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Nujeen – Flucht in die Freiheit

Als Buch hier erhältlich:

Was bedeutet es wirklich, ein Flüchtling zu sein, durch den Krieg frühzeitig erwachsen werden zu müssen, die geliebte Heimat hinter sich zu lassen und vom Wohlwollen anderer abhängig zu sein?

Die sechzehnjährige Nujeen erzählt, wie der syrische Krieg eine stolze Nation zerstört, Familien auseinander reißt und Menschen zur Flucht zwingt. In Nujeens Fall zu einer Reise durch neun Länder, in einem Rollstuhl. Doch es ist auch die Geschichte einer willensstarken jungen Frau, die in Aleppo durch eine Krankheit ans Haus gefesselt ist und sich mit amerikanischen Seifenopern Englisch beibringt, weil sie die starke Hoffnung auf ein besseres Leben hat. Eine Hoffnung, die sich nun vielleicht fern der Heimat in Deutschland erfüllen kann.

Es ist die Geschichte von Flucht, dem Verlust der Heimat, die Geschichte unserer Zeit - erzählt von einer bemerkenswert tapferen Syrerin, die nie aufgehört hat, zu lächeln.

"Wer würde dieses Mädchen nicht in seinem Land haben wollen?"
US TV-Moderator John Oliver über Nujeen


  • Erscheinungstag: 10.10.2016
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959670753

Leseprobe

INHALT

PROLOG

Die Überfahrt

TEIL EINS

Ein Land verlieren   Syrien 1999–2014

  1  Fremd im eigenen Land

  2  Die Mauern von Aleppo

  3  Fernsehen

  4  Tage des Zorns

  5  Eine geteilte Stadt

  6  Alles in Trümmern

  7  Vom Winde verweht

  8  Verzeih mir, Syrien

TEIL ZWEI

Die Reise   Europa, August – September 2015

  9  Erweitern Sie Ihre Welt

10  Auf der Suche nach einem Schleuser

11  Die Todesroute

12  Frei wie ein ganz normaler Mensch

13  Durch das schöne Tor

14  Ungarn, öffne die Tür!

15  Der härteste Tag

16  Durch die Heidi-Berge

17  Danke, Mama Merkel

TEIL DREI

Ein normales Leben   Deutschland 2015

18  Fremd im fremden Land

19  Endlich Schülerin

20  Ein schreckliches Neujahr

21  Ein Ort namens Zuhause

Danksagung

Meine Reise

PROLOG

DIE ÜBERFAHRT

Behramkale, Türkei, 2. September 2015

Vom Strand aus konnten wir die Insel Lesbos sehen – und Europa. Auf beiden Seiten erstreckte sich das Meer, so weit das Auge reichte, und es war nicht stürmisch, sondern ruhig, nur mit ganz kleinen Schaumkronen gesprenkelt, die aussahen, als würden sie auf den Wellen tanzen. Die Insel stieg wie ein felsiger Brotlaib aus dem Wasser und schien gar nicht so weit entfernt. Aber die grauen Schlauchboote waren klein und lagen tief im Wasser, beschwert mit so vielen Menschenleben, wie die Schleuser darauf hatten unterbringen können.

Ich sah das Meer zum ersten Mal, wie es überhaupt das erste Mal für alles war – die Reise im Flugzeug und im Zug, den Abschied von meinen Eltern, den Aufenthalt im Hotel und jetzt die Fahrt in einem Boot! In Aleppo hatte ich kaum je unsere Wohnung im fünften Stock verlassen.

Von unseren Vorgängern hatten wir gehört, dass ein Boot mit einem funktionierenden Motor an einem schönen Sommertag wie diesem für die Überfahrt über den Meeresarm nur eine gute Stunde brauche. Der Weg von der Türkei nach Griechenland war an dieser Stelle besonders kurz – er betrug nur zwölf Kilometer. Das Problem war, dass die Motoren oft alt und billig waren und mit Ladungen von fünfzig bis sechzig Menschen ihre Mühe hatten, deshalb dauerte die Überfahrt drei oder vier Stunden. In regnerischen Nächten mit drei Meter hohen Wellen, die die Boote wie Spielzeug hin und her warfen, schafften sie es manchmal überhaupt nicht und die hoffnungsvolle Reise endete in einem nassen Grab.

Der Strand war nicht sandig, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, sondern mit Kies bedeckt – unmöglich für meinen Rollstuhl. Dass wir am richtigen Ort für die Überfahrt waren, sahen wir an einem zerrissenen Karton mit der Aufschrift „Schlauchboot, Made in China, max. 15 Personen“ und einer Spur zurückgelassener Habseligkeiten, die sich wie Flüchtlingsstrandgut über das Ufer zog. Da lagen Zahnbürsten, Windeln und leere Kekspackungen, herrenlose Rucksäcke und jede Menge Kleider und Schuhe. Jeans und T-Shirts waren weggeworfen worden, weil es auf dem Boot dafür keinen Platz gab und die Schleuser dafür sorgten, dass ihre Passagiere mit so wenig Gepäck wie möglich reisten. Ein Paar graue hochhackige Pantoletten mit flauschigen schwarzen Bommeln – wer nahm so etwas auf eine solche Reise mit? Eine kleine pinkfarbene Kindersandale mit einer Plastikrose, der Blinkschuh eines Jungen und ein großer grauer Teddybär mit nur noch einem Auge. Wie schwer mochte es seinem Besitzer gefallen sein, ihn zurückzulassen! Die vielen Sachen verwandelten den schönen Strand in eine Müllkippe, was mich traurig machte.

