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Nur wir drei

Als Buch hier erhältlich:

Nach einer großen gemeinsamen Reise stehen sich die drei Freundinnen Lana, Judith und Catrin näher denn je. Ihre Verbindung wird ein Leben lang halten, dessen sind sich die jungen Frauen sicher. Doch sie können nicht die Herausforderungen vorhersehen, denen sie sich in den nächsten Jahrzehnten noch zu stellen haben. Dass keine Bindung so stark ist wie die zur besten Freundin, das wird ihnen erst bewusst, als sie beinahe den Halt zueinander verlieren. Aber wenn es sich nicht lohnt darum zu kämpfen, worum dann?

»Ruth Jones ist eine hervorragende Menschenkennerin, die weiß, warum wir die Fehler begehen, die wir begehen.«
Jojo Moyes über einen früheren Roman der Autorin

»Ein warmherziger, kluger, aufbauender Roman über wahre Freundschaft.«
Beth O'Leary


  • Erscheinungstag: 27.12.2021
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951079
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine kühnen und bildschönen Schlechtwetterfreundinnen

Omne trium perfectum
Aller guten Dinge sind drei

PROLOG

2017

Die Schuhe waren ein großer Fehler gewesen. Ihre Zehen waren inzwischen taub, und jedes Mal, wenn der Absatz eines Stilettos auf den harten Asphalt traf, fuhr ihr die Erschütterung durch Mark und Bein. Wieder einmal hatte Eitelkeit über Bequemlichkeit gesiegt. Ganz toll, Lana.

Sie stöckelte den Bessemer Place entlang, der parallel zu St Theodore’s verlief. Jahrzehnte zuvor, zu Teenagerzeiten, war diese Gasse einer ihrer Lieblingsorte gewesen, weil man hier heimlich süßen Cider trinken und eine rauchen konnte. Lana seufzte. Ihr Herz tat weh vor Verlust und Trauer, und die schmerzenden Füße machten alles nur noch schlimmer.

Als sie die Ecke erreichte, wo der Bessemer Place in die Hauptstraße mündete, sah sie mehrere schwarz gekleidete Gestalten auf die Kirche zustreben – manche allein, manche zu zweit, wieder andere in Grüppchen, alle in Trauer vereint. Der Gottesdienst würde bestimmt gut besucht sein. Beim Gedanken an das, was ihr bevorstand, stockte Lanas Herz wie ein stotternder Motor: die Beerdigung ihres wunderbarsten Freundes.

»Lana«, erklang eine Stimme hinter ihr.

Zögerlich. Traurig.

Judith.

Es war zu erwarten gewesen, dass sie sich begegnen würden. Nach einem Augenblick der Unentschlossenheit entschieden sich beide im letzten Moment gegen eine Umarmung.

»Ich kann nicht fassen, dass es wirklich wahr ist, du?« Lanas Stimme zitterte, während sie ungeschickt in ihrer Tasche nach dem Fläschchen mit Bachblüten-Rescue-Tropfen suchte und den Inhalt wie einen Whisky in sich hineinkippte.

»Die Familie möchte, dass wir mit vorne sitzen«, sagte Judith.

»Oh Gott, ich weiß nicht, ob ich das schaffe …«, stammelte Lana panisch. »So nah am Sarg und … Ich kann einfach nicht gut umgehen mit …«

»Heute geht es aber nicht um dich, Lana, schon vergessen? Es geht um Catrin«, fuhr Judith sie an.

Lana schluckte eine Erwiderung hinunter. Die unangenehme Spannung zwischen ihnen wuchs. Dann, ohne Vorwarnung und zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, spürte Lana plötzlich, wie sich die vertraute Hitze vom Hinterkopf über den Nacken hinunter ausbreitete, als hätte man sie an eine Steckdose angeschlossen. »Verdammte Hitzewallungen«, murmelte sie und zerrte die schwarze Seidenstola von ihren Schultern, um sich damit Luft zuzufächeln.

»Hier, kannst du dir ausborgen.« Widerwillig zog Judith eine Art spanischen Fächer aus ihrer Tasche.

»Danke.« Lana öffnete ihn mit einer schwungvollen Flamencogeste, begann zu fächeln und genoss die kühlende Brise. Nach einer Minute klang die Hitzewallung ab.

»Sollen wir dann mal reingehen?«, fragte Judith einen Hauch versöhnlicher.

»Ja.« Lana hielt Judiths Blick fest. »Wir schaffen das. Oder?«

TEIL I

1986

Einunddreißig Jahre zuvor

1

CATRIN

Catrins Vater hatte seine »Miene der Vernunft« aufgesetzt. Diesen Gesichtsausdruck zeigte der achtundvierzigjährige Huw Kelly – halb Waliser, halb Ire – jedes Mal, wenn Catrin oder ihr Bruder auf irgendeine Art von Reise ohne elterliche Begleitung aufbrachen.

Catrin machte im Alter von fünf Jahren das erste Mal die Bekanntschaft der Miene der Vernunft, und zwar vor ihrem Schulausflug mit Mrs. John ins Museum von Coed Celyn. Danach war ihr dieser Gesichtsausdruck vor sämtlichen Hockey-, Netzball- und Schwimmwettkämpfen begegnet, vor Zeltlagern und Jugendfreizeiten in Belgien, Pilgerfahrten nach Lourdes und den Skiferien in Österreich im letzten Schuljahr. Die Miene der Vernunft war auch bekannt als das Das-sind-die-Fakten- und Was-im-Notfall-zu-tun-ist-Gesicht. Dahinter verbarg sich jedoch, kaum verhohlen, die Miene des verängstigten Vaters, der auf sein kostbares Gut hinabblickte, das mit jedem Tag, der verging, noch wertvoller wurde, und der in diesem Moment dachte: Wenn dir irgendetwas zustößt, ist mein Leben vorbei.

Huw hatte guten Grund, sich Sorgen zu machen, denn Catrin würde jetzt zu ihrer Großen Reise aufbrechen: ein Monat Inselhopping in Griechenland, begleitet von Judith Harris und Lana Lloyd, ihren besten Freundinnen seit dem fünften Lebensjahr. Die drei Mädchen hätten nicht unterschiedlicher sein können, doch sie kannten sich in- und auswendig und waren heute noch genauso eng befreundet wie in ihren ersten Schulwochen. Während ihrer dreizehnjährigen Freundschaft hatten sie kaum einen Tag verbracht, ohne sich zu sehen, und allen drei war klar, dass sie in völlig unterschiedliche Richtungen auseinandergehen würden, wenn sie von der Großen Reise zurückkehrten: Catrin nach Cardiff, um Medizin zu studieren, Judith zum Studium der Wirtschaftswissenschaften nach London, und Lana wollte in Guildford eine Ausbildung als Musicalschauspielerin machen. Was vor ihnen lag, war also mehr als bloß ein Urlaub. Es war ihr großes Finale, die letzte Gelegenheit, gemeinsam Zeit zu verbringen, bevor das nächste Kapitel ihres jungen Lebens aufgeschlagen wurde. Das Ziel der Großen Reise zu finden war alles andere als leicht gewesen: mit dem Rucksack durch Australien? Mit dem Wohnmobil durch Neuseeland? Obsternte in Frankreich? Judith hatte Interrail vorgeschlagen – interessiert an der Geschichte und Bedeutsamkeit europäischer Großstädte wie Hamburg und Nizza –, wohingegen Catrin unbedingt Paris und Rom sehen wollte. »Die sind so romantisch«, seufzte sie sehnsüchtig.

»Aber nur wenn man steinreich ist!«, hatte Lana gewarnt und damit der Begeisterung ihrer Freundin sofort einen Dämpfer verpasst. »Wir drei haben ein Budget von zehn Pfund am Tag. Und ich würde mich lieber im Meer waschen und am Strand schlafen, als einen Monat in einem stinkigen Zug voll notgeiler Fremder zu verbringen.«

»Schön formuliert«, meinte Judith sarkastisch, und Catrin seufzte noch einmal.

»Hört zu«, sagte Lana einlenkend. »Wie wäre es denn mit Inselhopping? In Griechenland gibt’s jede Menge Geschichte und so Zeug, also kommst du auf deine Kosten, Jude. Und Cat, wenn du auf diesen ganzen romantischen Mist stehst, was wäre idyllischer als ein Sonnenuntergang auf Skiathos? Mir reicht ein Strand mit Bar und fertig. Was meint ihr?«

Widerwillig hatten die beiden zugestimmt. Sie waren es gewohnt, dass Lana bekam, was sie wollte, aber ärgerlicherweise hatte sie auch meistens recht.

»Perfekt!«, hatte Lana lächelnd verkündet. »Dann machen wir also Inselhopping.«

»Und den trägst du immer am Körper, hörst du? Selbst wenn du schläfst!« Huw hielt seiner Tochter einen höchst unattraktiven, khakifarbenen Geldgürtel hin.

»Beim Schwimmen kann ich den aber nicht anlassen, Dad, oder unter der Dusche. Sonst werden doch die ganzen Travellerschecks und das Bargeld nass«, erwiderte Catrin.

»Wo sie recht hat, hat sie recht, Huw.« Liz, Catrins Mutter, zog das Preisschild von der Sohle eines neuen Flipflops ab.

»Elizabeth, wir haben das besprochen.« Huw nannte seine Frau immer beim vollen Vornamen, wenn es ihm ernst war. »Catrin soll an jedem Ort sofort das nächstbeste Tresorfach ausfindig machen – ob nun in der Jugendherberge in Athen oder einer Taverne auf Kos, egal …«

»Ich glaube nicht, dass es in Crackhöhlen Tresorfächer gibt, Dad«, mischte sich Catrins einundzwanzigjähriger Bruder Tom ein, der verschlafen in die Küche geschlurft kam und die Frühstücksflocken suchte.

»Sehr hilfreich, Tom«, seufzte Huw.

»Solltest du nicht eigentlich um neun bei der Arbeit sein?«, fragte Liz. Ihr studierender Sohn jobbte während der Ferien in einer Bäckerei, was Liz großartig fand, brachte er doch alle möglichen Leckereien mit nach Hause.

