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On Stage in London

Als Buch hier erhältlich:

Stell dir vor, du kannst nicht mehr wegrennen. Dich nicht verstecken. Die Vergangenheit hat dich eingeholt, aber es gibt jetzt jemanden, für den es sich zu kämpfen lohnt. Stell dir vor, die ganze Welt kennt dein Gesicht. Die Fans liegen dir zu Füßen, egal, wohin du gehst. Doch der einzige Mensch, den du je wolltest, wird niemals zu dir zurückkehren.

Manche Dinge sind unverzeihlich. Als Eliza den Entschluss fasst, ihr Studium in London weiterzuführen, will sie alles vergessen, was zwischen Finn und ihr passiert ist. Mithilfe neuer Freunde und fernab von der Stadt, in der ihr alles genommen wurde, scheint ihr endlich ein Neuanfang zu gelingen. Bis eine einzige Nacht, ein einziger Song ihre sorgfältig errichtete Fassade zum Bröckeln bringt …


  • Erscheinungstag: 20.07.2021
  • Aus der Serie: Backstage Serie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 576
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745701111

Leseprobe

Triggerwarnung:
Dieser Roman enthält Szenen, in denen Suizidgedanken, Selbstverletzung und sexuelle Gewalt verhandelt werden.

Für alle, die jemals zwischen Songtextzeilen und Bücherseiten ihren Frieden gefunden haben.

1. KAPITEL

SETTING YOURSELF ON FIRE

Finn

April 11th, 1:00 a. m.

Bunte Punkte tanzten vor meinen Augen, als ich mich nach hinten fallen ließ und auf den schwarzen Fliesen meines Badezimmers aufkam. Der Aufprall war vergleichsweise schwach, aber ich war auf physischer Ebene inzwischen vollständig taub – vermutlich ein Reflex meines Körpers, weil ein Mensch nur eine gewisse Menge an Schmerz empfinden kann.

Unzählige weiße Pillen lagen um mich herum verteilt, winzige Tabletten. Bei der Hälfte handelte es sich um Antidepressiva, die restlichen waren Schlafmittel. An die fünfzig mussten es ungefähr sein, ich hatte sie nicht alle zählen können, als die Kapseln aus meinen Händen geglitten und vor mir auf dem Boden aufgekommen waren.

Ich schloss die Augen und wand mich eine Weile, während im Inneren meines Kopfs ein Film ablief, fast schon in Zeitlupe, der zu der einzig wahren Realität für mich wurde.

An das Glück konnte ich mich nicht mehr erinnern, auch wenn mein Verstand einwandfrei funktionierte. Er versuchte, mit zwei Worten die Empfindungen zurückzubringen und mich fühlen zu lassen, wie alles vor dem Anruf meiner leiblichen Mutter gewesen war.

San Francisco.

Es war vergeblich.

Wieder ein Reflex, dachte ich. Ich war nicht in der Lage, an Eliza zu denken, als ich noch der festen Überzeugung gewesen war, wir würden das hinkriegen. Wir beide würden jede Schwierigkeit überwinden, weil ich vielleicht doch normal war. Fähig, einen Menschen an mich heranzulassen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, auch wenn es kaum Wochen zurücklag.

Nur an den Anruf meiner Mutter am letzten Abend. Julia Gallagher hatte sich gemeldet. Ja, daran erinnerte ich mich in jeder Einzelheit. Sie hatte es mir vorsichtig mitgeteilt, zögernd. Aber es hatte nichts an der Tatsache geändert. Meine leibliche Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon etliche Tage mit Laura und Michael in Verbindung gewesen. Sie hatte nicht nachgegeben, und Laura sah das als Zeichen, mich einzuweihen. Ihr eine Chance zu geben. Sie hatte mich regelrecht beschworen, mich mit ihr zu treffen. Aber ihre Worte hatten keinen Sinn für mich ergeben, meine Sicht war verschwommen, das ganze Hotelzimmer war vor meinen Augen verschwunden. Ich war mit grausamer Klarheit an meine Kindheit erinnert worden, nur weil sie ihren Namen ausgesprochen hatte.

Ich konnte nicht weiter denken, ich beugte mich vor, stürzte auf die Knie und sah mein Abbild im Spiegel vor mir. Für eine Sekunde sah ich den sechsjährigen Jungen, der ich damals gewesen war. Blut, das Geräusch von knackenden Knochen, Schmerzensschreie und Dunkelheit. Es war nicht viel, Details hatte mein Verstand nicht behalten, aber es reichte aus.

Und dann verschwand die Vision, und ich sah den schwarzen Anzug, meine blutunterlaufenen Augen, die von zu wenig Schlaf zeugten, und die Maske, die mir über die Haare gerutscht war. Ich war kein Kind mehr. Ich war erwachsen. Ich hatte unvorstellbare Macht, die mir erlaubte, einen Menschen zu zerstören und zu missbrauchen. Nicht irgendeinen Menschen, sondern den einzigen, den ich jemals lieben würde.

Mit einem Satz war ich wieder auf den Beinen und riss mir erst die Maske, dann die Kleidung vom Körper, zerrte an dem teuren Stoff, machte so lange weiter, bis ich nur noch in Boxershorts dastand. Wieder ging ich zu Boden, aber nicht, bevor ich das Rasiermesser aus der Schublade unter dem Waschbecken genommen hatte.

Ich hatte mich von Eliza getrennt, nachdem sie mir schluchzend erklärt hatte, dass sie über Kathryn Bescheid wusste und trotzdem bei mir bleiben würde. Ich hatte sie gehen lassen, obwohl jede Faser meines Körpers darunter litt und ich mir bewusst war, dass ich damit die letzte Chance auf Glück verspielte. Es war mir egal, wie viel ich ertragen musste, wenn ich sie damit vor mir rettete. Lauras Anruf hatte mich aufgeweckt, mir gezeigt, wer ich wirklich war. Eliza hatte etwas Undenkbares für mich getan, als ich durchgedreht war, etwas, das ich nie, niemals hätte annehmen dürfen.

Es war falsch. Es war vergeudete Zeit. Und deshalb hatte ich es beendet. Damit hätte diese traurige Geschichte zu Ende sein müssen. Sie würde mich vergessen, sich eines Tages in einen normalen Kerl verlieben – denn ich war mir sicher: Lieben konnte sie, nur nicht mich –, in jemanden, der ihr alles geben konnte, weil sie es wert war. Der sie lieben konnte, wie sie es verdient hatte, der nicht mit seiner psychischen Unzurechnungsfähigkeit ihr Leben verdunkelte. Es wäre der perfekte Schnitt gewesen und hätte ein Happy End für sie bedeutet. Ich wäre zugrunde gegangen, aber das war nicht weiter schlimm, denn das war ohnehin der Fall.

Jeden Tag hatte ich gekämpft, um nicht alles zu ruinieren, jede Stunde war ich immer wieder aufs Neue gestorben, weil sie niemals mir gehören würde. Ich hatte mich damit getröstet, dass es ihr besser ging. Aber das tat es nicht. Ich hatte es in ihren Augen gesehen, als ich sie vor wenigen Stunden auf der Tanzfläche in meinen Armen gehalten hatte. Sie war nicht über mich hinweggekommen und versuchte es erst gar nicht. Sie wollte mich genauso wie in der Nacht, als ich ihr offenbarte, dass ich versucht hatte, mir das Leben zu nehmen. Und ich hatte die Situation ausgenutzt, auch wenn ich ihr so wehgetan hatte wie noch niemandem zuvor.

Ich atmete zitternd ein und wieder aus, spürte, wie mein Herzschlag sich verdoppelte, und setzte das silberne Messer an meinem Unterarm an.

Ich würde mich nicht sofort umbringen. Das wäre nicht genug. Das wäre viel zu selbstsüchtig, weil ich mich damit sofort von den Qualen erlösen würde. Erst würde ich leiden. Körperlich und seelisch. So wie sie gelitten hatte, als ich sie ohne jegliche Gefühlsregung genommen hatte.

Der erste Schnitt war klein, oberflächlich, und nur wenige dunkle Tropfen quollen aus meiner Haut.

Sie hatte sich wehren wollen, da war ich mir sicher. Sie hatte mich davon abhalten wollen, es zu tun.

Ich fuhr weiter nach oben, hielt dann inne, als ihr gequältes schönes Gesicht unter der hauchdünnen Maske vor meinem inneren Auge erschien, und schleuderte das Rasiermesser so weit ich konnte von mir.

Es bereitete mir Höllenqualen. Nicht die Wunde, sondern meine Reue. Und der Gedanke an sie, an ihre perfekte Unschuld, ihre Wärme. Ich konnte mich nicht selbst verletzen, ich wollte nicht zusammengekauert in meinem Badezimmer liegen und mir den Beweis liefern, dass ich derselbe Psychopath wie vor einem Jahr war. Denn der war ich nicht.

Ich war schlimmer.

Nicht wie damals, vor San Francisco, als ich geglaubt hatte, sie zu hassen. Das hier grenzte an Selbstzerstörung. Das konnte ich mir nie wieder verzeihen. Deshalb war die einzig vernünftige Lösung, der einzig richtige Weg mein Untergang.

»Verzeih mir«, schluchzte ich und krallte mich an meinen Haaren fest, spürte, wie das Blut auf mein Gesicht tropfte und dort verschmierte. Ich konnte keine Sekunde länger leben. Ich konnte mir meine Arme nicht aufschlitzen, bis ich verblutete. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich war zu schwach. Mit einem Mal wurde der Gedanke erdrückend. Ich brauchte ein schnelles Ende. Wo waren die verdammten Tabletten? Meine Finger kratzten erfolglos auf dem Boden herum, ich bekam nicht eine zu fassen. Meine Augen schlossen sich automatisch, und ich spürte neben der Verzweiflung eine solche Erschöpfung, als hätte ich stundenlang einen Kampf ausgetragen. Ich konnte wirklich nicht mehr.

Vielleicht war das der Tod. Vielleicht hatte eine höhere Macht Mitleid mit mir, auch wenn ich es nicht verdiente. Und wieder sah ich Eliza vor mir, als ich der Ohnmacht immer näher kam. Aber diesmal sah ich keinen Schmerz in ihrem Gesicht, sondern ihr Lächeln. Ihre kleine Hand, mit der sie ihre Locken zurückstrich, und die Röte, die ihr langsam in die Wangen stieg. Ich spürte ihre Lippen an meiner Haut und ihren Geruch, der mich einhüllte, wenn sie auf mich zukam und es sich auf meiner Brust gemütlich machte. Ich wusste, dass sie mich als jemanden ansah, der es wert war.

Ich liebe dich.

Etwas Nasses lief mein Kinn runter, und mein Körper schüttelte sich.

»HAST DU DEN VERSTAND VERLOREN

Meine Lider zitterten und flogen auf. Bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde ich hochgezerrt und gegen den Spiegel gedrückt. Es folgte ein brennender Schmerz an meiner Wange, und ich riss meine Augen weiter auf.

Blaue Augen, wutverzerrtes Gesicht.

Reflexartig hob ich die Arme, um mich selbst zu verteidigen, als die nächste Ohrfeige kam.

»Tom! Bist du wahnsinnig geworden?«

Mein Blick zuckte nach rechts, und ich sah Alison neben ihm stehen. Ich war überrascht, dass ich sie in meinem Zustand überhaupt erkannte.

»Er muss zu sich kommen«, fuhr er sie an und griff mir hart unters Kinn, bevor sein Blick über den Fußboden wanderte. Jetzt erkannte ich den Schock in seinen Zügen, der sich unter den Zorn mischte. »WIE VIELE HAST DU GENOMMEN

Ich brauchte einen Moment, um zu schalten, dann schüttelte ich den Kopf.

»Lass ihn los, Tom, wir müssen den Notarzt rufen. Schau dir seinen Arm an.«

Er wich zurück, fast schon angeekelt, und schaute entsetzt auf das Blut. »Was hast du getan?«, flüsterte er.

Ich erwiderte nichts, aber in gewisser Weise fühlte ich mich, als hätte man mir einen Wassereimer über den Kopf gekippt. Eiskaltes Erwachen. Der Schmerz ließ meine Wangen pochen, und jetzt bemerkte ich auch den Schnitt an meinem Arm, wenn auch nur geringfügig. Wie in Trance starrte ich auf das Blut und wieder zurück zu meinem Bruder und Ally.

Sie trat vor. »Tom, geh ins Wohnzimmer. Ich muss mit ihm reden.«

»Ich werde sicher nicht …«

»Sofort«, knurrte sie. »Ich sag dir Bescheid, wenn ich Hilfe brauche.« Dann drehte sie sich zu mir. »Wie viele Tabletten hast du genommen?«

Ich sah, dass sie versuchte, ruhig zu bleiben, aber ihre Hände bebten, genau wie Toms. Mein Blick war jetzt klar, alles wurde intensiver. »Keine«, brachte ich hervor. »Verschwindet.«

»Er ist mein Bruder, Alison, und du hast keine Ahnung …«

»Und ich bin mit Eliza befreundet, was …«

»VERSCHWINDET«, brüllte ich, als Ally ihren Namen aussprach.

»Sieh ihn dir an«, sagte er panisch. »Ich kann dich nicht mit ihm alleine lassen, er ist imstande, dich zusammenzuschlagen.«

»Das wird er nicht.«

Sie sahen sich lange an, und schließlich wurde Toms Blick weich. Er drehte sich zu mir, und auf einmal war jegliche Wut aus seinem Gesicht verschwunden. »Zeig mir deinen Arm.«

»Lass mich in Ruhe.«

»Zeig mir deinen verfluchten Arm, oder ich rufe sofort den Notarzt.«

Ich stöhnte und streckte ihn aus. Wieso konnten sie mich nicht einfach alleine lassen?

Tom sah aus, als wäre ihm übel geworden, er holte ein Taschentuch aus seiner Tasche und drückte es auf die Wunde. »Fünf Minuten, Ally. Dann bringen wir ihn zum Arzt, ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann, dass er nichts genommen hat.« Und damit verließ er das Badezimmer und ließ mich mit ihr alleine.

»Wie kannst du es wagen?«, fauchte sie augenblicklich, und ihre Augen blitzten.

Ich wusste, wovon sie sprach. Meine Beine schienen wieder nachzugeben, ich musste mich am Waschbecken festhalten. »Geht, Ally. Bitte. Lasst mich einmal die Verantwortung für meine Taten übernehmen«, krächzte ich, und meine Stimme brach.

»Die Verantwortung?« Ihre Stimme bebte vor Zorn. »Sag mal, wie kann man so egoistisch sein? Okay, sagen wir, du hast nicht an deine Freunde oder an deine Familie gedacht, die dich lieben, die immer für dich da sind und denen du mit diesem Scheißdreck« – sie deutete auf den mit Pillen übersäten Boden – »das Schlimmste antun würdest. Oder Eliza?«

»Bitte.« Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, ich hielt es nicht aus. »Bitte nicht.«

Aber sie sprach erbarmungslos weiter, und ihre Stimme wurde immer lauter. »Du hast sie heute Abend vollkommen zerstört, Finn. Aber glaubst du wirklich, DAS HIER würde es wiedergutmachen? WIE KANN MAN NUR SO FEIGE SEIN? BEDEUTET SIE DIR WIRKLICH SO WENIG, DASS DU IHR DAS ZUMUTEN WÜRDEST? DEINEN TOD

Wieder spürte ich die Hitze an meinen Wangen herunterlaufen und schüttelte den Kopf hin und her, immer wieder. »ICH KANN ES NICHT AUSHALTEN, VERSTEHST DU? DIESER SCHMERZ, DIESE REUE, ICH KANN NICHT DAMIT UMGEHEN

Sie trat ganz nah vor mich, und jetzt sah ich, dass sie wirklich zitterte. »Ich weiß nicht genau, was dir passiert ist, aber nichts rechtfertigt einen Selbstmord.«

»Ich liebe sie«, brachte ich irgendwie hervor.