Der Minibus des Schleusers hatte uns an der Küstenstraße abgesetzt und wir hatten die Nacht in einem Olivenhain verbracht. Von dort mussten wir noch anderthalb Kilometer zum Strand hinuntergehen. Das klingt vielleicht nach nicht viel, ist aber sehr weit für einen Rollstuhl auf holprigem Boden, wenn nur die Schwester einen schiebt und die türkische Sonne sengend auf einen herunterbrennt und einem den Schweiß in die Augen treibt. Es gab auch eine Straße, die im Zickzack hangabwärts führte. Sie zu benutzen wäre viel bequemer gewesen, aber das durften wir nicht, weil uns sonst vielleicht die türkische Gendarmerie gesehen und verhaftet und in ein Flüchtlingslager gebracht oder sogar zurückgeschickt hätte.

Ich reiste mit zwei meiner vier älteren Schwestern – mit Nahda, die sich aber auch um ihr Baby und drei weitere kleine Mädchen kümmern musste, und der mir am nächsten stehenden Nasrine, die sich immer um mich kümmert und so schön ist wie ihr Name, der Name einer weißen Rose, die in den Bergen Kurdistans wächst. Außerdem begleiteten uns ein Cousin und zwei Cousinen, deren Eltern – meine Tante und mein Onkel – im Juni zu einer Beerdigung nach Kobane gefahren und dort von Heckenschützen des Daesch erschossen worden waren. An diesen Tag will ich gar nicht denken.

Der Weg war holprig und meine Schwester zog den Rollstuhl leider rückwärts, sodass ich landeinwärts blickte und das Meer nur ab und zu sah. Es war leuchtend blau. Blau ist meine Lieblingsfarbe, denn es ist die Farbe von Gottes Planeten Erde. Alle schwitzten furchtbar und waren angespannt. Der Rollstuhl war für mich zu groß. Ich umklammerte die Armlehnen so fest, dass mir die Arme wehtaten, und mein Hintern war vom vielen Holpern wund, aber ich sagte nichts.

Wie bei allen Orten, durch die wir bisher gekommen waren, erzählte ich meinen Schwestern Dinge, über die ich mich vor der Abreise informiert hatte. Auf dem Berg über uns lag zu meiner Begeisterung die antike Stadt Assos mit der Ruine eines Athenatempels. Aristoteles hatte einst dort gelebt und seine Philosophenschule gegründet. Von dort oben konnte er den Wechsel von Ebbe und Flut beobachten und die Theorie seines früheren Lehrers Platon anfechten, nach der die Gezeiten von Flüssen verursachte Strömungen seien. Später griffen die Perser die Stadt an und die Philosophen mussten fliehen. Aristoteles wurde schließlich in Mazedonien der Lehrer des jungen Alexander, den man „den Großen“ nannte. Der Apostel Paulus kam auf der Reise von Lesbos nach Syrien ebenfalls durch Assos. Meine Schwestern schien das wie immer nicht besonders zu interessieren.

Schließlich gab ich auf und sah zu, wie die Möwen sich von den thermischen Winden tragen ließen und hoch am leuchtend blauen Himmel mit lautem Geschrei ihre eleganten Schleifen zogen. Wie sehr ich mir doch wünschte, ich könnte fliegen. Nicht einmal Astronauten können das.

Nasrine sah immer wieder auf das Smartphone, das unser Bruder Mustafa uns für die Reise gekauft hatte, damit wir auf Google Maps auch wirklich den Koordinaten folgten, die der Schleuser uns gegeben hatte. Als wir dann schließlich zur Küste kamen, stellte sich trotzdem heraus, dass es nicht die richtige Stelle war. Jeder Schleuser hat eine bestimmte Stelle – wir hatten uns bunte Stoffstreifen um die Handgelenke gebunden, um uns auszuweisen –, und wir waren an der falschen Stelle herausgekommen.

Wir mussten nicht mehr weit gehen, doch kurz vor unserem Ziel versperrte eine senkrechte Felswand den Weg. Der kürzeste Weg darum herum führte durch das Wasser, aber schwimmen konnten wir natürlich nicht. Also mussten wir einen weiteren zerklüfteten Hang hinauf und wieder hinunter steigen, um die richtige Stelle am Strand zu erreichen. Dieser Hang war die Hölle. Wenn man ausrutschte und ins Meer fiel, war man auf jeden Fall tot. Und der Weg war so steinig, dass man mich weder schieben noch ziehen konnte, sondern tragen musste. Meine Cousinen verspotteten mich: „Du bist die Königin, Königin Nujeen!“

Als wir endlich am richtigen Strand ankamen, ging die Sonne in einer Explosion von Pink und Purpur unter, als hätte eine meiner kleinen Nichten den Himmel mit Buntstiften vollgemalt. Von den Hängen über uns hörte ich das leise Bimmeln der Ziegenglocken.

Die Nacht verbrachten wir im Olivenhain. Nach Sonnenuntergang fiel die Temperatur plötzlich und der Boden war hart und steinig, obwohl Nasrine alle unsere Kleider um mich ausbreitete. Aber ich war schrecklich müde, weil ich noch nie in meinem Leben so viel Zeit draußen verbracht hatte, und schlief den größten Teil der Nacht. Feuer konnten wir nicht machen, weil uns dann womöglich die Polizei bemerkt hätte. Einige deckten sich mit den Kartons der Schlauchboote zu. Ich kam mir vor wie in einem Film, in dem eine Gruppe zelten geht und etwas Schreckliches passiert.

Das Frühstück bestand aus Würfelzucker und Nutella, was vielleicht verlockend klingt, aber armselig ist, wenn man sonst nichts hat. Die Schleuser hatten versprochen, dass wir am frühen Morgen abfahren würden, deshalb standen wir in der Morgendämmerung alle mit unseren Schwimmwesten am Strand bereit. Die Handys hatten wir zum Schutz während der Überfahrt in Partyballons gesteckt, ein Trick, den man uns in Izmir gezeigt hatte.

