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Pine Hollow – Zwölf Körbchen unterm Weihnachtsbaum

Zwölf Fellnasen suchen ein Zuhause

Als Mitglied des Stadtrats muss Ben West der jungen Ally mitteilen, dass das Tierheim ihrer Großeltern geschlossen werden soll. Er fühlt sich schuldig und verspricht, ihr dabei zu helfen, bis Weihnachten ein neues Zuhause für die zwölf Hunde zu finden, die momentan noch dort untergebracht sind. Während die beiden mehr und mehr Zeit miteinander verbringen und sich immer näher kommen, rasen die Gerüchte schneller durch Pine Hollow als Santas Schlitten an Heiligabend. Doch Ally wird die Kleinstadt nach Weihnachten wieder verlassen, und Ben bleiben nur noch die Feiertage, um Ally zu zeigen, dass Pine Hollow und vor allem er sie sehr vermissen würden …


  • Erscheinungstag: 21.09.2021
  • Aus der Serie: Pine Hollow
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903344
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Die Bewohner von Pine Hollow, Vermont, betrachteten ihr Städtchen gern als die Mary Poppins unter den Kleinstädten: nahezu perfekt in jeder Hinsicht. Was toll war – solange man nicht zum Stadtrat gehörte, der dafür verantwortlich war, dass alles auch so blieb. Nachdem er sich zwei volle Jahre jede noch so kleine Beschwerde angehört hatte, war Ben West überzeugt, dass er inzwischen für sämtliche eventuellen Sünden aus früheren Leben gebüßt hatte.

Und Weihnachten … Weihnachten war am schlimmsten.

Die Stadt drehte jedes Jahr durch um diese Zeit, und Bens Telefon lief heiß wegen all der Forderungen übereifriger Mitbürger. Mehr Lichter für den Tannenbaum. Neue Girlanden für die Bibliothek. Mehr Polsterung für das Weihnachtsmannkostüm, da der gewohnte Darsteller seit dem Sommer Marathons lief und jetzt fast 25 Kilo leichter war.

Weil alles von der Gemeinde bezahlt wurde, musste auch alles im Stadtrat beschlossen werden. Und Ben hatte die fragwürdige Ehre, die entscheidende Stimme in diesem Rat zu sein.

Er konnte von Glück reden, wenn er es schaffte, von zu Hause zu Astrids Schule und von dort zur Arbeit zu gehen, ohne ein halbes Dutzend Mal mit einem fröhlichen »Oh, Ben! Ich hatte gehofft, dir zu begegnen!« angehalten zu werden. Und sein Handy schien ohne Unterlass zu vibrieren.

Wie aufs Stichwort kündigte ihm ein Schnipsel der Titelmusik aus Der Weiße Hai den Eingang einer E-Mail in seinem Stadtrats-Account an. Er ignorierte die Melodie, während er auf dem Weg zur Kaffeemaschine die Küche durchquerte. Stadtangelegenheiten vor dem ersten Kaffee waren nie eine gute Idee. Aber vielleicht handelte es sich ja ausnahmsweise mal nicht um etwas, mit dem er sich würde rumschlagen müssen. Vielleicht war es ein Weihnachtswunder, und jemand bot ihm eine Lösung an, statt ihm ein weiteres Problem aufzubürden.

Die bedrohliche Filmmusik erklang erneut, als er den Becher in die Maschine stellte, den Knopf drückte und darauf wartete, dass die Rettung zu tröpfeln anfing. Aber nichts passierte. Er beugte sich hinunter und sah sich die Anzeige genauer an. Sie leuchtete, so wie es sein sollte. Alles wirkte in Ordnung, doch wenn er den Knopf drückte, passierte – nichts.

Die Keurig-Kaffeemaschine stand bloß da und forderte ihn stumm heraus. Ben sah sich mit dem grässlichen Dilemma konfrontiert, Koffein zu brauchen, um in Erfahrung zu bringen, warum diese Maschine ihn nicht mit Koffein versorgte.

»Morgen, Onkel Ben!«

Er brummte etwas, das entfernt nach einem Gutenmorgengruß klang, als seine Nichte in die Küche gehüpft kam.

Astrid, die von der aktuellen Koffeinkrise offenbar nichts bemerkte, öffnete einen Schrank. »Was meinst du? Cupcakes, Brownies oder Lebkuchen?«

Ben drehte den Kopf gerade genug, um beobachten zu können, wie sie Frühstücksflocken aus dem Schrank nahm. Astrid gehörte zu diesen beängstigenden Morgenmenschen, doch normalerweise bat sie ihn nicht um Süßigkeiten zum Frühstück. »Wie wärs mit gar nichts davon? Zu früh für Zucker.«

»Für den Kuchenbasar?«, erinnerte Astrid ihn und stellte die Packung Cornflakes auf die Kücheninsel. »Der Weihnachtsmarkt? Jeder soll etwas mitbringen.«

»Stimmt. Der Weihnachtsmarkt.« Ben richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Keurig. Der Stecker war in der Steckdose. Wasser war aufgefüllt. Sollte er sie aus- und wieder einschalten, als würde er einen Router neu starten? Das müsste doch funktionieren, oder? »Ist der bald?«, fragte er geistesabwesend.

»Sonntag in einer Woche.« Astrid holte Milch und Blaubeeren aus dem Kühlschrank und trug beides zur Kücheninsel. »Wir müssen die Zettel heute abgeben, und wir können keine Kekse backen, weil Merritt Miller gesagt hat, dass sie dieses Jahr Kekse backt, und ihre Tante hat die Bäckerei, also werden ihre Kekse ja wohl, keine Ahnung, die besten in der Geschichte des Keksbackens, und jeder andere, der auch welche macht, sieht erbärmlich dagegen aus.« Sie schüttete Cornflakes, Milch und Blaubeeren in eine Schale und hielt mit erhobenem Löffel inne. »Hast du mal die Kekse gesehen, die sie verkaufen? Die sind total krass. Also müssen wir Cupcakes oder Brownies oder Lebkuchen oder so was machen, und ich weiß einfach nicht, was ich aufschreiben soll.«

Ben machte den Mund auf, doch es kam keine Antwort heraus. Sein nichtkoffeiniertes Gehirn war komplett uninspiriert. Brownies, Cupcakes, Lebkuchen? »Äh …«

Wenn ihm vor zwei Jahren jemand gesagt hätte, dass die Frage nach Kuchen für den Weihnachtsbasar schwieriger zu beantworten sein würde als das Rätsel der Sphinx, hätte er demjenigen ins Gesicht gelacht. Doch eine ganze Menge Dinge hatten sich in den vergangenen zwei Jahren geändert.

Seine schrecklich streberhafte Schwester und ihr Mann, der verlässlichste des Planeten, waren fort. Er war nun für Astrid verantwortlich. Inzwischen gehörte er einer Facebookgruppe von Eltern aus Astrids Klasse an, die auch als Masterkurs in passiv-aggressivem Mommy-Shaming zu fungieren schien. Oder, in seinem Fall, in Onkel-Shaming.

Brownies, Cupcakes oder Lebkuchen – wofür auch immer er sich entschied, er musste darauf vorbereitet sein, diese Wahl mit den neuesten Studien zur Kinderernährung verteidigen zu können. Sonst würden sie ihn in der Gruppe zerreißen. Waren die glutenfrei? Wurden sie auf einer Oberfläche zubereitet, die in den letzten zwei Jahrzehnten von einer Nuss berührt worden war? Wie viel Gramm Zucker? Wie viele Kalorien? Stammten die verwendeten Eier von artgerecht gehaltenen glücklichen Bio-Hühnern, deren Lebensqualität an seine eigene heranreichte? Hatte irgendeine Großtante der Kuh, von der die Milch stammte, Antibiotika erhalten?

Er wollte ein verantwortungsvoller Vormund sein. Er wollte, dass Astrid glücklich und gesund war. Das bedeutete, dass er sich um all die Dinge sorgte, um die er sich sorgen sollte. Doch manchmal schien er es einfach nicht richtig machen zu können. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie diese ach so hilfsbereiten Leute, die ihm erklärten, er mache etwas falsch. Denn er machte immer etwas falsch.

Brownies, Cupcakes, Lebkuchen?