»Wieso hast du ihr das dann angetan?«

»Weil ich ein Psychopath bin. Die Welt wäre besser dran ohne mich.« Nichts konnte mein Verhalten erklären. Ich hatte sie nicht missbraucht, um sie dazu zu bringen, über mich hinwegzukommen. Ich hatte es getan, weil ich das schlimmste, niederträchtigste Geschöpf im ganzen Universum war.

»Nein.« Ally weinte jetzt ebenfalls. »Nein, das wäre sie nicht. Ihr beide, Eliza und du … Ich habe noch nie zwei Menschen gesehen, die sich so sehr brauchen und sich gleichzeitig immer wieder aufs Neue wehtun. Du hast ihr heute nicht nur das Herz gebrochen, du hast sie wie Dreck behandelt. Das kannst du nicht wiedergutmachen. Aber weißt du, was du machen kannst?« Sie wischte sich die Tränen weg und blickte mir fest in die Augen. Als ich nicht antwortete, ging sie in die Hocke und sammelte in Sekundenschnelle die Tabletten auf, bevor sie sie in die Kloschüssel pfefferte und spülte.

Stumm sah ich sie an und drückte das Taschentuch gegen meinen blutenden Arm. Und während ich sie betrachtete und all meine Empfindungen zurückkamen, wurde mir bewusst, was sie meinte. Ich liebte Eliza. Ich liebte sie mehr als mein eigenes nichtsnutziges Leben. Und deshalb würde ich mich nicht umbringen. Deshalb hatte ich es auch schon nicht gekonnt, bevor die beiden aufgetaucht waren.

Meine Worte fielen mir ein, als ich mit Eliza Schluss gemacht hatte, als ich ihr von meinem ersten Selbstmordversuch erzählt hatte. Selbst du kommst nicht gegen die Hölle an, hatte ich gesagt und geglaubt, es sei die Wahrheit. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Ich konnte mir mein Leben nicht nehmen – nicht, solange sie noch atmete. Selbst wenn ich ihr etwas Unverzeihliches angetan hatte. Alison hatte recht. Das würde es nicht wiedergutmachen. Das würde niemandem etwas bringen.

»Es tut mir leid«, murmelte ich leise und spürte, wie die Gefühle in meinem Inneren immer stärker tobten. »Es tut mir so leid, was ich getan habe.«

Ally nickte und kam auf mich zu, nahm mich wortlos in den Arm und strich mir über den Rücken, tröstete mich wie ein kleines Kind, bis ich mich beruhigt hatte.

Ich hörte ein Geräusch, und sie trat zurück, als Tom vor uns stand. Ich sah sie an, und mir fiel wieder ein, dass die beiden sich getrennt hatten.

»Alles okay?«, flüsterte er leise und blickte erst zu ihr, dann zu mir.

Ich wich seinem Blick aus. »Ich werde die Wunde verbinden.«

Er nickte vorsichtig, er schien sich auch beruhigt zu haben. »Und du solltest dich bei Dad melden, ich habe ihn angerufen. Anschließend bring ich dich zum Arzt.«

»Ja.« Ich war nicht einmal wütend. Ich wandte mich zum Gehen, das Verbandszeug war in meinem Schlafzimmer, aber er hielt mich zurück.

»Es tut mir leid, Finn, ich wollte nicht … ich wusste nicht, wie ich reagieren soll, ich …«

Schnell schüttelte ich den Kopf. »Vergiss es. Ich tu das nie wieder. Das schwöre ich.« Dieses Versprechen meinte ich hundertprozentig ernst, auch wenn ich mir noch nicht ganz bewusst war, woher diese Sicherheit kam.

Sein Blick war fast überrascht, dann wurde er ernst und schwieg eine Weile, bevor die Worte herauskamen. »Gut. Denn wenn du es tun würdest, dann würdest du nicht nur dich umbringen.«

Ich lief aus dem Zimmer und wusste nicht, was ich denken sollte. Mit einem Mal durchfuhr mich Scham, dass ich auch nur eine Sekunde an die Möglichkeit gedacht hatte. Wie schnell hätte es vorbei sein können … Wie schnell hätten die Pillen in meinen Magen oder das Messer an meine Pulsader gelangen können. Immer noch zitternd, aber diesmal aus Angst, nahm ich den Verbandskasten aus dem Schrank neben meinem Bett. Laura, Michael, Tom, Alex. Ich hätte ihnen allen das Herz gebrochen. Alison, meine anderen Freunde, die ich täglich in der Universität sah und gegen die ich mich zu Beginn gewehrt hatte. Mir wurde bewusst, was für eine Verantwortung auf mir lastete. Es war nicht wie damals, in Los Angeles. Ich war jetzt wirklich erwachsen. Und Eliza. Meine Eliza. Auch wenn ich kein Recht mehr hatte, auch nur an sie zu denken. Ich wickelte das weiße Band um meinen Arm und atmete tief ein. »Was bist du nur für ein Volltrottel«, murmelte ich.

Ally trat wieder neben mich, Tom ließ sich auf mein Bett nieder, sie schienen beide mit den Nerven am Ende.

»Ich stimme dir voll und ganz zu.« Ally versuchte zu lächeln, aber es misslang ihr. »Da … Da ist noch etwas.«

Ich nickte und schaute sie aufmerksam an.

»Ich glaube, sie will nach England. Sie hat kein Wort mehr mit uns gesprochen, nachdem … Du weißt schon. Sie ist völlig fertig. Aber da lagen überall Prospekte auf ihrem Boden und … Ich denke, sie muss weg hier.«

Ich brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, was Ally meinte. »England«, wiederholte ich schließlich tonlos. Ich erinnerte mich sofort an das Treffen. Wir hatten uns damals zusammen für das Auslandssemester angemeldet.

Plötzlich begann mein Herz wieder zu rasen, und ich stolperte nach hinten, um erneut nach Halt zu suchen. Mein Körper reagierte vor meinem Verstand auf die Idee, die sich mit der Geschwindigkeit eines Lauffeuers in mir ausbreitete, während mein Blick durch das Fenster meines Schlafzimmers nach draußen wanderte und an Seattles Skyline hängen blieb. Ich sah die leuchtenden Hochhäuser, die inzwischen so vertrauten Gebäude.

Und in dem Moment wusste ich, dass es die einzige Möglichkeit war.

***

Eliza

April 17th, 5:10 a. m.

»Ist es nicht zu früh für Kaffee?« Samuel deutete aus dem Fenster auf den Himmel, der sich hinter den Wolkenkratzern langsam goldrot färbte. Ich war vor einer halben Stunde in seine Wohnung gekommen, und jetzt saßen wir nebeneinander auf seiner kleinen gemütlichen Couch in seinem unordentlichen Wohnzimmer, das irgendwie etwas Tröstliches hatte.

»Es ist nie zu früh für Kaffee«, entgegnete ich und nahm die dampfende Tasse, die er mir reichte.

Ich hatte ihn aus dem Schlaf geklingelt und gefragt, ob wir zusammen hier frühstücken konnten, weil wir das schon lange nicht mehr getan hatten. Weil ich nicht schlafen konnte. Und weil wir uns seit dem Maskenball nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten. Es war genau eine Woche her, seit ich zusammengebrochen war und er mich auf dem Motorrad nach Hause gefahren hatte.

»Alles okay?«, fragte ich ihn, nachdem wir ein paar Minuten gedankenverloren geschwiegen hatten.

»Hmh …« Er hob den Kopf und sah mich direkt an. »Das müsste ich dich fragen.«

Ich sah weg und nahm einen großen Schluck. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Was kann ich tun?«, kam es prompt.

»Ich muss zur Uni, Papiere unterschreiben, und ich … Ich will nicht alleine auf den Campus. Heute Nachmittag treffe ich mich mit ein paar Kommilitonen für ein Literaturprojekt in einem der Seminarräume, aber davor … muss ich zum Auslandscenter.« Er wartete, bis ich weiterredete, und ich atmete ein paarmal tief durch, bevor ich es aussprach. »Ich werde nach England ziehen.«

Es war beschlossene Sache. Am Morgen nach jener verhängnisvollen Nacht hatte ich mich hingesetzt und ernsthaft nachgedacht. London war keine Entscheidung mitten in der Nacht gewesen, die ich am Tag darauf als übertrieben oder lächerlich abstempelte. Ich war verzweifelt gewesen, mehr als jemals in meinem Leben, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich hier in Seattle nicht mehr leben konnte. Ich hatte mir geschworen, diese Woche noch zur UW zu gehen, und heute hatte ich endlich den Mut aufgebracht, mit jemandem darüber zu sprechen. Außerdem musste ich wegen Literatur sowieso hingehen. Jenny und Ally wussten noch nichts, genauso wie meine Eltern, die inzwischen durchdrehten vor Sorge, weil ich mich so lange nicht meldete, aber das würde sich ändern, sobald heute Abend alles unterschrieben war. Ich würde mich meinen Freunden und meiner Familie stellen und ihnen meine Entscheidung mitteilen, auch wenn ich schon jetzt viel zu nervös war. Fast zerbiss ich mir meine Lippe, während ich Sam ansah und auf eine Antwort wartete.

»Wie meinst du das? Für wie lange?«, fragte er langsam und blickte mich ein wenig ängstlich an.

»Für den Rest meines Studiums.« Ich schluckte. »Zwei Jahre.«

Damals hatte ich mich mit … ihm … nur für ein Semester angemeldet, aber ich hatte im Laufe der Woche dank der Tausenden Prospekte und diverser Homepages herausgefunden, dass man nach einer Zulassungsprüfung auch den Abschluss im Ausland machen konnte. Für das Semester war ich schon angenommen worden – meine Noten waren vor allem in Literatur einwandfrei –, und um die Prüfung machte ich mir keine Sorgen. Ich musste sie ohnehin nur in einem meiner Fächer belegen.

»Okay.«

»O-okay?«

Er schaute mich ganz ruhig an, jegliche Sorge war verschwunden, und lächelte dann traurig. »Unter anderen Umständen hätte ich versucht, dich davon abzuhalten, Liz … Aber du bist dir sicher, oder?«

Ich nickte, während mich eine unglaubliche Erleichterung durchfuhr.

»Fühlt es sich wie Davonlaufen an?«

»Es fühlt sich wie meine einzige Chance an, jemals wieder glücklich zu werden«, murmelte ich mit leicht sarkastischem Unterton. Was war schon Glück?

»Dann helfe ich dir«, sagte Sam leichthin. »Seit wann denkst du ernsthaft darüber nach?«

»Ich hab mich schon vor einiger Zeit angemeldet …« Er wusste auch so, wieso ich gehen musste. Er war live dabei gewesen, als ein Teil von mir endgültig gestorben war.

»London war es, richtig?«

»M-hm. Eigentlich nur ein Semester. Aber ich … Ich möchte gerne länger bleiben, verstehst du?«

Anstatt zu antworten, legte er einen Arm um meine Schultern, und ich lehnte mich an ihn. Ich lächelte leicht. Es war schön zu wissen, jemanden zu haben, auch wenn es inzwischen selbstverständlich sein sollte – das war es immer noch nicht, obwohl Sam mir schon Tausende Male geholfen hatte. Generell sollte ich mein Glück, was meine Freunde anging, mehr schätzen. Sie waren das Wichtigste. Ich hatte noch keine Ahnung, wie ich in England ohne sie auskommen sollte, aber die Notwendigkeit, wegzukommen, war im Moment stärker. Ich war eine geborene Einzelgängerin, hatte ich immer gedacht, aber ich brauchte trotzdem jemanden, der für mich da war. Brauchten wir das nicht alle?

»Also dann hol ich dich um drei ab, okay?«, vergewisserte sich Samuel noch mal, als ich mich zum Gehen wandte, da Jenny und Ally sich wahrscheinlich schon fragten, wo ich blieb. »Anschließend gehst du zu deinem Treffen, während ich in der Bibliothek mein Zeug erledige, und dann fahren wir zu euch, und du erzählst Jen und Ally davon.«

Ich nickte. »Genau. Danke für den Kaffee.«

Er grinste und umarmte mich, hob mich leicht an, sodass ich auf Zehenspitzen stand, und ließ mich dann wieder runter. »Für dich steh ich auch mitten in der Nacht auf, Kleine.«

Angesichts des letzten Wortes brachte ich kein Lächeln mehr zustande, als ich meinen Cardigan fester um mich wickelte und mit gesenktem Kopf die Treppenstufen hinablief. Es würden verdammte Jahre vergehen müssen, bis ich auch nur ansatzweise mit Finn abschließen konnte. Und damit, was er mir angetan hatte. All das Glück … und all die Qual.

Ich wusste nicht, wofür ich ihn mehr hassen sollte.

***

3:30 p. m.

»Bitte schön.« Die Frau reichte mir ein paar Formulare und lächelte. »Die Prüfung belegen Sie zusammen mit den anderen Interessenten in vier Wochen, und die Abreise ist am 22. Juni.«

Ich nahm die Papiere entgegen und starrte sie eine Sekunde länger als gewöhnlich an. Ende Juni. Das waren kaum zwei Monate mehr. Ich war viel zu leicht in das Programm gekommen.

»Alles klar?«, fragte Sam, als ich mich neben ihn auf die Bank sinken ließ und mit leicht zittrigen Fingern meine Zulassung durchblätterte, ohne irgendetwas zu lesen.

Ich legte ihm die Blätter auf den Schoß, schlug meine Beine übereinander und atmete tief ein, während ich meinen Blick über die Universitätsgebäude und die riesigen Kirschbäume wandern ließ. »Hör auf, mich das ständig zu fragen, als könnte ich jeden Moment zusammenbrechen. Mir geht’s gut.«

»M-hm. Und wieso wirfst du keinen einzigen Blick hierauf?« Er hielt die Blätter hoch. »Komm schon, Liz, wenn du nicht sicher bist … wenn du es dir doch anders überlegen möchtest …«

»Nein«, unterbrach ich ihn hart und atmete zischend aus. »Es ist nur seltsam, weißt du. Der Gedanke, dass alles so schnell geht, wenn man will. Dass es so einfach ist, alles hinter sich zu lassen.«

Er erwiderte nichts, sondern fing nun auch an, die Zettel durchzublättern.