Am Strand warteten noch verschiedene andere Gruppen. Wir hatten jeder fünfzehnhundert Dollar gezahlt statt der üblichen tausend, um ein Boot nur für unsere Familie zu bekommen, doch es sah so aus, als würden noch andere bei uns mitfahren. Insgesamt waren wir 38 Personen – 27 Erwachsene und 11 Kinder. Aber jetzt, da wir hier waren, konnten wir nichts dagegen tun. Umkehren ging nicht, und außerdem hieß es, wer es sich anders überlegte, würde von den Schleusern mit Messern und Viehtreibern zum Einlenken gebracht.

Der Himmel war wolkenlos und aus der Nähe sah ich, dass das Meer nicht nur eine Farbe hatte, nicht nur das einheitliche Blau der Bilder und meiner Fantasie. Nahe am Strand war es leuchtend türkis und weiter draußen tiefer blau. Dann wurde es immer dunkler, zuerst grau und vor der Insel dann blauviolett.

Ich kannte das Meer nur aus den Dokumentarfilmen von National Geographic und kam mir jetzt vor wie in einem dieser Filme. Ich war ganz aufgekratzt und verstand nicht, warum die anderen so nervös waren. Für mich war es das größte Abenteuer!

Andere Kinder liefen über den Strand und sammelten verschiedenfarbige Kiesel. Ein kleiner afghanischer Junge schenkte mir einen Kiesel in Gestalt einer Taube, flach und grau und von einer weißen Marmorader durchzogen. Er fühlte sich kühl an und das Meer hatte ihn ganz glatt geschliffen. Ich habe manchmal Schwierigkeiten, Dinge mit meinen ungeschickten Fingern zu halten, aber diesen Stein ließ ich nicht fallen.

In unserer Gruppe waren Menschen, die wie wir aus Syrien kamen, aber auch welche aus dem Irak, aus Marokko und Afghanistan. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Einige tauschten Erlebnisse aus, aber die meisten sagten nicht viel. Das brauchten sie auch gar nicht. Wenn jemand alles zurücklässt, was er kennt und sich in seiner Heimat aufgebaut hat, um eine so gefährliche und ungewisse Reise anzutreten, dann muss es schlimm stehen.

Der Morgen brach an und wir sahen zu, wie die ersten Boote abfuhren. Zwei fuhren mehr oder weniger gerade hinaus, aber zwei andere fuhren in ganz verschiedene Richtungen. Die Boote hatten keinen Steuermann – die Schleuser ließen einen Flüchtling zum halben Preis reisen, wenn er dafür das Boot steuerte, auch wenn er keinerlei Erfahrung damit hatte. „Ein Boot fährt sich genauso wie ein Motorrad“, behaupteten die Schleuser. Mein Onkel Ahmed sollte unser Boot fahren. Das hatte er vermutlich auch noch nie getan, weil wir nie am Meer waren und er in seinem alten Beruf Handys verkauft hatte, aber er versicherte uns, er kenne sich aus.

Wir hatten gehört, dass einige Flüchtlinge Vollgas geben, um so schnell wie möglich nach Griechenland zu kommen, und dann auf halber Strecke mit Motorschaden liegen bleiben. Manchmal hat der Motor auch nicht genügend Sprit. Dann sammelt einen die türkische Küstenwache ein und bringt einen zurück. Im Café Sinbad in Izmir haben wir eine Familie aus Aleppo kennengelernt, die die Überfahrt schon sechs Mal versucht hatte. Dafür hätte unser Geld nicht gereicht.

Gegen neun Uhr rief Onkel Ahmed den Schleuser an, aber der sagte, wir müssten noch warten, bis die Küstenwache weg sei. „Wir haben den falschen Schleuser genommen“, sagte Nasrine. Ich machte mir Sorgen, man könnte uns wieder übers Ohr gehauen haben.

Wir hatten nicht mit einem so langen Aufenthalt gerechnet und bekamen bald Hunger und Durst, was angesichts des vielen Wassers vor uns paradox war. Meine Cousinen brachen auf, um nach Wasser für mich und die Kinder zu suchen, aber in der Nähe gab es keins.

Es wurde immer heißer. Der Schleuser kam zwar mit Schlauchbooten für uns und die anderen Gruppen, sagte aber, wir könnten erst aufbrechen, wenn die Küstenwache Schichtwechsel hätte. Die marokkanischen Männer waren halbnackt und begannen zu singen. Der Nachmittag kam und die Wellen wurden höher und schlugen klatschend auf den Strand. Keiner von uns wollte nachts fahren, denn wir hatten Geschichten von Piraten auf Jetskiern gehört, die im Dunkeln in die Boote steigen und den Motor und die Wertsachen der Flüchtlinge stehlen.

Um fünf nachmittags hieß es endlich, die Küstenwache habe Schichtwechsel und das könnten wir zur Abfahrt nutzen. Ich blickte wieder auf das Meer. Es war dunstig geworden und das Geschrei der Möwen klang nicht mehr so fröhlich. Über der felsigen Insel lag ein dunkler Schatten. Einige nennen die Überfahrt an dieser Stelle rihlat almoot, Todesroute. Entweder sie führte uns nach Europa oder sie verschlang uns. Ich hatte zum ersten Mal Angst.

Zu Hause habe ich auf National Geographic oft eine Serie namens Brain Games gesehen, die zeigte, wie man Angst und Panik in Gedanken kontrollieren kann. Ich begann also tief ein- und auszuatmen und sagte mir immer wieder, ich sei stark.

