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Poesie des Todes

Der Southern Strangler zieht seine blutige Spur durch den Südosten der USA. An jedem Leichenfundort lässt er ein grauenhaftes Souvenir zurück: die abgetrennte Hand des vorherigen Opfers. Was für Lieutenant Taylor Jackson zu einer Mördersuche wird, die sie in die tiefsten menschlichen Abgründe führt, bedeutet für die Fernsehreporterin Whitney Connolly das Ticket in die große, weite Welt. Denn sie hat Informationen, die den Fall lösen könnten - der Mörder schickt ihr Gedichte per E-Mail! Diese Nachrichten bringen die Polizei auf die Spur des Killers, und bald schon können sie ihn verhaften. Da geht auf Whitneys Computer ein weiteres Gedicht ein.
  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Aus der Serie: Taylor Jackson
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955761646
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

J.T. Ellison

Poesie des Todes

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

All The Pretty Girls

Copyright © 2007 by J.T. Ellison

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Übersetzt von Ivonne Senn

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Chris Blanz/Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-164-6

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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Für Randy

und

meine Eltern.

Ich liebe euch mehr und mehr!

DANKSAGUNG

Die Arbeit an “All the Pretty Girls” war ohne Zweifel echtes Teamwork. Es gibt so viele Menschen, die großzügig ihre Zeit und ihre Erfahrungen mit mir geteilt haben.

Mein tiefster Dank geht an:

Meine außergewöhnliche Lektorin Linda McFall von MIRA Books und an das gesamte MIRA Team, besonders Margaret Marbury und Dianne Moggy sowie Tara Kelly.

Meinen unglaublichen Agenten Scott Miller von der Trident Media Group, der einer Unbekannten eine Chance gegeben hat, und an Holly Henderson Root für ihre Hilfe und ihre redaktionellen Ratschläge.

Detective David Archord von der Mordkommission in Nashville war eine unschätzbare Quelle für die polizeilichen Fakten in diesem Buch. Er hat mir nicht nur erlaubt, ihn bei seiner Arbeit zu begleiten, sondern hat auch das Manuskript gelesen, bearbeitet, mir wertvolle Vorschläge unterbreitet und Informationen geliefert; mich ermutigt, dranzubleiben. Und er war allgemein immer da für mich, für meine Fragen, einen Plausch oder ein gemeinsames Abendessen. Während des Schreibens ist er mir ein guter Freund geworden, und ich bin sehr dankbar, ihn an meiner Seite zu haben.

Officer Carl Stock vom Metro Nashville Police Department hat mich auf eine mitternächtliche Streifenfahrt mitgenommen, die mein Leben verändert hat. Er hat mir gezeigt, dass die Grausamkeiten, über die wir schreiben und lesen, sehr real sind. Ich habe einen immensen Respekt vor seinen Fähigkeiten und der Hingabe an seinen Beruf.

Das Metro Nashville Homicide Department hat mich die ganze Zeit immer unterstützt und beantwortet mir bis heute auch die banalsten Fragen. Detective Mike Mann hat mir geholfen zu verstehen, wie ein Beamter der Mordkommission ticken muss, um bei seinem Job geistig gesund zu bleiben, und er hat seine ihn bis heute verfolgenden Geschichten mit mir geteilt. Dr. Michael Tabor, der forensische Zahnmediziner des Staates Tennessee, war ein Quell der Details und Informationen, und mein ewiger Respekt und meine Bewunderung gelten seinen Bemühungen nach den Anschlägen des 11. September. Kris Rinearson von der Gerichtsmedizin und dem Gerichtsmedizinischen Büro des Staates Tennessee hat mir tiefe Einblicke in seine Arbeit gegeben.

Nashville ist eine tolle Stadt, über die sich sehr gut schreiben lässt. Auch wenn ich mein Bestes versucht habe, um alles richtig wiederzugeben, war hier und da doch ein wenig künstlerische Freiheit notwendig. Alle Fehler, Übertreibungen, Meinungen und Interpretationen stammen ganz alleine von mir.

Die Unterstützung und Ermutigung durch meine Freunde und die Familie waren, sowohl für meine Motivation als auch für meine geistige Gesundheit, dringend notwendig. Vielen Dank an die Bodacious Music City Wordsmiths – Janes, Mary, Rai, Cecelia, Peggy; meinen holländischen Onkel Del Tinsley und meinen wundervollen Kritikpartner J. B. Thompson. Ohne eure Beiträge hätte diese Geschichte nicht geschrieben werden können! Joan Huston hat all die kleinen Fehler entdeckt – und auch ein paar große. Linda Whaley ist immer für mich da.

John Sandford hat mich zum Schreiben inspiriert – und Stuart Woods hat mir die wirklichen Regeln beigebracht. John Connolly hat mich Vertrauen, Anmut und perfekte Prosa gelehrt. Lee Child, mein ITW-Mentor, ist einfach nur spitze, und M. J. Rose hat immer zur rechten Zeit einen Scherz oder eine Schulter zum Anlehnen parat. Meine Autorenkollegen Tasha Alexander, Brett Battles, Jason Pinter, Rob Gregory-Browne, Toni Causey, Kirsty Kiernan und alle von Killer Year haben mich auf eine Weise unterstützt, die ich mir nicht hätte träumen lassen und auf die ich nicht mehr verzichten möchte. Und meine Murderati-Blogger lassen mich ehrlich bleiben.