Wortlos beobachtete ich die rosafarbenen Blütenblätter, die durch die Luft wirbelten, bevor sie sanft auf der Wiese vor uns landeten. Das war der typische UW-Campus. Riesig, altmodisch und absolut vertraut. Die Luft roch nach Frühling, und sogar die Sonne hatte sich entschieden, anstelle der dunklen Wolken herauszukommen. Es war der perfekte Tag für Glücksgefühle und neue Erfahrungen. Aber es war nicht ganz so vollkommen, wenn man immer noch verflucht abhängig war und nicht das Geringste dagegen unternehmen konnte. Missmutig starrte ich auf meine schwarz lackierten Fingernägel, die mich so sehr an die unbeschwerteste Zeit meines Lebens erinnerten, und fragte mich, wie das alles in ein paar Monaten sein würde. Vielleicht würde ich irgendwann mal an den Punkt gelangen, an dem ich Angst hatte zu gehen. An dem ich mich mit jeder Faser meines Körpers dagegen wehrte, weil das hier das einzig richtige Leben für mich war. Aber das konnte es nicht gewesen sein. Klar, es gab dieses hirnverbrannte Klischee, von wegen seine erste Liebe würde man niemals vergessen. Natürlich würde ich Finn niemals vergessen, aber das lag sicher nicht daran, dass er der Erste gewesen war, der mich voll und ganz verändert hatte. Es lag einzig und allein an der Tatsache, dass er ein Psychopath und ich sein schwaches Opfer war. Immer sein würde. Das hier war keine Liebe mehr – das war krankhaft. Deshalb konnte ich auch mit so großer Sicherheit behaupten, dass ich keine Zweifel hatte, wenn es um London ging. Da konnte mein Körper noch so oft protestieren.

»Ähm.«

Ich schaute auf, als Samuel sich neben mir ungläubig räusperte.

»Hm?«

Sein Gesichtsausdruck wechselte von überrascht zu besorgt, während er nervös zu mir und dann wieder auf die Formulare blickte.

»Es … muss ein Fehler vorliegen.«

Ich hob wenig interessiert eine Braue. »Wieso?«

»Hier ist ’ne Liste derer, die ebenfalls am Programm beteiligt sind.«

Ich hatte mir die Haare zurückstreichen wollen und erstarrte jetzt mitten in der Bewegung. Meine Hand zuckte automatisch zu den Papieren, und ich entriss sie ihm unsanft.

Von einer Sekunde auf die andere spürte ich das rhythmische, viel zu hastige Pochen meines Herzens. Selbst jetzt hasste ich mich dafür, dass ich augenblicklich reagierte – dass mein Körper in Rekordschnelle die Gefahr realisierte, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Ich war noch immer nicht immun dagegen. Mein Blick flog über die Teilnehmerliste, und ich musste mich zwingen, meine Hände ruhig zu halten, um überhaupt etwas entziffern zu können.

Nein.

Ich kniff die Augen zusammen, nur um sie Sekunden später wieder aufzureißen. Die aneinandergereihten Buchstaben ergaben keinen Sinn. »Das … Das ist nicht möglich.« Ich sprang auf und starrte auf meinen besten Freund hinunter. »Sam, wieso …«

Er öffnete den Mund, aber da hatten meine Beine sich schon selbstständig gemacht, bevor ich selbst wusste, was ich tat.

Ich stürmte zurück in das kleine Gebäude, während alles um mich herum zu einem unbedeutenden Strudel verschmolz. Verzweifelt klammerte ich mich an dem inzwischen zerknitterten Papier fest, als ich es auf den Empfangstresen knallte und Miss Hastings, die Ansprechpartnerin für das Austauschprogramm, fixierte.

Sie sah von ihrem Computerbildschirm auf und erwiderte leicht verwirrt meinen Blick. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Miss Fleming? Ergaben sich Unklarheiten?«

»Ich denke, hier liegt ein verdammt großer Fehler vor.« Meine Stimme war härter als beabsichtigt, und ich deutete mit einem Finger auf den Namen, der mir Übelkeit verursachte.

Sie rückte ihre Lesebrille zurecht, runzelte kurz die Stirn, als sie las, und lächelte dann milde. »Oh, das ist kein Fehler. Mr. Westwood hat sich vor einer Woche gemeldet und telefonisch seine Teilnahme bestätigt. Oder was meinen Sie?«

Meine Hände glitten am lackierten Holz entlang, und ich schaute wie vom Donner gerührt von der Liste direkt in ihre irritierten Augen. »Was soll das heißen, seine Teilnahme bestätigt?«, fauchte ich, und zwei Studentinnen neben mir drehten sich vorwurfsvoll zu mir um.

»Nun, ich denke, es ist mehr als offensichtlich, was …«

»Wann genau hat er angerufen?«, unterbrach ich Miss Hastings wieder, als mir ein furchtbarer Gedanke kam.

Sie schien kurz zu überlegen, dann zuckte sie die Achseln. »Samstag oder Sonntag, ich bin mir nicht mehr sicher. Was haben Sie damit zu tun?«

Ich nahm die Papiere wieder an mich. »Streichen Sie mich sofort aus dem Programm«, erwiderte ich voller Überzeugung.

»Wie bitte?«

»Sie haben mich gehört«, antwortete ich. »Streichen Sie mich augenblicklich aus dieser Scheiß …« Ich verstummte, als Samuel plötzlich neben mir erschien und mich bestimmend am Arm packte.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, wir melden uns noch mal bei Ihnen, wenn die Prüfungen anstehen oder wir sonstige Fragen haben«, murmelte er gepresst.

Er zerrte mich vom Tresen weg und ignorierte meine lautstarken Proteste, die dazu führten, dass nun wirklich jeder im Raum zu uns herüberstarrte.

»Ist ihr nicht gut?«, rief die Angestellte uns hinterher, aber da standen wir schon wieder draußen.

Sam stellte sich direkt vor mich und zwang mich, ihn anzuschauen. »Drehst du jetzt völlig durch?«

Ich wehrte mich immer noch gegen seinen Griff. »Lass mich da sofort wieder reingehen. Hast du gesehen, welcher Name auf der gottverdammten Liste steht? Ich werde ganz sicher nicht …«

»Eliza«, fiel er mir ins Wort. »Hör mir einen Moment zu. Wir klären das in Ruhe. Aber du kannst nicht einfach reingehen und eine Szene machen, die nehmen dich sonst nie wieder ernst.«

»Ist mir egal, ich fliege nicht nach London«, rief ich aufgebracht.

»Lass dir das nicht von ihm kaputt machen«, beharrte er nachdrücklich. »Sprich noch einmal mit Ally, sie kann mit ihm reden. Du kannst das wieder hinbiegen. Und wenn du im Endeffekt nicht gehen willst, weil er auch dabei ist, dann geh einfach nicht zu der Aufnahmeprüfung – niemand zwingt dich. Aber falls du doch fliegst, dann lass ich dich jetzt ganz sicher nicht alles zerstören, nur weil sein Name auf der Liste steht.«

Wir sahen uns einen Moment an, und schließlich kippte meine Stimmung, und ich merkte, dass ich mich wie ein kleines Kind benahm. »Na schön«, seufzte ich. »Du gewinnst.«

Er schenkte mir ein halbherziges Lächeln. »Tief durchatmen, Liz. Wir gehen jetzt was essen, bevor du zu deinem Treffen musst. Wie wär’s mit Quedoba’s?«

»Nein.« Er hob eine Braue, und ich suchte schnell nach einer Ausrede. »Ich hab zurzeit nicht besonders Lust auf mexikanisches …«

»Schon klar, du warst mit ihm dort.«

»Nein.«

Er grinste schwach. »Doch, das warst du. Wenn du dich jetzt selbst sehen würdest, wüsstest du, dass jede Lüge umsonst ist.«

»Na schön«, wiederholte ich angepisst und lief ihm voraus. Natürlich war ich mit Finn dort gewesen – nachdem ich in der Vorlesung an seiner Schulter eingeschlafen war. Hach, wie ich diese alltäglichen Erinnerungen liebte, die mich niemals vergessen ließen, was für ein abartig spaßiges Leben ich damals geführt hatte. »Gehen wir indisch essen, ja?«, murmelte ich, während wir an den Bäumen entlangliefen, um den Campus zu verlassen.

»Du hasst indisch.«

»Samuel, halt die Klappe.«

Er lachte leise. »Einer von uns beiden muss ja die Wahrheit aussprechen.«

Wahrheit … Ich sah hoch in den Himmel – die Sonne war verschwunden, und mit einem Schlag spürte ich dicke Tropfen auf meinem Gesicht. Super. Regen war genau das, was ich jetzt brauchte.

War es nicht alles so viel einfacher gewesen, als ich noch in einer Lüge gelebt hatte?

***

Ich wusste es in dem Moment, in dem ich mich von Sam verabschiedete und die Türschwelle zum Seminarraum übertrat, den wir per Mail als Treffpunkt festgelegt hatten.

Zehn Studierende saßen an dem runden Holztisch, einer von ihnen – Logan, wenn ich mich richtig erinnerte – schrieb eine Aufteilung an das Whiteboard dahinter. Ich kannte die Hälfte von ihnen oberflächlich, die andere vom Sehen, von den Vorlesungen, und einen … kannte ich besser als mich selbst.

Eine halbe Sekunde bevor mein Herz krankhaft zu rasen begann und meine plötzlich feuchten Hände sich fest um die Henkel meiner Umhängetasche krallten, sah Finn auf, nahm mein Gesicht wahr und erstarrte in der Bewegung. Nicht geschockt, nicht einmal besonders überrascht.

Doch ich überraschte mich selbst, indem ich einfach meine Schultern straffte und direkt auf den Tisch zulief, anstatt auf dem Absatz kehrtzumachen, nachdem ich meinen Blick von ihm gelöst hatte. Er trug einen ockerfarbenen hochgekrempelten Strickpullover, darüber einen Designerschal, der verdächtig nach Kaschmir aussah und kein bisschen zu seinem Rocker-Image passte, dafür umso mehr zu den dunkelblonden Haaren, in denen ich so oft meine Hände vergraben hatte. Mein Inneres krampfte sich zusammen.

Na schön, Finn war hier. Das war nichts Absonderliches. Wir studierten beide Literaturwissenschaften. Und er hatte sich für England angemeldet, was sich früher oder später als gigantisches Problem darstellen würde. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Das Einzige, worauf ich mich konzentrieren würde, war dieses Treffen heute. Der Stoff für die nächsten Prüfungen. Unsere letzten in diesem Semester. Natürlich konnte ich nicht verhindern, dass ich schnell an mir heruntersah, um mein Aussehen zu prüfen. Ich war nur leicht geschminkt und trug hellen Lippenstift, was auch irgendwie untypisch für mich war.

Ich begrüßte alle mit einem unbestimmten Lächeln und bekam dann leichte Panik, als mir bewusst wurde, dass der einzige freie Platz neben ihm war. Noch immer spürte ich seinen Blick, aber ich wusste, ich durfte ihn nicht erwidern. Meinen Kopf stur nach vorne gerichtet, ließ ich mich langsam auf dem rot gepolsterten Stuhl nieder, raffte die Tasche zusammen und presste sie wie zum Schutz gegen meinen Oberkörper.

Es war okay. Alles war okay. Mir würde nichts passieren.

»Eliza.« Die Stimme war ganz leise, sie stach geradezu heraus aus dem gewöhnlichen Lärm der anderen.

Ich spürte, wie sich meine Gesichtsmuskeln verkrampften. »Finn«, gab ich bewegungslos zurück und hörte die Kälte in meiner Stimme.

Die nächste Empfindung traf mich völlig unvorbereitet, während unsere Kommilitonen mit der Arbeit anfingen und sich in Zweierteams einteilten, um später Präsentationen über die jeweiligen Themengebiete halten zu können. Weder hörte ich zu, noch konnte ich mich im Moment damit auseinandersetzen, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit ihm zusammenarbeiten musste. Alles, was ich mitbekam, war die kalte weiße Wut in mir. Ein unbeschreiblich starker Hass, der sich unkontrolliert durch meinen gesamten Körper fraß und sich gegen meinen gottverdammten Nebensitzer richtete.

Ich beging den Fehler, ihn für den kürzesten aller Augenblicke anzuschauen. Mit einem Mal wollte ich auf ihn einschlagen, ihm wehtun. Ich wollte ihm die grünen tiefen Augen auskratzen, die mich so oft getäuscht hatten und die Samstagnacht keinen wahren Blick für mich übriggehabt hatten. Ich wollte ihm jedes göttliche Haar einzeln ausreißen und ihn anschreien, wie er es wagen konnte, mich anzusprechen, auch nur in meine Nähe zu kommen. In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich ihn abgrundtief hasste. Dass ich ihm nie, niemals verzeihen würde, wie er mich behandelt hatte. Wie er mir mein Herz herausgerissen und zerschmettert hatte, als wäre es aus Porzellan. Wie er mich dazu brachte, das dramatischste, schwächste Mädchen überhaupt zu werden, das ich so verabscheute. Und dann sah ich seinen Gesichtsausdruck.

Schmerz. Mehr als schlichtes Leid, es war die pure Qual.

Schlagartig erlitt ich einen Rückfall. Ohne es beeinflussen zu können, musste ich an unseren letzten Abend in San Francisco denken, und all die Gefühle kamen zurück. Ich sah Finn unter mir auf dem Bett liegen, wehrlos, zerstört. Ich erinnerte mich an seine Verzweiflung und daran, wie er in meinen Armen gezittert hatte. Ich hatte genau den Augenblick vor mir, wie er hatte weinen wollen, wie ich es ganz deutlich gespürt hatte.

Mein Gott.

Ich würde niemals etwas anderes als Liebe für diesen armen, einsamen Mann empfinden. Auch wenn er noch so oft auf meiner Würde, meinem Glück und selbst meinem Körper herumtrampelte. Es war nicht richtig, das war mir klar. Ich konnte den Missbrauch nicht mit seinen Problemen rechtfertigen, auch wenn sie noch so groß waren. Aber ich konnte einsehen, dass ich ihm vergab, wie er mich an meine Grenzen getrieben hatte. Dass ich ihm immer vergeben würde, auch wenn es mich umbrachte.

»Eliza, hallo! Schläfst du schon?«

Ich fuhr zusammen und schaute auf. Logan sah mich argwöhnisch an. »Sorry, was …«, begann ich, und Finn kam mir unerwartet zu Hilfe.

»Wir werden Shakespeares Hamlet untersuchen und den Schwerpunkt auf die politische …«

Logan stöhnte auf und fiel ihm ins Wort. »Netter Versuch, Westwood, aber ihr solltet beide vielleicht mal richtig zuhören, wir sind nicht zum Spaß hier. Lynn und ich nehmen Hamlet, ihr bearbeitet die wohl tragischste Liebesgeschichte aller Zeiten.« Er lächelte sarkastisch und warf uns zwei Werkausgaben hin. »Viel Spaß in Verona.«

***

Ich mochte Shakespeare. Wirklich. Mir gefiel seine kitschige, fast schon gekünstelte Ausdrucksweise, die voller Metaphern war, auch wenn ich jeden Autor, der heutzutage so oder ähnlich schrieb, nicht ernst nehmen konnte. William Shakespeare war ein Klassiker. So wie all seine Werke. Nun, fast alle.

In diesem Moment, während ich die Seiten durchblätterte und kaum wagte zu atmen, verfluchte ich ihn und seine idiotische Geschichte von unsterblicher Liebe. Ich hasste Julia. Dieses weinerliche, naive, blinde Mädchen. Ich hasste Romeo und seine aufopferungsvolle Art. Ich hasste jede einzelne Liebeserklärung. Jedes Versprechen. Jede verzweifelte Tat, die von wahrer Liebe zeugte. Aber am allermeisten hasste ich die Tatsache, dass Finn neben mir saß und versuchte, sich in Romeos Denkweise einzufühlen, obwohl ich wusste, dass er die Geschichte mindestens genauso sehr verabscheute wie ich. Ich würde ihm an die Gurgel springen, wenn er noch einen Satz aus der Balkonszene zitierte, um seine Interpretation mit Belegen zu festigen, so viel stand fest.

