammer auf verdächtige Spuren zu untersuchen. Die Böschung, die teils mit Gras bewachsen, teils gepflastert war, und den Betonstreifen oberhalb der Mauer, der sich bis zum Schleusentor auf der Westseite durchzog.

»Und die Brücke?«, fragte er Svea. Theoretisch hätte der Tote denselben Weg in die Schleusenkammer nehmen können wie das Feuerwehrboot. Gestürzt übers Geländer.

»Möglich.« Aber über die Brücke, auf der sie standen, waren heute fast zweitausend Läufer gerannt. Sinnlos, nach Spuren zu suchen. »Eher da drüben.« Die Kammer war mehr als hundert Meter lang. Vor dem Tor Richtung Westen führte der Steinwerder Damm hinüber, außerdem ein schmaler Fußweg und die Gleise der Hafenbahn. »Allerdings«, Svea zeigte auf die Kameras am Rand der Kammer, »ist hier alles videoüberwacht.«

Mittlerweile hatten sich ihre wilden Gedanken sortiert und zu einem Gefühl geformt. Dass der Mann in oder an der Schleusenkammer umgebracht worden war, erschien ihr immer unwahrscheinlicher.

»Unwahrscheinlich ist nicht unmöglich«, wiegelte Tamme ab. Erst kürzlich waren im US-Fernsehen zwei Journalisten vor laufender Kamera erschossen worden. Affektmorde geschahen an den verrücktesten Orten. Abgesehen davon, dass Suizidwillige von Brücken angezogen wurden, auch wenn diese hier zugegebenermaßen nicht gerade hoch war.

»Vielleicht hat jemand, der hier arbeitet, etwas gesehen.« Franzi wies auf die beiden Rotklinkerhäuschen zwischen den Schleusenkammern und das ehemalige Schleusenwärterhaus oberhalb des Tores. Auch an der Westseite der Schleuse gab es mehrere Gebäude, die allerdings ziemlich heruntergekommen wirkten.

»Hier arbeitet niemand mehr.« Die Häuschen, in denen Svea anfangs die Videoüberwachung vermutet hatte, standen leer, genau wie alles andere. Nur ins Schleusenwärterhaus war mittlerweile die katholische Seemannsmission eingezogen, wie ihr ein Kollege von der Wasserschutzpolizei gleich nach seinem Eintreffen erklärt hatte. Aber auf sein anschließendes Klingeln dort hatte niemand geöffnet. Offenbar wurde heute kein Seemann missioniert.

Aber vielleicht in den letzten sieben Tagen. Die meisten Fenster boten direkten oder seitlichen Schleusenblick. Wenn die erste Einschätzung der Notärztin stimmte, war die Tat irgendwann seit Samstag passiert.

Sie sollten später noch mal jemanden in der Seemannsmission vorbeischicken. Oder anrufen, auf dem Plakat in einem der Fenster erkannte Svea eine Telefonnummer. Aber zuerst mussten sie dringend die Videos sichern.

»Ich frag mich nur«, Franzi legte eine Hand an die Wange, »warum hat niemand von den ganzen Läufern vor dir was bemerkt?«

»Vielleicht ist die Leiche erst in dem Moment unter der Brücke hervorgetrieben, als ich vorbeigelaufen bin?«

Suchend sah Svea sich nach dem Kollegen von der WS um, der den Schleusenmeister angewiesen hatte, die Tore geschlossen zu halten. Vukovic. Er kam zurück von den beiden Streifenwagen, die jetzt anstelle der Löschfahrzeuge die Zufahrt zur Brücke blockierten. Sie winkte ihn zu sich.

»Können Sie die Leitzentrale anfunken?«

»Dass Sie keine einfache Läuferin sind, hab ich gleich an Ihren Augen erkannt«, sagte er statt einer Antwort. »Hin- und hergehuscht, um ja nichts zu verpassen.« Er kramte ein speckiges Notizbuch aus seiner Brusttasche und zeigte ihr eine Telefonnummer. »Sie können auch anrufen.«

Tamme zog sein Handy hervor und wählte die Nummer.

»Aha«, sagte er, während er dem Schleusenmeister zuhörte. Immer wieder: »Aha.«

Kopfschüttelnd legte er auf.

»Gesehen hat er nichts«, informierte er Franzi und sie. »Namen und Telefonnummern der Kollegen, die in der letzten Woche Dienst hatten, faxt er an die WS. Und eine Liste mit den Schiffen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgeschleust wurden. Immerhin der Seefunk wird aufgezeichnet.«

»Was ist mit den Videos?«, hakte Svea nach.