»Hab mir den Tag freigenommen. Damit ich mich von Froschkopf verabschieden kann.«

»He!« Lachend warf Catrin eine Toastrinde nach ihm. Tom nannte sie Froschkopf, seit ihre Eltern sie einen Tag nach der Geburt aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hatten. Catrins dreijähriger großer Bruder hatte das Baby zehn Sekunden lang stumm angesehen, um dann der Welt zu verkünden, es sähe aus wie ein Frosch.

Doch Catrin Kelly besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Frosch, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie hatte den hellen irischen Teint ihrer Großmutter geerbt, »den du unbedingt mit Faktor fünfzig schützen musst, wenn du in der Sonne bist«, hatte Liz sie immer wieder ermahnt. Die lachenden grünen Augen – die Catrin mochte – hatte sie ebenfalls von Oma Kelly, genau wie die rotblonden Haare, die sie allerdings nicht mochte. Vor allem weil es sich dabei um eine Unmenge widerspenstiger Korkenzieherlocken handelte. Als sie zwei Jahre alt gewesen war, waren sie plötzlich auf ihrem Kopf aufgetaucht und hatten Catrin seither nicht mehr verlassen. Egal wie viel Antilockenzeug sie auch reinschmierte, sie trotzten der Schwerkraft. »Ich wünschte, ich hätte deine Haare!«, sagten die Leute oft. Woraufhin Catrin höflich lächelte und dachte: Nein, tust du nicht – das ist, als würde man mit einer Highlandkuh auf dem Kopf rumlaufen.

Wenn es um ihre körperlichen Merkmale ging, wusste Catrin einen ganzen Katalog an Beschwerden vorzubringen: Sie fand ihre Nase zu »koboldhaft«, ihre Beine zu kurz und ihre Knie zu sehr nach innen gedreht. Das alles sah natürlich niemand außer ihr. Auch war sie blind, was ihre anderen Vorzüge anging, wie ihre Offenherzigkeit, ihr großes Einfühlungsvermögen und ihre unbeirrbare Loyalität denen gegenüber, die sie liebte. Catrins Eltern hielten sie für das schönste Mädchen der Welt, sowohl innerlich als auch äußerlich.

»Stell dir mal vor – vielleicht sehen wir dich nie wieder, weil du dich in irgendeinen griechischen Hippie verknallst!«, fuhr Tom fort.

»Niemand verknallt sich hier in irgendwelche Hippies«, widersprach Huw wenig überzeugend. »Und hör auf, deinen Bruder mit Essen zu bewerfen.«

»Gibt’s in Griechenland überhaupt Hippies?«, fragte Liz nachdenklich.

»Könnt ihr das jetzt bitte mal ernst nehmen, alle miteinander!«, rief Huw genervt, und wie immer, wenn er sich ein wenig aufregte, war der irische Akzent seiner Kindheit deutlich zu hören. Er reichte Catrin den Geldgürtel. »Probier ihn mal an, damit ich dir zeigen kann, wie man die Weite einstellt.«

»Okay.« Catrin nickte. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, dass es ihr das Leben sehr vereinfachte, ihrem Vater seinen Willen zu lassen, wenn er so nervös war. Das würde ihn für den Moment zumindest ein bisschen beruhigen, auch wenn sie jetzt schon wusste, dass sie den Gürtel vor ihrer Abreise unter dem Bett verstecken und garantiert nicht benutzen würde.

»Danke noch mal für gestern Abend«, sagte sie, während sie sich das Ding um den Bauch schnallte. »Alle fanden es klasse.«

»Ach, das war uns ein Vergnügen, stimmt’s, Huw? Du hast so nette Freunde.« Liz strahlte.

»So ist es«, murmelte Huw, dessen Kopf immer noch leicht verkatert war von der Abschiedsparty, die er organisiert hatte.

»Judith ist nicht lange geblieben«, nuschelte Tom, den Mund voller Frühstücksflocken. »Wir wollten doch noch Armdrücken machen und so.«

»Armdrücken!«, rief Liz. »Meine Güte, kein Wunder, dass du keine Freundin hast, wenn du mit jungen Frauen auf Partys Armdrücken machst!«

»Sie musste früh zu Hause sein«, erklärte Catrin. »Du weißt doch, wie ihre Mum ist – auaaa! Dad, nicht so fest! Du bist zu grob.« Huw zerrte mit solchem Eifer an dem Gürtel, dass Catrin fast das Gleichgewicht verlor.

»Ich teste nur, wie stabil er ist«, meinte Huw mehr zu sich selbst.

»Judith wird froh sein, mal eine Weile von dieser Frau wegzukommen, wenn ihr mich fragt«, meinte Liz. »Wie sie es mit der aushält, werde ich nie begreifen.«

»Ihr Dad ist aber ganz in Ordnung. Hab neulich im Klub ’ne Runde gegen ihn gespielt«, kam von Tom. »Redet nicht viel, aber beim Billard hat er’s echt drauf.«

»Hm, aber sag heute lieber nichts zu ihr, ja?«, bat Catrin ihn. »Es war schwer genug, Jude überhaupt so weit zu kriegen, dass sie mitkommt. Ganz schön harte Arbeit, bis Lana ihr klargemacht hatte, dass Patricia ohne sie auskommt. Dad, das schneidet jetzt echt ein. Ich glaub, wenn du so weitermachst, kommt Blut.«

»Entschuldige …«

Es klingelte, und Catrins Eltern wechselten einen Blick. »Ah, das wird Father O’Leary sein«, sagte Huw bemüht heiter auf dem Weg zur Haustür.

»Was will der denn?«, fragte Tom.

Mit verlegener Miene wandte sich Liz an Catrin. »Na ja, dein Vater dachte, nachdem du es am Sonntag nicht zum Gottesdienst geschafft hast …«

»Mum – im Ernst, wie oft denn noch?«, stöhnte Catrin. »Ich geh nicht mehr in die Kirche!«

»Sie ist jetzt eine ausgewachsene Atheistin, wie ich«, meinte Tom.

Liz schlug mit einem Geschirrhandtuch nach seinem Arm und flüsterte durch zusammengebissene Zähne: »Schluss mit diesem Unsinn, Thomas Kelly! So was zu sagen, wenn ein Priester draußen steht!«

Und wie bei einer Jekyll-und-Hyde’schen Verwandlung drehte sie sich mit einem strahlenden Lächeln Richtung Tür – »Father O’Leary!« –, als selbiger die Küche betrat und ihnen allen eifrig zunickte. Er war ein untersetzter, kurz gewachsener Mann, der aussah, als käme er in einem Boxring genauso gut klar wie auf der Kanzel.

»Liz, alles bestens? Wie geht’s denn so?« Father O’Leary stammte aus Cardiff, und sein breiter Dialekt in Kombination mit der zwitschernden, hohen Stimmlage überraschte jeden bei der ersten Begegnung. Irgendwie erwartete man bei einem Mann Gottes etwas anderes.

Huw stand hinter ihm und warf seinen Kindern einen warnenden Blick zu, sich in Gegenwart von Christi Vertreter auf Erden ja zu benehmen. »Catrin Mary, machst du Father O’Leary eine Tasse Tee?«, rief er mit aufgesetzter Fröhlichkeit, wobei er nun wiederum klang wie ein waschechter Ire aus Cork – wie meistens, wenn er sich in der Nähe von Kirchen, Priestern oder Nonnen befand.

Catrin, die immer noch den khakifarbenen Geldgürtel trug, erwiderte Huws Blick trotzig. »Aber natürlich, liebster Vater, selbstverständlich!«, flötete sie zuckersüß.

Der Priester legte seine liturgische Stola um und schien Catrins Sarkasmus nicht zu bemerken. Sie ging zum Wasserkocher.

Catrin liebte ihre Eltern von ganzem Herzen, aber dieses Getue wegen der Kirche machte sie wahnsinnig. Sie war nicht wirklich Atheistin so wie Tom, sie war schon irgendetwas – nur wusste sie nicht mehr genau, was. Als kleines Mädchen hatte sie die ganze Dramatik des Gottesdiensts geliebt, das schöne Kleid zu ihrer Erstkommunion, sich Sünden für die Beichte auszudenken und endlose Ave-Marias in schneller Abfolge herunterzubeten wie ein glücksbringendes Mantra. Doch je älter sie wurde, desto mehr begann Catrins Glaube zu bröckeln. Klar, sie mochte die positive Seite von Jesus – er schien ein Mann mit guten Werten zu sein: freundlich, mitfühlend, nicht nachtragend. Aber der Rest? Nein danke. Dieses ganze Gerede von Schuld und Vergeltung. Also hatten sie sich in der Familie auf einen Kompromiss geeinigt: Catrin würde weiter sonntags in die Kirche gehen, bis sie achtzehn war, doch danach war es nur fair, sie ihre eigene Entscheidung treffen zu lassen. Da sie dann ja erwachsen war, sozusagen.

Sie hatte nie jemandem davon erzählt, nicht einmal Judith und Lana, aber am ersten Sonntag, an dem sie nicht zum Gottesdienst gegangen war, hatte sie auf ihrem Bett gelegen und geheult. Forderte sie das Schicksal heraus? Würde ihr nun etwas Schlimmes zustoßen, jetzt, wo sie eine … hm, was genau war sie denn jetzt? Eine Heidin? Ein gottloses Monster? Die katholischen Schuldgefühle, die sie seit ihrer Kindheit verinnerlicht hatte, ließen sich nicht so leicht abschütteln. Ihre Eltern versuchten kein einziges Mal, sie sonntagmorgens zum Mitkommen zu überreden, was sie ihnen hoch anrechnete. Doch an Weihnachten schaffte sie es nicht, die Mitternachtsmette ausfallen zu lassen. »Ich fühl mich so scheinheilig«, hatte sie zu Judith gesagt, die das nicht nachvollziehen konnte.

»Ich versteh nicht, wo das Problem liegt. Kannst du nicht einfach in die Kirche gehen, wenn dir danach ist? Du weißt schon, ein bisschen wie beim Aerobic-Kurs?«

»Vielleicht«, hatte Catrin erwidert. Doch irgendwie fühlte sich das nicht richtig an.

Der Wasserkocher schaltete sich ab, und Catrin goss den Tee auf. »Dann geht es heute Nachmittag also los, was, Kate?« Father O’Leary hatte es in achtzehn Jahren nicht geschafft, sich ihren Namen zu merken.

»So ist es, Father«, antwortete Liz an Stelle ihrer Tochter.