Mein Blick wanderte immer wieder zur Wanduhr, doch die Minuten schienen heute extra langsam zu vergehen. Die anderen waren völlig vertieft in ihre Arbeit, und ich fragte mich, ob es sehr auffällig wäre, wenn ich einen Schwächeanfall vortäuschen und einfach abhauen würde. Es war wirklich anstrengend, so lange neben ihm zu sitzen, ohne jegliche Regung zu zeigen. Ich durfte ihm nicht in die Augen sehen. Ich durfte nicht in Tränen ausbrechen, was ein Resultat des ersten Verbots war. Ich durfte auch nicht freundlich zu ihm sein, sondern kühl und unnahbar, als hätten wir nie mehr als eine flüchtige Begrüßung ausgetauscht. Und nebenbei musste ich mich auch noch mit ihm unterhalten und Produktives zu unserem Projekt beitragen, das ich inzwischen gründlich bereute.

Masochismus vom Feinsten.

»Er konnte es nicht ertragen, weißt du. Als er sie gesehen hat, als er dachte, sie wäre tot, da war die Qual zu groß. Sie hat ihn von innen zerstört. Er hat sich nicht nur das Leben genommen, weil sie nicht mehr da war. Das auch, aber noch erdrückender muss sein Gewissen gewesen sein, seine unbeschreiblichen Schuldgefühle.«

»Wie kann man nur so naiv sein«, murmelte ich und wandte meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung, um nicht in Versuchung zu kommen.

»Was meinst du?«, fragte Finn leise, und ich spürte, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen bildete. Nur gut, dass ich eine Jacke trug.

Das war das erste Mal seit einer Stunde, dass wir nicht ununterbrochen über das Werk sprachen. Seine Stimme veränderte plötzlich ihren Klang. Plötzlich war das Verlangen, ihm in die Augen zu blicken, unerträglich. Langsam, wie in Zeitlupe, bewegte ich meinen Kopf und blinzelte ein paarmal, bis ich seinem festen Blick standhalten konnte. Gott, diese Augen. Ich sah sie über mir. Ganz nah. Wie in San Francisco.

»Wie konnte Julia nur für einen Augenblick annehmen, ihr Leben ginge ohne Romeo nicht weiter? Wie hat sie es zulassen können, dass er eine derartige Macht über sie besitzt?«, fragte ich und wunderte mich dabei selbst über meine raue und doch feste Stimme.

»Liebe«, flüsterte Finn und hielt mich mit seinem Blick gefangen. »Sie hatte nur dieses Gefühl in sich, da spielte alles andere keine Rolle.«

Ich schlug die Augen nieder, auch wenn ich meine gesamte Kraft darauf anwenden musste. Also hatte er gewusst, wie ich mich gefühlt hatte – dass nichts mehr wichtig für mich gewesen war, sobald er ins Spiel kam. Und er hatte es ausgenutzt, weil er sich seiner Macht ganz genau bewusst gewesen war. Mein Mund wurde trocken, und ich starrte auf meine verkrampften Hände, dann auf seine, die unter dem Tisch zu Fäusten geballt waren. Mein Blick wanderte seinen Arm entlang, und ich stutzte, als ich eine blasse rote Linie sah, die sich auf seiner entblößten Haut bis unter den hochgekrempelten Ärmel zog.

Bevor ich wusste, wie mir geschah, verließen die Worte schon meine Lippen. »Was ist das?«

Sein Blick folgte meinem, und ich sah, wie sich seine Augen verdunkelten, bevor er mich wieder direkt anblickte und den Ärmel runterkrempelte. »Sie hätten nie ohneeinander weiterleben können«, meinte er mit einem Unterton in der Stimme, der mich wieder schaudern ließ.

Auf meine Frage ging er nicht ein.

***

»Du gehst schon, Eliza?«

Ich packte eilig meinen Collegeblock und meine Schreibsachen in meine Tasche, bevor ich sie mir umhängte und den Ausgang ansteuerte.

»Wir sind hier fertig«, rief ich als Antwort zurück, ohne mich umzudrehen. Meine Kommilitonen waren mir im Moment so ziemlich egal, ich musste weg hier. Es war einfach genug, ich konnte das keine Minute länger ertragen.

Mit eiligen Schritten lief ich den langen Gang entlang und machte mir keine Gedanken darüber, dass Sam mich eigentlich hier hatte treffen wollen. Es war sowieso zu früh, und ich musste jetzt einfach nach Hause. Jenny und Ally sehen, ihnen von meinem Vorhaben erzählen und vor allem: einen Plan schmieden, damit Finn niemals wieder in meine Nähe kam, geschweige denn mit nach England. Meine Stiefel hinterließen ein lautes, monotones Geräusch auf dem Linoleumboden, und ich zwang mich, meine ganze Konzentration darauf zu richten. Es war plötzlich einfach, meinen Kopf vollständig von all dem Gift zu befreien, das seine Anwesenheit versprüht hatte, um mich wehrlos zu machen. Ich spürte ein paar kostbare Augenblicke lang nur Leere. Ein angenehmes Nichts, eine klirrende Kälte, die das qualvolle Durcheinander verscheuchte und mir ein bisschen Frieden schenkte.

Und dann wurde ich mir der Schritte hinter mir bewusst, die sich unter meine mischten und mich ganz klein werden ließen.

»Bitte …«, erklang Finns Stimme, und ich blieb reflexartig stehen, auch wenn mein Verstand mir augenblicklich sagte, dass ich gehen musste. Ich schloss die Augen. »Bitte hör mir einen Moment zu. Geh nicht …«

Ich biss mir zusätzlich noch auf die Unterlippe und zuckte zusammen, als mich Schmerz durchfuhr und ich etwas Metallisches schmeckte. Ach, Scheiße.

»Ich halte es nicht aus, nicht mit dir zu sprechen. Ich muss dir sagen, was …«

Ich wirbelte herum und stand direkt vor ihm, viel, viel zu nah. Ich musste hochschauen, um ihn richtig ansehen zu können. »Was du dir dabei gedacht hast, als du dir das genommen hast, was du wolltest, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen?«, fragte ich leise, damit meine Stimme nicht versagen konnte.

Er griff nach meinen Händen und stieß mich leicht an, sodass ich nach hinten stolperte und mein Rücken die verschlossene Tür eines Seminarraums berührte. Er sah mich einfach nur an und schüttelte den Kopf, mit seinem Daumen strich er sanft über meine Hand. Ich konnte ihn nicht anschauen, blickte zur Seite, während sich die Flüssigkeit in meinen Augen sammelte, und versuchte erfolglos, das schmerzhafte Etwas in meinem Hals herunterzuschlucken. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich war wieder hier und ließ mich von ihm berühren. Die Tränen liefen meine Wangen entlang, aber ich wusste, wenn ich jetzt nichts sagte, dann würde es enden wie Samstagnacht vor einer Woche.

»Lass mich los«, brachte ich hervor. »Lass mich in Ruhe.«

Eine Hand ließ mich los, um unter mein Kinn zu greifen. »Es tut mir leid, Eliza. Es tut mir so …«

»Lass mich gehen. Wenn du nur ansatzweise etwas anderes als Hass für mich empfindest, dann …« Mein Zittern wurde so stark, dass meine Zähne aufeinanderschlugen und ich nicht weitersprechen konnte.

Durch den Tränenschleier sah ich, wie er erschrak. »Ich könnte nie … Wieso zitterst du?«, fragte er alarmiert, ließ mich aber immer noch nicht los.

»Weil ich Angst vor dir habe«, gab ich hilflos zurück. Mein Herz raste, meine Handflächen waren schweißnass, und ich fühlte mich wie in einem Horrorstreifen, wenn das Opfer wusste, dass der Täter es gefunden hatte und jeder Fluchtgedanke vergebens war. Ich war mir nicht sicher, wann ich so schwach geworden war, aber ich konnte nicht mehr. Wenn er so vor mir stand, mich einengte und mich berührte, dann konnte ich nicht an unsere schönen Momente denken. Dann war da nur eine riesige Panik davor, was passieren würde. Was er mir antun konnte, ohne dass ich mich wehrte.

Sofort löste er den Griff, und ich presste mich verängstigt gegen die Wand, als ein wütender Schrei ertönte und ich meine Augen wieder aufschlug.

Samuel stand zwischen uns, ich hatte ihn nicht einmal kommen hören, und bevor ich wusste, was geschah, hatte er Finn an die gegenüberliegende Wand gedrückt. Es ging alles ganz schnell. Ich realisierte erst, was passierte, als ich einen Schmerzenslaut hörte und Sam wieder zurücktrat.

»Fass sie nie wieder an, du verdammter …« Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut, aber ich fiel ihm ins Wort, als ich das Blut an Finns Lippe heruntertropfen sah.

»Sam.« Meine Stimme war auf einen Schlag ruhig, und ich wischte mir übers Gesicht. »Gehen wir.«

»Geh nach Hause, Eliza, ich kümmere mich um ihn«, knurrte er und holte zu einem weiteren Schlag aus, als ich so schnell ich konnte an seine Seite trat und nach seinem Arm griff.

Ich zwang ihn, mich anzuschauen, und hoffte, es würde trotz meiner nassen Wimpern genug Überzeugung in meinen Augen liegen. »Ich habe gesagt: Gehen wir.« Plötzlich war ich wütend auf ihn. Er meinte es gut, klar, aber wem half dieser Dreck schon? »Komm.« Ich vermied jeden Blick in Finns Richtung und zerrte Samuel mit ganzer Kraft fort.

»Eliza, er kann nicht damit davonkommen. Er hat nicht das Recht …«, begann Sam, als wir die Universität verließen.

»Nun, und du hast nicht das Recht, ihm eine reinzuhauen«, fuhr ich ihn an. Zornig blinzelte ich das Salzwasser weg, das erneut versuchte, auszubrechen. »Finn hat genug Probleme«, flüsterte ich dann plötzlich und spürte, wie er mich ungläubig von der Seite ansah.

»Er hat dich vergewaltigt.«

»Du warst nicht dabei, du kannst die Situation nicht beurteilen«, protestierte ich, und in meinem Magen drehte sich alles um bei dem Wort. »Ich bin kein kleines Mädchen, ich kriege das alleine hin. Also, zur Hölle, hör endlich auf, mich wie eines zu behandeln.«

»Du wolltest doch unbedingt, dass ich dich begleite, oder?«, blaffte er zurück.

Ich erstarrte. »Tut mir leid, dass ich dich um deine Hilfe gebeten habe. Wird nicht mehr vorkommen.«

Wütend, verwirrt und voller widersprüchlicher Gefühle beschleunigte ich meine Schritte so sehr, bis ich immer mehr Abstand zu Samuel bekam. Ich verließ den verregneten Campus und zuckte leicht zusammen, als ein heftiger Windstoß die Baumkronen über mir durchschüttelte, sodass sich ein kräftiger Schauer über mich ergoss. Ich fluchte und lief Samuel direkt in die Arme, der offenbar eine Abkürzung über die andere Seite genommen hatte.

»Ich bin mit dem Auto da.«

»Schön für dich.« Ich schüttelte mich, und ein paar Tropfen flogen aus meinen inzwischen völlig durchnässten Haaren.

»Tut mir leid, Eliza, das war dumm. Es kotzt mich nur an, dass Finn immer noch rumläuft und denkt, er könnte dich anfassen. Ich komm mir wie der letzte Trottel vor, dass ich ihm überhaupt mal vertraut habe, und ach, es ist gerade sowieso alles beschissen.«

Ich warf ihm noch einen bösen Blick zu, ließ dann aber zu, dass er mich am Arm nahm und in die entgegengesetzte Richtung zu den Parkplätzen führte.

»Sorry, dass ich ihm eine mitgegeben hab«, nuschelte er und rieb mir kurz über den Rücken, weil er sah, wie ich fror. »Ich war einfach nicht gut drauf, und als ich euch so gesehen und mich an Samstag erinnert hab … Ich schätze, da ist ’ne Sicherung bei mir durchgebrannt.«

Ich erwiderte nichts, und schließlich seufzte er laut, als wir beim Auto angekommen waren und er den Schlüssel aus seiner Hosentasche zog.

»Okay, vielleicht musste ich einfach meine Wut an jemandem auslassen, weil ihr alle geht und ich nicht damit klarkomme«, gab er zu.

Mein Blick zuckte zu ihm, und ich zog die Brauen zusammen. »Samuel, du weißt, dass ich gehen muss, und von allen kann hier nicht die Rede …«

»Wusstest du, dass Jenny geht?«, unterbrach er mich mit bitterer Stimme, und meine Augen weiteten sich.

»Was?«

»Ja. So hab ich auch reagiert, als sie mir davon erzählt hat. Du bist wohl nicht die Einzige, die abhauen will.« Er stieg ins Auto, und ich schlüpfte ebenfalls hinein und ließ mich schnell auf den Beifahrersitz fallen, bevor ich die klappernde Tür auf meiner Seite zuschlug. Ich sah ihn auffordernd an, aber er starrte stur geradeaus. »Sie will nach Brasilien. Schön, nicht?«

»Brasilien?« Schlagartig wurde mir bewusst, wie wenig Zeit ich in den letzten Wochen mit meinen Freunden verbracht hatte. Ich war kaum mehr Teil ihres Lebens.

»Jap. Auslandssemester. Weil man dort so tolle Bilder machen kann und das Angebot in den USA natürlich nicht ausreicht«, fügte er mit triefendem Sarkasmus hinzu.

»Wieso weiß ich nichts davon?«

Er warf mir einen eindeutigen Blick zu. »Wieso weiß sie nicht, dass du nach England willst?«

»Hmpf.«

»Weißt du, Liz, sie kann gehen, wohin sie will. Sie soll Spaß haben und ihr Leben leben. Ich wollte sie nie daran hindern. Aber dann soll sie mir nicht sagen, dass sie nicht weiß, was aus uns wird. Dann soll sie wenigstens den Mut haben, mir ins Gesicht zu sagen, dass sie keinen Bock mehr auf mich hat.«

Ich lehnte mich langsam in meinem Sitz zurück und starrte nun genauso nach vorne. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir alle miteinander reden, Sam. Es ist so viel passiert, und … Bring mich einfach ins Apartment, okay?«

Er zuckte nur die Achseln und startete den Motor, während ich den Kopf in meine Hände stützte und mich fragte, wann zum Teufel alles, was als sicher gegolten hatte, so dermaßen aus den Fugen geraten war.

2. KAPITEL

HIGHER PLACES

Eliza

Samuel ließ mich am Bürgersteig aus dem Wagen und weigerte sich, mit hochzukommen, also nahm ich alleine den Aufzug in den zwanzigsten Stock.

Ich lief den Flur bis zu unserer Wohnungstür entlang und zog meinen Schlüssel aus der Tasche, nachdem ich mich innerlich gewappnet hatte. Aber wenigstens war ich jetzt nicht mehr die Einzige, die etwas zu beichten hatte. Na ja, was hieß schon beichten, immerhin war ein Auslandsbesuch im Studium nichts Ungewöhnliches, richtig?

Zu meiner Überraschung musste ich Jen und Ally nicht aus ihren Zimmern zu einer Krisensitzung in unser kleines Wohnzimmer rufen – meine Mitbewohnerinnen saßen unter einer Decke aneinandergekuschelt auf dem Sofa vor dem Fernseher und richteten sich beide auf, als sie mich entdeckten. Ich konnte eine angebrochene Tafel Schokolade und zwei Tassen Kakao auf dem Tisch vor der Couch erkennen. Mein Blick wanderte zum Bildschirm, wo eine Selbsthilfegruppe für sterbenskranke Teenager zu sehen war.