Einen herzlichen Dank allen meinen Kumpels im Bellevue Post Office, die mich anfeuern und meine Päckchen mit größter Sorgfalt behandeln.

Meinen wundervollen Eltern, die mich konstant daran erinnern, dass ich alles schaffen kann, was ich mir vornehme. Und meinen Brüdern, die wie immer hinter mir gestanden haben. Meine Katze Jade hat aufmerksam zugehört, wann immer ich einen Resonanzkörper brauchte, und sie hat mich mit ihrer Fähigkeit erstaunt, ihren kleinen Po auf jede Seite des Manuskripts zu drücken, die aus dem Drucker kam.

Und zum Schluss natürlich ein großer Dank an Rand. Deine Liebe, Stärke, Geduld, Nachsicht, Aufopferung und dein Vertrauen in mich haben mich angetrieben. Du bist mein Seelenwächter.

1. KAPITEL

“Nein. Bitte nicht.” Sie flüsterte die Worte, ein göttliches Gebet. “Nein. Bitte nicht.” Da waren sie wieder, Blasen auf ihren Lippen, die Wörter schlüpften heraus, als wenn sie von ihrer Zunge abrutschten.

Sogar im Angesicht des Todes war Jessica Ann Porter unfehlbar höflich. Sie kämpfte nicht, sie weinte nicht, sie bat nur mit diesen leuchtenden, schokoladenbraunen Augen; war so begierig, zu Willen zu sein wie ein kleiner Welpe. Er versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Er hatte mal einen Welpen gehabt. Der hatte seine Hand geleckt und war freudig über seine Füße gestolpert; hatte ihn angebettelt, mit ihm zu spielen. Es war nicht sein Fehler gewesen, dass die Knochen so zerbrechlich waren. Was konnte er denn dafür, dass er wie ein ganz normaler Junge mit seinem Hund hatte toben wollen und sich ein Knochenstück aus den Rippen in das Herz des kleinen Wesens gebohrt hatte. Das Licht in den Augen war kurz aufgeleuchtet und dann erloschen, als der Welpe auf dem Rasen im Garten sein Leben ausgehaucht hatte. Das gleiche Licht, das aus den zimtenen Tiefen von Jessicas Augen strahlte und in diesem Augenblick erstarb.

Ungerührt bemerkte er die Anzeichen des Todes. Blaue Lippen, zyanotisch. Das Unterbluten der Lederhaut im Auge, wie purpurfarbene Nadelstiche. Der Körper schien auf der Stelle auszukühlen, auch wenn er wusste, dass es stets einige Zeit dauerte, bis die Wärme sich komplett abgebaut hatte. Die temperamentvolle und dennoch schüchterne Achtzehnjährige war jetzt nicht mehr als ein Stück Fleisch, würde bald schon wieder der Erde übergeben. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Schmeißfliege zu Made. Der Lebenszyklus wieder einmal komplett.

Er schüttelte die Träumerei ab. Es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Er schaute sich um und erspähte seine Werkzeugkiste. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie umgestoßen zu haben, aber vielleicht trog ihn seine Erinnerung. Hatte das Mädchen sich doch gewehrt? Er glaubte nicht, aber die Verwirrung setzt immer in den wichtigsten Augenblicken ein. Darüber würde er später nachdenken müssen, wenn er dem Gedanken seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit widmen konnte. Im Moment gab es für ihn nur die Erinnerung an das strahlende Glänzen ihrer Augen, als sie die Schwelle übertreten hatte. Er umfasste den Griff des Fuchsschwanzes und hob ihre schlaffe Hand.

Nein, bitte nicht. Drei kleine Wörter, harmlos in ihrer Definition. Keine großen Allegorien, keine ethischen Dilemmas. Nein, bitte nicht. Die Wörter hallten durch seinen Kopf, während er sägte, ihr Rhythmus stachelte seinen an. Nein, bitte nicht. Nein, bitte nicht. Hin und her, hin und her.

Nein, bitte nicht. Höre diese Worte und träume von der Hölle.

2. KAPITEL

Nashville hielt kollektiv den Atem an in dieser warmen Sommernacht. Nachdem die Hinrichtung viermal aufgeschoben worden war, hatten die Totenwachen wieder begonnen. Lieutenant Taylor Jackson von der Mordkommission schaute kurz hin, als bekannt gegeben wurde, dass der Gouverneur keinen weiteren Aufschub bewilligen würde, dann schaltete sie den Fernseher aus und trat ans Fenster ihres kleinen Büros im Criminal Justice Center. Die Skyline von Nashville erstreckte sich vor ihr in all ihrem Glanz, der Nachthimmel wurde immer wieder von grellen Farbblitzen erleuchtet. Das ausgefeilte Feuerwerk war eines der größten des Landes. Es war der vierte Juli, der uramerikanische Feiertag. Massen von Leuten hatten sich im Riverfront Park versammelt, um das vom Symphonieorchester Nashvilles begleitete Spektakel am Himmel zu genießen. Man näherte sich dem Ende. Taylor hörte die Melodie von Tschaikowskys Ouvertüre 1812, ausgerechnet ein russisches Musikstück zur Feier von Amerikas Unabhängigkeit. Jeder perfekt mit den Raketen koordinierte Paukenschlag ließ sie leicht zusammenzucken.