»Mein Name ist Catrin«, murmelte diese sinnloserweise, während Liz schnell weitersprach.

»Huw bringt die Mädchen um eins nach Bristol zum Flughafen, und von dort aus fliegen sie direkt nach Athen, stellen Sie sich das mal vor!« Seit Catrin der Kirche den Rücken gekehrt hatte, wollte ihre Mutter anscheinend nicht mehr, dass sie dem Priester selbst antwortete. Vielleicht um zu verhindern, dass sie womöglich in einer vom Exorzist inspirierten Tirade Blasphemisches von sich geben könnte.

»Ah, Athen. Klasse. Also, dann …«

Catrin war seltsam fasziniert von Father O’Learys Art zu sprechen. Als würde er sie ständig mit seinen Worten in den Arm piksen. Kurze, staccatoartige, gestelzte Sätze. Wie eine Aneinanderreihung von Achtelnoten. Nebenher nahm er sein Kruzifix aus der Tasche und legte es behutsam auf den Küchentisch. Unauffällig entfernte Liz Toms Schachtel mit den Frühstücksflocken. »Deine Mum und dein Dad – die möchten, dass ich ein kleines Gebet für dich spreche, ja? Um dich auf deiner Reise zu begleiten, wie …«

Tom sah seine Schwester an und verkniff sich nur mühsam das Lachen. Peinlich berührt erwiderte sie seinen Blick.

»Darum lasst uns alle die Köpfe senken, ja?« Die Stimme des Priesters wechselte in eine andere Tonlage, eine Oktave tiefer. Sie klang nun beschwörend und geheimnisvoll, seltsamerweise obwohl er die Worte nach wie vor mit derselben Maschinenpistolengeschwindigkeit ausstieß. »Heiliger Jesus Christus, du bist das Licht und die Hoffnung. Bring, oh Herr, unsere Dienerin Catherine …«

»Ich heiße Catrin, das …«

»Pssst«, zischte Liz mit fest zusammengekniffenen Augen.

»… dass sie in deiner Obhut sicher sei, wie der Heilige Christophorus, Schutzheiliger aller Reisenden, wenn sie selbst auf Reisen geht in das ferne Griechenland und so weiter.«

Tom konnte sich nicht länger beherrschen und prustete los.

»Amen.«

Huw und Liz sagten im Chor »Amen.«

»Entschuldigung, darf ich etwas fragen?«, unterbrach Catrin.

»Nein. Pssst«, sagte Huw. Der Priester hatte sich wieder seiner Trickkistentasche zugewandt und kramte darin herum.

»Aber wie kann das Gebet funktionieren, wenn er meinen Namen falsch sagt? Ich meine, hat er ihn denn wenigstens bei der Taufe richtig hingekriegt?«, flüsterte Catrin.

Inzwischen versuchte Tom seinen Lachanfall mit dem Tower-von-London-Geschirrhandtuch seiner Mutter zu dämpfen, indem er es, so weit es ging, in den Mund stopfte.

»Voilà!«, sagte Father O’Leary und hielt eine kleine blaue Schatulle in der Hand, an deren einer Ecke sich schon die Folie ablöste. Er klappte sie auf. Darin lag auf einem Polster aus grauem Plastikschwamm eine kitschige, silberfarbene Halskette.

Catrin beugte sich vor und begriff, dass es sich um einen dieser billigen Sankt-Christophorus-Anhänger aus dem verstaubten Schrank hinten in der Kirche handelte, die dort verkauft wurden.

»Na, was sagst du dazu?« Father O’Leary strahlte, als würde er ihr den Koh-i-Noor-Diamanten präsentieren.

»Der soll dich auf deiner Reise beschützen!«, verkündete Huw.

»Wie hübsch!«, rief Liz. »Dann wollen wir ihn dir mal umhängen, ja? Damit er seine Aufgabe erfüllen kann!«

Catrin sah ihre Mutter ungläubig an.

Tom liefen die Tränen übers Gesicht. »Der ist absolut bezaubernd, Karen«, sagte er. Und niemand bemerkte seinen Sarkasmus. Außer Catrin natürlich. Die nun ausgerüstet mit ihrem khakifarbenen Geldgürtel und einem nickelversilberten Sankt-Christophorus-Anhänger dastand, der eher einem SOS-Medaillon ähnelte, nur nicht ganz so subtil.

»Hey, wenn das nicht perfekt passt!«, befand Father O’Leary.

Im Flur klingelte das Telefon.

»Ich geh ran!«, kreischte Catrin, die unbedingt der Küche entfliehen wollte. Mit einem Satz war sie draußen und griff nach dem Hörer. »Catrin Kelly, hallo?«

»Cat, ich bin’s, Lana.«

»Oh, Gott sei Dank! Hör zu, je schneller wir hier wegkommen und uns nach Griechenland absetzen, desto besser. Meine Familie hat echt ein Rad ab. Meine Mutter ist doch tatsächlich …«

»Süße, wir haben ein Problem.«

Catrin hielt den Atem an.

»Was ist los?«, fragte sie.

Am anderen Ende der Leitung hörte sie Lana seufzen.

»Judith. Sie kommt nicht mit, verdammt.«

2

JUDITH

Nachdem Judith den Blick ein letztes Mal prüfend durch ihr Zimmer hatte schweifen lassen, hob sie den prallvollen Rucksack hoch, um zu testen, wie schwer er war. Dann wuchtete sie ihn auf die Schultern. Sie konnte es nicht erwarten wegzukommen. Die Aussicht auf diese Reise hatte ihr geholfen, den Prüfungsdruck auszuhalten. Ein kleines Licht im ansonsten sehr düsteren Einheitsgrau aus Lernplänen, Pulverkaffee, Büffelnachtschichten und allgemeinem Stress. Jetzt konnte sie all das hinter sich lassen: Bald säße sie im Flugzeug nach Athen auf dem Weg ins Abenteuer ihres Lebens, zusammen mit ihren beiden besten Freundinnen.

Ein lautes Klappern hinterm Haus riss sie aus ihren Gedanken. Vom Fenster aus sah sie, wie ihr Vater die Katzen rief, wobei er mit einem Löffel gegen den blechernen Fressnapf schlug. Das tat er jeden Morgen im selben Tempo und Rhythmus. Er liebte diese Katzen. »Betty! Betty! Kommt schon! Twister! Frühstück!«

Judith beobachtete, wie er sich streckte und mit einem tiefen Seufzer den Blick über ihren bescheidenen Hinterhof schweifen ließ. Ich weiß, du bist unglücklich, dachte sie, und fühlte einen Stich in der Brust: Würde er ohne sie klarkommen? Als spürte er ihre Anwesenheit, drehte er sich um und blickte zum Fenster hinauf. »Alles gepackt?«, rief er.

»Glaub schon!«, antwortete sie so fröhlich wie nur möglich, um seine Traurigkeit zu vertreiben.

»Noch Zeit für ein Spiel, bevor du startest?«, fragte er lächelnd.

Zwanzig Minuten später hockten sie auf zwei Campingstühlen in der Sonne, jeder mit einer Tasse kräftigem walisischem Tee neben sich. Judith trank ihren mit drei Stück Zucker und sahniger Milch, er seinen schwach und schwarz. Das Backgammonbrett lag zwischen ihnen auf einem alten Beistelltisch, den Judiths Vater mal vor dem Sperrmüll gerettet hatte. Sie mussten ihn stets mit einem gefalteten Bierdeckel stabilisieren. In einträchtigem Schweigen saßen sie da, wie immer, wenn sie spielten. Judith würfelte und machte ihren Zug. Betty und Twister lagen auf den warmen Steinplatten zu ihren Füßen und genossen ein Nickerchen nach dem Frühstück.

Während Judith einen Stein übers Brett schob, warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu: dem Vater, den sie wie ihren eigenen liebte, seit sie sechs war. Für einen Außenstehenden wäre sie ohne Weiteres als sein Fleisch und Blut durchgegangen: Ihre dichten, dunklen, schulterlangen Haare, momentan mit einer Schildpattspange hochgesteckt, hatten dieselbe Farbe und Struktur wie seine – zumindest als er noch jünger war. Ihre großen rehbraunen Augen und das leichte Stirnrunzeln verliehen ihr oft einen ernsten Gesichtsausdruck, seinem nicht unähnlich. Doch wenn sie lächelte, wirkte ihre Freude ansteckend.

Mit Sportreporterstimme flüsterte sie nun: »Jetzt wird es eng, meine Damen und Herren. Backgammonweltmeister George Andrew Harris läuft Gefahr, seinen Titel zu verlieren!«

Lachend griff er nach seinen Würfeln.

Ihr Stiefvater hieß nicht wirklich George.

Und auch nicht Andrew oder Harris. Aber als er 1973 aus Zypern nach Wales kam, stellte er rasch fest, dass niemand Georgios Andreas Charalambos aussprechen konnte. Und das, obwohl Namen wie Rhosllanerchrugog oder Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch den Walisern keinerlei Schwierigkeiten bereiteten. Als Kind liebte Judith die Geschichte, wie aus Georgios George wurde. Wie der Vorarbeiter auf der Baustelle, wo er die erste Arbeit fand, ihm erklärt hatte: »Kumpel, den Namen musst du ändern. Die Leute hier haben es nicht so mit Fremdwörtern.« So wurde aus ihm über Nacht der gute, alte George Andrew Harris. Und wann immer er das erzählte, tat er es mit lachender Stimme, als wäre es ein Witz. Doch Judith wusste, insgeheim vermisste ihr Vater seinen echten Namen. Mehr als einmal hatte sie ihn leise zu den Katzen sagen hören: »Mein Name ist Georgios Andreas Charalambos. Freut mich, Sie kennenzulernen!«

Sie beendeten das Spiel. Er hatte sie gewinnen lassen – was Judith genau wusste, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ. Während sie das Brett wegräumte, nahm er die roten Würfel – seine Würfel –, zog eine kleine geschnitzte Schatulle aus seiner Tasche und legte sie behutsam hinein.

»Wo hast du denn die Schachtel her?« Judith bewunderte die Handwerkskunst.