Na klasse. Sie waren in genau der richtigen Stimmung.

Ich schälte mich aus meiner Jacke, lehnte mich gegen unsere hohe Theke und verschränkte meine Arme. »Ihr schaut euch an einem Samstagabend nicht ernsthaft The Fault in Our Stars an.«

Jenny brummte nur etwas vor sich hin, das wie »Wir haben noch Nachmittag« klang, aber Ally nahm mich genauer ins Visier.

»Wie war dein Treffen? Wieso bist du so durchnässt?«

Eine halbe Sekunde lang wägte ich ab, ob ich lügen sollte, dann entschied ich, dass alles sowieso schon am Arsch war und es daher keinen großen Unterschied machte. »Super. Finn ist aufgetaucht, und wir hatten ein nettes Gespräch über Romeo und Julia. Dann hat Sam ihm eine reingehauen, als er mich selbst nach meinem lächerlichen Betteln nicht loslassen wollte.«

»Finn hat dich belästigt?«, rief Ally wütend.

Jetzt hatte ich auch Jennifers ungeteilte Aufmerksamkeit. »Samuel hat ihn geschlagen?«

Ich zuckte betont gleichgültig die Achseln und begann, Wasser in unseren Wasserkocher laufen zu lassen, um mir einen Tee zu machen, den ich gerade bitter nötig hatte. »Liegt wohl daran, dass er so wütend war, weil du dich von ihm trennen willst, Jenny, um nach Brasilien zu verschwinden.« Ich biss mir auf die Lippe, als mir auffiel, wie vorwurfsvoll das klang, und drehte mich um. Als ich mich schon entschuldigen wollte, fiel mir auf, dass Jenny schuldbewusst den Blick senkte und Ally kein bisschen überrascht aussah. »Du wusstest es?«, rief ich empört aus und schaute sie beide verblüfft an. »Und wann hattet ihr vor, mich einzuweihen?«

Eine Weile herrschte Stille, dann schaute Jen zu mir auf. »Vielleicht wenn du von London angefangen hättest«, murmelte sie und brachte ein kleines verständnisvolles Lächeln zustande.

Ich drehte mich schleunigst wieder um, damit sie mein Gesicht nicht sehen konnten. Mechanisch suchte ich die Darjeeling-Verpackung hervor und nahm einen Teebeutel heraus, bevor ich das dampfende Wasser in meine dunkelrote Lieblingstasse goss. Sie wussten es also. Und ich benahm mich wie die letzte Idiotin, indem ich eine große Sache daraus machte.

Als ich eine ganze Weile nichts von mir gab, ergriff Ally das Wort. »Wir haben die Prospekte in deinem Zimmer gesehen, und du hast ja vor ein paar Monaten schon was davon erwähnt, also …«

»Nach dem, was auf diesem Ball passiert ist, ist es klar, dass du nicht hierbleiben willst«, fügte Jenny hinzu, und ich drehte mich zögerlich um.

»Wieso habt ihr nichts gesagt?«

»Weil wir dir Zeit geben wollten.«

»Okay«, seufzte ich. »Dann können wir uns das mit den Geheimnissen jetzt wohl sparen.« Ich griff nach meiner Tasse und schlenderte zum Sessel neben der Couch, während Alison sich die Fernbedienung schnappte und auf Pause drückte. »Wer will zuerst anfangen?«

All die Dinge, die ich eine Woche lang für mich behalten hatte, sprudelten aus mir heraus, und mit einem Mal war es einfach, darüber zu sprechen. Es machte sogar Spaß, und wie heute Morgen bei Sam bahnte sich eine Vorfreude in mir an, als ich ihnen von dem Programm erzählte, von der traumhaft schönen Universität, dem Campus und den Angeboten … Als ich fertig war, machte Jenny weiter, und als wir schließlich einen Blick auf die Uhr warfen, fiel uns auf, dass es schon nach sieben war.

Ich grinste. »Das war so was von überfällig.«

Jenny lachte zustimmend und Ally seufzte. »Ich hab mich ernsthaft gefragt, wie lange wir dieses Schweigen noch aushalten wollen, das war nicht zu ertragen.«

»Aber Jen …«, begann ich, nachdem Alison im Badezimmer verschwunden war. »Was hast du Samuel erzählt? Der dreht durch, glaub mir.«

Sie fuhr sich durch die roten Locken und stöhnte. »Sam … Ich weiß, ich hab’s vermasselt. Aber ich kann nicht von ihm verlangen, dass er sechs Monate hier auf mich wartet, während ich mich in Brasilien vergnüge, oder?«

»Ist es dir immer noch ernst?«

Sie biss sich auf die Lippe und erwiderte dann fest meinen Blick. »So ernst wie nie zuvor. Aber ich hatte schon mal eine Fernbeziehung, erinnerst du dich? Das endet immer böse.«

Ich dachte daran, wie sie mir von diesem Typen aus Italien erzählt hatte. Sie waren drei Jahre zusammen gewesen, in denen sie sich kaum getroffen hatten. Aber das hier war anders. »Jen, ich denke, wenn du ihn liebst, dann solltest du es versuchen. Und ein halbes Jahr ist kein ganzes Leben.«

Sie guckte genauso ungläubig wie Ally damals, als ich Toms Heiratsantrag verteidigt hatte. Schließlich brachte sie ein Lächeln zustande. »Was hat Finn nur aus meiner zynischen, sarkastischen Eliza gemacht?«

Ich verdrehte die Augen und versuchte den Gedanken, wie er meine Hand in seine genommen und mich zurückgedrängt hatte, in den hintersten Winkel meines Kopfes zu verbannen. »Nur mein Weltbild zerstört. Aber das heißt nicht, dass wir alle dazu verdammt sind.«

Ally kam zurück, und wir beschlossen, Pizza zu bestellen, als mein Handy in meiner Tasche zu vibrieren begann – ich hatte es seit dem Vorfall in der UW-Bibliothek nur noch auf lautlos, da ich mich nicht dazu überwinden konnte, den verfluchten Klingelton zu ändern – und ich verwirrt in mein Zimmer verschwand, um das Gespräch anzunehmen, nachdem ich den Anrufer auf dem Display gesehen hatte.

Ich schaltete das Licht an, schloss meine Tür hinter mir, warf meine Tasche aufs Bett und mich hinterher, bevor ich den grünen Button anklickte. »Tom?«, murmelte ich kritisch.

»Hey, Eliza, wie läuft’s?«

»Ernsthaft?«, entgegnete ich und lehnte mich gegen die Wand unter meinem Fenster, während ich die Beine anzog und mein Kinn dann auf den Knien ablegte.

»Lust, heute noch was zu unternehmen?«, fuhr er fort, als wäre ihm die Ironie in meiner Stimme vollkommen entgangen.

Ich spürte, wie ich wieder wütend wurde. »Klar, Tom, ich komm gleich vorbei. Dann können wir vielleicht bei dir abhängen, oder weißt du was, ich hab eine bessere Idee. Wieso gehen wir nicht gleich eine Etage höher und schmeißen eine Party bei deinem kleinen Bruder? Soll ich Snacks mitbringen?«

Er seufzte unüberhörbar. »Ich rufe nicht seinetwegen an.«

»Klar. Glaub ich dir aufs Wort.«

»Eliza, bitte …«

Langsam, aber sicher kotzte es mich wirklich an, meinen Namen in Verbindung mit diesem Wort zu hören. »Ich hasse es, deine Illusionen zu zerstören, aber Finn ist ein Psychopath und soll sich einliefern lassen, bevor ich es tun muss. Das ist kein Spiel für mich, Tom, und es ist auch nicht wie damals vor San Francisco, obwohl das gestört genug war. Ich lass mich nicht mehr vom Westwood-Clan verarschen, ist das klar?«

»Tut mir wirklich leid.« Er hörte sich ehrlich betroffen an, aber ich vertraute inzwischen nicht mehr besonders auf mein Bauchgefühl, also sagte ich erst mal gar nichts, während er weitersprach. »Ich schwöre dir, ich rufe nicht an, um irgendetwas zu rechtfertigen, was Finn getan hat. Ich will auch keine tiefgründigen Gespräche mit dir darüber führen oder so ’nen Scheiß, ich wollte dich einfach fragen, ob du Lust hast, heute mit mir auszugehen.«

Verblüfft richtete ich mich auf. »Was?« Er blieb stumm, und ich runzelte die Stirn. »Tom, nichts für ungut, aber du bist der Ex meiner besten Freundin und …«

»Das soll kein Date sein«, seufzte er deutlich resigniert. »Komm schon, Liz, wann war das letzte Mal, dass du dich richtig amüsiert hast?«

Ich musste keine Minute darüber nachdenken. Deutlich sah ich die Umrisse der Suite im Palace Hotel vor mir. Die Nachtclubs und die überfüllten Straßen, auf denen wir zu Enjoy The Silence getanzt hatten … Plötzlich wurde mir bewusst, dass Tom und ich uns in gewisser Weise in der gleichen beschissenen Situation befanden: Wir waren beide verlassen worden. Und wie es aussah, waren wir beide nicht darüber hinweg. »San Francisco«, gab ich schließlich zu.

»Wie es der Zufall will, ist es bei mir genauso. Erkennst du Parallelen?«

Ich musste unwillkürlich lächeln. »Was ist dein Plan?«

»Drinks und ein bisschen tanzen. Einfach so – weil wir immer noch ein Leben haben und nicht auf die Liebe angewiesen sind.«

Es klang verbittert, und ich wog meine Möglichkeiten ab. Alison würde sicher nicht begeistert sein, und ich fragte mich, ob es Verrat wäre, mit Tom feiern zu gehen. Aber auf einmal fühlte ich ein Kribbeln in mir, als ich daran dachte, dass ich tanzen konnte … loslassen … ein wenig Spaß haben. Einfach weil ich am Leben war. Die kleine Hoffnungsflamme vergrößerte sich, und bevor ich einen Rückzieher machen konnte, sprach ich es aus: »Okay.«

»Perfekt, Liz, danke. Du wirst es nicht bereuen, glaub mir. Ich hol dich in zwei Stunden ab, geht das klar?«

Mein Lächeln wurde breiter. »M-hm.« Die anfängliche Wut war verflogen, und auch wenn ein Teil in mir sich noch fragte, ob das alles wirklich nichts mit seinem Bruder zu tun hatte, befahl ich mir, einen kühlen Kopf zu bewahren. Es würde schon gutgehen. Morgen früh würde ich mit Ally über England und mein Problem sprechen, so wie Sam es mir vorgeschlagen hatte. Aber heute Nacht war kein Platz dafür – heute würde ich mich amüsieren. Und falls Finn doch auftauchte, falls das alles nur ein Trick war, dann würde ich einfach wieder abhauen. Inzwischen war ich ihm so oft unerwartet über den Weg gelaufen, dass es ohnehin keinen Unterschied machte. Ich musste endlich meine Schwäche überwinden. Und mich mit dem Gedanken anfreunden, dass es endgültig vorbei war, egal wie oft Finn versuchte, mich zurück in den Abgrund zu ziehen. Denn sosehr ich ihn immer noch wollte, wie mir das Treffen heute bewiesen hatte, so sicher war ich mir, dass wir nie wieder eine ansatzweise romantische oder gar körperliche Beziehung führen würden.

Jeder Mensch hatte seine Grenzen, und das hier war meine.

***

Gut, ich war nun völlig wahnsinnig geworden. Überraschend war es ja nicht, nach dem beschissensten Monat aller Zeiten.

Ich wirbelte seit geschlagenen zwanzig Minuten zu meinen Lieblingsliedern in meinem Zimmer herum und probierte sämtliche Klamotten an, die sich in meinem Kleiderschrank befanden, während Ally und Jenny drüben im Wohnzimmer saßen, The Fault in Our Stars weiterschauten und sich wohl fragten, welche Art von Drogen in meiner Pizza Quattro Formaggi enthalten gewesen war.

Ich hatte nicht zugegeben, dass ich mit Tom rausging, das war mir irgendwie doch zu riskant. Sie wussten nur, dass ich mich mit »Leuten von der Uni« auf einen Drink traf.

Es war mir selbst ein Rätsel, aber ich konnte nicht leugnen, dass meine Laune von Minute zu Minute besser wurde. Ich wollte mich betrinken, ich wollte tanzen, ich wollte in die Nacht hinausschreien, dass ich auch alleine glücklich sein konnte – und das nicht einmal aus Trotz, sondern aus voller Überzeugung.

Gerade stieg ich aus dem etwas weiter fallenden Spitzenrock, der mir dann doch zu mädchenhaft war, als mein Blick auf die Lederhose auf meinem Bett fiel.

Ich konnte nicht genau sagen, woher der Gedanke kam. Langsam, wie in Trance griff ich nach der Hose und stieg hinein und anschließend in Allys schwarz glänzende Stilettos, die schon vor meinem Spiegel standen und die ich seit jenem Abend nie wieder ausgeliehen hatte. Meine Hände hoben sich automatisch und öffneten meinen Kleiderschrank, wo sie das dunkelblaue, tief ausgeschnittene Top herausnahmen.

Mein Kennenlernen mit Finn.

War es normal, sich an so viele unwichtige Details zu erinnern, nachdem eine Beziehung in die Brüche gegangen war?

Es war nie eine Beziehung gewesen, und trotzdem würde ich niemals vergessen, wie ich mich am ersten Abend vor dem Howl at the Moon fertig gemacht hatte, wie ich mich verspätet hatte.

Das hier war mein Outfit gewesen. Genau das.

Prüfend betrachtete ich mich im Spiegel und erinnerte mich unwillkürlich an den grauen Schal, den ich auch schon eine Ewigkeit nicht mehr getragen hatte. Ich nahm ihn ebenfalls aus dem Schrank und begann dann, mit meinem Make-up fortzufahren – die Haare hatte ich mir schon gerichtet: extra große Locken, extra viel Haarspray zum Fixieren. Mit einem Mal war ich wie besessen. Ich versuchte, mich an jede noch so kleine Einzelheit zu erinnern. An meinen dunklen Lidschatten, den bordeauxfarbenen Lippenstift, dasselbe Parfum.

Mein Verhalten war kindisch und auch gefährlich. Ich hatte die letzten Wochen durchgehend versucht, alles zu vermeiden, was mich an Finn erinnerte. Und hier stand ich jetzt und erkannte mein altes Ich im Spiegel. Ich war noch dieselbe.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, und zum ersten Mal tat es nicht weh, daran zu denken, wie ich im Eingangsbereich der Bar ausgerutscht war und er mich aufgefangen hatte. Das spielte alles keine Rolle mehr. Ich war immer noch in der Lage, Spaß zu haben. Ich konnte immer noch zu meiner Lieblingsmusik tanzen und mich lebendig fühlen. »Break away from everybody, break away from everything«, erklang Adam Gontiers laute Stimme aus meinen Boxen, und ich schaute mir selbst siegessicher und berechnend in die Augen.

Hinter mir auf dem Schreibtisch plingte es, als mein Handy eine Nachricht von Tom anzeigte. Ich warte unten. Bis gleich.

Ich griff nach meiner Jacke und der Tasche – derselben wie damals im November – und schaltete die Musik aus, bevor ich die Tür hinter mir zuzog und in den Flur trat.

If you can’t stand the way this place is, take yourself to higher places, vervollständigte ich die Songtextzeile in Gedanken.