Er brauchte Kaffee für diese Entscheidung.

Seit er Astrids Vormund geworden war, war jede Entscheidung wichtig, aber diese hier kam ihm vor, als könne er nur verlieren. Warum veranstalteten die ständig Kuchenbasare, wenn die Hälfte der Eltern Zucker und Mehl für Gift hielten? Manchmal hatte er Lust, alle zu provozieren, indem er ein T-Shirt mit der Aufschrift ICH HABE MAISSIRUP ÜBERLEBT trug, in Großbuchstaben. Aber er bezweifelte, dass ihm das gut bekommen würde. Kindererziehung war nichts für schwache Nerven.

»Wir könnten einfach nur Brownies machen.« Astrid sprach zu seinem Rücken, während er weiterhin die streikende Kaffeemaschine ansah. Sie klang nicht wütend, aber dieses »einfach nur« versetzte ihm einen Stich.

Katie hätte nie etwas einfach nur gemacht. Sie war die Supermom gewesen, Königin der Kuchenbasare, aber sie hatte auch beißenden Humor gehabt und sich selbst nie zu ernst genommen. Sie war die Art von Mutter, bei der jedes Kind aufwachsen wollte. Sie war die Mom, mit der Astrid hätte aufwachsen sollen. Doch jetzt hatte seine Nichte stattdessen ihn am Hals und musste sich mit seinem unterirdischen Backtalent abfinden. Aber er wollte sie nicht hängenlassen.

»Ach nee, lass uns was Lustiges machen«, erwiderte er, drehte sich zu seiner Nichte um und zwang sich, gut gelaunt zu klingen, als würde sein gesamtes Nervensystem nicht um Kaffee flehen. »Wie wäre es mit Lebkuchen?«

In seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Lebkuchen gebacken.

Bitte mach, dass Lebkuchen leicht zu backen ist.

»Echt jetzt?«

Astrids ungläubiger Ton ließ ihn innerlich zusammenzucken. »Klar. Wie schwer kann das schon sein?«

Seine Nichte verzog das Gesicht. »Vielleicht sollten wir doch lieber Brownies machen.«

»Willst du damit andeuten, dass ich keinen Lebkuchen backen kann?« Gut möglich, dass ich es wirklich nicht kann.

»Na ja …«

Ben lachte über ihre Offenheit. »Wir machen es. Lebkuchen.« Sein Handy gab erneut die Melodie von Der Weiße Hai von sich, und er widerstand dem Drang, es aus der Tasche zu ziehen. Sein Blick fiel auf die Uhr in der Mikrowelle. Mist. »Bist du bald fertig? Wir kommen zu spät.« Mal wieder.

Astrid trug bereits ihre Schulkleidung, aber er selbst würde sich beeilen müssen, wenn er noch ein einigermaßen sauberes Hemd finden wollte, um sie rechtzeitig zur Schule zu bringen. Die Waschmaschine war seit zwei Wochen kaputt, und allmählich gingen ihm die sauberen Sachen aus. Wegen der bevorstehenden Thanksgiving-Feiertage konnte der Mechaniker ausgerechnet nur am Elternsprechtag kommen. Also wuschen sie ihre Wäsche im Spülbecken, bis ein neuer Termin gefunden war.

Bloß eine weitere der vielen Sachen, die er nicht richtig auf die Reihe bekam. Jetzt kam auch noch die Reparatur der Keurig mit auf die Liste.

Wie toll es sich anfühlen musste, wenn der Tag tatsächlich genug Stunden für alles hatte. Nur sehr vage erinnerte er sich noch an dieses Gefühl.

Astrid rutschte von ihrem Hocker und trug die Schale zum Spülbecken. »Brownies sind auch cool …«

»Hab mal ruhig ein bisschen Vertrauen.«

»Hab ich. Ich erinnere mich nur auch an letztes Jahr.«

Ben wollte sich verteidigen und ihre – berechtigten – Sorgen zerstreuen, als sein Handy wieder klingelte. Die Worte »Boss Lady« blinkten auf dem Display. Vom Gong gerettet. Er nahm das Handy vom Tresen und meldete sich. »Hey, Delia. Ich kann nicht lange reden. Ich muss Astrid zur Schule bringen.«

»Hast du meine E-Mails erhalten?« Die Stimme der Bürgermeisterin dröhnte in seinen Ohren. Delia Winter kannte nur eine Lautstärke: Megafon. Und eine Stimmung: ungeduldig. Ihre Frage erklärte die bedrohliche Melodie vom Weißen Hai. Wahrscheinlich hatte sie alle fünf Sekunden eine E-Mail geschickt – sie konnte nie die Antwort abwarten. Aber sie liebte ihre Stadt, und niemand hatte mehr für Pine Hollow getan als sie. Bevor er antworten konnte, machte Delia gleich weiter: »Ich glaube, ich habe eine Lösung für unser Etat-Defizit.«

»Großartig.«

»Und zwar das Tierheim«, donnerte sie.

Ben zuckte zusammen, aber glücklicherweise schien Astrid auf der anderen Seite der Kücheninsel, wo sie ihr Frühstück einpackte, nichts gehört zu haben. Seit Monaten lag ihm seine Nichte damit in den Ohren, dass sie sich einen Hund wünschte. Seit ihrem zehnten Geburtstag. Und jedes Mal wimmelte er sie ab. Mittlerweile waren sie an dem Punkt gelangt, an dem schon das bloße Wort »Hund« den Streit von Neuem entfachte.

»Warte kurz, Delia«, sagte er, sah zu Astrid hinüber und formte lautlos mit den Lippen die Worte fünf Minuten. Dann eilte er aus der Küche, stieß sich den Zeh an der losen Zierleiste der zweiten Treppenstufe und fluchte leise, weil das eine weitere Sache war, die er in diesem knarrenden alten Haus noch nicht repariert hatte.

Delia wartete ihre obligatorische eine Sekunde und legte wieder los. »Die Unterstützung des Tierheims lag immer im Ermessen des Bürgermeisters. Also verwenden wir das Geld nun einfach für andere Zwecke. Ich verstehe nicht, warum ich nicht schon eher darauf gekommen bin.«

»Wird das dem Tierheim nicht sehr schaden?«, fragte er leise, damit Astrid es nicht hörte. Er hatte das Tierheim nie besucht, hatte aber das vage Bild von einem netten älteren Ehepaar, auf einem Stück Land am Rande des Städtchens vor Augen.

»Wir werden sie noch bis zum Ende des Jahres unterstützen, damit sie für die Hunde ein neues Zuhause finden können. Rita und Hal werden langsam alt, und ihre Enkelin musste aus der Stadt kommen, um zu helfen, aber die würde sicher auch gerne wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Es gibt außerdem Gerüchte, dass Hal und Rita in die Summerland Estates ziehen wollen, es aber wegen der Hunde nicht können. Wies aussieht, gewinnen alle Seiten.«

Ben fand ein Hemd, das den Schnuppertest bestand, und zog es an. Er hatte das Gefühl, dass es einen Haken bei dieser perfekten Lösung gab, kam jedoch nicht darauf, was es war.

»Wir müssen irgendwo das Geld für die Reparatur des Daches vom Gemeindezentrum herbekommen, und die Schließung des Tierheims hat die geringsten Auswirkungen auf die Stadt als Ganzes«, donnerte Delia. »Wir können ja schließlich nicht den Schulen oder der Feuerwehr das Geld kürzen. Und das letzte Mal, als wir versucht haben, bei der Weihnachtsbaumbeleuchtung zu sparen, standen wir kurz vor einem Volksaufstand. Es ist also die naheliegendste Wahl.«

»Okay …« Seine Socken würden heute nicht zusammenpassen, aber achteten die Leute denn wirklich auf Socken?

»Dann habe ich also deine Stimme? Wir können den Etat noch heute Nachmittag verabschieden, das Tierheim benachrichtigen und in die Feiertage gehen, wenn du dabei bist.«

Er hatte keine Ahnung gehabt, auf was er sich einließ, als er sich bereit erklärte, die restliche Amtszeit im Gemeindetrat für seinen Schwager zu übernehmen. Er hatte nur daran denken können, dass Pauls und Katies Verpflichtungen nun seine Verpflichtungen waren und diese Kontinuität gut für Astrid sein würde. Doch zwei Jahre Debatten über den Etat und Grundstückerschließungen hatten ihm seinen Irrtum vor Augen geführt. »In die Feiertage gehen« war die verlockendste Formulierung, die er seit Langem gehört hatte.