»Ach, die hab ich beim Aufräumen im Schuppen gefunden.« Er ließ den Deckel zuklappen. »Muss ich vor Jahren mal gemacht haben, als mir langweilig war.« Er überreichte ihr das kleine Holzkästchen. »Ich möchte, dass du die Würfel mitnimmst. Wer weiß – vielleicht spielst du auf deiner Reise ja mal Backgammon.«

Judith wusste, was er damit meinte: Vielleicht spielst du Backgammon, wenn du auf deiner Reise nach Zypern kommst. Es war seltsam, dass sie nie wirklich über seine Heimat sprachen. Sie hatte es oft versucht, bekam auf ihre Fragen jedoch immer nur einsilbige Antworten und einen abrupten Themenwechsel.

Aus den wenigen Informationsschnipseln, die sie im Lauf der Jahre gesammelt hatte, wusste sie, dass er aus einem Ort namens Kakopetria stammte, dort aber keine Familie mehr hatte. Er war Einzelkind, und seine Eltern waren gestorben, bevor er Zypern verließ. Das sei so lange her, dass es ihm vorkäme wie ein anderes Leben, hatte er gesagt. »Ich bin doch jetzt ein waschechter Waliser, oder?«, scherzte er gern.

Judith strich über die weichen Kanten der kleinen Schachtel, die er liebevoll glatt geschmirgelt haben musste. »Aber wenn ich deine Würfel mitnehme«, sagte sie, »kannst du ja gar nicht spielen, während ich weg bin.«

»Mit wem sonst sollte ich denn spielen?« Er lachte. »Niemand ist so gut wie du!«

Es war ein höchst seltsamer Augenblick. Jeder Außenstehende hätte vermutet, dass er mit seiner achtzehnjährigen Stieftochter einen kleinen Scherz machte, um sie aufzumuntern, bevor sie zu ihrer Großen Reise aufbrach. Doch Judith wusste, dass es um mehr ging. Sie konnte nur nicht genau sagen, um was.

Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Du wirst so viele Abenteuer erleben, Judi-moo.« Das war, so lange sie denken konnte, sein Spitzname für sie gewesen.

»Ich weiß, wir haben uns wahnsinnig viel vorgenommen.«

Er hielt inne, dann lächelte er. »Nicht bloß in diesem Urlaub. In deinem Leben!«

Judith runzelte die Stirn. »Dad, ist alles in Ordnung?«

Seine Unterlippe zitterte, und er sah aus, als wollte er noch mehr sagen. In diesem Moment jedoch klopfte es nachdrücklich am Tor zum Hinterhof. Die Katzen sprangen erschrocken auf.

»Hallo? Mr. Harris, sind Sie da?«, rief eine unbekannte Stimme.

George erhob sich, ging zum Tor und schob die beiden Riegel zurück. Draußen stand eine Polizistin.

»Oh, Gott sei Dank, Sie sind da. Ich glaube, Ihre Klingel funktioniert nicht …«

»Worum geht es? Etwas ist passiert?«, fragte George. Wie immer, wenn er aufgeregt war, holperte sein Englisch.

»Sie sind doch Mr. Harris, nehme ich an?«

»Ja«, antworteten Judith und George gleichzeitig.

Die Polizistin holte tief Luft. »Nun, Sir. Also, es tut mir sehr leid, aber es geht um Ihre Frau.«

3

LANA

Die achtzehnjährige Lana Lloyd machte auf dem Soziussitz von Gareth Metcalfs Honda 500 eine ausgesprochen gute Figur. Und das wusste sie auch. Andere beschrieben sie oft als »Surferbraut«, obwohl sie in ihrem ganzen Leben noch auf keinem Surfbrett gestanden hatte. Aber sie war groß und schlank, besaß eine blonde, stufig geschnittene Lockenmähne, helle, haselnussbraune Augen, ein umwerfendes Lächeln und fühlte sich absolut wohl in ihrem Körper.

Gareth und sie hatten vor ihrem Aufbruch zum Flughafen zusammen eine letzte Runde gedreht, auf ihrer Lieblingsstrecke über die Heads of the Valleys Road. Lana hatte die Arme fest um Gareth geschlungen, wie immer berauscht von der Geschwindigkeit und Kraft, mit der das Motorrad die kurvenreiche Straße meisterte. Der Blick von dort aus über die Waliser Täler war atemberaubend. Eines der besten Gefühle der Welt.

Lana und Gareth hatten sich vor knapp einem Jahr kennengelernt, als sie das zweite Mal mit ihrem neuen alten Klapper-Fiesta unterwegs war. Auf dieses Auto hatte Lana ewig gespart, jeden Penny, den sie bei ihrem Samstagsjob im Süßwarenladen und beim sonntäglichen Kellnern verdiente. Der Wagen war mehr als ihr ganzer Stolz – er war ihre Fahrkarte in die Freiheit. Er, nein, sie, trug den Namen Diana, weil die Karre sich benahm wie eine launenhafte Prinzessin. Und da Lana von klein auf gelernt hatte, unabhängig zu sein, und weil sie ihren armen Dad nicht belästigen wollte, der immer bis zum Hals entweder in Windeln oder Schichtarbeit steckte, beschloss Lana, dass es eine gute Idee wäre, sich einige grundlegende Automechanikerkenntnisse zuzulegen. Sie wollte niemanden rufen müssen, sollte Diana mal eine Panne haben.

Also machte sie sich auf den Weg zu Whitley’s Werkstatt in dem kleinen Industriegebiet am Stadtrand. Als sie auf den Hof fuhr, bot sich ihr das Bild dreier konzentriert arbeitender Mechaniker, die an unterschiedlichen Fahrzeugen beschäftigt waren: Einer hing über einen Motor gebeugt, der zweite lag unter einem Transporter, und der dritte hantierte im Innenraum eines Wagens herum. Im Hintergrund lief nicht zu überhören Radio 1, wo Simon Bates gerade in seiner Sendung Unser Lied der Welt die traurige Geschichte eines tragischen Pärchens erzählte.

Lana schlug die Autotür zu, um auf sich aufmerksam zu machen, und rief, ein wenig zu laut: »Jungs, darf ich euch mit Diana bekannt machen? Sie ist schon ein bisschen in die Jahre gekommen und braucht viel Zuwendung!«

Der Kerl unter dem weißen Lieferwagen rollte kurz auf seiner Montageliege heraus und flüsterte: »Bin sofort bei Ihnen, ist gleich zu Ende.« Dann rollte er zurück unters Fahrzeug.

Lana stand da, etwas verwirrt, während Simon Bates seine Geschichte zu einem melodramatischen Finale brachte: »Die Schiebetüren des Krematoriums schlossen sich langsam …«, berichtete er, während bereits die ersten Takte von »Against all Odds« von Phil Collins ertönten, »und Jessie wusste, dass sie ihn nun für immer verloren hatte. Es war Zeit, sich ein … letztes … herzzerreißendes … Mal zu verabschieden!« Die Musik wurde lauter, und Collins fing an zu singen:

»How can I just let you walk away?

Just let you leave without a trace?«

Der Mechaniker, der den Kassettenrekorder im Maestro reparierte, applaudierte. Der ältere Mann an dem blauen Cavalier hob den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Oh, das war gut! Alle Achtung!« Und schließlich tauchte der Typ unter dem Lieferwagen auf seinem Rollbrett wieder auf. »Ja, das muss man ihm lassen, bei Bates gibt’s keine schlechten Geschichten!« Er sprang auf die Füße, wischte sich die öligen Hände an einem Lappen ab und lächelte Lana an. »Tut mir leid deswegen, aber wir hören uns das jeden Tag an.«

Sprachlos stand Lana da.

»Unser Lied«, erklärte er. »Also, weshalb bist du hier?«

Lana brauchte eine Weile, um zu begreifen, weshalb sie kein Wort herausbekam. Lag es am Schock mitzuerleben, wie sich drei gestandene Männer von einem solch sentimentalen Quatsch zu Tränen rühren ließen, oder hatte ihr vielmehr der umwerfende Anblick, der sich ihr bot, die Sprache verschlagen: dieser große Unser Lied-liebende Mechaniker mit der sonnengebräunten Haut und den muskulösen Armen? Er sah ein bisschen älter aus als sie – vielleicht Anfang zwanzig? – mit seinen ölverschmierten, aber wunderschönen Händen, dichten dunklen Locken und grauen Augen. Wie gebannt starrte Lana ihn an, bis er ihre Träumereien unterbrach.

»Soll ich mir den Wagen mal ansehen?« Er zeigte auf ihr Auto und wischte sich dabei immer noch die Hände sauber.

»Ja, bitte«, blökte sie.

Ich klinge wie ein Schaf, dachte sie und versuchte sich zusammenzureißen.

Doch dann lächelte er. Und sie wünschte, er hätte es nicht getan, denn sie merkte, wie sie rot wurde. Sein Lächeln war das hinreißendste und faszinierendste, das ihr je untergekommen war.

»Dann mach mal die Motorhaube auf«, meinte er auf dem Weg zu Diana. »Wie das geht, weißt du, oder?«

»Äh, nein, nicht wirklich.«

»Griff unterm Lenkrad. An dem musst du ziehen.«

»Okay.« Sie folgte seinen Anweisungen und hörte das satte Kloink der Entriegelung. Dann sah sie zu, wie er geschickt den zweiten Haken löste und die Haube nach oben klappte, wo er sie mit dem Stab arretierte. »Ist es okay, wenn ich mir was aufschreibe?« Sie wedelte mit Notizblock und Stift.

»Nur zu«, antwortete er, offenbar beeindruckt.

»Sag, wer hat dir die Karre gekauft? Geschenk von Mummy und Daddy, ja?«

»Ha! Du machst Witze, oder? Ich hab vier Geschwister. Wenn ich Glück habe, krieg ich zum Geburtstag einen Fünfeurogutschein vom Drogeriemarkt!«

»Oh, verstehe.« Er fing an, den Motor zu checken. Dann zeigte er ihr, wie man den Messstab abwischte, bevor man den Ölstand überprüfte – »aber das musst du machen, wenn der Motor kalt ist, okay?« –, und wie man Scheibenwisch- und Kühlwasser auffüllte. Er erklärte ihr den Sicherungskasten und wie man Starterkabel verwendete. Und zum Schluss, wie man einen Reifen wechselte.

»Uff, hoffentlich muss ich das nie machen!« Lana hatte eine Reihe komplizierter Diagramme gezeichnet.