***

Als ich aus unserem Wohnblock kam, erstarrte ich für einen kurzen Moment, als ich den Wagen sah. Schwarz, stilvoll und geschmeidig. Mein Blick huschte zum Fahrersitz, und mein ganzer Körper ging automatisch in Abwehrhaltung – ich war bereit, jeden Moment wieder umzudrehen.

Aber ich sah keine dunkelblonden verwuschelten Haare, sondern nur Toms Locken, als er mich entdeckte, sich vorbeugte und die Beifahrertür öffnete.

Schnell überspielte ich meine Unsicherheit mit einem Lächeln und ließ mich neben ihn auf den weichen Ledersitz fallen, bevor ich die Tür hinter mir zuzog. Das ganze Auto roch nach Finn. Aber scheiß drauf. Das passte nur umso besser zu meinem kleinen kranken Projekt heute Abend.

»Hey.«

Er grinste mich an. »Du siehst toll aus. Sorry für den Wagen, aber meiner …«

»Schon okay«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich hab kein Problem damit.«

Sein Blick war leicht verwundert, aber dann drehte er ohne Weiteres den Zündschlüssel um, und wir fuhren los. Ich zwang mich, dieses Gefühl, in diesem Wagen zu sitzen, voll und ganz in mich aufzunehmen, anstatt es zu verdrängen. Ich würde heute mit meiner Vergangenheit abschließen. Das hier gehörte dazu.

»Wie geht’s Ally?«, fragte er scheinbar gleichgültig, als wir nach einigen Minuten Schweigen an der Kreuzung zur Pine Street vor der Ampel hielten.

»Sie schaut sich mit Jen The Fault in Our Stars an«, sagte ich leicht ironisch. Ich blickte zu ihm, aber er sah nach wie vor nach vorne auf die Straße, obwohl wir gerade warten mussten.

Er schluckte nur leicht. »Oh, gut.« Ein Blinder konnte sehen, dass es in ihm brodelte.

»Ich hab ihr nicht erzählt, dass wir zusammen weggehen«, fuhr ich fort. »Komm schon, Tom, du kannst zugeben, dass es schwer ist. Sie hat mir erzählt, was in L.A. … du weißt schon.«

»Würde es dir etwas ausmachen, nicht darüber zu sprechen?«

»Nein. Aber wenn du mit ihr abschließen willst, dann wird dich Verdrängung nicht weiterbringen.«

Er schnaubte und fuhr weiter, als die Ampel auf Grün sprang. »Grandioser Ratschlag. Als würdest du fröhlich durch die Weltgeschichte spazieren und dich daran erinnern, wie es war, als du mit meinem Bruder zusammen warst.«

»Wir waren nie zusammen«, erwiderte ich mit einem zuckersüßen Lächeln. Komischerweise tat es meiner guten Laune keinen Abbruch, dass er nicht besonders gut drauf zu sein schien. Immerhin hatte er mich hierzu eingeladen.

Bevor er die Chance hatte, etwas zu erwidern, beugte ich mich vor und drückte zur Demonstration meiner neuen Einstellung auf Play. Finns Lieder zu hören – das war doch eine der melancholischsten Erinnerungen, nicht? Keine Sekunde später hämmerte The Sharpest Lives los.

Sein Klingelton.

Das war Schicksal.

»Sorry, Eliza, der Abend sollte eigentlich nicht dazu dienen, dass ich verbittert über Ally spreche …«

»Du kannst ruhig über sie sprechen«, antwortete ich leichthin. »Aber wenn du lästern willst, dann bist du an der falschen Adresse.«

»Ich hasse sie nicht.«

»Gut. Dann bist du weiter als ich.«

»Ich kann sie nicht hassen, es war ihre freie Entscheidung, zu gehen, aber … warte mal. Du hasst Finn?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich ehrlich zu, als wir durch die Straßen rasten und ich mein Fenster herunterkurbelte, um ein bisschen vom frischen Fahrtwind abzubekommen. »Ich glaube nur nicht, dass ich ihm jemals verzeihen werde. Das war nicht okay, weißt du?«, murmelte ich leise und fragte mich, was Tom gerade von seinem Bruder hielt. Ob er sein Verhalten nicht doch irgendwie rechtfertigte.

»Das weiß ich. Und verflucht, er weiß das am allerbesten. Ich habe ihn noch nie … Er hat noch nie etwas so sehr bereut.«

Ich schüttelte den Kopf. Meine Ohren vernahmen seine Worte, aber sie klangen stumpf und leer. »Egal, darum geht es nicht. Wir haben nie zusammengepasst. Es war nicht wie bei Ally und dir, es war immer … In gewisser Weise war es selbstzerstörerisch. Und das endet nie gut, auch wenn es am Anfang seinen Reiz hatte. Ich bin zu jung, um so etwas zu durchleben. Deswegen habe ich mich entschieden, in England weiterzustudieren.«

Wieder wurde ich überrascht, als keinerlei erschrockene oder wenigstens irritierte Reaktion kam. Wusste Tom etwa auch schon Bescheid? Hatte er vielleicht Kontakt zu Ally, obwohl er noch so unter der Trennung litt?

Er schwieg eine Weile, dann wechselte er abrupt das Thema, fast so, als hätten ihn meine Worte verärgert. »Hast du irgend’nen Vorschlag, in welchen Club wir gehen können? Oder willst du nur Drinks?«

Ich lehnte mich aus dem Fenster und lächelte wieder, als mir eine Idee kam. »Black Jewel, weißt du, wo das ist?«, rief ich über den Straßenlärm und den starken Bass des Songs hinweg.

»Jep.«

Er nahm eine scharfe Kurve nach links, und meine Gedanken schweiften ab … zu Silvester. Zu dieser unglaublichen Nacht, an die ich mich nur noch teilweise erinnern konnte. Ich war zu Crystal Castles in Finns Armen dahingeschmolzen.

***

Meine Haare flogen, mein Körper vibrierte, und mein viel zu lautes Lachen ging in der dröhnenden Musik unter, als ich den vierten oder fünften Shot herunterkippte und genießerisch die Augen zukniff, sobald mein Hals zu brennen begann.

Die Bar befand sich direkt neben dem dritten Dancefloor, sodass ich nur einmal herumwirbeln musste, bevor ich mich wieder in der Masse befand und weitertanzen konnte, was das Zeug hielt.

Tom folgte mir die ganze Zeit, aber hauptsächlich tanzte ich alleine. Wenn irgendein Kerl in die Nähe kam, verschwand er mit Toms Hilfe schneller, als ich sein Gesicht registrieren konnte.

Meine Dankbarkeit wurde zur Euphorie. Es war so perfekt. Die Lieder schienen unter meine Haut zu dringen, die Drinks stiegen mir in den Kopf wie feiner, glitzernder Nebel, und alles verschwamm leicht zu den schillernden Lichtern um mich herum. Ich spürte zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit wieder mein Herz vor lauter Glück, nicht Angst, schneller schlagen.

»Danke!«, rief ich Tom ins Ohr, als ich ihn für einen Moment neben mir sah. Er grinste mir breit zu, bevor er einen besonders aufdringlichen Tänzer zurückhielt.

Ich drehte mich um und tanzte weiter. Ich war betrunken. Und es fühlte sich so gut an. Pure Erleichterung durchflutete mich von oben bis unten.

London, ich komme. Westwood, du kannst mich mal.

Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen und landete in Toms Armen, als ich kurz darauf mein Gleichgewicht verlor. Amüsiert versuchte er mir zu erklären, dass er mich jetzt vielleicht nach Hause bringen sollte, aber ich griff nur nach seiner Hand und brachte ihn lachend dazu, mit mir zu tanzen. Und so bewegten wir uns zum Takt der Musik, und ich konnte in seinen Augen sehen, dass er wie ich dachte. Dass er in diesem Moment verstand.

Das Leben war nicht vorbei. Das hier war die beste Zeit unserer jungen Jahre. Und wir würden sie uns um keinen Preis der Welt nehmen lassen.

***

Finn

April 11th, 4:00 a. m.

Mein Arm war fertig verbunden, und ich befand mich vollständig angezogen auf dem Rücksitz mit Ally, während Tom mich in meinem Wagen zum Krankenhaus fuhr, auch wenn ich darauf bestanden hatte, dass es nicht nötig war. Ich spielte mit, weil ich es ihnen schuldig war. Meine Erinnerungen an den Tag meines Selbstmordversuchs in Los Angeles machten die Situation nicht besser, aber es war auszuhalten. Die Idee in meinem Kopf nahm immer mehr Gestalt an und hielt mich davon ab, mich zurück in meine Abgründe zu stürzen.

Damals hatte Ben mich sofort ins Krankenhaus gebracht, wo ich schließlich aufgewacht war und Michaels Gesicht vor mir gehabt hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass ich zu ihm nach Hause gebracht und nicht in eine Zelle für Geistesgestörte gesteckt wurde. Ich hatte immer noch seine Worte im Kopf, als er mich angestarrt und gefragt hatte, was ich wollte. Dass es meine Wahl war. Ich hatte es als grausame Ironie gesehen – meine Wahl wäre es gewesen, hätten sie mich sterben lassen, doch immer noch spürte ich meinen verdammten Herzschlag.

Erst jetzt fing ich an zu begreifen, wie viel ich ihm über all das Materielle hinaus verdankte. Er hatte mir beigebracht, was Liebe, Lebensglück und Verantwortung bedeuteten. Er selbst hatte eine enorme Verantwortung auf sich geladen, als er mich verbotenerweise nicht hatte einliefern lassen. Es hätte so viel schlimmer kommen können. Und trotzdem war er das Risiko eingegangen. Weil ihn, wie er mir einmal erklärt hatte, irgendetwas an meinem Gesichtsausdruck hatte erkennen lassen, dass ich genug Kraft besaß.

Ich atmete tief durch und sah Ally direkt ins Gesicht, bevor ich meinen Plan in Worte fasste. »Du musst sie begleiten. Bitte, du …« Ich brach ab, als ich Toms geschockten Blick im Rückspiegel sah, und mit einem Mal wurde mir klar, was ich da tat.

Alison hatte vorhin im Badezimmer recht behalten – ich war der egoistischste Mensch auf Erden. Ich war im Begriff, sie anzuflehen, mit Eliza nach England zu gehen, auch wenn es nur für ein Semester war. Damit ich wusste, dass es ihr gut ging. Damit ich einen Anhaltspunkt hatte, um nicht völlig die Nerven zu verlieren. Natürlich dachte ich wieder einmal nur an mich. Bittere Galle stieg in mir hoch, und ich musste heftig schlucken, als der Selbsthass mich wieder durchfuhr. Tom liebte sie noch immer. Und auch wenn sie nach England wollte, es war nicht meine Entscheidung. Ich hatte nicht das Recht dazu, sie überhaupt zu fragen.

Ich versuchte ein schnelles Lachen, um von meinen Worten abzulenken. »Oh, ähm, nicht so wichtig. Tom, kannst du das Radio …«

»Nein. Warte mal, Finn.« Seine Stimme klang merkwürdig hohl, doch ich konnte wieder in seine Augen blicken, und der Ausdruck darin war entschlossen. Ich sah von ihm zu Ally, die verwirrt die Stirn in Falten gelegt hatte, aber noch nichts sagte. »Worum geht es, Alison?«

Deutlich hörte ich die künstliche Distanz in seinen Worten, allein durch die Tatsache, dass er sie mit ihrem vollen Namen ansprach. Sie hatte ihm wirklich das Herz gebrochen.

Sie blickte noch irritierter drein. »Eliza will nach London. Ein Austausch mit einer angesehenen Uni dort, ich bin mir nicht sicher, welche es genau war. Wieso?«

»Hast du mir vor … vor ein paar Wochen nicht erzählt, dass du sowieso planst, im Ausland zu studieren, weil du Abwechslung brauchst?«

So langsam dämmerte mir, dass das hier das erste Gespräch seit ihrer Trennung war, aber ich war zu abgelenkt, um mich dafür zu verfluchen, dass es meinetwegen entstehen musste. Meine Gedanken rasten schneller als mein Herz – das musste etwas heißen –, und die Hoffnung, die ich gewaltsam zu unterdrücken versuchte, schob sich in den Vordergrund.

»Ja.« Sie sah ihm durch den Spiegel in die Augen, und er blickte schnell weg, obwohl wir gerade in einem kleinen Stau steckten. »Ja, ich schätze, das habe ich …«

Wir sprachen kein Wort mehr, bis wir in der Notaufnahme angekommen waren. Ich hatte zu viel Schiss, alles noch zu verschlimmern, Ally schien in Gedanken versunken zu sein, und Tom wirkte plötzlich wieder locker. Er bearbeitete die Krankenschwester keine zwanzig Minuten, da wurden wir trotz der Uhrzeit drangenommen, und er wich wie bei einem kleinen Kind nicht von meiner Seite, während der Arzt mich untersuchte. Vermutlich hatte Tom ihn bestochen, denn er fragte mich keinen Moment, was geschehen war oder wie ich mich fühlte, er führte nur stur die Untersuchung durch, bis er dann anordnete, dass ich mein Shirt wieder anziehen konnte. Anschließend sprach er für fünf Minuten mit Tom, ohne dass ich mich irgendwie daran beteiligen konnte.

Ich saß mit Ally im Wartezimmer, als Tom bestens gelaunt zu uns kam und aufmunternd nickte. »Okay, das war’s, ich fahr euch nach Hause.«

Sie stand auf, verschränkte die Arme und sprach meine Gedanken aus. »Was zur Hölle war das?«

Wieder fiel mir auf, dass er ihren Blick beim Sprechen mied. Seine Stimme aber klang unbeschwert. »Es ist alles okay, er hat keine Pillen genommen, seine Werte sind normal. Die Wunde am Arm ist nicht tief genug, um ernsthaften Schaden anzurichten. Wir haben alles unter Kontrolle.«

»Wir?«, mischte ich mich nun auch ungläubig ein, während wir uns auf den Weg zurück zu den nahezu menschenleeren Parkplätzen machten.

»Der Arzt hat mit Michael am Telefon gesprochen«, erklärte Tom und sah mich von der Seite an. »Er hat Mom noch nichts erzählt.«

Ich hielt meine Augen einen Moment länger als gewöhnlich geschlossen. »Oh, verdammt.«

»Du musst ihn dringend anrufen, Kleiner. Ich glaub, die drehen durch.«

Sofort nickte ich. Nach einem kurzen Blick auf Ally, die aussah, als wüsste sie nicht genau, wie sie sich verhalten sollte, zog ich mein Handy aus meiner Tasche und scrollte durch meine Kontakte bis zur richtigen Nummer.

Das Gefühl, alles wiedergutmachen zu wollen, wurde wie vorhin immer stärker. Für den Augenblick gelang es mir, nicht mehr an Eliza und England zu denken. Es war nur kurz, aber es half mir, mich auf das unmittelbar Bevorstehende zu konzentrieren.

»Dad?«, murmelte ich automatisch, als es in der Leitung klickte.

»Finn.« Er sprach mit seiner Therapeuten-Stimme. Freundlich, distanziert und verständnisvoll. Aber ich kannte ihn inzwischen gut genug, um den bebenden Unterton richtig zu deuten.