Die Feierlichkeiten deprimierten sie. Die ganzen Feiertage deprimierten sie. Als Kind war sie verrückt nach dem Feuerwerk gewesen, nach dem unbeschwerten Zuckerwattespaß von Jugend und sinnloser Feierei. Als sie älter wurde, betrauerte sie den Verlust dieses Kindes in ihr, versuchte verzweifelt, tief in sich diese Unschuld wiederzufinden. Aber ohne Erfolg.

Der Himmel war jetzt dunkel. Sie konnte die Menschenmassen zu den Parkplätzen strömen sehen. Kinder hüpften zwischen müden Eltern auf und ab, ihre fluoreszierenden Armbänder und Leuchtstäbe blitzten in der Nacht. Die Erwachsenen würden diese Unschuldigen freudig nach Hause ins Bett begleiten, getröstet von dem Wissen, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kleinen zumindest für den Moment befriedigt hatten. Taylor würde nicht so glücklich sein. Jede Minute könnte das Telefon klingeln und sie zur Pflicht rufen. Die Chancen standen gut, dass sich irgendwo in der Stadt ein Heckenschütze in der Nacht versteckte. Feuerwerke waren die perfekte Tarnung für Schüsse. Das war zumindest das, was sie sich selbst erzählte, aber es gab noch einen anderen Grund, warum sie an diesem Feiertag im Büro geblieben war. Ihre Stadt zu beschützen war ein mentaler Trick. Sie wartete.

Eine Erinnerung tauchte auf, ungefragt, ungewollt. So banal es auch war, traf die Aussage sie mitten ins Herz. “Als ich ein Kind war, sprach ich wie ein Kind, ich verstand wie ein Kind; aber als ich ein Mann wurde, packte ich die kindischen Dinge beiseite.” Oder eben als ich eine Frau wurde. Die Zeit der Unschuld lag inzwischen weit hinter ihr.

Einen letzten Blick auf die schneller hereinbrechende Nacht werfend, schloss sie die Jalousien und ließ sich schwer auf ihren Stuhl sinken. Seufzte. Fuhr sich mit den Fingern durch ihr langes blondes Haar. Fragte sich, warum sie in der Mordkommission herumhing, wenn sie sich doch irgendwo amüsieren könnte. Warum sie sich dem Job immer noch verpflichtet fühlte. Sie legte ihren Kopf auf den Tisch und wartete darauf, dass das Telefon klingelte. Stand wieder auf und schaltete den Fernseher ein.

Auf einem Nachrichtensender war zu sehen, wie eine pulsierende Menschenmenge sich vor dem Hochsicherheitsgefängnis in Riverbend versammelt hatte. Polizeiabsperrungen trennten die Pro-Todesstrafe-Aktivisten von den Gegnern, ein weiteres Stück Rasen war für die Presse abgeteilt worden. Banner der American Civil Liberties Union (ACLU) schrien die Ungerechtigkeit heraus, während die sie haltenden Menschen das feindliche Lager mit übelsten Schimpfwörtern bedachten. Es war also alles da, was eine Hinrichtung so benötigte. Niemand wurde ohne begleitende Massen in den Tod geschickt, die darum kämpften, dass ihre Meinung gehört würde.

Die junge Reporterin von Channel Two war atemlos, ihre Augen glühten vor Aufregung. Alle rechtlichen Mittel waren ausgeschöpft worden. Vor zwei Stunden hatte der Gouverneur das letzte Gnadengesuch abgelehnt. Heute Nacht, endlich, würde Richard Curtis den finalen Preis für seine Verbrechen bezahlen.

Als sie zuschaute, wanderte ihr Blick kurz zu der Wanduhr. Auf der weißen Fläche leuchteten die Ziffern: 23.59 Uhr. Eine gespenstische Stille überfiel die Menge. Es war an der Zeit.

Taylor atmete tief ein, als der Sekundenzeiger mit einem Klick auf 0.00 Uhr sprang. Ihr fiel gar nicht auf, dass sie den Atem anhielt, bis der Zeiger auf 0.01 Uhr wechselte. Das war es dann. Die Medikamente wären jetzt eingeflößt. Richard Curtis würde ruhig einschlafen, sein letzter Herzschlag ginge in die Annalen der Geschichte ein. In Taylors Augen war es ein zu friedlicher Tod. Er hätte gestreckt und gevierteilt werden müssen, seine Eingeweide hätten ihm aus dem Körper gezogen und auf seinem Bauch verbrannt werden sollen. Das hätte vielleicht für ein bisschen Gerechtigkeit gesorgt. Aber nicht diese sorgfältig abgestimmte Kombination verschiedener Medikamente, die ihn sanft in die Arme des Sensenmanns trugen.

Da, jetzt wurde es verkündet. Curtis wurde offiziell am 5. Juli um 0.06 Uhr für tot erklärt. Tot und weg.