TEIL EINS

EIN LAND VERLIEREN
SYRIEN 1999–2014

1

FREMD IM EIGENEN LAND

Ich sammle weder Briefmarken noch Münzen noch Fußballkarten – aber dafür Fakten. Mich interessiert alles, was mit Physik und dem Weltraum zu tun hat, besonders die Stringtheorie. Auch Historisches finde ich spannend, zum Beispiel, was man über Dynastien wie die Romanows weiß. Und über umstrittene Persönlichkeiten wie Howard Hughes und J. Edgar Hoover.

Mein Bruder Mustafa sagt, ich bräuchte nur etwas zu hören und schon wüsste ich es auswendig. Ich kann alle Romanows aufzählen, vom ersten Zar Michael bis zu Nikolaus II., der zusammen mit seiner ganzen Familie einschließlich seiner jüngsten Tochter Anastasia von den Bolschewiken ermordet wurde. Ich kenne das genaue Datum der Thronbesteigung Elizabeths II. von England und die Daten ihrer beiden Geburtstage, des tatsächlichen und des offiziellen. Ich würde sie gerne einmal kennenlernen und fragen, wie es ist, Königin Victoria als Ururgroßmutter zu haben, und ob sie es nicht seltsam findet, dass alle in einem Lied singen, Gott solle sie schützen.

Ich weiß auch, dass Giraffen als einzige Tiere keine Laute von sich geben, weil sie keine Stimmbänder haben. Das fand ich immer besonders interessant, aber dann haben die Leute angefangen, unseren Diktator Baschar al-Assad „die Giraffe“ zu nennen, weil er einen langen Hals hat.

Ich weiß auch etwas, das niemandem gefallen dürfte. Wer weiß, dass einer von 113 Menschen auf der Welt heute ein Flüchtling oder Vertriebener ist?

Viele fliehen vor Kriegen wie dem, der unser Land Syrien verwüstet, oder denen im Irak, in Afghanistan und in Libyen. Andere laufen vor Terroristen in Pakistan und Somalia weg oder vor der Verfolgung durch die Mullah-Regimes im Iran und in Ägypten. Wieder andere flüchten vor der Diktatur in Gambia, vor der Zwangsrekrutierung in Eritrea und vor Hunger und Armut in afrikanischen Ländern, die ich noch nicht mal von der Landkarte her kenne.

Im Fernsehen sagen die Reporter immer wieder, der Menschenstrom aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Zentralasien nach Europa stelle die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg dar. 2015 sind über 1,2 Millionen Flüchtlinge nach Europa gekommen. Ich war einer davon.

Ich hasse das Wort „refugee“ mehr als jedes andere Wort der englischen Sprache. Das deutsche „Flüchtling“ klingt genauso abweisend. Gemeint ist damit doch ein Bürger zweiter Klasse mit einer Nummer auf dem Handrücken oder auf einem Armband, der niemandem willkommen ist.

Im Jahr 2015 wurde ich zu einem Faktum, einer Zahl in einer Statistik. Sosehr ich Fakten mag – wir sind keine Zahlen, sondern Menschen mit einer Geschichte. Was ich hier aufschreibe, ist meine Geschichte.

Ich heiße Nujeen. Das bedeutet „neues Leben“, und dieses neue Leben war eigentlich gar nicht geplant. Meine Eltern hatten schon vier Jungen und vier Mädchen, und als ich sechsundzwanzig Jahre nach meinem ältesten Bruder Shiar am Neujahrstag 1999 geboren wurde, waren einige schon verheiratet und das jüngste Kind, Nasrine, war neun. Deshalb dachten alle, die Familienplanung sei längst abgeschlossen.

Meine Mutter wäre bei meiner Geburt fast gestorben und war danach so geschwächt, dass im Grunde meine älteste Schwester Jamila mich versorgte. Sie war für mich immer meine zweite Mutter. Anfangs waren alle glücklich über das Baby im Haus, aber dann hörte ich nicht auf zu weinen und zu schreien. Beruhigen konnte man mich nur mit einem Kassettenrekorder, der Alexis Sorbas spielte, aber das machte die anderen fast genauso wahnsinnig wie mein Geschrei.

Wir lebten in einer staubigen, verwahrlosten Wüstenstadt namens Manbidsch in Nordsyrien, unweit der türkischen Grenze und etwa dreißig Kilometer westlich des Euphrat und der Tischrin-Talsperre, die uns mit Strom versorgte.

Meine früheste Erinnerung ist das Rascheln des Kleids meiner Mutter – eines hellen Kaftans, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Sie hatte lange Haare und wir nannten sie Ayee und meinen Vater Yaba, beides keine arabischen Wörter. Das Erste, was man über mich wissen sollte, ist, dass ich Kurdin bin.

Wir waren eine von fünf kurdischen Familien in einer überwiegend arabischen Stadt. Die Araber waren zwar Beduinen, sahen aber auf uns herab und nannten unser Wohngebiet „Hügel der Ausländer“. In der Schule und in den Geschäften mussten wir ihre Sprache sprechen, die kurdische Sprache Kurmandschi verwendeten wir nur zu Hause. Für meine Eltern, die kein Arabisch sprachen und weder lesen noch schreiben konnten, war das sehr hart. Auch mein ältester Bruder Shiar litt darunter. Die anderen Kinder in der Schule machten sich über ihn lustig, weil er kein Arabisch konnte.

Es geht in Manbidsch sehr traditionell zu und die Vorschriften des Islam werden streng eingehalten. Meine Brüder mussten deshalb in die Moschee gehen, und wenn Ayee im Basar einkaufen wollte, musste einer von ihnen oder mein Vater sie begleiten. Wir sind Muslime, aber nicht so strenggläubig. In der höheren Schule trugen meine Schwestern und Cousinen als einzige Mädchen kein Kopftuch.