»Es ist alles okay«, hörte ich mich sagen, während ich hinten in mein Auto stieg und Ally vorne neben Tom Platz nahm – vermutlich, um mir ein bisschen Privatsphäre zu geben. »Ich war in der Notaufnahme, und Tom hat gesagt, du hättest mit dem Arzt telefoniert. Mir geht es gut. Wirklich.«

Für ein paar Sekunden blieb es ruhig, und ich wusste nur allzu gut, was das zu bedeuten hatte. Meine Schuldgefühle verdoppelten sich, und ich sprach hastig weiter, ohne zu denken. Ich ließ einfach den ganzen Mist hinter mir und erzählte ihm die Wahrheit. Es war mir gleich, dass ich Zuhörer hatte, und es spielte auch keine Rolle, dass ich um fünf Uhr am Morgen ohne Schlaf auf dem Rücksitz meines Wagens saß, nachdem ich für einen viel zu langen Moment bereit gewesen war, mir das Leben zu nehmen. In dem Augenblick war ich nichts weiter als der kleine Junge, der mit seinem Vater sprach, den er nie gehabt und seine ganze Kindheit lang so sehr gebraucht hatte. Ohne Rücksicht und ohne Scham.

Ich erzählte von dem Ball, ich erklärte, wie ich mich davor von Eliza getrennt hatte, und ich zwang mich, jeden einzelnen Moment noch einmal zu durchleben. Das, was oben in der Federation Hall geschehen war, umschrieb ich hastig, doch irgendetwas gab mir das Gefühl, dass er verstand. Meine schrecklichen Taten leugnete ich nicht, und beschönigen ließen sie sich sowieso nicht.

Er hörte mir zu. Er drängte mich nicht, sondern hörte einfach zu.

Einmal sah ich, wie Ally nach Toms Hand griff, aber als ich das nächste Mal hinschaute, berührten sie sich schon nicht mehr und starrten in verschiedene Richtungen.

Schließlich war mein Mund staubtrocken, und mein Display zeigte 59 Minuten Gesprächszeit an. Ich räusperte mich schwach und realisierte, dass das Auto schon lange still stand und wir uns höchstwahrscheinlich vor dem Hochhaus befanden, in dem Tom und ich wohnten. Alison war nicht mehr da, ich hatte nicht gemerkt, wie sie ausgestiegen war. Tom drehte sich um, und sein Blick war schockiert. Verdammt, was hatte ich alles gesagt? Ich wusste es kaum mehr, obwohl es nur Minuten zurücklag. Mein Kopf war wie leer gefegt. Ich starrte zurück, während Michael das Wort am anderen Ende der Leitung ergriff.

»Ich habe vor einer Stunde, kurz bevor du angerufen hast, einen Flug nach Seattle gebucht, Finn. Du kannst dich auch weigern, mich zu treffen, aber ich denke, es … wäre für uns beide von Vorteil.«

Ich schüttelte den Kopf, als würde ich ablehnen. »Natürlich. Wann kommst du? Was ist mit … Was ist mit Laura?«

Er stockte einen Moment. »Sie ist hier«, murmelte er schließlich leise. »Möchtest du mit ihr sprechen?«

Immer ließ er mir die Wahl. Es gab mir einen verfluchten Stich, dass er mich nach wie vor mit Respekt behandelte, obwohl er jetzt alles wusste, was ich getan hatte. Es war so unvorstellbar für mich. »Ja«, erwiderte ich heiser.

Laura versuchte sich zusammenzureißen, das hörte ich selbst durch mein Telefon, aber ihr Schluchzen war stärker.

Meine Hände zitterten, als ich Tausende Entschuldigungen zu stammeln begann und in Reue und Selbsthass versank. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange sie weinte oder wie lange ich versuchte, sie davon zu überzeugen, dass es mir gut ging, aber schließlich zuckte ich zusammen, als Tom den Wagen verließ und die Tür hinter sich zuschlug. Noch einer, der genug von mir hatte. Ich konnte es zu hundert Prozent nachempfinden.

»Es tut mir leid, dass ich dich damals angerufen habe und dich mit … deiner … mit …«, stotterte Laura immer noch unter Tränen.

»Mit meiner biologischen Mutter«, half ich nach und atmete tief ein und wieder aus. Ich gab ihr keine Schuld. Der Einzige, der Schuld trug, war ich. Weil ich so überzeugt gewesen war, dass es mir wieder so weit gut ging, dass ich mich auf andere Menschen einlassen konnte. Meine Vergangenheit war Teil von mir, und ich war verdammte zweiundzwanzig Jahre alt. Ich hätte schon lange damit abschließen müssen. Lange bevor ich Eliza Fleming über den Weg gelaufen war.

»Ich hatte nicht das Recht, das zu tun, es tut mir so leid, Finn.« Sie klang todunglücklich.

»Bitte, Mom, gib dir nicht die Schuld. Es kam alles zusammen, es liegt nicht daran. Ich brauchte Hilfe. Und die habe ich bei … bei einem Mädchen gesucht, das nicht die geringste Ahnung hatte, wer ich wirklich bin. Es geht mir jetzt gut, das schwöre ich.« Ich wusste, es stimmte. Es ging mir nicht insofern gut, dass ich vollständig mit heute Nacht abschließen konnte oder auch nur irgendwelche Aussichten auf Glück hatte, sondern dass ich leben wollte und mir eingestand, dass ich krank war. Nicht gestört, sondern psychisch krank. Und dass ich geheilt werden wollte. »Nur weiß ich nicht, ob es Eliza jemals wieder gut gehen wird«, flüsterte ich und starrte auf den Ledersitz vor mir, sah mein fahles Gesicht draußen im Seitenspiegel.

»Wie meinst du das?«, fragte sie, und ich merkte, dass sie sich wieder ein bisschen unter Kontrolle hatte.

Ich kämpfte mit mir, aber ich brachte es nicht über mich, ihr das zu erzählen, was ich Michael erzählt hatte. Etwas hielt mich ab. Vielleicht weil sie meine Mutter war, meine einzig richtige Mutter, und ich immer noch das Bedürfnis hatte, sie nicht enttäuschen zu wollen.

Stattdessen begann ich ihr mit ruhiger Stimme zu erklären, dass ich nicht bereit für Julia Gallagher war und dass ich mich darauf freute, wenn Michael kam, um die Lage mit mir zu besprechen. Sie hörte mir zu, und als ich schließlich sagte, dass ich sie schlafen lassen wollte, ließ sie mich schwören, dass ich bei Tom in der Wohnung oder er bei mir übernachten würde. Auch das machte mir nichts weiter aus – nur hatte ich immer mehr das Gefühl, dass mein Bruder doch ziemlich angepisst von mir war.

»Ruf mich morgen Mittag an, Finn. Und du kannst auch sonst anrufen, wann immer du möchtest, deinen Vater oder mich. Wir lieben dich.« Ihre Stimme war inzwischen ebenso ruhig wie meine, und es klang nicht dramatisch oder weinerlich, als sie das sagte. Es klang ehrlich.

Minuten später sprang ich aus dem Wagen und taumelte ein bisschen, als ich abschloss und mich umsah. Verflucht, ich war wirklich am Ende mit den Nerven, und obwohl ich die letzten Tage kaum Schlaf benötigt hatte, bahnte sich eine riesige Erschöpfung an. Oder vielleicht gerade deswegen. Ich hob den Kopf und sah mich auf der ausgestorbenen Hauptstraße um, auf der nur einzelne Autos vorbeikamen, bis ich Tom vor unserem Wohnblock entdeckte. Aber entgegen meiner Erwartungen war er nicht alleine – Ally stand neben ihm. Sie unterhielten sich angeregt, allerdings konnte ich kein Wort verstehen.

Ich beschleunigte meine Schritte und fragte mich, wieso sie immer noch hier war. Tom hatte sie doch nach Hause fahren wollen.

»Fertig?«, fragte Tom, als ich bei ihnen ankam. Zu meiner Verwunderung lächelte er leicht.

Ich nickte und schaute zwischen ihnen hin und her. Sie sahen auch verdammt müde aus. »Tut mir leid, dass ihr das mit anhören musstet. Und es tut mir auch leid, dass ihr so viel Stress meinetwegen habt. Wenn ich das nur ansatzweise wiedergutmachen kann …, dann sagt mir Bescheid.«

»Gehen wir erst mal rein, wir können oben alles besprechen.«

Wir stiegen in den geräumigen Aufzug, und Ally ergriff das Wort, nachdem sie sich mit kritischem Blick in der verspiegelten Wand betrachtet hatte. »Ich denke, es ist einen Versuch wert, Finn.« Fragend blickte ich zu ihr. »England«, fuhr sie fort, und mein Herz hämmerte wieder lauter. »Wir haben nur leider keine Ahnung, wie ich in das Programm reinkommen soll, da man sich schon länger anmelden musste, soweit ich weiß. Und Abflug ist schon Ende Juni. Außerdem … würde ein kleines Geldproblem entstehen. Und ich kann unmöglich zwei Jahre dort bleiben. Ein Semester würde aber Spaß machen.« Sie lächelte leicht.

»Ally, ich hab dir gesagt, Geld ist kein Problem. Und den Rest kriegen wir auch hin, wenn du mit Eliza gehen möchtest«, antwortete Tom ihr, und ich beobachtete, wie sie kurz einen Blick tauschten. Einen ziemlich vertrauten.

Ich schluckte. »Ich habe mich damals mit Eliza angemeldet. Man muss nur eine Prüfung in einem seiner Studienfächer machen, damit sie sehen, ob man geeignet ist. Nur ein Test, nicht besonders anspruchsvoll. Ich bin praktisch schon sicher in dem Programm.«

Die Aufzugtüren sprangen mit dem vertrauten Geräusch auseinander, und wir traten in den Flur des 26. Stocks. Also stand es schon fest, dass wir in mein Apartment gingen, dann konnte ich mir die Peinlichkeit ersparen, wenn ich Tom fragte, ob er bitte in meinem Wohnzimmer übernachten könnte. Nach einigem Hin und Her fanden wir uns letztendlich auf meiner schwarzen Couch wieder. Ally hatte uns allen einen Kaffee gemacht, und mein aufgeklapptes Notebook stand auf dem Wohnzimmertisch. Während sie wild auf der Tastatur herumklickte und sich das Programm näher ansah, erzählte ich Tom, dass Michael in zwei Tagen kommen würde, und warf ihm fragende Blicke zu, auf die er nicht weiter einging. Ich wusste nicht, wieso er mich so unterstützte, warum er Alison so sehr motivierte, bei dem Austausch mitzumachen. Ich wusste nur, dass ich schon lange nicht mehr so dankbar gewesen war.

»Okay«, rief Ally nach anderthalb Stunden entschlossen, stand auf und gähnte. »Morgen früh geht’s weiter, und wir schauen, wie wir mich ins Programm kriegen. Also, wo kann ich schlafen?«

Ich öffnete den Mund, um ihr mein Bett anzubieten – ich würde auch auf dem Boden schlafen, die unglaubliche Dankbarkeit machte es mir unmöglich, besondere Ansprüche zu erheben –, aber Tom kam mir zuvor, als er seinen Wohnungsschlüssel hastig aus seiner Jeans zerrte und ihr hinhielt.

»Du hast das Apartment für dich alleine, ich übernachte hier … Fühl dich wie zu Hause, okay?«

Sie sah aus, als wollte sie protestieren, aber sein Blick schien sie zu erweichen. Ich verstand immer noch nicht, was zwischen den beiden vorging.

»Danke«, murmelte sie zaghaft, und in der nächsten Sekunde trat er auf sie zu und schloss sie in die Arme.

»Tut mir leid, dass ich dir die Trennung so schwer gemacht habe. Ich wollte nicht …«

Sie umarmten sich so lange, dass ich in mein Schlafzimmer flüchtete, um ihnen ein wenig Privatsphäre zu geben. Okay, und vielleicht auch, weil ich so viel Zuneigung im Moment nur schwer ertragen konnte. Ich schaltete die Deckenbeleuchtung ein und lief weiter ins Badezimmer, wo sich noch mein Anzug und die Maske zusammen mit dem Rasiermesser auf den Fliesen befanden. Mit schnellen Bewegungen räumte ich auf und wusch das Messer vorsichtig in einem der weißen Marmorwaschbecken ab. Ich hob langsam den Kopf, um mich währenddessen im Spiegel zu betrachten, bevor ich meine Hände mit eiskaltem Wasser volllaufen ließ und es mir ins Gesicht spritzte. Plötzlich fühlte ich mich wieder so normal. So unter Kontrolle, obwohl mein Spiegelbild noch Spuren meines Wahnsinns nachzeichnete und die schwarzen Schatten unter meinen hellen Augen das Gesamtbild auch nicht besonders positiv erscheinen ließen. Aber die vergangenen Stunden kamen mir vor wie mehrere Tage. Wie ein unerbittlicher Kampf mit meinen eigenen Dämonen. Ich fühlte mich noch nicht, als hätte ich sie besiegt, aber ich war dabei, sie in den Käfig zu sperren, bevor ich sie endgültig vernichten konnte. Ich würde jetzt weiterkämpfen. Für mich, für meine Familie und meine Freunde.

Und für die unzerstörbare, niemals endende Liebe.

Für Eliza.

***

April 17th, 11:25 p. m.

Ich starrte auf meine E-Gitarre. Auf die riesigen schwarzen Lautsprecher und den Verstärker. Dann auf meine Hände, die zusammengeballt auf meinen Knien ruhten. Ich wollte es.

Nein, ich brauchte es. Es war eine Notwendigkeit.

In meiner schwärzesten Nacht hatte ich das Instrument in die Hand genommen, hatte die dröhnende Musik um mich herum gespürt und gewusst, egal wie sinnlos dieses Leben war, die Musik würde immer bleiben. Ich hatte es aufgegeben – für Eliza. Um einen Schlussstrich zu ziehen. Doch das hier benötigte keinen sauberen Schnitt, kein Ende, das ich mir selbst bereitete.

Vom Wohnzimmer drang Licht herein, das ich vergessen hatte auszuschalten, als ich Michael zum Flughafen gebracht hatte. Die vergangene Woche hatten wir gemeinsam verbracht. Zum ersten Mal in meinem verfluchten Leben verstand ich, dass ich Hilfe benötigte. Und es war nicht nur diese Einsicht, diese bloße Akzeptanz, sondern ein innerer Wille. Es gab jetzt einen Grund, gesund zu werden. Es gab einen Grund, aufzustehen, das Blut von meinen Händen zu wischen, die dunklen Gedanken zu verbannen, meine Einsamkeit hinter mir zu lassen und zu leben.

Auch wenn Eliza mich nie wiedersehen wollte. Auch wenn sie … Ich atmete durch und zwang mich, den Gedanken zu Ende zu denken.

Auch wenn sie Angst vor mir hatte.

Das war in Ordnung, das war meine Strafe, und wenn wir beide Glück hatten, dann hasste sie mich und kam in England über mich hinweg.

Ich trat nach draußen auf die Terrasse. Sie schirmte den Lärm, den ich im Begriff war, zu erzeugen, nicht ab, aber wenigstens bekam nicht das ganze Haus Wind davon – nur vermutlich die gesamte 1st Avenue, aber wen interessierte das schon … Ich hatte keine Lust auf Akustik, also suchte ich mir auf meinem Handy unter den Background-Songs einen passenden mit genügend Lautstärke aus und schloss meine E-Gitarre an den Verstärker an. Forever von Papa Roach.