Taylor schaltete den Fernseher aus. Vielleicht käme jetzt der Ruf zu den Waffen. Geduldig wartend legte sie den Kopf auf den Schreibtisch und dachte an ein fröhliches kleines Kind namens Martha, das Opfer einer brutalen Entführung, Vergewaltigung und eines Mordes – und gerade erst sieben Jahre alt. Es war Taylors erster Fall als Detective bei der Mordkommission gewesen. Sie hatten Martha innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach ihrem Verschwinden gefunden, geschunden und geschlagen auf einem sandigen Gelände in Nord Nashville. Wenige Stunden später war Richard Curtis gefasst worden. Auf dem Rücksitz seines Kombis saß Marthas Puppe. Ihre Tränen wurden an den Türgriffen gesichert. Eine lange Strähne ihrer honigblonden Haare klebte an Curtis’ Stiefel. Es war ein todsicherer Fall, Taylors erster Geschmack von Erfolg, die erste Gelegenheit für sie, sich zu beweisen. Sie hatte sich gut geschlagen. Als Folge ihrer ganzen harten Arbeit war Curtis jetzt tot. Sie fühlte sich wieder vollständig.

Sieben Jahre hatte Taylor Wache gehalten, auf diesen Moment gewartet. In ihren Gedanken war Martha immer noch ein sieben Jahre altes Mädchen, das niemals erwachsen werden würde. Sie wäre jetzt vierzehn. Und endlich war Gerechtigkeit geübt worden.

Wie aus Ehrerbietung einem der ihren gegenüber waren die Kriminellen in Nashville in dieser Nacht ungewöhnlich still, suchten sich bessere Dinge, um sich die Zeit zu vertreiben, als einander Taylor zuliebe niederzuschießen. Sie trieb zwischen Wachen und Schlafen dahin, dachte über ihr Leben nach, und war froh, als um 1.00 Uhr endlich das Telefon klingelte.

Eine tiefe, schroffe Stimme begrüßte sie. “Können wir uns sehen?”, fragte er.

“Gib mir eine Stunde”, erwiderte Taylor und schaute auf ihre Uhr. Sie legte auf und lächelte, das erste Mal in dieser Nacht.

3. KAPITEL

“Ich bin froh, dass wir nicht in Kalifornien leben.”

Die Detectives Pete Fitzgerald, Lincoln Ross und Marcus Wade schlugen die Zeit tot. Die kriminellen Elemente von Nashville schienen Ferien zu machen. Seit fast zwei Wochen hatte es keinen Mordfall mehr gegeben. Die Stadt war ungewöhnlich ruhig gewesen. Sogar der Nationalfeiertag hatte keine Toten geliefert, an denen sie ihre investigativen Fähigkeiten hätten austoben können. Es gab keine Gerichtstermine, zu denen sie erscheinen mussten, und ihre offenen Fälle waren entweder inzwischen gelöst oder wurden von den Untersuchungen im kriminaltechnischen Labor aufgehalten. Es herrschte buchstäblich tote Hose.

Die drei Männer hatten sich in das Büro ihrer Chefin gequetscht und schauten fern. Ein höchst akzeptabler Zeitvertreib, vor allem seit das Department einen Deal mit dem Kabelanbieter geschlossen hatte. Auf den Fernsehern sollten eigentlich vierundzwanzig Stunden Nachrichtensender laufen, aber natürlich wurde immer wieder umgeschaltet. Meistens, um sich dem heimlichen Vergnügen des Daily-Soap-Schauens hinzugeben, dem viele Detectives verfallen waren.

Heute hatte jedoch eine wilde Autoverfolgungsjagd durch Los Angeles die Aufmerksamkeit der drei Detectives erregt. Aufregend, sensationell. Ein Kidnapping, eine schussbereite, halb automatische Waffe im Anschlag, sogar ein gestohlener roter Jaguar. Das Auto raste über die verschiedenen Highways, selten mit weniger als siebzig Meilen pro Stunde, und fesselte die Nachrichtensprecher, die atemlos darüber spekulierten, ob das Entführungsopfer sich noch im Wagen befand oder nicht. Die Männer des Morddezernats feuerten ihre Kollegen in den blauen Uniformen an.

Fitz hob einen muskulösen Arm und sah auf seine Uhr. Die Verfolgungsjagd dauerte nun schon beinahe zwei Stunden. “Vor ungefähr fünf Minuten haben sie die Nagelbänder ausgelegt, also müssten bald die ersten Reifen runterkommen.”

“Ha, da ist es schon.” Marcus deutete auf den Bildschirm, wo ein großes Stück vom Hinterreifen des Jaguars wegflog und nur knapp das verfolgende Auto verpasste. Seine braunen Augen glänzten vor Aufregung. Fitz grinste. Der Kerl war noch so jung.

“Hast du jemals an einer Verfolgungsjagd teilgenommen, Marcus?”, fragte er und lehnte sich zurück, die Arme vor seinem gewaltigen Bauch verschränkt.

“Nein, aber ich habe alle Trainings dafür absolviert. Ich kann fahren! Mann, ich kann echt fahren.”

“Erinnere mich daran, dir niemals die Schlüssel zu geben. Ah, es ist vorbei.” Lincoln Ross stand auf und streckte sich, wischte unsichtbare Falten aus seinem kohlegrauen Armani-Anzug. “Er fährt nur noch auf den Felgen, jetzt können sie ihn seitlich von hinten rammen und damit ausschalten. Siehste, da ist es schon.”