Unsere Familie war aufgrund einer Fehde mit einem benachbarten Dorf aus unserem kurdischen Dorf südlich der Stadt Kobane weggezogen. Wir Kurden sind in Stämme gegliedert und meine Familie gehört dem großen Stamm Kori Beg an, der von dem berühmten kurdischen Widerstandskämpfer Kori Beg abstammt. Damit dürften fast alle Kurden mit uns verwandt sein. Die Bewohner des Nachbardorfs waren auch Kori Beg, aber ein anderer Clan. Zum Streit mit ihnen kam es lange vor meiner Geburt, aber wir alle kannten die Geschichte. Beide Dörfer besaßen Schafe, und eines Tages ließen einige Hirtenjungen aus dem anderen Dorf ihre Herde auf unseren Wiesen weiden. Darüber kam es zum Kampf mit unseren Hirtenjungen. Kurze Zeit später gingen einige unserer Verwandten zu einer Beerdigung in das andere Dorf. Unterwegs wurden sie von zwei Männern des anderen Dorfes beschossen. Als unsere Leute das Feuer erwiderten, wurde einer der beiden Männer getötet. Die anderen schworen Rache und wir mussten fliehen. So kamen wir nach Manbidsch.

Die Menschen wissen nicht viel über die Kurden. Manchmal kommt es mir geradezu so vor, als seien wir dem Rest der Welt vollkommen unbekannt. Wir sind ein stolzes Volk mit einer eigenen Sprache, eigenen Speisen, einer eigenen Kultur und einer langen Geschichte, die zweitausend Jahre zurückreicht bis zu unserer ersten Erwähnung als Kurti. Wir sind rund dreißig Millionen Menschen, hatten aber nie ein eigenes Land. Damit sind wir das größte staatenlose Volk der Welt.

Wir, das heißt die Kurden, hofften auf ein eigenes Land, als die Briten und Franzosen das besiegte Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg aufteilten, genauso wie die Araber glaubten, sie würden die ihnen nach dem Arabischen Aufstand versprochene Unabhängigkeit erlangen. Die Alliierten unterzeichneten 1920 sogar ein Abkommen, den sogenannten Vertrag von Sèvres, der die Autonomie für Kurdistan vorsah.

Doch der neue türkische Anführer Kemal Atatürk, der sein Land in die Unabhängigkeit geführt hatte, weigerte sich, den Vertrag anzuerkennen. Und dann wurde in Mossul, das zu Kurdistan gehört hätte, Öl entdeckt. – Der Vertrag wurde nie ratifiziert.

Außerdem hatten zwei Diplomaten, der Brite Mark Sykes und der Franzose Georges Picot, bereits ein Geheimabkommen unterzeichnet, das den Nahen Osten zwischen Frankreich und Großbritannien aufteilte und die modernen Staaten Irak, Syrien und Libanon schuf. Damit blieben die Araber unter kolonialer Herrschaft. Die neuen Grenzen, die entlang einer schnurgeraden Linie vom irakischen Kirkuk bis nach Haifa in den Sand gezeichnet wurden, nahmen kaum Rücksicht auf Stammes- und ethnische Zugehörigkeiten, und wir Kurden wurden auf vier Länder verteilt, in denen die Lebensweisen ganz anders waren als in unserem Volk.

Heute leben etwa die Hälfte der Kurden in der Türkei. Ein weiterer Teil lebt im Irak, ein Teil im Iran. Etwa zwei Millionen leben in Syrien und stellen dort die größte Minorität, rund fünfzehn Prozent. Obwohl wir verschiedene Dialekte sprechen, kann ich doch einen Kurden von jedem anderen Menschen der Welt unterscheiden, zum einen aufgrund der Sprache, zum anderen aber auch aufgrund des Aussehens. Einige von uns leben in Städten wie Istanbul, Teheran und Aleppo, die meisten aber in den Bergen und auf den Hochebenen im Grenzgebiet von Türkei, Syrien, Irak und Iran.

Da wir von Feinden umringt sind, müssen wir stark sein. Unser kurdischer Shakespeare Ehmedê Xanî schrieb im 17. Jahrhundert: „Diese Türken und Perser lassen sie nicht in Ruhe. Die Kurden sind in vier Ecken, auf beiden Seiten befinden sich die kurdischen Stämme. Mit ihren mörderischen Pfeilen haben sie sich gegenseitig ins Ziel genommen.“

Yaba glaubt, dass es eines Tages ein Kurdistan geben wird, vielleicht noch zu meinen Lebzeiten. „Wer eine Geschichte hat, hat auch eine Zukunft“, sagt er immer.

Komisch ist, dass viele berühmte „arabische“ Helden Kurden sind, was aber niemand zugibt. Zum Beispiel Saladin, der die Kreuzfahrer zurückgeschlagen und die Europäer aus Jerusalem vertrieben hat, oder Yusuf al-Azma, der 1920 mit den syrischen Truppen gegen die französischen Besatzer kämpfte und in der Schlacht fiel. In der Empfangshalle von Assads Palast hängt ein riesiges Gemälde von Saladin und seiner arabischen Armee und es gibt bei uns viele Statuen von Yusuf al-Azma und nach ihm benannte Plätze, aber ihre kurdische Abstammung wird nirgends erwähnt.

Stattdessen nennt das syrische Regime uns „ajanib“, Fremde, obwohl wir schon vor den Kreuzfahrern hier gelebt haben. Viele syrische Kurden haben keine Ausweise, aber ohne diese orangefarbenen Karten darf man kein Grundstück kaufen, nicht im Staatsdienst arbeiten, nicht wählen und seine Kinder nicht auf weiterführende Schulen schicken.