Er liebte Pine Hollow, aber ein Punkt weniger auf seiner Liste klang himmlisch.

»Klar.« Er stieg in seine Schuhe und schnappte sich seine Laptoptasche. »Klingt sinnvoll.« Er lief die Treppe hinunter und wich dieses Mal der lockeren Zierleiste aus. »Ich muss los, Delia«

»Wir sehen uns später. Danke, Ben!«

Astrid erwartete ihn unten an der Treppe, schon in ihrer Daunensteppjacke und mit Rucksack auf dem Rücken. Dadurch kam er sich noch mehr als Rabenvater vor.

»Bist du bereit?«, fragte er, obwohl das ja ganz offensichtlich der Fall war. Er nahm seinen Mantel vom Haken und schaute auf die Standuhr im Flur. Wenn sie sich beeilten, würden sie es schaffen. Und er würde sich noch einen Kaffee bei The Cup besorgen können, bevor er bei der Arbeit erscheinen musste. Er öffnete die Tür und hielt sie für Astrid auf. Als er neben ihr den Weg entlangeilte, sah sie ihn ganz unschuldig an.

»Was ist mit dem Tierheim los?«

Die Strecke von Katies und Pauls Haus zur Schule führte durch den Ortskern von Pine Hollow. Üblicherweise wurden sie auf diesem Gang von Astrids Gemaule darüber begleitet, dass Sechstklässlerinnen allein zur Schule gehen durften, während Fünftklässlerinnen, die kaum jünger waren, wie Babys gebracht werden sollten. Vermutlich hatte sie eine glänzende Zukunft im Debattieren vor sich – und im Übrigen recht mit ihrer Feststellung, zumindest laut der Erziehungspodcasts, die Ben sich in letzter Zeit zum Thema Ermutigung zur Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Kindern angehört hatte. Aber das änderte nichts an den Schulregeln.

Heute allerdings durfte er sich Astrids andere Leier anhören – sämtliche Gründe, weshalb sie schon verantwortungsbewusst genug war, um einen Hund zu haben. Glücklicherweise schien sie nicht belauscht zu haben, dass die Unterstützung für das Tierheim gestrichen wurde. Sonst hätte sie ihre Empörung darüber zweifellos in ihren Monolog miteingeflochten.

Bens Koffeinentzug-Kopfschmerzen begannen auf halbem Weg zwischen dem Bluebell Inn und Magda’s Bakery. Als sie den letzten Zebrastreifen vor dem Gelände der Pine Hollow Elementary überquerten, rang er um Geduld und zählte die Schritte bis zu The Cup, wo er sich vor der Arbeit einen Espresso holen würde.

»Was wäre, wenn ich dir beweisen würde, dass ich verantwortungsbewusst genug für einen Hund bin?«, versuchte sie ihn weiter zu überreden, völlig unbeeindruckt von seinen zahlreichen Versuchen, das Thema zu beenden.

Ben überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass er nur Hunde aufnehmen würde, die darauf trainiert waren, ihm Kaffee zu bringen. Aber er fürchtete, dass sie das als Ermutigung auffassen könnte. »Astrid, ich weiß deine Beharrlichkeit zu schätzen, aber wir haben darüber gesprochen. Wir haben keinen Garten.«

Als er nach dem Unfall in Katies und Pauls renovierungsbedürftiges Haus eingezogen war, hatte er die besten Absichten gehabt, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Er hatte innerhalb von zwei Jahren all ihre Projekte beenden und anschließend das Haus verkaufen wollen, um in ein anderes mit großem Grundstück zu ziehen. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass seine Verlobte ihn damit allein lassen würde. Oder dass die Nachfolge Pauls im Gemeinderat sowie Katies Posten im Schulelternrat ihn jede freie Sekunde kosten würde. Inzwischen erinnerte ihn Astrids Betteln um einen Hund jedes Mal daran, dass sie längst in einem großen Haus mit Garten wohnen sollten.

»Ich würde mit ihm Gassi gehen«, versprach sie. »Und ihn füttern. Du müsstest gar nichts tun. Bitte, ja? Ein kleiner Hund genügt. Du würdest ihn kaum bemerken.«

»Außer wenn er bellt. Und wenn ich die Tierarztrechnungen bezahlen muss.«

»Ich würde ihm beibringen, nicht zu bellen. Und ich würde sämtliche Impfungen und so bezahlen. Ich habe mein Taschengeld gespart.«

Da er derjenige war, von dem sie ihr Taschengeld erhielt, wusste er genau, wie viel sie gespart hatte. Doch er bewunderte ihre Entschlossenheit. »Wir bekommen keinen Hund«, wiederholte er zum siebenmillionsten Mal in den letzten vier Monaten.

Sie war nicht der Typ, der aufgab. Mit einem engelsgleichen Lächeln sagte sie: »Zu lernen, mich um einen Hund zu kümmern, würde sich positiv auf meine Erziehung auswirken …«

»Noch besser für deine Erziehung wäre es, wenn du pünktlich zum Unterricht erscheinst.« Er legte ihr den Arm um die Schultern, drückte sie kurz und schob sie Richtung Schule. »Na los, geh. Viel Spaß und lern ordentlich was.«

Astrid verdrehte die Augen. Dann entdeckte sie ihre beste Freundin Kimber und rannte los. Ihr Rucksack hüpfte im Takt ihrer Schritte.

»Nicht rennen!« Elinor, die Schulbibliothekarin, die heute die Morgenaufsicht machte, musste ihre Stimme nicht erheben, damit man ihr augenblicklich gehorchte.

»Sorry, Tante E!« Astrid drosselte ihr Tempo auf Powerwalk Richtung Kimber.

Elinor Rodriguez war Katies beste Freundin und wie ein Familienmitglied gewesen. »Ben!« Sie winkte ihn zu sich, ehe er zu The Cup fliehen konnte. »Lauf nicht weg. Ich muss kurz mit dir sprechen.«

Er widerstand dem Impuls, so zu tun, als hätte er sie nicht gehört. Elinor war wahrscheinlich der klügste Mensch, dem er je begegnet war, doch hatte er es schon immer als ein wenig unangenehm empfunden, wenn sie ihren Laserblick auf ihn richtete. Ihre ungewöhnlichen Gedankensprünge gaben ihm das Gefühl, nie zu wissen, was auf ihn zukam. Er brauchte dringend Koffein, um durchzuhalten.

Sie schob ihre Brille die Nase hinauf, während sie auf ihn zuging.

»Was gibts denn?«, fragte er.

»Ich muss deine Zeiten wissen, wann du beim Weihnachtsbasar mithilfst.« Sie sprach zwar mit ihm, behielt dabei jedoch die an ihr vorbeigehenden Schüler im Auge. »Leg den Schneeball weg, Jeremiah!«

»Ich dachte, die Kids kümmern sich selbst um die Stände, jetzt, wo sie verantwortungsvolle Fünftklässler sind.« Offenbar war er in eine koffeinfreie Parallelwelt geraten, in der nichts mehr einen Sinn ergab. Möglicherweise hatte er zwischendurch mal seine E-Mails gecheckt beim letzten Elternabend, aber er erinnerte sich eindeutig daran, gehört zu haben, dass die Kinder für die Stände verantwortlich waren.

»Das tun sie auch, aber wir brauchen Erwachsene als Aufsichtspersonen, damit die Kinder korrektes Wechselgeld herausgeben und nicht selbst alle Leckereien aufessen, wenn niemand hinschaut.«

Fast hätte Ben laut gestöhnt. Er hätte es wissen müssen. Die Aufgaben der Kinder waren immer auch die Aufgaben der Erwachsenen. Jetzt kam das also auch noch dazu.