»Weißt du was, gib mal her.« Er zeigte auf ihren Block und den Stift. Als sie ihm beides reichte, kritzelte er einige Zahlen darauf. »Das da ist die Nummer von der Werkstatt hier. Die solltest du an einem sicheren Ort aufbewahren – vielleicht im Handschuhfach –, und du kannst uns immer anrufen, falls du mal eine Panne hast.«

»Oh, danke.« Dann sah sie, wie er umblätterte und eine weitere Nummer notierte. Dazu einen Namen. Gareth.

»Und das bin ich.« Als er ihr den Block zurückgab, berührten sich einen Augenblick lang ihre Finger. »Wenn du mal eine Tour machen willst, ruf mich an. Wenn du dich geschickt anstellst, zeig ich dir, wie man mit der Handbremse Schleudern übt und einen Kavaliersstart hinlegt!«

Sie sahen sich in die Augen. Lana lächelte.

»Oder, wenn du magst, Gareth, können wir das alles überspringen«, sagte sie, »und heute Abend zusammen ins Kino gehen?«

Zehn Monate später waren sie das, was ihr Vater »fest liiert« nennen würde. War es Liebe? Lana wusste es nicht. Insgeheim war sie aber sehr zufrieden damit, dass Gareth ihr Freund war. Im Gegensatz zu den Jungs aus der Schule, mit denen ihre Mitschülerinnen ausgingen, war Lanas Kerl ein echter Mann. Älter – wenn auch nur drei Jahre – und sooo viel sexier.

»Du stehst eben eher auf härtere Typen, was, Lana?«, hatte Catrin sie aufgezogen, als sie im Juni von ihrer Schulabschlussfeier nach Hause spaziert waren.

»Ja, tue ich«, hatte sie ganz sachlich geantwortet, als hätte man sie gefragt, ob sie ihren Tee mit Zucker trinke.

»Oh Gott, erinnerst du dich noch an diesen Cormack von der Achterbahn auf dem Jahrmarkt?«, fuhr Catrin fort. »Der mit der gepiercten Zunge und dem Schlangentattoo am Bein?«

»Hör bloß auf!«, gab Lana grinsend zurück. »Den kannst du kaum als meinen Freund bezeichnen! Ich hab mich ja nur eine Woche lang mit ihm getroffen.«

»Während du gleichzeitig mit dem stellvertretenden Manager vom Dixies Grill zusammen warst«, mischte sich Judith ein.

»Genau, und der war nun wahrlich kein junges Gemüse, wenn wir ehrlich sind«, fügte Cat hinzu.

»Hey, was wird das hier?«, hatte Lana lachend gefragt. »Eine Runde auf Lana rumhacken? Dennis war fünfundzwanzig! Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass du dich damals beschwert hättest, Catrin Kelly – schließlich hat er dir jede Menge Zwiebelringe umsonst zukommen lassen, hab ich recht?«

»Oh ja, stimmt.«

»Lana legt sich eben nicht so gern fest«, fuhr Judith fort. »Ich meine, warum sich mit einem Bad Boy begnügen, wenn man eine ganze Handvoll haben kann, was, Lana?«

Zu diesem Zeitpunkt hatten sie alle drei schon einiges intus gehabt, und Lana wusste genau, wenn sie diese Bemerkung nicht lachend abtat, konnte sich daraus einer ihrer albernen Streits entwickeln. Also ging sie nicht weiter darauf ein, sondern wechselte das Thema.

In Sachen Jungs waren Lana und Judith noch nie einer Meinung gewesen. Als Gareth und Lana ein Paar wurden, machte Judith keinen Hehl daraus, dass sie mit ihm nicht besonders viel anfangen konnte. Aber auch Lana hatte nie viel von Judiths Exfreund Matthew Price gehalten. Der war stellvertretender Schülersprecher und, in Lanas Augen, bieder, stumpfsinnig und stinklangweilig. Zumindest die äußerliche Anziehungskraft konnte sie nachvollziehen, denn er war recht muskulös und spielte Rugby in der Landesliga. Als Matthew vergangene Weihnachten mit Judith Schluss machte, verlor Lana keine Zeit, ihr zu erklären, dass das ein Segen sei. »Dieser Typ war so selbstverliebt! Es ist ein Wunder, dass er sich noch nicht selbst geheiratet hat.« Doch statt dankbar für Lanas Unterstützung zu sein, fuhr Judith sie an: »Pah! Jemand, der mit einem Mechaniker mit schlechtem Mittelschulabschluss und einer Vorliebe für Hubba Bubba zusammen ist, hat wohl kaum das Recht, meinen Männergeschmack zu kommentieren!«

An dieser Stelle musste Catrin einschreiten, bevor die Sache aus dem Ruder lief. »Kommt schon, Mädels. Wir sind vielleicht nicht immer begeistert von unseren jeweiligen Freunden, aber wir sollten nicht zulassen, dass das unsere Freundschaft kaputt macht, oder?«

Lana und Judith dachten beide insgeheim, dass Catrin leicht reden hatte, denn sie hatte noch nie einen richtigen Freund gehabt. Doch es wäre gemein, in diesem Moment darauf hinzuweisen. Die liebe Catrin. Immer diplomatisch. Wenigstens fand sie Gareth ganz okay und nicht nervig wie Judith.

***

Lana fand Gareth auch okay – sie würde ihn die nächsten Wochen wirklich vermissen. Und den Rückzugsort seiner kleinen Wohnung ebenso. Gareths Apartment lag über dem alten Waschsalon von Coed Celyn, was Koid Kellin ausgesprochen wurde und wörtlich übersetzt »Holly Wood« bedeutete. Die Wohnung war das genaue Gegenteil von Lanas eigenem Zuhause, das durch die ständig wachsende Familie aus allen Nähten platzte.

Kurz vor Lanas viertem Geburtstag war ihre Mutter plötzlich gestorben. Lana konnte sich kaum noch an sie erinnern. Danach waren sie drei Jahre lang nur zu zweit gewesen – sie und ihr Dad, Keith. Dann war, scheinbar aus dem Nichts, Janis aufgetaucht, und aus zwei wurden drei. Janis war toll. Sie war immer geduldig und nett zu ihrer kleinen Stieftochter und behandelte sie wie ihr eigenes Kind. Bald jedoch war eine kleine Schwester unterwegs, gefolgt von einer weiteren und dann noch einer und noch einer, bis Lanas Status als Einzelkind nur noch eine ferne Erinnerung war, denn sie war nun das älteste von fünf Mädchen.

Inzwischen teilte sie ihr Zimmer mit ihrer neunjährigen Schwester, die pausenlos redete. Alles in Lanas Familie war laut und chaotisch und dramatisch. Es war nicht so, dass ständig gestritten wurde, aber alle BRÜLLTEN die ganze Zeit. Manchmal sehnte sich Lana nach Ruhe wie nach einer kalten Limonade auf einem staubigen Radausflug. Weshalb sie regelmäßig Zuflucht in Gareths kleiner Wohnung suchte. Sie liebte diesen Ort. Ja, die Bude war schäbig und hässlich eingerichtet, es gab keine Heizkörper, sondern nur einen alten Gasofen, den sie von Zimmer zu Zimmer trugen, wenn es kalt war, und nie genug Heißwasser für ein richtiges Bad. Innen an den Fenstern sammelte sich im Winter die Feuchtigkeit, und wenn man sie im Sommer öffnete, wurde einem von dem heftigen Waschmittelgeruch, der vom Salon heraufwehte, fast schlecht. Trotzdem liebte Lana die Wohnung.

Auf dem Rückweg nach Coed Celyn nahm Gareth die Abkürzung durch die Victoria Road. Dabei sahen sie das Polizeiauto vor Judiths Haus stehen. Er drosselte das Tempo und hielt an. »Willst du reingehen und nachsehen, was los ist?«

»Ich weiß nicht – geht bestimmt um die Nachbarn. Judith hat erzählt, die streiten sich dauernd.«

Doch gerade als Gareth den Motor aufheulen ließ, um wegzufahren, kam eine Polizistin aus dem Haus, gefolgt von Judith und ihrem Vater.

Lana rief: »Jude?«

»Meine Mutter«, antwortete Judith mit bleichem Gesicht. »Sie ist in der Notaufnahme.«

»Verdammte Scheiße!«

»Sie glauben, es ist ein Herzinfarkt«, sagte Judith. »Aber sie machen noch Tests.« Sie war sich bewusst, dass ihr Vater nur wenige Schritte entfernt stand und zur Eile drängte. Die Polizistin hatte angeboten, sie mitzunehmen. »Hör zu, ich muss los.«

»Möchtest du, dass wir mitkommen? Ins Krankenhaus?«, bot Lana an.

»Sei nicht albern. Du musst den Flug kriegen!« Judith versuchte zu lächeln.

Es dauerte einen Moment, bis Lana kapierte und rief: »Jude, wir fliegen doch nicht ohne dich, du dummes Huhn!«

»Lana, ich komm nicht mit.« Sie klang fast schon ärgerlich. »Wie könnte ich unter den Umständen?«

»Aber wir können einen späteren Flug nehmen oder erst morgen starten … oder nächste Woche!«

»Lana, kapierst du nicht, selbst wenn es meiner Mutter so weit gut geht«, fuhr Judith fort, »wird sie jemanden brauchen, der sich um sie kümmert.«

Lana seufzte. »Es fühlt sich so … Ich weiß auch nicht … so endgültig an.«

Judith umarmte ihre Freundin fest. »Du und Catrin, ihr werdet superviel Spaß haben. Und ich will mindestens zehn Postkarten, verstanden?«

Lana nickte. Ihre Kehle war so eng, dass sie nicht antworten konnte. Die Reise, die sie ein ganzes Jahr bis ins kleinste Detail geplant hatten, war innerhalb von Minuten zerschlagen worden. Das war alles so unfair.

»Komm schon«, sagte Gareth leise. »Du solltest Catrin Bescheid sagen.«

Es hatte keinen Sinn, noch weiterzureden. Lana nickte und stieg wieder aufs Motorrad, wo sie sich nun noch fester an ihren Freund klammerte, auf der Suche nach Trost.