In der Türkei haben die Kurden wahrscheinlich die größten Schwierigkeiten. Atatürk führte eine sogenannte Türkisierung durch und die Kurden werden dort nicht einmal als Volk anerkannt, sondern Bergtürken genannt! Unsere Familie lebt auf beiden Seiten der Grenze und eine Tante von mir, die in der Türkei zu Hause war, sagte, sie sei sogar gezwungen gewesen, ihrem Sohn keinen kurdischen, sondern einen türkischen Namen zu geben, und habe ihn deshalb Orhan genannt. Nasrine hat sie einmal besucht und erzählt, dass man dort nicht Kurdisch spricht und ihre Tante das Radio ausschaltete, wenn Nasrine anfing, kurdische Musik zu spielen.

Wir Kurden haben ein eigenes Alphabet, das die Türkei aber nicht anerkennt. Bis vor Kurzem konnte man noch verhaftet werden, wenn man die Buchstaben Q, W und X verwendete, die es im Türkischen nicht gibt. Man stelle sich das vor: Wegen eines Konsonanten konnte man ins Gefängnis kommen!

Bei uns sagt man: „Kurden haben nur in den Bergen Freunde.“ Wir lieben die Berge und glauben, dass wir von Kindern abstammen, die sich in den Bergen vor Zuhak versteckt haben, einem bösen Riesen, aus dessen Schultern zwei Schlangen wuchsen, die täglich mit dem Gehirn eines Jungen gefüttert werden mussten. Ein schlauer Schmied namens Kawa, der seine Söhne nicht verlieren wollte, gab den Schlangen stattdessen die Gehirne von Schafen zu fressen und versteckte die Jungen, bis er eine Armee zusammenhatte, mit der er den Riesen töten konnte.

Wenn Kurden unter sich sind, erzählen sie einander immer Geschichten. Die berühmteste ist eine kurdische Version von Romeo und Julia namens Mem und Zin. Auf einer Insel herrscht ein Fürst, der zwei schöne Schwestern hat, die er einsperrt. Eine davon heißt Zin. Eines Tages entkommen Zin und ihre Schwester und gehen als Männer verkleidet zu einem Fest. Dort lernen sie zwei gut aussehende Musketiere kennen. Einer davon ist Mem. Schwestern und Musketiere verlieben sich ineinander. Nach einigen weiteren Verwicklungen endet die Geschichte damit, dass Mem eingesperrt und getötet wird und Zin vor Kummer am Grab des Geliebten stirbt. Sogar nach dem Tod sind sie noch getrennt, weil zwischen ihnen ein Dornbusch aus dem Boden wächst. Die Geschichte beginnt mit den Worten: „Wenn nur unter uns Eintracht wäre, wenn wir alle einem von uns folgen würden, könnte er alle Türken, Araber und Perser zu Vasallen machen.“ Für viele Kurden symbolisiert das unseren Kampf um ein eigenes Land: Mem repräsentiert das kurdische Volk und Zin das Land Kurdistan, das durch unglückliche Umstände zerrissen ist.

Manche halten die Geschichte für wahr und sagen, dass es sogar ein Grab gibt, das man besuchen kann.

Ich habe die Geschichte als Kind immer wieder gehört, aber ich mag sie eigentlich nicht. Sie ist sehr lang und sie kommt mir auch ziemlich unwahrscheinlich vor. Ich fand Die Schöne und das Biest viel besser, weil es hier um etwas Gutes geht, um die Liebe, die sich auf innere, charakterliche Werte richtet und nicht auf die äußere Erscheinung.

Bevor mein Vater Yaba alt und müde wurde, nicht mehr arbeitete und nur noch rauchte und darüber schimpfte, dass seine Söhne nicht in die Moschee gingen, hatte er mit Schafen und Ziegen gehandelt. Er hatte fünfundzwanzig Hektar Land, auf denen er die Tiere hielt wie vor ihm sein Vater, eine Tradition, die bis zu meinem siebten Großvater zurückreicht, der Kamele und Schafe hatte.

Meine älteren Geschwister erzählen, dass mein Vater anfangs immer nur eine Ziege auf dem Samstagsmarkt erwarb und in der folgenden Woche anderswo mit einem kleinen Gewinn wieder verkaufte. Mit der Zeit wurde daraus eine Herde von zweihundert Schafen. Viel verdienen konnte man damit vermutlich nicht, denn unser Haus hatte nur zwei Zimmer und einen Hof mit einer kleinen Küche, die für so viele Leute viel zu eng war. Aber mein ältester Bruder Shiar schickte Geld, und davon bauten wir ein weiteres Zimmer, in dem Ayees Nähmaschine stand und ich spielte, wenn niemand hinsah. Wenn wir keine Gäste hatten, schlief ich dort auch gemeinsam mit ihr.

Shiar lebt in Deutschland und ist Filmregisseur. Er hat einen Film mit dem Titel Mes – Lauf! gedreht über einen verrückten alten Mann, der ständig durch eine kurdische Kleinstadt in der Südtürkei läuft. Der Mann freundet sich mit einem armen Jungen an, der Kaugummis verkauft, aber dann übernimmt das türkische Militär die Herrschaft. Der Film hat in der Türkei für Empörung gesorgt, weil der alte Kurde einen türkischen Offizier schlägt. Einige meinten, das dürfe nicht gezeigt werden. Als ob sie den Unterschied zwischen einem Film und dem wirklichen Leben nicht kennen würden!