Das verfolgende Auto schlich sich wie eine schwarzweiße Schlange an den Jaguar an und touchierte ihn dann leicht am hinteren rechten Kotflügel. Und wie im Bilderbuch drehte sich der Jaguar, rammte die Leitplanke, verlor einen Kotflügel und kam mit der Nase entgegen der Fahrtrichtung zum Stehen. Sofort war er von weiteren Fahrzeugen umringt; Polizisten zielten mit Gewehren und Handfeuerwaffen auf ihn. Keine Chance zur Flucht.

Die Nachrichtensprecher gratulierten sich zu einer hervorragenden Berichterstattung, die nach ihren Aussagen irgendwann in den nächsten fünf Minuten bis fünf Stunden zu Ende sein dürfte. Mit dem Versprechen, die Übertragung nicht zu unterbrechen, bis der Fall endgültig erledigt wäre, kamen jetzt die Experten zu Wort – ein ehemaliger Police Officer und ein in Geiselverhandlungen geschulter Polizeipsychologe –, um die notwendigen Spekulationen über die Vergangenheit des Täters auszuführen.

Um für die Öffentlichkeit ungeeignete Bilder noch rechtzeitig herausnehmen zu können, wurden solche Live-Berichte von Verbrechen mit einer fünfminütigen Verzögerung gesendet. Ein Produzent irgendwo in New York nahm diese Verzögerung jedoch etwas zu früh heraus, und die Detectives in Nashville starrten fasziniert auf den Fernseher, als sich die Tür des Jaguars öffnete. Der Verdächtige sprang heraus und zog eine Frau an den Haaren mit sich aus dem Auto.

Hektische Betriebsamkeit auf dem Boden, ein schnelles Zusammenziehen der Absperrung um den Entführer. Der Verdächtige schaute nach oben, um sicherzustellen, dass der Kameramann im Helikopter ein gutes Bild seines grinsenden Gesichts einfangen konnte. Er zog die Frau auf die Füße, hob seinen Arm und schoss ihr in den Kopf. Er wurde niedergeschossen, bevor sein Opfer noch den Boden berührte. Ein schrecklicher Tumult brach los. Für einen Herzschlag wurde der Bildschirm schwarz, dann erschien das Gesicht des erschrockenen Nachrichtensprechers. Er sah etwas grün um die Nase aus.

“Wie ich schon sagte, ich bin verdammt froh, dass wir nicht in Kalifornien leben”, grummelte Fitz.

Das Telefon klingelte, und er nahm den Hörer ab, hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen. “Wir sind dran.”

“Was ist los?” Marcus hatte sich mit seinem Stuhl so weit zurückgelehnt, dass er Gefahr lief, hintenüberzukippen.

“Leiche in Bellevue. Ich übernehm das. Ich werde Taylor vom Auto aus anrufen.”

Sofort waren Lincoln und Marcus auf den Beinen. “Wir kommen mit”, sagte Marcus. “Ich will hier nicht länger dumm rumsitzen. Du etwa, Lincoln?”

“Oh Gott, bloß nicht!”

Pflichtbewusst verließen sie das Büro und sammelten auf dem Weg nach draußen ihre Jacketts und Schlüssel ein. Lincoln grinste, froh, endlich das Gebäude verlassen zu können. “Wenigstens wird es dabei keine Verfolgungsjagden geben.”

Der Tag war drückend, die Luftfeuchtigkeit lag hoch in den Neunzigern, am Horizont lauerte drohend der Regen. Auch wenn es helllichter Tag war, schien keine Sonne. Wie ein Pesthauch verdeckte ein dicker Nebelschleier den Himmel, färbte das Blau zu Grau. Nashville im Sommer.

Am Schauplatz des Verbrechens tummelten sich schwitzende Männer und Frauen. Ihre Bewegungen waren träge, eingeübt, überhaupt nicht eilig. Einige trugen Masken, um ihre sensiblen Geruchsrezeptoren vor dem Gestank zu schützen. Ein verwesender Körper bei 32 °C konnte den stärksten Beamten umhauen.

Sie hatten sich auf einem grasbewachsenen Feld in der Nähe der westlichsten Ecke von Davidson County versammelt, dort wo sich der Highway 70 und der Highway 70 Süd teilten. Die Gegend war unter dem Namen Bellevue bekannt und lag nur fünfzehn Minuten von der Innenstadt entfernt. Ein paar Meilen weiter, und die Kollegen von Cheatham County würden jetzt hier in der Sonne stehen. Doch stattdessen hatte die Metro-Mordkommission den Anruf erhalten. Taylor hatte die gleiche Langweile gespürt wie ihre Detectives und war froh über die Ablenkung.

Sie stand neben dem Körper, nahm die Szene in sich auf. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst, ihr schlanker Körper warf groteske, schweigende Schatten auf das hohe Gras. Sie trug keine Maske. Ihre Nasenflügel zusammengezogen, atmete sie durch den Mund, um den Tod nicht zu inhalieren. Eine unbekannte weibliche Leiche, jung, die braunen Haare eine wirre Masse unter ihrem angeschwollenen Körper. Braune Augen glitzerten stumpf durch leicht geöffnete Augenlider. Die Käfer hatten ihre Pflicht getan, hatten geknabbert, Eier gelegt, ihre Mannschaft neu bevölkert. Eine sich windende weiße Larve fiel aus dem Mund des Mädchens.