4

JUDITH

Laut den Sanitätern, die sie eingeliefert hatten, war Patricia Harris um zehn Uhr morgens an der Hauptstraße von Coed Celyn am Boden liegend aufgefunden worden. Auf dem Heimweg von ihrer Schicht in der Küche des Sandringham-Hotels hatte sie »in den Armen und in der Brust plötzlich diesen heftigen Schmerz verspürt und gedacht, oh Gott, es passiert wieder«. Der Krankenwagen war wenige Minuten nachdem ein Passant den Notruf gewählt hatte an dem Schuhladen eingetroffen, vor dem sie zusammengebrochen war. Als der Sanitäter die üblichen Fragen zur Krankengeschichte stellte, hatte Mrs. Harris erklärt, sie hätte in den vergangenen zehn Jahren drei Herzinfarkte erlitten. Es war also durchaus möglich, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Schwächeanfall oder niedrigen Blutzuckerspiegel handelte.

»Bleiben Sie bei mir, Schätzchen, ja?«, hatte Patricia die Schwesternschülerin Nolly angefleht, »nur bis meine Familie hier ist.«

Nolly hatte nicht gewagt, Nein zu sagen. Sie fand Mrs. Harris gleichzeitig Furcht einflößend und faszinierend: eine achtundvierzigjährige Frau, mit ein Meter sechzig etwas unterdurchschnittlich groß und mit vierundsechzig Kilo knapp überdurchschnittlich schwer, attraktiv auf eine verbrauchte, erschöpfte Art – mit einem Gesicht, das definitiv schon bessere, attraktivere Tage gesehen hatte. Der graue Ansatz ihrer garantiert nicht mehr natürlich dunkelbraunen Haare trotzte der Farbe, die sie so rigoros jeden Monat auftrug. Dazwischen leuchtete ihre Kopfhaut hindurch, als wolle sie sagen: Dem Alter entkommst du nicht, gute Frau! Ihr Make-up war altmodisch: dunkler Lidschatten auf dem Oberlid und falsche Wimpern, die schon mehrfach benutzt worden zu sein schienen. Ihr Lippenstift sah aus, als hätte er den Tag als blasses Pfirsichrosa begonnen, und der dunkelrote Nagellack war teilweise abgesplittert. Sie erinnerte Nolly an den Sechzigerjahrelampenschirm in der guten Stube ihrer Großmutter.

Was sie an Mrs. Harris jedoch am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass der Arzt bei ihr absolut nichts finden konnte, obwohl die Patientin darauf bestand, lebensbedrohlich krank zu sein. Laut dem EKG und der Messung von Blutdruck und Sauerstoffsättigung gab es keinerlei Anzeichen, dass mit ihrem Herz etwas nicht stimmte. Also riet man Patricia, sich auszuruhen und ihren Hausarzt aufzusuchen, sollte sie sich wieder unwohl fühlen. Sie beklagte sich, dass sie nicht aufhören könne zu zittern, und bat darum, dass ihr BITTE jemand einen Rollstuhl organisiere, da sie Sorge hatte, beim Versuch zu gehen womöglich zu stürzen.

»Da kommen sie!«, rief sie mit schwachem Lächeln, als George und Judith eine Stunde später auftauchten. »Mein Mann und meine wunderbare Tochter, dem Himmel sei Dank!« Sie kämpfte mit den Tränen. »Oh, George, ich hatte solche Angst!«, rief sie. »Dieses junge Fräulein hier war ein absoluter Engel.« Sie deutete auf Nolly, die die Angehörigen höflich anlächelte und begann, die Diagnose zu erläutern. Doch bevor sie richtig zu Wort kam, wurde sie von Patricia unterbrochen. »Schätzchen, ich will nicht noch mehr Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen! Kommen Sie her.« Und in einer überschwänglichen Geste der Dankbarkeit küsste sie die Krankenschwester fest auf beide Wangen, ehe sie ihr einen Einpfundschein in die Hand drückte.

»Oh, wir dürfen kein Trinkgeld annehmen«, sagte Nolly.

»Los, stecken Sie das ein!« In Patricias Stimme schwang ein Hauch Drohung mit.

Die Schwester tat wie geheißen und verabschiedete sich rasch.

Judith und George standen stumm da, unsicher, was sie als Nächstes tun sollten.

»Ihr habt euch aber ganz schön Zeit gelassen«, schimpfte Patricia leise, nun gar nicht mehr die schwächliche, rührselige, Trinkgeld verteilende Patientin von eben.

»Die Polizei kam zu uns«, erwiderte George. »Wir wussten nicht, dass du …«

»Ich lag gute zehn Minuten auf diesem Bürgersteig – weitere fünf, und ich wäre tot gewesen! Das hat mir der Mann im Krankenwagen gesagt!«

»Wie kommt es dann, dass sie dich nicht hierbehalten?«, fragte Judith.

»Bist du jetzt etwa Ärztin, mein Fräulein? Expertin für medizinische Angelegenheiten?«

Judith öffnete den Mund zu einer Erwiderung, wurde jedoch von Patricia unterbrochen, die zischte: »Bringt mich gefälligst nach Hause, Herrgott noch mal. Ich muss mindestens eine Woche lang das Bett hüten.« Bei diesen Worten sah sie weder ihren Mann noch ihre Tochter an.

»Ich geh mal ein Taxi rufen«, bot Judith an und wechselte ein trauriges Lächeln mit George.

Als sie sich dem Empfangstresen näherte, sah sie, wie die Schwesternschülerin Patricias Pfundschein in eine Spendenkassette steckte. Um traurige Kinder glücklich zu machen …, stand auf dem Sockel. Judith griff nach dem Hörer des Taxirufapparates und wartete auf ein Freizeichen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie zu der Schwesternschülerin, »darf ich Sie kurz etwas fragen? … Meine Mutter – hatte sie einen Herzinfarkt?«

Nolly lächelte freundlich zurück. »Ähm … nein. Hat sie Ihnen das nicht erzählt? Wir glauben, es war hormonell … Das Herz haben wir nur wegen ihrer Krankengeschichte überprüft.«

»Welche Krankengeschichte?«

Nolly blickte sich um. Für sie war das alles noch sehr neu. Verstieß sie gegen die ärztliche Schweigepflicht? Sicher nicht, schließlich handelte es sich hier um die Tochter der Patientin. »Na ja, sie hat dem Sanitäter gesagt, sie hätte bereits drei Herzinfarkte hinter sich«, antwortete sie leise. Judiths verwirrter Gesichtsausdruck ließ die junge Frau unsicher werden. »Äh … deshalb haben wir die Untersuchungen gemacht?«, fuhr sie zögernd fort. Es klang mehr nach einer Frage als nach einer Aussage.

»Meine Mutter hatte noch nie in ihrem Leben einen Herzinfarkt«, erwiderte Judith.

»Celyn Taxiservice. Wohin möchten Sie?« Die Stimme der Taxizentrale knisterte durch die Leitung.

»Ähm, ja, Victoria Road, bitte.« Judith bebte vor Wut, zumindest fühlte es sich so an. »Drei Personen. Auf den Namen Harris.«

Die Schwester schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln und sah zu, wie Judith den Hörer auflegte und zu ihren Eltern zurückkehrte.

Auf der Heimfahrt im Taxi sprach Judith kein Wort. Nicht dass sie in Anwesenheit ihrer Mutter je viel geredet hatte, aber dieses Mal blieb sie völlig stumm. Ihr Vater genauso. Patricia bemerkte nichts, sondern unterhielt sich angeregt – manche würden es sogar als Flirten bezeichnen – mit dem Taxifahrer. Sie schilderte ihm ihren dramatischen Vormittag und erklärte, sie habe einen leichten Herzinfarkt erlitten und müsse zu weiteren Tests ins Krankenhaus. Man habe sie dort jedoch erstklassig behandelt, ein Hoch auf das britische Gesundheitssystem. Der Fahrer war ganz von ihr eingenommen. Er fand Patricia charmant. Das war immer so.

Auf dem Beifahrersitz kämpfte Judith mit ihrer Wut. Am liebsten hätte sie laut geschrien, so unfair fand sie es, eine Mutter wie ihre zu haben. Eine Mutter, die absichtlich den lang ersehnten Urlaub ihrer Tochter sabotierte. Eine Mutter, die schamlos log, um zu verhindern, dass ihre Tochter irgendeine Art von Glück fand.

Ich hasse sie, dachte Judith stumm, immer und immer wieder, wie ein Mantra, während sie frustriert die kleine Würfelschachtel in der Hand hin und her drehte. Sie hatte sie wie einen Glücksbringer in der Tasche mit sich herumgetragen, seit George sie ihr am Morgen überreicht hatte.

Als sie vor dem Haus anhielten, stieg George aus, bezahlte den Fahrer und öffnete Patrica die Tür.

Nun wieder ganz Patientin, sollten zufällig irgendwelche Nachbarn zusehen, nahm Patricia den angebotenen Arm und ließ sich von ihrem Mann langsam ins Haus führen.

Judith ging voraus. Sie wollte so viel Distanz wie nur möglich zu ihrer Mutter schaffen. Drinnen durchquerte sie das Wohnzimmer Richtung Küche. Ihr Rucksack stand neben dem Kamin und wartete geduldig darauf, zu seinem großen Abenteuer aufzubrechen. Sie ging zur Spüle, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Durchs Fenster konnte sie das Backgammonbrett draußen auf der Terrasse sehen, nur halb weggeräumt, weil die Polizei gekommen war.

Aus dem Wohnzimmer hörte sie die vertraute Stimme ihrer Mutter, die auf George herumhackte: Tu dies … Lass das … Pass doch auf … Nörgel, jammer, höhn … Der altbekannte Soundtrack von Judiths häuslichem Leben. Sie holte tief Luft und ging nach nebenan.

»Ich setze mal Teewasser auf«, sagte George, als Judith das Zimmer betrat. Ihre Mutter saß nun schlapp in einem Sessel, die Augen geschlossen, den Kopf nach hinten gelegt.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Judith leise.

»Muss nächste Woche wieder hin, Termin beim Facharzt«, murmelte Patricia monoton.

Judith nickte. Wartete kurz. »Und sie haben gesagt, es war ein Herzinfarkt, ja?«

»George, Schatz, bring mir ein Alka Seltzer, ja?«, rief Patricia Richtung Küche. Manchmal konnte ihre Mutter so nett und normal klingen. »Und zwei Veganin. Ich spüre, dass sich da eine Migräne anbahnt.« Wie geschickt sie unwillkommenen Fragen auswich, war beeindruckend.