»Du musst dich für einen Drei-Stunden-Block eintragen, damit Astrid beim Basar mitmachen kann …«

»Drei Stunden?«

Plus die Zeit für die Zubereitung der Lebkuchen und das Verpacken in hübsche kleine Päckchen. Ganz zu schweigen vom Einkaufen der Zutaten und davon, Astrid hinzubringen und abzuholen … Das alles hatte niemand erwähnt, als es hieß: »Hey, lasst uns einen Weihnachtsbasar für wohltätige Zwecke veranstalten. Das wird toll!«

»Ich kann für dich einspringen, wenn du willst«, bot Elinor an, doch er schüttelte automatisch den Kopf.

»Nein, das bekomme ich schon hin.« Auf keinen Fall wollte er sich nachsagen lassen, er drücke sich vor seinen Verpflichtungen. »Wo trage ich mich ein?«

Elinor zog ein Tablet aus ihrer voluminösen Manteltasche und reichte es ihm. »Trag dich einfach irgendwo in den freien Feldern ein.«

Ben überflog die freien Stunden und versuchte etwas zu finden, was an einem Samstag im Dezember funktionieren könnte. Die Stadt spielte verrückt wegen der Feiertage, und es gab eine Million Dinge zu erledigen. Abgesehen davon hatte er das Gefühl, all diese Dinge für Astrid tun zu müssen.

Am Thanksgiving-Wochenende hatte er es geschafft, die Weihnachtsdekoration zu besorgen, denn Katie hatte immer sehr früh geschmückt, und er wollte Astrid in dieser Hinsicht nicht enttäuschen. Allerdings standen noch sämtliche Weihnachtseinkäufe aus. Und das Einpacken der Geschenke. Und das Befüllen der Weihnachtsstrümpfe. Plus jetzt noch der Lebkuchen und die verdammte Waschmaschine und die Keurig. Und irgendwann zwischendurch musste er noch das Gästezimmer aufräumen, bevor seine Eltern in drei Wochen über Weihnachten zu Besuch kamen und feststellten, dass er keines der halbfertigen Projekte rund um das Haus beendet hatte.

Was er brauchte, war ein Klon.

»Nur aus Neugier. Willst du den Kindern Angst einjagen?«

»Was?« Er sah vom Tablet auf und bemerkte, wie Elinor seine finstere Miene nachmachte. »Sehr witzig.«

»Als deine Freundin sollte ich dich warnen. Du erwirbst dir allmählich einen Ruf im Ort.« Sie zog die Nase kraus, wodurch ihre Brille ein Stück hinunterrutschte. »Der Name Ebenezer fiel möglicherweise.«

»Ich bin nicht Scrooge«, erwiderte er, etwas heftiger als beabsichtigt. »Ich bin bloß gestresst. Es gibt so viel zu tun.« Und immer noch kein Kaffee in Sicht.

»Stress ist schlecht fürs Gehirn«, bemerkte Elinor im Plauderton. »Ich habe gerade diese Studie gelesen, dass man dadurch in einen reaktiven Modus versetzt wird und den kreativen und für Problemlösungen zuständigen Bereich des Hirns blockiert. Wusstest du, dass, wenn dein Gehirn über einen längeren Zeitraum mit Stresshormonen geflutet wird, dies deine Gehirnstruktur verändern und Depressionen auslösen kann? Ist das nicht faszinierend?«

Großartig. Jetzt konnte er sich auch noch darauf freuen. »Ja, faszinierend. Sehr hilfreich. Danke.«

Elinor zuckte mit den Schultern. »Ich mein ja bloß. Du musst einen Weg finden, um Stress abzubauen.«

»Darum werde ich mich sofort kümmern. Gleich nach Weihnachten.« Er tippte seinen Namen wahllos in eines der freien Felder und gab ihr das Tablet zurück. Er musste es einfach irgendwie hinbekommen. Wie immer.

Die Schulglocke hatte bereits geläutet, und die Kids waren alle im Schulgebäude. Elinor nahm ihm das Tablet aus der Hand. »Kaye Berry fand dich schon immer scharf, und sie ist inzwischen geschieden …«

»Nein«, unterbrach er sie schnell, bevor sie auf irgendwelche Ideen kommen konnte. »Ich fange nichts mit einer der Moms aus Astrids Klasse an. Ich muss erst mal meinen bereits vorhandenen Verpflichtungen nachkommen, bevor ich mich auf etwas – oder jemand – Neues einlasse.«

Mehr ging momentan wirklich nicht. Keine Hunde. Keine Dates. Keine verrückten Komplikationen vor den Weihnachtstagen, die er einfach nur irgendwie überstehen musste. Astrid hatte oberste Priorität, und bis er herausgefunden hatte, wie er ihr das Leben bieten konnte, das sie verdiente – inklusive großem Garten und Hund –, konnte er an nichts anderes denken. Das war er Katie und Paul schuldig. Jetzt musste er das nur noch hinbekommen.

2. Kapitel

»Komm schon, Partridge. Sieh hierher. Na komm, Baby.« Ally Gilmore, ihres Zeichens professionelle Modefotografin, hockte vor der sabberigsten Bulldogge der Welt. In der einen Hand hielt sie die Kamera, in der anderen ein quietschendes Spielzeug.

Sie war schon immer bereit gewesen, sich in einfach jede Position zu begeben, die für ein gutes Foto nötig war, aber ihre früheren Models hatten eher sinnliche Lippen und knochige Körper gehabt als große Hundeaugen und faltiges weißes Fell.

Trotzdem ging es um dasselbe: Verkauf das Produkt. Präsentiere es verlockend. Tja, und in diesem Fall handelte es sich eben um eine sabbernde Bulldogge – und den längsten Bewohner von Furry Friends Animal Rescue. Die Bulldogge war vor drei Jahren als Streuner in das Tierheim gekommen, und noch immer hatte der arme Partridge kein neues Zuhause gefunden, trotz aller Bemühungen ihrer Großeltern, seinen einzigartigen Charme hervorzuheben.

Sicher, er hatte einen leichten Unterbiss, seine Augen waren unterschiedlich groß, und er sabberte, sobald er aufgeregt war … oder hungrig … oder im Schlaf … eigentlich ständig. Trotzdem verdiente er es, genau wie alle anderen Hunde bei Furry Friends, geliebt zu werden. Und Ally war entschlossen, das perfekte Foto für die Website zu schießen, damit sich jemand in ihn verliebte.

Vorausgesetzt sie konnte ihn davon abhalten, die Kamera abzulecken.

»Komm schon, Süßer. Mach mit. Später wirst du mir dankbar sein.«

Ihr Bernhardiner Colby – das trägste Tier auf dem Planeten, das wahrscheinlich zweiundzwanzig Stunden durchschliefe, wenn das nicht hieße, die Mahlzeiten zu verpassen – hob plötzlich den Kopf und schaute zum Eingang, den Bruchteil einer Sekunde, bevor sich aus den Zwingern lautes Gebell zur Decke des Gebäudes erhob.

»Gram?« Ally versuchte den Hundelärm zu übertönen.

Es war noch früh, jedenfalls zu früh für Interessenten. Von denen waren ohnehin nicht viele aufgetaucht in den drei Wochen, seit sie zum Helfen hier war. Ihre Großeltern meinten, es liege daran, dass alle mit den Vorbereitungen für Thanksgiving beschäftigt waren. Ally jedoch hatte das Gefühl, es könnte auch an der veralteten Website liegen. Weshalb sie im Morgengrauen des ersten Dezember aus dem Bett gekrochen war, um etwas dagegen zu unternehmen.

»Ally, Mädchen?«, war Grams Stimme durch das Gebell zu hören.

»Hier hinten, Gram!«, rief Ally zurück und zog die Kamera gerade noch rechtzeitig weg, um einem weiteren Leckversuch von Partridge auszuweichen.

»Was machst du?«, fragte Gram, als sie aus dem vorderen Teil des Stalls um die Ecke bog, eine Box schleppend, die viel zu schwer aussah für eine Frau, die sich vor knapp zwei Monaten einen Bänderriss in der Schulter zugezogen hatte.

»Ich mache Fotos für die Website.« Ally eilte aus Partridges Zwinger, legte die Kamera zur Seite und nahm ihrer Großmutter die große Box Hundefutter ab. »Was machst du denn? Wo ist deine Armschlinge?«

»Ach, die brauche ich nicht mehr. Die war doch nur für die ersten Wochen.« Sie ging in die Hocke und kraulte Colby hinter den Ohren, ehe sie auch Partridge begrüßte.