Taylor verlor beinahe die Fassung, stellte sich diesen Wurm in ihrem eigenen Mund vor, und aus Versehen nahm sie einen tiefen Atemzug durch die Nase. Sie zuckte zusammen und drehte sich für einen Moment weg, konzentrierte sich auf die Aktivitäten um sie herum. Normalerweise schwirrten die Leute am Tatort selbst wie eine eigene Insektenart umher, doch heute schien niemand in großer Eile zu sein. Fitz schlenderte zurück zur provisorischen Kommandozentrale am Rande des Feldes; nach einem kurzen Blick auf die Leiche hatte er sich ein Taschentuch vor den Mund gehalten und sich höflich entschuldigt. Sie konnte Marcus und Lincoln sehen, die etwas weiter weg in eine Unterhaltung vertieft waren. Hitzewellen schimmerten um ihre Körper. Kriminaltechniker trugen braune Papiertüten zu ihren Fahrzeugen, Streifenpolizisten standen mit den Rücken zur Toten. Die Szenerie vibrierte unterschwellig, trotzdem wirkte die gesamte Truppe apathisch und träge in der Hitze.

Außer einem Mann, der mühelos mit großen Schritten auf sie zukam. Er war groß, mit dunklen Haaren, sehr elegant. Er war keiner von ihren Männern.

Vor einem der Streifenpolizisten blieb er stehen, klappte ein kleines, ledernes Identifikationsmäppchen auf und sagte laut genug, dass Taylor es auch hören konnte: “Special Agent John Baldwin, FBI.”

Der Officer trat einen Schritt zur Seite, um Baldwin den Weg frei zu machen, der ihn weiter direkt auf Taylor zuführte. Er steckte das Mäppchen in seine Brusttasche, und kam dann, mit ausgestreckter rechter Hand, auf sie zu. Er zwinkerte, als er ihre Hand nahm. Sie fühlte die Wärme seines Händedrucks, eine erschütternde Berührung, die bis in die Zehenspitzen prickelte. Sie stellte sich aufrechter hin. Mit einem Meter dreiundachtzig überragte sie die meisten Männer. Aber dieser war mindestens zehn Zentimeter größer, und sie musste zu ihm hochschauen, um ihm in die Augen sehen zu können. Sie hatten die seltsamste grüne Schattierung, dunkler als Jade, heller als Smaragde. Katzenaugen, dachte sie.

Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Mit der rechten Hand fasste sie sich an den Hals, eine unbewusste Geste. Die acht Zentimeter lange Narbe war kaum verheilt; sie sah immer noch aus, als ob sie erdrosselt worden wäre. Ein Schnitt von einem Messer, freundliche Grüße von einem verrückten Verdächtigen. Ein permanentes Souvenir ihres letzten Falls. Sich zusammenreißend strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und schenkte Baldwin ein kurzes, aber warmes Lächeln.

“Was machst du hier? Ich habe nicht um FBI-Unterstützung gebeten. Es ist nur ein ganz normaler Mordfall.” Sie hielt einen Moment inne, besorgt ob des Ausdrucks auf seinem kantigen Gesicht. Sie kannte diesen Blick. “Bitte sag mir, dass es nur ein Mord ist.”

“Ich wünschte, das könnte ich.”

“Warum das Getue eben?” Taylor schaute über Baldwins Schulter. Es waren nur wenige Leute am Schauplatz, die John Baldwin nicht kannten. Ihr Team – Fitz, Marcus und Lincoln – hatte schon vorher mit ihm zusammengearbeitet.

“Das hier muss offiziell sein. Ich glaube, ich weiß, wer sie ist.” Er zeigte beinahe achtlos auf den Körper, der zu ihren Füßen lag.

“Ah, aus einem anderen Staat, nehme ich an. Wir haben nämlich keine Vermisstenmeldungen für den passenden Zeitraum.”

“Ja, richtig, aus einem anderen Staat. Mississippi.” Diese Aussage hatte er beinahe gedankenverloren ausgesprochen, wie einen Nachsatz. Baldwin umkreiste die Leiche, nahm alle Details in sich auf. Die blauen Flecken am Hals des Mädchens waren trotz der fortgeschrittenen Verwesung noch zu erkennen. Er ging noch einmal um sie herum, lächelte mit einem bizarren Ausdruck des Triumphs vor sich hin. Der Toten fehlten die Hände.

“Ich denke, das könnte das Werk von unserem Jungen sein.”

“Euer Junge?” Taylor hob die Augenbrauen. “Du weißt, wer das getan hat?”

Er ignorierte ihre Frage für einen Moment. “Ist es okay, wenn ich sie anfasse?”

“Ja. Die Kriminaltechniker sind für den Moment mit ihr fertig. Wir warten auf den Gerichtsmediziner, um sie wegzubringen. Ich habe sie nur noch mal ansehen wollen.”

Baldwin holte ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Hosentasche. Dann hockte er sich neben die Leiche und nahm den rechten Armstumpf des Mädchens in die Hand, wobei er ein paar Maden abschüttelte.

Taylor sprach ihn erneut an. “Euer Junge, sagtest du?”

“Mmm, hmm. Ich weiß natürlich nicht, wie er heißt, aber ich erkenne seine Arbeitsweise wieder.”