Meine Hände zitterten vor Aufregung – ich hätte fast über mich gelacht. Fast. Aber der immer wiederkehrende Gedanke an das Literaturtreffen heute Nachmittag machte es mir unmöglich, während ich mir das Instrument umschnallte und mit dem Lied begann. Ich hatte Eliza nie bedrängen wollen. Aber zum Teufel, ich hätte nie erwartet, dass sie kommen würde. Ich selbst war nur gegangen, weil Michael angeordnet hatte, ich solle versuchen, so oft wie möglich aus meinem Apartment zu kommen und … gewöhnliche Dinge tun. Es hatte mich vollständig aus der Bahn geworfen, und ich war für ein, zwei Stunden wieder unberechenbar gewesen. Und dann auch noch dieser Romeo-und-Julia-Scheiß. Ich war drauf und dran gewesen, Logan und die anderen Idioten anzubrüllen, sie sollten nicht so scheinheilig tun. Ich war mir sicher, es gab kaum mehr jemanden aus unserem Semester, der nicht Bescheid wusste. Aber meine Wut war schnell etwas anderem gewichen, als klar geworden war, dass ich mit Eliza zusammenarbeiten würde. Und dass sie so nahe wie seit Ewigkeiten nicht mehr neben mir sitzen würde. Nur Zentimeter entfernt. Ihr konnte unmöglich entgangen sein, wie ich sie angestarrt hatte. Gott, sie war so schön. Schön und rein und … ich würde mir nie erklären können, wieso ich auf dem Maskenball … wieso ich sie zerstört hatte. Sie dazu gebracht hatte, mich nicht nur zu hassen, sondern zu fürchten.

Michael hatte mir gestern eine seiner Theorien erklärt, nachdem Alex sich verabschiedet hatte, weil er sich noch mit Kristina traf. Er hatte mich wortlos umarmt, ohne ein einziges Wort über Samstagnacht zu verlieren, auch wenn ihm Tom höchstwahrscheinlich alles erzählt hatte. »Die Macht, die Eliza über dich hatte, hat dir eine solche Angst eingeflößt, dass du dir für den Moment nicht anders zu helfen wusstest. Vermutlich spielte auch noch die Tatsache mit hinein, dass du wütend auf dich selbst warst, weil du dich von ihr getrennt und immerzu gelitten hast. So abwegig das klingen mag, ich denke, du wolltest dir beweisen, dass du keine echten Gefühle für sie empfindest. Du wolltest sie dafür bestrafen, dass du sie liebst und nach all der Zeit wieder einem Menschen vertraust, der dir wehtun kann.«

Keine Frage, Samuel war voll und ganz im Recht gewesen, mir eine reinzuhauen. Ich konnte mir niemanden vorstellen, der es mehr verdient hatte. Und in gewisser Weise hatte es mich aufgeweckt und mir bewiesen, dass mein Dad ebenfalls im Recht war: Eine Woche war nicht genug, um wieder zu Eliza zu gehen und um Verzeihung zu bitten. Ich musste ihr die Zeit geben, um zu verarbeiten. Das würde eher Jahre statt Monate brauchen.

»Lass sie sich darüber bewusst werden, was sie alles mit dir durchleben musste und wohin sie das gebracht hat. Sie muss jetzt Abstand haben, vor allem von dir.«

Ich konnte rein gar nichts tun, um ihr zu helfen. Aber damit hatte ich mich nicht zufriedengegeben. Also hatte ich Tom gebeten, Eliza anzurufen, sie raus in die Stadt zu bringen und mit ihr feiern zu gehen. Ich wünschte mir so sehr, dass sie Spaß hatte und noch immer ihr Leben genießen konnte. Tom war der Einzige, der infrage kam, denn ich vertraute ihm, und er war gut genug mit ihr befreundet. Außerdem wollte ein selbstsüchtiger Teil in mir, dass sie sich an den Anfang unserer Geschichte erinnerte. An die guten Dinge. Und wer war da eine bessere Verbindung als mein Bruder, ausgestattet mit meinem Auto? Wenn alles glattlief, war heute Nacht eine Erleuchtung für sie, genau wie für mich. Wenn ich Glück hatte, schloss sie genau jetzt, während ich wieder sang, mit uns ab. Ein für alle Mal.

Ich sang mir den Schmerz von der Seele und spürte, dass der Nieselregen wieder eingesetzt hatte und nun immer stärker wurde. Ich lief ans Geländer, umkreiste meine Dachterrasse wie eine Bühne, drehte mich um mich selbst, die Finger immer auf meinen Gitarrensaiten, betrachtete Seattle von jeder Perspektive und steckte alles in dieses so passende Lied. Jedes Gefühl und jeden noch so kleinen Gedanken, der mich mit Eliza verband. Ich schmeckte den kalten Regen auf meinen Lippen und spürte die Bedeutung dieses Augenblicks bis tief in meine schwarze Seele.

Die Space Needle. Die Gebäude, der Lärm von unten, der sich vollkommen in meiner lauten Musik verlor. Das nächtliche Treiben der Stadt. Hier war ich zu Hause. Hier war ich befreit worden.

Und hier würde ich sie gehen lassen.

***

Eliza

1:45 a. m.

»Soll ich dich nach oben bringen, oder geht das einigermaßen mit dem Laufen?«, fragte Tom mit amüsiertem Unterton, aber einem ernsten Gesichtsausdruck.

Ich verdrehte grinsend die Augen. »Mir geht’s fantastisch, Tom.« Natürlich war ich angetrunken, aber ich war sehr wohl noch in der Lage, mich selber sicher ins Apartment zu bringen. Der Alkohol hatte mich nicht völlig ausgeknockt, sondern nur meine gute Laune angeheizt. Spontan beugte ich mich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Vielen, vielen Dank für heute.«

Er lächelte. »Ich hab dich nur in den Club gebracht, den Rest hast du schon selbst übernommen, Liz. Auch wenn ich mich frage, wie ein so kleiner Mensch so lange tanzen kann, ohne umzukippen.«

»Ich war auf Entzug.«

»Na dann.« Er lachte. »Schlaf gut. Und hey, grüß Ally, ja?«

Ich sah ihn überrascht an, bevor ich aus dem Auto stieg. Vorhin auf der Hinfahrt hatte es sich so gar nicht danach angehört, als wäre er im Reinen mit ihr.

Tom zuckte mit den Schultern. »Spricht ja nichts gegen Freunde bleiben, oder?«

Mühsam hangelte ich mich die Treppe hoch und trat auf unsere Wohnungstür zu, wo ich erst mal mit voller Kraft auf die Klingel drückte, bevor ich einen kleinen Schrei ausstieß und eine Hand vor den Mund schlug, um ihn gleich darauf zu ersticken. »Verdammt«, fluchte ich und hob meinen Schlüssel hoch, den ich noch in der Hand hielt. Meine Mitbewohnerinnen waren ganz sicher schon in ihren Betten und hatten bis jetzt geschlafen. Unsere Klingel war grauenhaft laut.

Gerade als ich aufschließen wollte, öffnete sich die Tür, und ich sah Ally mit hochgebundenen Haaren in ihrem hinreißenden Nachthemd. Sie sah kein bisschen verschlafen aus.

»Oh, gut«, sagte ich kichernd. »Hi, Ally. Du siehst absolut heiß aus.«

Ihre Überraschung wich dem Amüsement. »Pscht, Eliza«, antwortete sie und zog mich lachend ins Apartment, bevor sie die Tür vorsichtig hinter uns schloss. »Willst du das ganze Haus zusammenschreien?«

»Zweifellos war das der Plan«, kam meine Antwort in derselben Lautstärke.

Sie schob mich einen halben Meter von sich weg und betrachtete mich kritisch. »Wie viel hast du getrunken, Süße?«

Ich hob meine Hand, deutete mit Daumen und Zeigefinger eine geringfügige Menge an und lächelte breit.

»Na, wenigstens hat Tom dich nach Hause gefahren«, erwiderte sie grinsend. »Andernfalls hätte ich mir Sorgen gemacht, dass du bei irgendwelchen Pennern landest oder so.«

»Ja, er ist total lieb gewesen und hat mir die ganze Zeit die Typen vom Hals gehalten. Ich soll dich von ihm grüßen. Er hasst dich nicht mehr«, plapperte ich drauflos, bevor mir meine und auch ihre Worte durch den Nebel des Alkohols hindurch bewusst wurden und ich erneut die Hand vor den Mund schlug. »Scheiße.«

Jetzt lachte sie noch mehr. »Wir sollten dich eindeutig öfter abfüllen. Und du solltest eigentlich wissen, dass unser Uni-Forum dich auf Schritt und Tritt verfolgt. Heiße Tanzeinlagen waren das, Liz …«

Mein schlechtes Gewissen stand mir sicher direkt ins Gesicht geschrieben. »Tut mir so leid, Ally, aber ich dachte, es wäre komisch, wenn du wüsstest, dass ich mit ihm …«

»Schon gut, es macht mir nichts aus. Tom und ich haben das irgendwie … geklärt. Na ja, so ein bisschen zumindest. Und du darfst sehr wohl mit ihm feiern gehen, also keine Entschuldigungen nötig! Nur das nächste Mal sagst du Bescheid, damit ich weiß, wo du zu finden bist, falls was passiert, ja?«

»Mhm, versprochen. Tut mir wiiiirklich …«

»Ja, ja«, unterbrach sie mich kichernd und schob mich Richtung Flur. »Ich schlag vor, du gehst dich umziehen, und ich mach uns Kaffee oder Tee. Ich muss etwas mit dir besprechen. Außer du bist so müde, dass du gleich ins Bett willst, aber ich würde dir davon abraten. In Jens Zimmer ist … so ziemlich was los.«

»Sie ist noch wach?«, murmelte ich, während ich in mein Zimmer lief und das Licht einschaltete. Als ich mich umdrehte und geistesabwesend die Tür hinter mir schließen wollte, blieb ich unwillkürlich stehen.

Jennys Zimmer lag fast direkt gegenüber von meinem, und ein kleiner Spalt ihrer Tür war geöffnet, sodass ich das flackernde Licht und zwei Gestalten erkennen konnte. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte Samuel, wie er ihr gerade das T-Shirt über den Kopf zog. Meine Augen weiteten sich kurz, dann vertiefte sich mein Lächeln, und ich trat vor, um die Tür zu schließen. Die Welt war wieder in Ordnung. Ich hatte doch gewusst, dass sie ihn wegen eines halben Jahres nicht einfach so aufgeben konnte.

Immer noch glücklich zog ich mich aus, schmiss die Klamotten auf mein Bett und schlüpfte in bequeme Baumwollshorts und mein Guns-N’-Roses-Bandshirt. Anschließend ging es zurück ins Wohnzimmer, wo Alison im Schneidersitz auf der Couch schon auf mich wartete. Mir fiel blitzartig ein, dass jetzt auch der perfekte Augenblick wäre, ihr von meinem Problem zu erzählen – Finns Teilnahme am Austauschprogramm.

Sie reichte mir eine Tasse Kaffee aus unserer Steinzeitkaffeemaschine, als ich mich neben sie setzte. »Aufpassen, heiß!«

Ich rollte mit den Augen und deutete mit dem Kopf in Richtung Flur. »Wann genau ist das passiert?«

Sie schmunzelte. »Ich glaube, der Film war schuld. Sie hat sich am Ende ein bisschen länger als gewöhnlich die Augen aus dem Kopf geheult, was mich dazu gebracht hat, Sam anzurufen.«

»Gut gemacht«, antwortete ich anerkennend grinsend. Für irgendwas waren Liebesschnulzen also doch gut.

Eine Weile tranken wir still unseren Kaffee, und ich beobachtete den Vorhang vor der offenen Balkontür, der hin- und herwehte. Mein Kopf wurde von Minute zu Minute freier.

»Also, was wolltest du mit mir besprechen?«, fragte ich schließlich. »Ich muss dir nämlich auch noch was erzählen.«

»Hm … erst du.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Na schön. Ich hab ein Problem. Ich war heute mit Samuel auf dem Campus, um mir die Unterlagen für das Auslandsstudium zu besorgen und noch mal die Zulassung zu überprüfen … Finns Name stand auf der Teilnehmerliste.«

Ally verschluckte sich und hustete los.

»Ich weiß! Ich bin auch durchgedreht! Ich meine, was fällt ihm jetzt ein …«

»Eliza«, unterbrach sie mich japsend, und ich stellte meine Tasse ab, um ihr auf den Rücken zu klopfen. »Ich glaube, unsere Themen überschneiden sich«, brachte sie hervor, als sie sich beruhigt hatte.

»Hm?«

»Vielleicht ist es doch besser, wenn ich anfange. Dann ergeben sich möglicherweise … ein paar Dinge.«

»Was meinst du?«

»Liz, ich habe eine Frage an dich, und ich möchte, dass du sie ernsthaft beantwortest«, erwiderte sie vollkommen ernst, und ich schaute misstrauisch. Sie lachte kurz. »So ernsthaft, wie es dein Zustand dir gerade erlaubt, meine ich.«

»Ich bin vollkommen nüchtern!«, protestierte ich und wartete darauf, dass sie weitersprach.

Sie wich meinem Blick aus und holte tief Luft. »Was würdest du sagen, wenn du erfahren würdest, dass du nicht alleine nach London fliegen musst?«

So langsam dämmerte mir etwas Schlimmes, und ich riss die Augen auf. Waren wir jetzt wieder bei der Verbrüderung mit dem Feind angelangt? »Ich fliege nicht, wenn er auch mitkommt«, zischte ich. »Und du wirst mich sicher nicht vom Gegenteil überzeugen können! Mir ist es egal, was er dir gesagt hat und …«

»Ich rede nicht von Finn«, unterbrach sie mich ruhig und erwiderte nun ein wenig nervös meinen Blick aus ihren großen blauen Augen.

»Ach, nein?«

»Nein. Ich rede von mir.«

Verständnislos starrte ich zurück.

»Er ist in der Lage, mich in das Programm zu bringen, Eliza. Für ein Semester. In London, an derselben Uni, an der auch du studieren wirst.«

»Wen meinst du mit er?«, hauchte ich fassungslos.

»Finn Westwood«, antwortete sie todernst.

»Willst du mich verarschen? Wie willst du da reinkommen?«

»Ich überhöre jetzt mal den beleidigenden Unterton. Ganz einfach: indem ich seinen Platz einnehme. Und der Austausch ist nicht nur für Literatur gedacht, ich kann dort das nächste BWL-Semester machen und es mir später vollständig anrechnen lassen.«

»Was?«, rief ich erneut, diesmal noch ein paar Tonlagen höher. »Wieso … was …«

»Ich war letzte Woche bei ihm … mit Tom, nach …« Sie stockte.

Ich starrte geradeaus, um den Schock zu verarbeiten. »Wann genau?« Als wüsste ich die Antwort nicht schon.

»Nach dem Maskenball. Nachdem du eingeschlafen bist. Ich wollte ihn zur Rede stellen. Es ging ihm nicht …«

»Hör auf. Ich will das nicht hören. Bitte, Ally, ich hatte heute endlich wieder gute Laune. Erzähl mir nur das Nötigste«, befahl ich mit harter Stimme.

»Okay, sorry … Ich habe von ihm verlangt, dass er sich von dir fernhält. Und ich hab ihm von England erzählt.«

Ich warf ihr einen absolut tödlichen Blick zu, und sie hob beschwichtigend die Hände.

»Ich schwöre, das war keine Aktion à la San Francisco, Eliza! Nach dem, was er getan hat, hätte ich ihn nie wieder freiwillig in deine Nähe gelassen. Er hat selbst vorgeschlagen, dass ich mit dir gehen soll. An seiner Stelle. Ihm ist bewusst, dass er auf keinen Fall mitgehen würde, wenn du dort sein würdest.«

Ich spürte einen schmerzhaften Stich und gleichzeitig eine riesige Erleichterung.

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