»Da wird nichts aufgezeichnet. Datenschutz.« Zwölf Kameras waren in, vor und hinter den beiden Schleusenkammern der Ellerholzschleuse installiert. Dazu kamen die Kameras für zwei weitere Schleusen, die aus der Leitzentrale fernbedient wurden. »Die Kameras springen nur an, wenn sich ein Schiff nähert und die Tore geöffnet werden. Wohl damit Augen und Aufmerksamkeit nicht ermüden. Aber bei der Menge an Bildausschnitten kann man natürlich trotzdem leicht was auf dem Monitor übersehen.«

Und zwischendurch hatte der Täter Narrenfreiheit auf dem Gelände. So einfach, wie Svea es sich vorgestellt hatte, war die Überprüfung der Schleuse wohl doch nicht.

4

»Wir müssen überprüfen, ob der Schlüssel zu Wilkes Wohnung passt.« Svea griff einen bröseligen Keks aus der Dose, die der Kollege Vukovic ihnen hingestellt hatte.

Sie saß mit Tamme und Franzi im Besprechungsraum der Wasserschutzpolizei, vorm Fenster die Kaianlagen. Die graue Wand hatte sich zum Glück wieder aufgelöst, gegenüber warf ein Angler seine Rute aus, rechts hatten zwei Lastenkähne und mehrere Schlepper festgemacht, weiter hinten am Containerterminal lagen die dicken Pötte vor Anker. Svea dachte an den abgetrennten Fuß des Toten. Ob das eine Schiffsschraube verursacht hatte?

Bei der Vorstellung verschluckte sie sich an dem Keks. Hustend kippte sie einen Schluck Cola hinterher und wischte die Krümel von dem Blatt Papier vor ihr auf dem Tisch. Der Durchsuchungsbeschluss. Die Beantragung war ihre erste offizielle Amtshandlung gewesen, nachdem sie wieder die Leitung der Mordbereitschaft übernommen hatte.

»Und wenn der Tote gar nicht Wilke ist?«, gab Franzi zu bedenken. »Vielleicht hat ihm der Mörder nur dessen Führerschein in die Tasche gesteckt.«

»Oder der Tote hat irgendwo aus Versehen eine andere Jacke mitgenommen«, schlug Svea vor. Theoretisch war einiges möglich, auch Suizid, aber praktisch glaubte sie nicht daran. Trotzdem ging sie auf Franzis Zweifel ein. »Falls Wilke uns quicklebendig die Tür öffnet, können wir ihn immer noch nach seinem Führerschein fragen. Warum hat er ihn nicht als gestohlen gemeldet?«

Aber vor allem wollte sie, dass sich die Kollegen in der KTU trotz des Feiertags mit den Fingerabdrücken beeilten. Danach waren hoffentlich alle Überlegungen müßig. Doch als sie dort anrief, hob nicht mal jemand ab. Svea hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und bat um Rückruf.

»Nächster Punkt: mögliche Zeugen.« Da war die Lage immerhin eindeutig. Reine Fleißarbeit. Sobald der Schleusenmeister seine Listen geschickt hatte, mussten diese abtelefoniert werden. Gut möglich, dass einer seiner Kollegen oder jemand auf einem der durchgeschleusten Schiffe etwas bemerkt hatte.

»Und wenn unser Täter dabei ist?«, warf Tamme ein.

Svea schüttelte den Kopf. »Du hast den Leichnam nicht gesehen. Wenn den jemand in den letzten vierundzwanzig Stunden über Bord geschmissen hätte, sähe er anders aus. Abgesehen davon, dass er noch nicht hochgekommen wäre.« Klar hätte jemand die Leiche irgendwo versenken, nach ein paar Tagen wieder rausholen und dann zurück ins Wasser werfen können. Aber wozu? Das ergab wenig Sinn. Und auch wenn die Videos nicht aufgezeichnet wurden, war es einfach zu riskant, jemanden in der Schleuse umzubringen und von Bord zu werfen. Das Gleiche galt für einen Stoß vom Rand der Schleusenkammer. Wahrscheinlicher war, dass das Opfer hineingetrieben war.

»Ich erhoffe mir eher Erkenntnisse darüber, wie der Leichnam in die Schleuse gekommen ist.«

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