Taylor ließ sich auf ein Knie nieder. “Er hat das schon mal getan?” Sie sprach leise. Es war zwar niemand in Hörweite, aber trotzdem, sie wollte keine Gerüchte schüren, bevor sie sich nicht selber mit der Situation vertraut gemacht hatte. Alte Gewohnheit.

“Zwei Mal, soweit ich weiß. Auch wenn er jetzt seit einem Monat nicht mehr zugeschlagen hat. Wir haben ihn den Southern Strangler genannt, weil er Mädchen aus den Südstaaten erwürgt hat und uns nichts Besseres eingefallen ist. Du kennst ja uns Jungs vom FBI, kein einziger origineller Gedanke in unseren Köpfen.” Er versuchte zu lächeln, aber es wirkte mehr wie ein Zähneblecken.

“Warum habe ich noch nichts von diesem … Würger gehört?”

“Das hast du. Erinnerst du dich an den Alabama-Fall vor ein paar Monaten, im April? Hübsche kleine angehende Krankenschwester, verschwand vom Campus der Universität von Alabama? Wir fanden sie in …”

“Louisiana. Ich erinnere mich.”

“Genau. Das zweite Opfer letzten Monat, das stammte aus Baton Rouge. Wir haben sie in Mississippi gefunden.”

Taylor durchforstete ihr Gedächtnis nach Details des Falls. Er war überall in den Nachrichten gewesen, mit Korrespondenten, die live aus Baton Rouge berichteten, lamentierten und die Entführung zum Top-Thema machten. Aber soweit sie wusste, hatte niemand zwei und zwei zusammengezählt. Das sagte sie Baldwin.

“Der Zeitraum dazwischen war lang genug, dass die Medien die Verbindung nicht gesehen haben. Und wir haben auch ein paar Informationen zurückgehalten. Die Hände, zum Beispiel.”

“Aber warum? Sollt ihr Jungs nicht eigentlich die Neuigkeiten verbreiten, damit wir Kleinstadtpolizisten wissen, dass da jemand frei herumläuft?” Ihr Sarkasmus verfehlte sein Ziel. Baldwin nickte nur.

“Und auch das Gleitmittel. Wir denken, es gibt vorher einvernehmlichen Sex, er benutzt ein Kondom mit Gleitmittel. Der Gerichtsmediziner soll nach Spuren dieses Mittels suchen.”

Taylor schüttelte den Kopf, schob die verrückte Realität beiseite, die ihre schöne Südstaatenstadt beschädigt hatte. Ein Serienmörder, der durch ihre Heimat zog. Großartig. Sie war nicht darauf vorbereitet, so etwas für sich zu behalten.

“Ich habe bereits Sam angerufen, sie wird sich gut um sie kümmern.” Dr. Samantha Owens Loughley war die oberste Gerichtsmedizinerin für Mittel-Tennessee und außerdem eine Freundin von Taylor. “Du sagtest, du weißt, wer sie ist.” Mit einer Kopfbewegung und einem anklagenden Blick deutete sie auf die Leiche.

“Ihr Name ist Jessica. Jessica Ann Porter. Aus Jackson, Mississippi. Sie ist erst vor drei Tagen verschwunden.”

Taylor betrachtete den toten Körper. Drei Tage? Die Verwesung war viel weiter fortgeschritten. Es war, als hätte Baldwin ihre Gedanken gelesen.

“Du weißt, wie das funktioniert. Hitze beschleunigt den Prozess. In diesem Klima bräuchte es nicht mehr als zwei Wochen, damit von ihr nur noch Knochen übrig wären. Wir können froh sein, dass wir sie so schnell gefunden haben. Eine Woche später, und es wäre die Hölle gewesen, sie zu identifizieren.”

“Erzähl mir mehr.”

“Da gibt es kaum mehr zu erzählen. Er mag Brünette. Junge, brünette Frauen. Alle drei Mädchen haben braune Augen, sind um die zwanzig, und wir haben keine wirklich guten Viktimologien von ihnen. Keine legte riskante Verhaltensweisen an den Tag, keine wurde je mit Fremden gesehen, nichts. Sie sind einfach verschwunden. An einem Tag haben sie ihr Leben gelebt, am nächsten sind sie fort. Ich arbeite mehr am Rande der Untersuchungen. Ich wurde auf dem Laufenden gehalten, habe aber nicht selbst aktiv an den Ermittlungen teilgenommen. Aber jetzt, wo wir drei Opfer haben, werde ich vielleicht doch Vollzeit mit einbezogen.”

Taylor hörte Autoreifen auf dem gekiesten Seitenstreifen der Straße. Die Leiche – Jessicas Leiche, verbesserte sie sich – lag nur knapp zehn Meter neben der Straße. Die Reporter hätten einen klaren Blick auf sie. Zu klar. Sie gab Marcus, der an seinem Wagen stand, ein Zeichen und zeigte auf den Van. Mehr musste sie nicht sagen. Er stellte sich dem Übertragungswagen sofort in den Weg und zwang ihn, die Szene zu verlassen. Taylor schaute zu, wie er die Reporter zu einem weiter entfernten, leicht erhöhten Punkt lotste, von wo aus sie die Leiche nicht sehen konnten. Sie lächelte. Scheiß auf die Reporter.