Rita Gilmore war knapp einen Meter fünfzig groß – und damit nur fünf Zentimeter kleiner als Ally –, aber was spielte das schon für eine Rolle? Ihre wilden weißen Locken wurden von einer roten Strickmütze platt gedrückt. Dennoch strahlte sie immer etwas Ungebändigtes aus – als wäre sie in der Wildnis geboren und einfach nicht zu zähmen. Was im Prinzip toll war, solange sie mit ihrer Sturheit keinen Schaden anrichtete.

»Der Doktor meinte, das Risiko einer erneuten Verletzung …«, setzte Ally an, doch ihre Großmutter winkte ab.

»Ärzte müssen so etwas sagen, damit sie nicht verklagt werden, wenn es wieder wehtut. Mit gehts bestens, also beruhige dich.«

Ally zwang sich, ruhig zu bleiben. Seit sie in Pine Hollow war, hörte sie dieses ewig gleiche Lied. Mir gehts gut. Ich brauche keine Hilfe. Mach bloß keine Andeutungen, ich sei zu alt, um allein klarzukommen.

Leider war genau das der Fall. Gram hatte sich beim Gassigehen mit einem der Hunde die Schulter ausgerenkt und die Bänder gerissen. Gut, es war Maximus gewesen, der Irische Wolfshundmischling, der die Größe eines kleinen Ponys hatte und seine Kraft nicht einschätzen konnte. Trotzdem. Gram konnte nicht weiterhin so tun, als wäre ein Paar in den Achtzigern in der Lage, ein Tierheim ganz allein zu leiten. Ally hatte allen Grund, sich Sorgen um die beiden zu machen.

Ganz besonders, da sie ihr wochenlang nichts von der Verletzung erzählt hatten. Damit Ally sich keine Sorgen machte. Damit sie ihr Leben in New York nicht unterbrechen musste, um ihnen zu helfen. Ihr Großvater hatte sich den Mund fusselig geredet, bei dem Versuch, seine Frau davon abzuhalten, die Armschlinge gleich nach der Operation auszuziehen und sich wieder in die Arbeit zu stürzen. Als Ally dies bei einem Wochenendbesuch in Pine Hollow mitbekommen hatte, war ihr Entschluss unverrückbar gewesen: Sie hatte alles stehen und liegen gelassen, um für einen längeren Aufenthalt hierherzukommen.

Ihr Mietvertrag lief sowieso aus, ihr geplantes Shooting außerhalb der Stadt war abgesagt worden, und sie war bereits unruhig geworden und hatte sich gefragt, ob sie überhaupt in New York bleiben wollte. Grams Verletzung war ihr wie ein Zeichen erschienen, das unmissverständlich auf Pine Hollow deutete. Die perfekte Gelegenheit, Weihnachten mit ihrer einzigen noch verbliebenen Familie zu verbringen und sich der kitschigen Weihnachtsatmosphäre in einer Kleinstadt hinzugeben. Hier konnte sie in Ruhe herausfinden, was sie als Nächstes tun wollte, während sie mit den Hunden half.

Nur schienen ihre Großeltern moralisch dagegen zu sein, dass sie einsprang.

Gram betrachtete skeptisch die Kamera auf der Bank neben Partrigdes Zwinger. »Du musst das nicht machen, Liebes.«

»Ich will helfen.« Ally stellte den Trockenfuttersack vor den Eingang des Lagerraums und drehte sich zu ihrer Großmutter um. »Ich weiß, ihr wollt die Website nicht verändern, weil jemand sie euch vor zehn Jahren als Gefallen erstellt hat. Aber glaub mir, die Leute heute suchen nach Hunden, indem sie sich süße Fotos und nette Beschreibungen ansehen.«

»Die Leute verlieben sich doch nicht in Bilder. Oder, Partridge? Nein, tun sie nicht.«

»So ziemlich mein ganzer Job dreht sich darum, die Leute dazu zu bringen, sich in Dinge zu verlieben, weil ich sie gut fotografiere«, argumentierte Ally und nahm ihre Kamera. »Aber selbst wenn du recht hättest und niemand einen Hund aufgrund eines Fotos aufnähme, locken die Bilder sie wenigstens her. Oder süße Videos – wir könnten einen Account auf Twitter oder Instagram erstellen. Ich könnte die Leute darüber informieren, welche Hunde wir hier haben. Vielleicht sucht gerade jemand eine Bulldogge oder einen Wolfshund per Petfinder. Wir müssen unsere Hunde dort präsentieren, und das heißt, wir müssen die Website in dieses Jahrzehnt holen.«

»Dieser ganze Internet-Blödsinn ist für deinen Grandpa und mich viel zu kompliziert. Ich weiß ja, du willst nur helfen, aber unsere Art die Dinge zu handhaben, hat immer wunderbar funktioniert. Und wir werden auch für diese Hunde ein neues Zuhause finden.«

»Aber wenn sie mit einer neu gestalteten Website schneller ein Zuhause finden, warum nicht?«

»Das ist einfach zu viel für uns. Und du solltest die Feiertage genießen.« Gram hakte sich mit ihrem gesunden Arm bei Ally unter und zog sie in den vorderen Teil des Hundeasyls. Colby erhob sich seufzend und trottete ihnen hinterher. »Hattest du nicht erwähnt, dass du in die Stadt willst, um Fotos vom Marktplatz zu machen, bevor der ganze Schnee zertrampelt ist?«

»Stimmt«, bestätigte Ally. »Aber ich kann das hier trotzdem machen. Ich helfe wirklich gern, und zwar nicht nur mit der Website. Ich will mich nützlich machen.«

»Das tust du doch, Liebes.« Gram tätschelte ihren Arm. »Tatsächlich bin ich gekommen, um dich zu bitten, heute Nachmittag hier im Hundeheim nach dem Rechten zu sehen.«

Ally hatte den Verdacht, dass ihre Gram sich das nur ausgedacht hatte, um sie zu beschwichtigen. Aber sie hatte nichts dagegen, noch mehr Fotos für die Website zu machen, während sie aufpasste. »Natürlich mache ich das. Wollt ihr weg?«

»Dein Großvater möchte zu einer Pokerrunde in die Estates. Wir werden nicht allzu spät zurück sein. Es geht ja alles immer schon früh los dort.«

Die Summerland Estates-Seniorensiedlung am Rande der Stadt sah auf den ersten Blick eher wie ein vornehmer Countryclub aus. Nur dass es eben außer einem Golfplatz und Swimmingpools auch Pflegerinnen und die Annehmlichkeiten des betreuten Wohnens gab, für diejenigen, die es brauchten – oder in einigen Jahren brauchen würden.

Allys Großmutter hatte stets verkündet, sie würde ums Verrecken nicht in ein Altersheim wollen und habe die Absicht, in ihrem Haus zu bleiben, bis man sie hinaustrage. Doch viele der Pokerfreunde ihres Großvaters waren in den letzten Jahren dorthin gezogen, sodass er mittlerweile ebenso viel Zeit dort wie zu Hause verbrachte. Es war ein schöner Ort, dennoch war Ally froh, dass ihre Großeltern nicht vorhatten, dorthin zu ziehen. Sie fühlte sich so schon losgelöst genug von allem, das Haus ihrer Großeltern kam für sie einem Zuhause noch am nächsten.

Ally nahm ihren Mantel vom Haken neben der Tür und zog ihn an. Dann hielt sie Gram und Colby die Tür auf, und gemeinsam gingen sie knirschenden Schrittes über die schneebedeckte Einfahrt auf das Wohnhaus zu.

Das große weiße Farmhaus war über und über geschmückt mit blinkenden Weihnachtslichtern, auch auf der überdachten Veranda, deren Geländer mit Girlanden verziert war. Die Tür schmückte ein Kranz. Gram hatte darauf bestanden, auch die Scheune zu schmücken. Kaum war Thanksgiving vorbei, pflegte sie sich in die Weihnachtsvorbereitungen zu stürzen, und Ally und ihr Großvater taten ihr Bestes, um ihr zu helfen – und sie vor allem daran zu hindern, ihre Schulter zu überanstrengen. Gram hatte die Weihnachtszeit schon immer geliebt, aber dieses Jahr schien sie noch fanatischer zu sein. Vielleicht kam es Ally aber auch nur so vor, weil sie es diesmal miterlebte.