Ich kannte Shiar nicht, denn er hatte Syrien schon 1990, lange vor meiner Geburt, im Alter von siebzehn Jahren verlassen, um nicht zur Armee eingezogen zu werden und im Golfkrieg im Irak kämpfen zu müssen. Wir Kurden durften in Syrien nicht studieren und bekamen keine Anstellung im Staatsdienst, aber in der Armee und der Baath-Partei waren wir willkommen. Alle Schulkinder sollten in die Partei eintreten, aber Shiar weigerte sich, und als man ihn und einen anderen Jungen zur Aufnahme ins Parteibüro bringen wollte, konnte er entkommen. Er hatte immer davon geträumt, Filmregisseur zu werden, was merkwürdig ist, denn es gab in unserem Haus in Manbidsch, in dem er aufwuchs, nicht einmal einen Fernseher, nur ein Radio, weil die religiösen Menschen Fernsehen ablehnten. Mit zwölf nahm er zusammen mit Klassenkameraden eine eigene Hörspielreihe auf, und er nutzte jede Gelegenheit, um bei anderen Leuten fernzusehen. Irgendwie brachte unsere Familie viertausendfünfhundert Dollar auf, um für ihn in Damaskus einen falschen irakischen Pass zu kaufen. Dieses Dokument in Händen, flog er zum Studium nach Moskau. Er blieb allerdings nicht lange in Russland, sondern ging nach Holland und bekam dort Asyl. Weil es nicht viele kurdische Filmemacher gibt, ist er bei uns berühmt, aber wir durften nicht von ihm sprechen, weil das Regime seine Filme nicht mag.

In unserem Familienstammbaum sind nur Männer verzeichnet, aber nicht Shiar, damit niemand ihn mit uns in Verbindung brachte, denn dadurch hätten wir in Schwierigkeiten kommen können. Warum Frauen nicht aufgeführt sind, verstand ich nicht.

Ayee war Analphabetin. Meinen Vater hatte sie mit dreizehn geheiratet; sie war also, als sie so alt war wie ich jetzt, schon vier Jahre verheiratet und hatte einen Sohn. Aber sie nähte alle unsere Kleider, weiß von jedem Land der Welt, wo es liegt, und findet von jedem beliebigen Ort nach Hause zurück. Außerdem kann sie gut Dinge zusammenzählen; sie merkte immer, wenn die Händler auf dem Basar sie übers Ohr hauen wollten. In unserer Familie können alle gut rechnen außer mir. Mein Großvater mütterlicherseits war wegen Waffenbesitzes von den Franzosen eingesperrt worden. Er hatte die Zelle mit einem gebildeten Mann geteilt und bei ihm lesen gelernt. Daran nahm sich Ayee ein Beispiel für uns: Sie wollte, dass wir zur Schule gingen. Ihre älteste Tochter Jamila hatte die Schule mit zwölf verlassen, weil Mädchen in unserem Stamm traditionell nicht länger zur Schule gehen, sondern zu Hause bleiben und den Haushalt führen. Aber meine anderen Schwestern Nahda, Nahra und Nasrine gingen alle genauso wie meine Brüder Shiar, Farhad, Mustafa und Bland zur Schule. Ein kurdisches Sprichwort sagt: „Löwe ist Löwe, egal ob Mann oder Frau.“ Yaba sagte, sie könnten bis zu den Abschlussprüfungen bleiben.

Morgens saß ich immer auf der Türstufe und sah ihnen nach, wenn sie ihre Ranzen schwingend und mit Freunden oder Freundinnen plaudernd aufbrachen. Die Tür war mein Lieblingsplatz. Ich spielte dort im Sand und sah die Menschen kommen und gehen. Vor allem wartete ich auf eine bestimmte Person – den Salep-Mann. Wer Salep nicht kennt: Es ist eine Art Smoothie aus Milch, die mit dem Pulver der Wurzelknollen einer Bergorchidee angedickt und mit Rosenwasser oder Zimt gewürzt wird. Salep wird aus einem kleinen Aluminiumbehälter in einen Becher geschöpft und schmeckt köstlich. Ich wusste immer, wann der Salep-Mann kam, weil aus dem Gettoblaster an seinem Karren Koranverse kamen und nicht Musik wie bei den anderen Straßenhändlern.

Es war einsam, wenn alle gegangen waren, nur Yaba rauchte und ließ seine Gebetskette klacken, wenn er nicht zu seinen Schafen ging. Rechts vom Haus, zwischen uns und dem Nachbarhaus, in dem mein Onkel und mein Cousin und meine Cousinen wohnten, wuchs eine hohe Zypresse, die dunkel und furchteinflößend war. Und unser Dach war immer von Straßenhunden und streunenden Katzen bevölkert, vor denen ich Angst hatte, weil ich nicht weglaufen konnte, wenn sie mich bedrängten. Ich mag keine Hunde und Katzen und überhaupt nichts, was schnell laufen kann. Es gab da eine Familie weißer Katzen mit orangefarbenen Flecken, die alle anfauchten, die in ihre Nähe kamen. Die hasste ich ganz besonders.

Nur in warmen Sommernächten war ich gern auf dem Dach. Wir schliefen dann dort und die Dunkelheit hüllte uns ein wie ein Handschuh und es wehte eine frische Brise, die über der Wüste abgekühlt war. Ich lag gern auf dem Rücken und blickte zu den Sternen hinauf, von denen es so viele gab und die sich wie ein funkelnder Weg endlos in die Ferne erstreckten. Damals träumte ich zum ersten Mal davon, Astronautin zu werden, weil man im Weltraum schwebt und die Beine keine Rolle spielen.

Lustig ist übrigens, dass man im Weltraum nicht weinen kann. Weil es dort keine Schwerkraft gibt, laufen die Tränen nicht hinunter wie auf der Erde, sondern sammeln sich in den Augen, bilden eine flüssige Kugel und breiten sich wie eine seltsame Wucherung vor dem restlichen Gesicht aus. Also Vorsicht!