»Du musst Beryl bei der Arbeit für mich anrufen. Ihr sagen, was passiert ist …«

»Aber was genau ist denn passiert, Mutter?«, fragte Judith ganz ruhig.

Patricia ignorierte die Frage. Wieder einmal. »Natürlich könntest auch du anbieten, ein paar meiner Schichten zu übernehmen. Ruf Beryl an, Schätzchen, und sag ihr Bescheid. Ich werde sicher zwei Wochen krankgeschrieben sein, meint der Arzt.«

George kehrte mit Alka Seltzer und Schmerztabletten zurück und reichte sie Patricia, die beides ohne Dank entgegennahm, hinunterschluckte und seufzte. Dann blickte sie ihre Tochter herausfordernd an. »Nun, worauf wartest du noch? Je früher Beryl informiert ist, desto schneller kann sie Ersatz für mich organisieren.«

Judith hielt ihre zitternden Hände fest und legte los: »Mum, du weißt schon, dass ich jetzt eigentlich auf dem Weg zum Flughafen sein sollte, oder? Mit meinen Freundinnen? In den Urlaub, den wir seit einem Jahr planen.«

Patricia sah sie an. Kalt. Ohne Mitgefühl. »Und was erwartest du jetzt von mir, Fräulein?«, fragte sie. »Ich kann ja schließlich nichts dafür, wenn ich mitten in der Stadt einen Herzinfarkt bekomme! Entschuldige bitte, dass ich krank bin, entschuldige, dass ich an der Schwelle des Todes stand!«

»Klar, nur dass du eigentlich nicht krank warst, hab ich recht? Du hattest keinen Herzinfarkt. Und auch keinen der drei davor, wie du es dem Arzt gegenüber behauptet hast!«

»Pat, wovon redet sie?«, wollte George wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Patricia. »Würdest du jetzt bitte Beryl anrufen, bevor es zu spät ist. Ich will der Frau keinen Ärger machen.«

Judith blickte auf die Wanduhr, die über dem Kopf ihrer Mutter hing.

Sie traf ihre Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde.

Mit zwei Schritten war sie beim Kamin, nahm ihren Geldbeutel und den Pass vom Sims und wuchtete sich den Rucksack auf den Rücken.

»Was zum Teufel tust du da?« Ihre Mutter klang ungläubig.

»Ich verreise.«

Patricia, plötzlich wieder topfit, sprang auf und versuchte den Rucksack zu Boden zu zerren.

»Du wirst dieses Haus nicht verlassen, junge Dame!«, keifte sie, doch Judiths Trotz und Entschlossenheit verliehen ihr Kraft. Patricia hatte keine Chance.

»Oh doch, das werde ich.« Mit großen Schritten hielt sie auf die Tür zu. »Du hast in meinem Leben schon genug kaputtgemacht.« Sie versuchte, in den schmalen Flur hinauszutreten, was mit dem unförmigen Gepäckstück auf dem Rücken gar nicht so einfach war.

»George, jetzt steh hier nicht dumm rum, verdammt noch mal!«, kreischte Patricia, und George ging auf Judith zu.

»Lass mich, Dad, es hat keinen Sinn …«

Doch George wollte sie gar nicht am Gehen hindern. Er öffnete die Tür, um sie hinauszulassen.

»Oh, verstehe, so ist das also?« Patricia lachte das höhnische Lachen, das Judith so gut kannte. »Wie immer – gegen mich verschworen! Ihr solltet euch schämen, ihr beide!«, rief sie und drückte im selben Moment auf die Tränendrüsen.

Judith sah George an. Sie musste der Versuchung widerstehen, selbst zu weinen. »Tschüss, Dad. Wir sehen uns im August, ja?«

George umarmte sie fest, wortlos hielt er sie an sich gedrückt, als hinge sein Leben davon ab. Dann sah er ihr tief in die Augen und ließ sie schließlich los.

»Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, Judith Harris«, zischte Patricia, »dann wird es das letzte Mal sein, hast du mich verstanden.«

»Viel Glück beim Arzt, Mum! Werd schnell wieder gesund!«, rief Judith, nun fast hysterisch, als sie aus dem Haus trat. Sie war nur wenige Schritte gegangen, als sie hörte, wie drinnen das Alka-Seltzer-Glas an der Wohnzimmerwand zerschellte.

»KOMM JA NIE WIEDER ZURÜCK, HÖRST DU MICH?«, schrie Patricia.

Judith ging die Straße hinunter. Inzwischen hatte es angefangen zu regnen. Sie fühlte sich wie nach einem Boxkampf. Niedergeschlagen, besiegt und sehr, sehr allein.

Eine Viertelstunde später stand sie an der Bushaltestelle und starrte mit tränenüberströmtem Gesicht entsetzt auf den Fahrplan. Da hörte sie auf einmal eine Stimme:

»Wie geht’s deiner Mutter?«

Es war Gareth, der mit seinem Motorrad angehalten hatte, während das Auto hinter ihm wegen der Verzögerung ungeduldig hupte. Aus irgendeinem Grund ärgerte es sie, ihn dort zu sehen. Er rollte in die Bushaltestelle.

»Hab ihn knapp verpasst«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Den Bus, meine ich. Damit wäre ich noch rechtzeitig in Cardiff gewesen, um den Zug nach Bristol zu erwischen und dann, keine Ahnung, vielleicht ein Taxi, aber jetzt hab ich den ganzen verdammten …« Sie fing wieder an zu weinen.

»Oh. Verstehe.« Gareth zögerte. »Aber ich dachte …«

»Hör zu, Gareth, was willst du?«, fuhr sie ihn an. Sie stand da, völlig fertig, und der Rucksack und die nassen Klamotten zogen sie runter, genau wie ihr bleischweres Herz.

Er löste den Riemen des Ersatzhelms, den normalerweise Lana trug. »Steig auf, ich fahr dich.« Er ließ den Motor aufheulen, bereit zum Start.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich begegneten, wechselten Judith und Gareth normalerweise kaum ein Wort. Und nun bot er an, ihr einen Riesengefallen zu tun. Sie blieb stumm. Unschlüssig.

»Na los, beeil dich«, sagte er. »Wir haben ja nicht den ganzen Tag Zeit!«

Eine halbe Stunde später brausten sie auf der M4 Richtung Bristol und Flughafen.

5

LANA

Da sie jetzt nur zu zweit zum Flughafen gebracht wurden, war ein Platz im Auto frei. Liz Kelly brauchte keine Extraeinladung. Sie erzählte Lana, sie hätte von Anfang an ihre Tochter unbedingt zum Flughafen begleiten wollen, aber leider sei Huws Ford Sierra ja nicht der geräumigste Wagen. »Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, den Zug zu nehmen und dann mit Huw nach Wales zurückzufahren, aber meine gesamte Familie hat behauptet, ich würde ein Drama daraus machen!« Sie lachte. »Es ist zwar traurig, dass Judith nicht mitkommt, aber so kann ich mich wenigstens richtig von meiner Tochter verabschieden. Am Gate. Wie in den ganzen Filmen immer.«

Catrin verdrehte die Augen.

Von Coed Celyn bis zum Flughafen von Bristol brauchte man mit dem Auto gute zwei Stunden. Die Fahrt kam ihnen aber deutlich länger vor, weil Mr. und Mrs. Kelly während der gesamten Zeit redeten. Lana saß mit Catrin auf der Rückbank. Bei einigen der absurden Äußerungen vorne im Wagen lächelten sie sich müde an, doch die meiste Zeit hockten die beiden Mädchen einfach nur da, hörten zu oder hingen ihren Gedanken nach. So ganz hatten sie die Neuigkeit immer noch nicht verdaut, dass ihre beste Freundin nicht mit auf diese lang ersehnte Reise kommen würde.

»Sie hat auf mich noch nie wie jemand mit schwacher Pumpe gewirkt«, meinte Huw, die Brille auf der Nase, die Hände fest am Lenkrad, während sie gemächlich die M4 entlangrollten, mit fünf Stundenkilometern weniger als erlaubt waren.

»Ja, eben.« Liz nickte. »Ich meine, sie ist nun wahrlich nicht dick, oder, Huw? Also ich würde sie nicht als dick bezeichnen …«

»Nein, nicht wirklich dick – aber auch nicht dünn. Ich würde es …« Er stockte und suchte nach dem richtigen Wort, schließlich wollte er nicht, dass seine Beschreibung von Patricia Harris zu positiv klang, denn um ehrlich zu sein hatte er sie immer ziemlich attraktiv gefunden. Wie eine etwas vulgäre Jackie Kennedy. »Ich würde sagen, ihre Proportionen sind … stimmig.«

»Pfff, das klingt wie ein Möbelstück!«

»Ähm, na gut … dann wohlgestaltet?«

»Wohlgestaltet? Was ist denn das für ein Wort?« Liz lachte.

»Dann nennen wir es eben kurvig!«, gab Huw schließlich nach und bereute es sofort, weil er verdächtig rot anlief.

»Gütiger Herr im Himmel, stehst du etwa auf sie, Huw?«

»Entschuldigt bitte, aber diese Unterhaltung ist total daneben«, mischte sich Catrin zu Huws großer Erleichterung ein. »Ihr redet hier über Judiths Mutter!«

»Entschuldigung, ja, verzeih.« Liz bekreuzigte sich. »Möge der Herr ihrer gemeinen Seele Frieden schenken.«

»Und sie ist auch nicht tot!«, rief Catrin. Manchmal waren ihre Eltern echt unmöglich.