Wobei sie keineswegs klagen wollte. Ein bisschen Weihnachtszauber konnte sie gut gebrauchen. Es war viel zu lange her, dass sie weihnachtliche Gefühle gehabt hatte. Diese friedliche Stimmung. Sie mochte Weihnachten auch in der Stadt, die Lichter und den Trubel. Doch wenn sie das Fest bei ihren Großeltern in Pine Hollow verbrachte, wie sie es als Kind immer getan hatte, kam sie innerlich viel mehr zur Ruhe. Schon damals hatte sie diesen Ort für magisch gehalten, und das hatte nie ganz aufgehört.

»Mach du nur deine Fotos«, ermutigte Gram sie. »Geh hinaus und genieße den Ort ein wenig. Wir haben dich zu sehr in Anspruch genommen.«

Ally drückte ihrer Großmutter leicht den Arm.

»Ich mag es, von dir vereinnahmt zu werden.«

Als sie in Vermont eingetroffen war, hatte sie nichts anderes gewollt, als Zeit mit ihren Großeltern und den Hunden zu verbringen. In den vergangenen Jahren hatte sie freiberuflich gearbeitet und war dorthin gereist, wohin die Aufträge sie führten. Das hatte aber auch geheißen, viel Zeit allein zu verbringen. Es wurde einsam, und sie vermisste jemanden, mit dem sie ihren Alltag teilen konnte.

Aber Gram hatte recht. Wenn Ally das volle Pine-Hollow-Weihnachtsprogramm wollte, konnte sie nicht die ganze Zeit im Hundeasyl verbringen. Es würde ihr guttun, mal in die Stadt zu kommen.

Fünfzehn Minuten später ging sie die lange Auffahrt entlang, mit einem Schal um den Hals und der Kamera bewaffnet.

Pine Hollow war der Inbegriff einer malerischen Kleinstadt. Jede Straße sah aus wie eine Weihnachtspostkarte. Wenn sie in die eine Richtung ging, stieß sie auf überdachte Brücken und eine gewundene Straße, die zum Skihotel hinaufführte. In der anderen Richtung lag der entzückende Marktplatz mit einem Pavillon, und alles hatte eine friedlich-verschneite Atmosphäre.

Ally hob im Gehen die Kamera, um ein paar Fotos zu schießen, während sie sich dem Marktplatz näherte. Sie nahm nun alles durch den Filter ihres Objektivs wahr. Das historische Rathaus. Das hübsche kleine Hotel. Es gab ein paar Fußgänger, Leute aus dem Ort, die ihrem Alltag nachgingen. Dennoch war dieser Dezembermorgen wunderbar still, die Luft frisch und sauber und kalt in der Lunge.

Texte von Weihnachtsliedern gingen ihr durch den Kopf, und während sie sich dem Herzen des Örtchens näherte, fing sie an zu summen. Beim Näherkommen hörte sie Stimmen vom Marktplatz, noch ehe sie um die Ecke kam und das Gewusel sah.

Eine Gruppe von Leuten dirigierte die Anlieferung eines riesigen Tannenbaumes, der nächste Woche leuchten sollte. Ally ging auf der anderen Seite die Straße entlang, um einen besseren Blickwinkel für ein Foto zu bekommen. Und wie bestellt kam tatsächlich ein von Pferden gezogener Schlitten um die Ecke und fuhr auf den Marktplatz. Konnte es einen klassischeren Weihnachtsmoment geben?

Ally grinste und ging rückwärts, um die Aufnahme hinzubekommen, bevor der Schlitten sich weiterbewegte. Sie hatte ihr Weitwinkelobjektiv nicht mitgenommen, aber mit einigen Schritten rückwärts …

Glöckchen bimmelten über ihrem Kopf. Sie war ganz auf den Sucher der Kamera konzentriert, während sie sich weiter rückwärts bewegte … Und gegen etwas Hartes stieß.

»Verdammt …« Die Mauer an ihrem Rücken hielt mitten im Fluchen inne, und Ally wirbelte herum. Verlegen ließ sie die Kamera sinken.

»Verzeihung! Ich habe nicht …« Sie verstummte, während ihr Blick hinaufwanderte.

Und hinaufwanderte.

Vorbei an den breiten Schultern und dem dunklen ungepflegten Bart, bis hinauf zu überraschend blassblauen Augen. Winterblau. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sodass sie zunächst kein Wort herausbrachte. Reflexartig umklammerte sie ihre Kamera, bis ihr bewusst wurde, dass dieser große dunkelhaarige Mann mit dem struppigen Bart sie wütend ansah.

Und tropfte.

Er hielt einen Pappbecher von sich, und ein riesiger Kaffeefleck breitete sich auf seiner Hemdbrust unter dem offenen Mantel aus.

»Oh.« Ally stöhnte. »Ihr Hemd …«

3. Kapitel

Ben hatte heute einfach Pech.

Die Schlange in The Cup war lang gewesen, weshalb er sich spontan entschlossen hatte, sich seine Koffeindosis in Magda’s Bakery zu besorgen. Sein Kopf pochte bereits, und seine Geduld hing am seidenen Faden. Natürlich wählte Gayle Danvers, Vorsitzende des Krippenspielkomitees, genau den Moment, als er die Bäckerei betrat, um ihm einen fünfzehnminütigen Vortrag darüber zu halten, warum das Theater, in welchem das Krippenspiel stattfand, neue Vorhänge brauchte. Konnte er denn kein Geld aus dem Etat der Stadt dafür zur Verfügung stellen?

Er sagte Nein. Denn er war immer derjenige, der Nein sagen musste. Einer musste schließlich realistisch sein. Einer musste die Kosten im Auge behalten.

Nur hatte Gayle kein Nein akzeptieren wollen. Die ganze Stadt schien zu denken, er würde schon irgendwann nachgeben, wenn man ihm nur hartnäckig zusetzte. Also musste er wieder und wieder der Böse sein. Sein Leben war zu einer Übung im Enttäuschen von Menschen geworden.

Aber das rechtfertigte nicht Gayles Vorwurf, er versuche Weihnachten zu ruinieren. Wo er sich doch in Wahrheit nur endlich einen Kaffee kaufen wollte, damit sein Kopf nicht explodierte.

Als Magda ihm den Becher reichte, rannte er praktisch zur Tür hinaus.

Schön, er war möglicherweise einen Tick zu schnell unterwegs gewesen, um bloß niemandem mehr zu begegnen, der Geld von ihm zu bekommen versuchte. Aber diese mit einer Kamera bewaffnete Touristin hatte überhaupt nicht darauf geachtet, wo sie hinlief. Sie stieß gegen ihn, ehe er ausweichen oder wenigstens seinen Kaffee retten konnte.

Nicht mal einen einzigen Schluck hatte er trinken können, bevor der Inhalt des Bechers auf seinem Hemd verschüttet wurde. Immerhin gelang es ihm, den Stoff schnell von seiner Haut wegzuziehen und auf diese Weise Verbrennungen zweiten Grades zu vermeiden. Jetzt machte die Winterluft den nassen Stoff kalt und verwandelte sein letztes halbwegs sauberes Hemd in eine klamme Schweinerei.

Und alles nur, weil irgendeine Urlauberin zu beschäftigt mit Gaffen gewesen war und nichts um sich herum wahrgenommen hatte.

Sie war sehr klein, obwohl der Knoten aus lockigem schwarzem Haar auf ihrem Kopf ihrer Größe ein paar Zentimeter hinzufügte. Doch dessen ungeachtet hatte sie ihn mit der Wucht eines verdammten Linebackers beim Football gerammt. In der Hand hielt sie eine schwere Kamera – die klassische Touristin eben. Betrachtete Pine Hollow wie das Weihnachtsland in einem Freizeitpark. Alles fand nur zu ihrer Unterhaltung statt.

»Es tut mir schrecklich leid«, beteuerte die Frau mit dem niedlichen runden Nettes-Mädchen-Gesicht, das jetzt übertrieben zerknirscht wirkte. »Ich habe nicht darauf geachtet, wo ich hingehe …«

»Ja, das habe ich gemerkt«, knurrte Ben, den nassen Stoff von seiner Haut weghaltend.