2

DIE MAUERN VON ALEPPO

Aleppo, Syrien, 2003–2008

Die Menschen haben mich immer mit anderen Augen gesehen als meine Schwestern. Die sind so hübsch, besonders Nasrine mit ihren langen mahagonibraun glänzenden Haaren und der hellen Haut, auf der sich ein paar Sommersprossen bilden, wenn die Sonne scheint. Aber ich, ich sehe arabischer aus, habe große, vorstehende Schneidezähne und verdrehe die Augen und schiele und die Brille rutscht mir ständig von der Nase. Und das ist noch nicht alles.

Vielleicht weil Ayee schon etwas älter war, als sie mich bekam, nämlich vierundvierzig, wurde ich zu früh geboren – nämlich um vierzig Tage, genauso lang, wie bei den Christen der Prophet Jesus vor seiner Kreuzigung in der Wüste gefastet hat. Mein Gehirn bekam nicht genügend Sauerstoff und kam irgendwie aus dem Gleichgewicht. Es sendet nicht die richtigen Signale an meine Beine, die deshalb ein eigenes Leben führen. Sie strampeln, wenn ich spreche, meine Knöchel gehen nach innen, meine Zehen zeigen nach unten und meine Fersen nach oben und ich kann nicht gehen. Es sieht so aus, als müsste ich immer auf Zehenspitzen gehen. Und meine Finger biegen sich nach außen statt nach innen, wenn ich nicht aufpasse. Im Grunde verhalten sich meine Gliedmaßen wie chinesische Glücksfische, die sich zusammenkrümmen und die man dann nicht mehr gerade kriegt.

Als ich nicht anfing zu laufen wie andere Kinder, gingen meine Eltern mit mir zum Arzt. Der sagte, dass in meinem Gehirn eine Verbindung fehle, die sich aber bis spätestens fünf noch bilden würde, und dann würde ich laufen, vorausgesetzt, ich bekäme genügend Eiweiß und Kalzium. Meine Mutter gab mir jede Menge Eier zu essen und verabreichte mir Vitaminspritzen, aber meine Beine wollten trotzdem nicht laufen. Wir gingen zu vielen Ärzten. Mein Bruder Shiar rief aus Deutschland an und nannte meinen Eltern einen Spezialisten in Aleppo, zu dem sie mich bringen sollten. Der Spezialist legte mich in eine Maschine, die aussah wie ein Sarg aus Kunststoff, und machte ein Kernspintomogramm. Anschließend sagte er, ich hätte eine Gleichgewichtsstörung, eine Form der Zerebralparese. Ich verstand nicht, was diese langen Wörter bedeuteten, merkte aber, dass sie Ayee und Yaba Angst machten. Der Arzt sagte, ich müsste operiert werden und bräuchte Krankengymnastik.

Weil Manbidsch so schmutzig und verwahrlost war und vielleicht auch wegen der vielen Katzen und Hunde hatte ich oft so schlimmes Asthma, dass ich nach Luft schnappte, bis ich im Gesicht blau anlief.

Als ich vier war, zogen wir deshalb nach Aleppo, wo ich medizinische Hilfe bekam und meine Schwester Nahda und mein Bruder Bland studieren konnten. Nahda war so intelligent, dass sie in Manbidsch die beste Schülerin war und als erste Frau in unserer Familie die Universität besuchte. Sie studierte Jura und ich dachte, dass sie vielleicht eine berühmte Anwältin würde.

Aleppo ist ein geschichtsträchtiger Ort – einige sagen, es sei die älteste heute noch bewohnte Stadt der Welt – und die größte Stadt Syriens. Man bekommt dort alles. Wir wohnten in einem höher gelegenen kurdischen Viertel namens Scheich Maksud im Nordwesten, mit Blick über die ganze Stadt mit ihren hellen steinernen Gebäuden, die in der Spätnachmittagssonne rosafarben wie Mandelblüten leuchteten. In der Mitte lag auf einem Hügel die Zitadelle, die seit vielleicht tausend Jahren über Aleppo wachte.

Unser neues Zuhause war eine Wohnung im fünften Stock des Hauses Nummer 19 in einer Straße namens George al-Aswad, benannt nach einem Christen, dem das Land früher gehört hatte – rund zehn Prozent der Bevölkerung waren Christen und der christliche Friedhof lag ganz in der Nähe. Es gefiel mir dort besser als in Manbidsch, weil keine Katzen und Hunde auf dem Dach Lärm machten und es keinen unheimlich dunklen Baum gab, vor dem ich mich unter der Decke verstecken musste. Außerdem war es größer. Es hatte vier Zimmer, ein Badezimmer und zwei Balkone, von denen aus man die ganze Welt vorbeispazieren sehen konnte. Meine Mutter fühlte sich auch wohler, weil in der Umgebung so viele Kurden wohnten. Und am besten war, dass die Wohnung ein Wohnzimmer hatte, in dem wir fernsehen konnten.

Meine Brüder Shiar und Farhad lebten beide im Ausland, Mustafa blieb in Manbidsch. Er betrieb dort eine Firma, die Brunnen grub, ein einträgliches Geschäft, da wir in einer Dürrezeit lebten. Anfangs wohnten alle meine Schwestern bei uns in Aleppo, aber dann heirateten Jamila, Nahda und Nahra nacheinander (und ich musste jedes Mal weinen). Als nach Jamilas Hochzeit in Aleppo die Leute zu uns nach Hause kamen, um dem Brautpaar zu gratulieren, saß ich auf dem Sofa und starrte unseren Cousin Mohammed finster an, den Jamila geheiratet hatte. Jamila konnte gelegentlich aufbrausend sein wie eine Windbö, vor allem wenn jemand sich in ihre Haushaltsführung einmischte, aber sie hatte sich um uns alle gekümmert.

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