»Es ist doch so«, fuhr Liz fort, »alles, was dein Vater sagen will, ist, dass Patricia Harris nicht nach einem typischen Kandidaten für einen Herzinfarkt aussieht, stimmt’s, Huw?«

Und schon waren sie wieder mittendrin. Jetzt unterhielten sie sich über die verschiedenen Leute, die sie kannten, die einen Herzinfarkt erlitten hatten, und verglichen deren Statur mit der von Patricia Harris. Dann diskutierten sie diverse Diäten, wobei Liz die Vorzüge des F-Plans anpries, wenn es darum ging, Pfunde loszuwerden. »Ich sag dir, Huw, da isst man morgens, mittags und abends Backofenkartoffeln, und diese Frau hat damit zwanzig Kilo abgenommen!«

Eine Stunde später saßen Catrin und Lana in der Flughafenlounge, wo sie missmutig ihren zweiten Kaffee tranken, auf die Informationstafel starrten und darauf warteten, dass ihr Gate angezeigt wurde. Lana meinte irgendwann, es hätte keinen Sinn, dass sie alle warteten, und schlug vor, Mr. und Mrs. Kelly könnten doch den Heimweg antreten. Davon wollte Huw aber nichts wissen. »Und was ist, wenn der Flug gestrichen wird, während Liz und ich fröhlich über die Severn Bridge gondeln, und ihr beide hier auf einer Flughafenbank strandet?«

Lana fragte sich, ob Catrins Eltern insgeheim ganz froh wären, sollte die Reise tatsächlich ins Wasser fallen. Doch noch viel mehr beschäftigte sie, ob Catrin selbst sich das wohl wünschte. »Es fühlt sich alles so falsch an«, flüsterte Catrin verloren. »Als stünde die Reise unter einem schlechten Stern.«

»Sei nicht albern«, erwiderte Lana, wenn auch ohne rechte Überzeugung.

Plötzlich jedoch schreckte sie eine vertraute Stimme auf. »Hallo, Mädels!«

Als sie sich umdrehten, bot sich ihnen ein seltsamer Anblick: Auf sie zugelaufen kam … Gareth! Und neben ihm, Pass in der Hand, Rucksack auf dem Rücken, strahlendes Lächeln im Gesicht: Judith.

»Mein Gott, Judith! Du bist ja doch gekommen!«, kreischte Catrin.

»Süße! Ich versteh nicht … Was ist mit deiner …«, stammelte Lana.

»Lange Geschichte«, meinte Judith bloß.

»Hab sie an der Bushaltestelle bei Liptons aufgegabelt«, erklärte Gareth mit Heldenlächeln. »War ein bisschen knapp, es noch hierher zu schaffen. Wahrscheinlich krieg ich einen Strafzettel, aber das war’s allemal wert.«

»Heiliger Strohsack!«, staunte Huw.

»Danke, Gareth«, sagte Judith leise und ein bisschen verlegen, während Lana einen dicken Kuss auf Gareths strahlenden Mund drückte.

»Hab ich nicht den besten Freund auf der ganzen Welt?«, wollte sie wissen.

»Gate dreiundzwanzig!«, rief Liz hysterisch. Wie ein Habicht hatte sie die Anzeigetafel nicht aus den Augen gelassen. »Gate dreiundzwanzig! Kommt schon! Gut gemacht!«

Judith und Lana quietschten vor Aufregung und schnappten sich ihr Gepäck. Catrin, offenbar völlig überwältigt davon, dass es tatsächlich endlich losging, umarmte rasch ihre Eltern und folgte dann ihren zwei besten Freundinnen Richtung Abfluggate. Sie waren nicht weit gekommen, als Catrin plötzlich stehen blieb. Lana und Judith waren schon einige Schritte voraus, ehe sie es bemerkten. »Was ist los?«, rief Lana ihr über die Schulter zu.

»Ich schaff’s nicht«, flüsterte Catrin. Ihre Stimme ging im allgemeinen Flughafenlärm beinah unter.

»Wie meinst du das?« Judith wich den entgegenkommenden Passagieren aus.

»Ich bin einfach … Ich hab jetzt schon Heimweh. Ihr zwei seid viel mutiger als ich.«

»So ein Quatsch«, entgegnete Lana. »Du bist schon viel weiter gereist als Jude und ich. Du warst auf Mallorca!«

»Und in Jugoslawien«, fügte Judith hinzu, die keinen Hehl aus der Tatsache machte, dass sie Catrin immer um ihre Familienurlaube beneidet hatte.

»Das Weiteste, was wir zwei je geschafft haben, war diese ätzende Jugendfreizeit in Belgien«, meinte Lana.

»Und in den Zoo von Bristol, um genau zu sein«, fügte Judith mit schiefem Lächeln hinzu. Catrin gelang es zurückzulächeln.

Letzter Aufruf für die Passagiere Harris, Kelly und Lloyd, gebucht auf Flug AF369 nach Athen, ertönte eine blecherne, nasale Stimme über die Lautsprecher. Bitte begeben Sie sich umgehend zu Gate Nummer dreiundzwanzig. Boarding endet in fünf Minuten.

Alle drei ignorierten es.

»Ach, Cat! Komm mal her«, sagte Judith. »Lana, du auch! Einmal fest drücken, kommt schon!« Sie umarmten sich zu dritt mitten im Getümmel der Urlaubsreisenden. »Wir werden eine supergute Zeit haben, ja?«

»Ja, sie hat recht«, pflichtete Lana ihr bei.

»’tschuldigung«, schniefte Catrin. »Ich weiß, es ist albern …« Ein Schluchzer entfuhr ihrer Kehle, und sie kam sich vor wie eine müde Vierjährige.

»Also, dann weißt du ja, was wir zu tun haben?« Lanas Augen blitzten schelmisch.

»Nein, Lana«, stöhnte Judith grinsend. »Wir singen nicht dieses Lied. Nicht hier!«

Catrin musste trotz ihres Kummers lachen. »Wir müssen zum Flugzeug!«

»Nicht bevor wir nicht das Lied gesungen haben. Ihr wollt es doch auch«, erwiderte Lana. »Es funktioniert immer!«

Damals, 1973, als die Mädchen sich in der Klasse von Mrs. John kennengelernt hatten, hatte Catrins Vater sich zur Melodie von »She’ll be Coming Round the Mountain« ein albernes Lied ausgedacht. Seither war es so etwas wie ihre Hymne geworden. Nun standen sie da, das Trio aus drei besten Freundinnen, gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt, und stimmten – zwei von ihnen zuerst eher widerwillig – ihren Song an.

Catrin Kelly, Judith Harris, Lana Lloyd!

Fielen in den Graben zu den Raben.

Ihre Kleider furchtbar stanken

Seht nach Coed Celyn sie wanken.

Catrin Kelly, Judith Harris, Lana Lloyd!

»Ab nach Griechenland!«, rief Lana.

»Ab nach Griechenland!«, fielen Judith und Catrin mit ein. Dann rannten sie zu ihrem Gate.

6

CATRIN

Catrins Sorgen waren völlig unbegründet. Drei Wochen später hatte sich ihre Angst vor Heimweh spurlos in der heißen Ägäisluft aufgelöst. Sie konnte nicht glauben, dass sie diese Reise je infrage gestellt hatte – es war einfach nur genial. Alle drei hatten mehr als genug Sonne getankt und ernährten sich vorwiegend von Ouzo und Oliven.

Auf Skiathos waren sie versehentlich an einem FKK-Strand gelandet, wo sie von einem nackten Schotten mit Walrossschnauzbart gerügt wurden, nicht nackt genug zu sein. Und auf Kos hatten sie naiverweise das Übernachtungsangebot einiger freundlicher junger Männer angenommen, die sich als armenische Terroristen entpuppten. Sie hatten sich für eine griechische Nacht auf Paros in Togas gekleidet und in einer Strandbar auf Mykonos die königliche Hochzeit von Fergie und Prinz Andrew verfolgt. Lana hatte dabei aus voller Kehle die Waliser Nationalhymne geschmettert, um ihre republikanische Einstellung zum Ausdruck zu bringen.

Die Samaria-Schlucht auf Kreta stand ganz oben auf Catrins To-do-Liste für die gesamte Reise. Sie hatte in der National Geographic ihres Vaters darüber gelesen und war von den Fotos dieser uralten Schlucht, die sich zwischen den Lefka Ori und dem Volakias-Berg hindurchschlängelte, absolut fasziniert gewesen. Der Tagesausflug war nicht billig, aber Catrin versprach Lana und Judith, sie würden keine einzige der achtzehnhundert Drachmen bereuen. Trotz Lanas Protest am Abend zuvor – sie wollte noch ein paar Bier in Lexi’s Bar trinken – hatte Catrin darauf bestanden, früh ins Bett zu gehen. »Wir müssen um sechs aufstehen und die Wanderung dauert mindestens acht Stunden. Ihr werdet mir noch dankbar sein.« Dann hatte sie jeder auf dem Balkon noch ein Glas Sprite eingeschenkt und die Canastakarten gemischt.

Der Bus parkte neben einer Reihe von Cafés an der Nordseite von Hafens von Chania. Angelina, die Reiseleiterin, begrüßte lächelnd jeden Teilnehmer mit einem kalimera und hakte die Namen auf ihrer Liste ab. Bei den Fahrgästen handelte es sich um eine bunte Mischung unterschiedlicher Altersgruppen und Herkunftsländer. Catrin war beeindruckt, wie munter alle waren angesichts der Tatsache, dass es gerade mal sieben Uhr morgens war.

Nach einem letzten Durchzählen sah Angelina auf ihre Uhr. Dann tippte sie auf das Mikro in ihrer Hand, um zu überprüfen, ob es eingeschaltet war, und verkündete, dass zwar noch zwei Teilnehmer fehlten, sie aber nicht länger warten konnten.

Mikos, der Fahrer, schloss die Türen und ließ den Motor an.

Gerade als sie losfahren wollten, hämmerte jemand wild gegen die Seite des Busses, sodass Mikos auf die Bremse trat. Die Türen öffneten sich wieder, und ein junger Kerl – knapp zwanzig, relativ dunkler Teint – kletterte an Bord. Atemlos, mit Shorts und Unterhemd bekleidet und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken. Er sah aus, als wäre er stundenlang gerannt. »Sorry, tut mir so leid.« Er konnte kaum sprechen.

Angelina lächelte ihn mitfühlend an. »Und Sie sind Mr. … Cook? Oder Mr. …«

»Blythe. Mr. Blythe«, antwortete der junge Mann. »Eddie hat’s nicht geschafft. Er ist Cook. Also, so heißt er, der Cook auf Ihrer Liste. Mr. Cook.«

Angelina wirkte ein bisschen verwirrt. Sie hakte seinen Namen auf ihrem Clipboard ab und bat ihn, sich einen Platz zu suchen. Er steuerte auf das hintere Ende des Busses zu. Catrin, die von der Aufregung kurz abgelenkt worden war, las inzwischen wieder in ihrem Reiseführer über das verlassene Dorf Samaria, das sie auf halber Strecke ihrer Wanderung erreichen würden.

Auf einmal eine Stimme neben ihr.

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