»Ich wollte den Baum fotografieren, und dann kam der Schlitten um die Ecke.« Sie deutete mit dem Arm wedelnd hinter sich zum Marktplatz. »Sorry. Ich kann Ihnen die Reinigung bezahlen.«

Ihre Worte erinnerten ihn wieder daran, dass er momentan keine funktionierende Waschmaschine hatte; ganz offensichtlich war er wirklich vom Pech verfolgt. »Ist schon in Ordnung.«

Nein, war es nicht.

»Lassen Sie mich Ihnen wenigstens einen neuen Kaffee kaufen …«

»Ich habe keine Zeit für einen weiteren Kaffee«, fuhr er sie an, und es klang wegen der heftigen Koffeinentzugskopfschmerzen, die hinter seinen Schläfen pochten, ziemlich scharf. »Ich komme ohnehin schon zu spät zur Arbeit, und jetzt muss ich auch noch nach Hause und mich umziehen, weil eine Touristin meine kleine Stadt für eine entzückende Weihnachtskulisse hält. Hier wohnen auch Leute, wissen Sie. Wir sind nicht bloß Fotomotive.«

Ihre Augen weiteten sich. »Ich habe nie behauptet …«

»Beim nächsten Mal könnten Sie besser aufpassen, wo Sie hinlaufen, statt zu erwarten, dass sich die ganze Welt um Sie und Ihre Kamera dreht.«

Der Nettes-Mädchen-Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht, und ihre dunkelbraunen Augen funkelten. »Ich versuche mich hier gerade zu entschuldigen. Es war ein Versehen. Ich bin nicht absichtlich in Sie hineingerannt.«

»Na, das ist ja tröstlich zu wissen. Würden Sie absichtlich Kaffee auf Leute schütten, müssten wir uns wohl auch ernsthaft Sorgen machen.« Er fand sein Benehmen selbst idiotisch, aber die Worte kamen einfach aus ihm heraus, befeuert von der Frustration, die sich den ganzen Morgen angestaut hatte – von dem kleinen Trommler in seinem Hirn ganz zu schweigen.

»Es tut mir leid. Was haben Sie eigentlich für ein Problem?«, wollte sie wissen und richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf, während die Bäckereitür mit einem erneuten Glockenklingeln geöffnet wurde.

Die kaputte Waschmaschine war sein Problem. Die nicht funktionierende Kaffeemaschine. Die Ausbesserungen am Haus, die nicht fertig wurden. Die nie endenden Anforderungen durch Pauls Sitz im Gemeinderat und Katies Posten im Elternbeirat. Die Schuldgefühle, weil er Astrid keinen Garten bieten konnte und keinen Hund, den sie so gern wollte. Das Gefühl, alle im Stich zu lassen und den täglichen Herausforderungen immer weniger gewachsen zu sein.

All das war sein Problem.

Und nun reagierte er hier seinen Frust an Fremden auf dem Marktplatz ab. Tolles Vorbild, West. Wieder meldeten sich seine altvertrauten Schuldgefühle.

»Passen Sie einfach auf, wo Sie gehen«, knurrte er. »Das hier ist nicht das Weihnachtswunderland.« Er ging an ihr vorbei und erhaschte einen Blick auf Gayle Danvers, die vor der Tür zur Bäckerei stand und ihn beobachtete.

Das hatte ihm noch gefehlt.

Jeder in der Stadt würde nun von dieser Geschichte hören. Ben, der eine Urlauberin anfuhr. Der perfekte Start in die Feiertage.

Sein Gesicht glühte, und er nickte seinem Publikum angespannt zu. »Mrs. Danvers«, brummte er und machte sich auf den Rückweg zu Pauls und Katies Haus, um etwas Trockenes zum Anziehen zu finden. Offiziell lebensuntüchtig.

»Machen Sie sich nichts draus.«

Ally sah erschrocken von dem sich entfernenden Rücken des großen, dunkelhaarigen, unleidlichen Mannes zu der älteren Frau, die aus der Bäckerei getreten war.

»Das ist der Scrooge unserer Stadt«, erklärte diese. »Ein echter Griesgram. Anscheinend braucht jeder Ort so jemanden.«

Ally lächelte verunsichert. »Ja, vermutlich.«

Ganz schuldlos war sie an dem Zusammenprall nicht gewesen. Sie hatte nicht aufgepasst, sondern sich ausschließlich auf die Welt vor ihrem Kameraobjektiv konzentriert und war dadurch rückwärts gegen den Mann gelaufen. Allerdings hatte er sich anschließend wirklich wie ein Idiot benommen, als er ihre Entschuldigung ablehnte und so tat, als hätte sie ihn absichtlich angerempelt. Aber sie hatte ihn nun mal mit Kaffee getränkt, wenn auch nur aus Versehen.

»Ehrlich, machen Sie sich keine Gedanken«, ließ die Frau nicht locker und tätschelte ihren Arm. »Sie sind Ritas und Hals Enkelin, nicht wahr?« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die Kamera in Allys Händen. »Die Fotografin?«

»Äh, ja. Ja, das bin ich.«

Die Frau strahlte. »Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich. Ich kenne Sie schon, seit Sie so groß waren.« Sie hielt ihre Hand in Hüfthöhe. »Als Sie noch mit Ihren Eltern zu Besuch kamen. Gayle Danvers? Ich wohne in der gleichen Straße wie Ihre Großeltern.«

»Richtig. Natürlich. Mrs. Danvers. Freut mich, Sie zu sehen.«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie sich großartig verhalten. Lassen alles stehen und liegen, um Ihren Großeltern zu helfen. Wie viele Leute gibt es, die ein solches Opfer bringen würden?«

»Oh, na ja, es ist kein großes Opfer …«

»Doch, ist es«, beharrte Mrs. Danvers, und Ally wand sich innerlich. »Und lassen Sie sich nichts anderes einreden. Sie sind ein gutes Mädchen, Ally Gilmore.« Sie tätschelte Allys Arm ein letztes Mal. »Verschwenden Sie keinen weiteren Gedanken an den alten Ebenezer West.«

Ally lächelte verlegen und blieb mit einem gewissen Unbehagen zurück, als Mrs. Danvers davonging. Sie war nicht nach Pine Hollow gekommen, weil sie eine Heilige war. Sie hatte diesen Aufenthalt selbst nötig.

Auf dem Marktplatz war der Baum inzwischen aufgestellt und überragte den Pavillon. Sie hielt die Kamera noch in der Hand, doch die Vorstellung, weiter durch den Ort zu wandern und Fotos zu machen, hatte seinen Reiz verloren. Sie schoss ein letztes Foto vom Marktplatz und dem Schlitten – einfach um dem Möchtegern-Scrooge die Stirn zu bieten –, dann steckte sie die Kamera in ihre Manteltasche und machte sich auf den Rückweg zum Haus ihrer Großeltern.

Ein kalter Wind wehte, weshalb sie die Schultern hochzog. Sie versuchte die Begegnung mit Pine Hollows Antwort auf Ebenezer Scrooge zu verdrängen. Dabei hatte sie sich so gut gefühlt, bevor sie mit ihm zusammengestoßen war. Und ja, möglicherweise hatte sie eine Fantasie-Version der Stadt gesehen, diese weichgezeichnete Vision des Lebens, die es nur in Weihnachtsfilmen gab. Aber war das ein Verbrechen? Sie hätte besser aufpassen sollen – doch entschuldigte das sein rüdes Auftreten?

Tatsächlich hatte Ally ihn in der Sekunde, bevor sein Verhalten ihre Meinung schlagartig änderte, attraktiv gefunden. Über eins achtzig groß, mit dunklen Haaren, unverschämt breiten Schultern und diesen winterblauen Augen. Mit seinem struppigen Bart sah er eher aus wie ein sexy Holzfäller als wie der weißhaarige Geizhals aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Aber ein Scrooge war ein Scrooge, daher verdiente er kein Fitzelchen Platz in ihrem Hirn.

Natürlich dachte sie trotzdem an ihn, als ihre Großeltern an diesem Nachmittag zu den Estates aufbrachen. Sie schloss sich im Arbeitszimmer ein, um an der Website zu arbeiten, doch obgleich sie sich zu konzentrieren versuchte, musste sie immer wieder an den Moment des Zusammenpralls zwischen ihr und diesem Mann denken.

Colby lag ausgestreckt auf einem der abgewetzten Hundebetten, die überall in dem kleinen Büro herumstanden, und schnarchte leise. Die meisten Hunde machten ein Nickerchen; das einzige Geräusch war das Transsibirische Orchester im knisternden alten Radio. Ally hatte keine Ahnung, wie lange sie schon arbeitete, Fotos hochlud und Beschreibungen auf den neuesten Stand brachte. Es hätten Minuten oder Stunden später sein können, als Colby irgendwann den Kopf hob, zur offenen Bürotür sah und ein sanftes, schnaufendes Wuff von sich gab.

Ally neigte den Kopf, um durch die Tür zu sehen, als knarrend die Außentür des Hundeheims geöffnet wurde und eine Stimme zögernd rief: »Äh … hallo?«

Vereinzeltes Bellen war die Antwort, als die aufwachenden Hunde den Neuankömmling begrüßten.

Ein Kunde.

Sofort war Ally hellwach. »Bin gleich bei Ihnen!«, rief sie und stieß sich vom Schreibtisch ab. Widerstrebend rappelte Colby sich hoch, um neben ihr herzutrotten. »Ich glaube, wir haben einen Interessenten, Colby.«

Sie schob die Bürotür mit einem Willkommenslächeln ganz auf – und zwang sich, das Lächeln beizubehalten, als sie sah, wer da hereingekommen war.

Zwei kleine Mädchen standen Seite an Seite, hielten ihre Rucksackriemen fest und schauten sich unsicher um. Ally hatte nie viel mit Kindern zu tun gehabt, deshalb war sie nicht besonders gut darin, ihr Alter zu schätzen. Die zwei vermutete sie vage in einer der oberen Grundschulklassen. Alt genug, um allein im Ort unterwegs zu sein, aber noch lange keine Teenager.

Auf jeden Fall nicht annähernd alt genug, um einen Hund ohne Begleitung der Eltern aus dem Tierheim zu holen.

4. Kapitel

»Hallo«, begrüßte Ally die beiden und behielt die Tür im Auge, für den Fall, dass die Eltern noch hinterherkamen. Im Büro spielte das Radio eine bluesige Version von White Christmas. »Kann ich euch helfen?«

Die zwei standen nah beieinander, als würden sie sich gegenseitig Halt geben. Die eine war größer und schlank, mit zusammengebundenen roten Locken, während die andere klein war, eine Brille trug und schwarze Zöpfe hatte.

Colby kam mit maximaler Geschwindigkeit – also etwa halb so schnell wie eine Schildkröte – auf die beiden Mädchen zu, die ihn gespannt ansahen. Allerdings schienen sie eher hingerissen zu sein von dem großen Burschen, als Angst vor ihm zu haben.

»Er ist lieb«, versicherte Ally ihnen. »Aber dieser ist nicht zu haben für eine Adoption. Sein Name ist Colby.«

»Hi, Colby«, gurrten die Mädchen im Chor und streckten ihre behandschuhten Hände aus. Colby schnupperte halbherzig daran und, nachdem er mit dem Drei-Meter-Spaziergang an das Limit seines Fitnessprogramms für diesen Tag gegangen war, sank er seufzend zu einem bernhardinerförmigen Haufen zu Boden.

»Nehmt ihm die mangelnde Begeisterung nicht übel. Das Einzige, was für Colby noch über Schlaf rangiert, ist Futter. Seid ihr eigentlich, äh, in Begleitung eurer Eltern hier?«

Die Mädchen rissen sich von Colbys Anblick los und tauschten einen Blick. Zwischen ihnen herrschte ein unausgesprochenes Einverständnis; sie hoben das Kinn, als machten sie sich zum Kampf bereit. »Ich bin Astrid«, verkündete die Größere der beiden. »Und das ist Kimber.«

Ally nickte. »Ally. Freut mich, euch kennenzulernen.«

Die Kleine mit den Zöpfen, Kimber, holte tief Luft und erklärte: »Wir suchen einen Job.«

Ally stutzte und konnte gerade noch verhindern, dass ihre Lippen zuckten. Kimbers Stimme war fest und direkt. Ihr war es offenbar ernst. Andererseits konnte sie höchstens acht Jahre alt sein. »Ich glaube, es gibt Gesetze gegen Kinderarbeit.«

»Keinen richtigen Job«, stellte das Mädchen klar.

»Wir wollen ehrenamtlich arbeiten«, meldete die Rothaarige, Astrid, sich zu Wort, weniger eindringlich, aber dennoch ebenso ernst. Ihre Augen flehten Ally an, ihnen Gehör zu schenken. »Einfach helfen. Mit den Hunden Gassi gehen oder sie füttern …«

»Oder sie baden oder ihnen Kunststücke beibringen …«

»Was immer wir tun sollen«, schloss die Rothaarige. »Egal was.«

Plötzlich ging Ally ein Licht auf, und sie lächelte. »Lasst mich raten. Eure Eltern wollen euch keinen Hund kaufen, bevor ihr bewiesen habt, dass ihr verantwortungsbewusst genug seid, um euch angemessen darum zu kümmern. Und deshalb seid ihr hier, um es zu beweisen. Richtig?«

Kimbers Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern. »Woher wissen Sie das?«

Ally grinste. »Hab ich selbst durchgemacht. Als ich in eurem Alter war, habe ich mir so sehr einen Hund gewünscht, dass ich es kaum aushalten konnte. Ich habe an nichts anderes denken können.«

Astrid nickte eifrig und machte einen kleinen Schritt vorwärts. »Genau so geht es uns auch. Bitte. Wir werden richtig hart arbeiten.«

Es war verlockend, einfach Ja zu sagen – einerseits, weil die Mädchen sie so sehr an sich selbst erinnerten, andererseits, weil Ally gern ein bisschen Gesellschaft gehabt hätte. Doch das hieß nicht, dass sie die zwei hier arbeiten lassen konnte. »Wissen eure Eltern, dass ihr hier seid?«

»Natürlich.« Astrid wich ihrem Blick aus.

Die Eltern hatten also keine Ahnung. Na großartig.

Was sollte sie in dieser Situation tun? Die Mädchen ihren Eltern ausliefern, da sie offiziell gar nicht die Erlaubnis hatten, hier zu sein? Wäre es denn wirklich schlimm, sie mit einem oder zwei Hunden Gassi gehen zu lassen? Sie könnte ihnen Fred und Ginger mitgeben. Die älteren Dackelmischlinge waren ganz brav an der Leine und würden den Mädchen keine Scherereien machen. Wenn es gut funktionierte, könnten sie hinten im umzäunten Garten für Harry Bälle werfen – der Australian Shepherd trug keinen Funken Aggressivität in sich, musste sich aber regelmäßig austoben.

Das klang doch wirklich harmlos. Was aber, wenn eines der Mädchen sich auch nur das Knie aufschrammte und ihre Eltern nicht wussten, wo sie waren … »Es tut mir leid«, begann Ally.

Draußen hörte man den Kies in der Einfahrt unter Autoreifen knirschen, was sofort vielfältiges Gebell auslöste.

»Wir können wirklich gut mit Hunden umgehen«, bettelte Astrid weiter, bis jemand von draußen rief – und es Ally dadurch ersparte, den Mädchen das Herz zu brechen.

»Hallooo!«

Selbst Colby brachte die Energie auf, den Kopf zu heben, angesichts der vertrauten Stimme. Ally war erleichtert. Gram würde wissen, ob es in Ordnung war, die Mädchen ehrenamtlich zu beschäftigen.

»Das ist meine Großmutter«, erklärte Ally. »Mal hören, was sie dazu meint.« Sie ging an den Mädchen vorbei zur Tür. Draußen öffnete Gram gerade die Heckklappe ihres alten Subarus. »Hey, Gram.«

»Hey, Schätzchen«, rief ihre Großmutter, ohne sich von dem abzuwenden, was sie im Heck ihres Wagens machte.

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