Baldwin hatte ein Notizbuch aus seiner Tasche genommen und schrieb wie wild hinein, machte sich Notizen, so schnell sein Gehirn sie über die Finger an den Stift schicken konnte.

“Habt ihr …” Baldwins Stimme verstummte. Ein uniformierter Officer winkte Taylor hektisch zu. Sie schaute kurz zu Baldwin und erkannte, dass er genau wusste, was die Aufregung bedeutete. Er zuckte nur mit den Schultern und streckte seine Hand in einer “Nach dir”-Geste aus. Sie starrte ihm einen Augenblick direkt in die Augen, dann machte sie sich auf den Weg zu dem gestikulierenden Officer. Der Horror in seinem Gesicht war aus zwanzig Schritten Entfernung sichtbar.

“Sie haben etwas gefunden, Officer?” Taylor erkannte ihn nicht, er musste frisch von der Akademie sein.

“Ja, Lieutenant”, erwiderte er mit hüpfendem Adamsapfel. Taylor trat neben ihn und folgte mit dem Blick seinem zeigenden Finger. Still im Gras lag da eine Hand.

Taylor trat einen Schritt zurück, aber Baldwin beugte sich interessiert über den Fund. Sie versuchte es mit Kaltschnäuzigkeit.

“Tja, Special Agent, da ihr ja beide Hände fehlen, nehme ich an, wir sollten noch eine weitere hier in der Nähe finden, oder?” Das mulmige Gefühl in ihrem Magen passte nicht zu der Tapferkeit in ihrer Stimme. Sie spürte, dass mehr an dem Fall dran war, als er ihr gesagt hatte. Was er im nächsten Augenblick bestätigte. Der Blick, mit dem er die einsame Hand betrachtete, war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es hier um mehr ging als auf den ersten Blick ersichtlich. Mit einer Handbewegung entließ sie den Officer. Ganz offensichtlich erleichtert stolperte er davon.

“Nein, werden wir nicht.” Baldwin schaute zu ihr auf, seine grünen Augen wirkten besorgt. “Du kannst die gesamte Gegend absuchen, sie wird nicht hier sein.”

“Was zum Teufel … Er hackt den Mädchen die Hände ab, lässt eine am Fundort zurück und nimmt die andere mit sich? Als eine Art Trophäe?”

Baldwin nickte. “Definitiv eine Trophäe. Es gibt nur ein Problem …”

Für einen ganz kurzen Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, was ein Psychopath mit einer abgetrennten Hand anstellen konnte. Sie schubste den Gedanken beiseite. “Was für ein Problem?”

“Das hier ist nicht Jessicas Hand.”

4. KAPITEL

Baldwin entschuldigte sich, um das FBI in Quantico anzurufen, und Taylor bedeutete Fitz, zu ihr zu kommen. Er stapfte über die Wiese wie ein General, der seine Truppen befehligte, wobei sein übergroßer Bauch seinen Füßen die Richtung vorgab.

“Was macht der Fed hier?”, fragte er in neutralem Ton. Taylor schaute ihn an, versuchte herauszufinden, ob mehr hinter der Frage steckte, aber Fitz’ Miene verriet nichts. Sie entschied, dass es nur einfach eine Frage gewesen war.

“Rate mal.” Taylor beschirmte ihre Augen mit einer Hand und schaute Baldwin hinterher, der wie ein frisches Blut riechender Jaguar über den Tatort schlich.

“Er ist hier, um ein Profil des Mörders zu erstellen, weil es ein Muster gibt”, erwiderte Fitz. Er folgte Taylors Blick. Es gab nur einen Grund, warum ein Profiler in ihrer Sandkiste spielen sollte.

“Zwei vor ihr. Wir haben eine vermutliche Identifizierung. Jessica Ann Porter. Aus Mississippi. Wo ist Lincoln?”

“Mit Marcus am Auto.”

“Er muss mal wieder seine Wunder am Computer wirken. Sag ihm, dass ich alle Informationen benötige, die das FBI über diese Morde hat. Das erste Mädchen war aus Alabama, die Studentin, die vermisst und dann im April in Louisiana gefunden wurde. Die Zweite wurde im Juni aus Baton Rouge entführt und in Mississippi entsorgt. Lincoln soll alle Einzelheiten raussuchen, damit wir wissen, mit was wir arbeiten können. Das FBI hat Informationen zu den Fällen zurückgehalten, inklusive der Tatsache, dass der Mörder eine Hand vom vorherigen Opfer am Fundort des nächsten Opfers zurücklässt. Ich bin sicher, dass Baldwin alles, was er weiß, mit uns teilen wird, aber ich will unsere eigene Akte zu diesem Typen haben.”

“Bist du sicher, dass er uns alles sagen wird?”

Taylor zwinkerte und schenkte Fitz ein 100-Watt-Lächeln. Ihre grauen Augen blitzten in der weißen Luft. “Ich bin sicher.”

Taylor gab gerade einer Bolognesesoße den letzten Schliff. Sie schmeckte ab, rührte noch einen Löffel Oregano hinein, schmeckte erneut. Hm. Knoblauch. Eine weitere Zehe wanderte in den Topf, dann schloss sie den Deckel und genoss den reichhaltigen, würzigen Duft, der durch die Küche wehte.

Draußen brach langsam die Dämmerung herein, die Dunkelheit kam mit großen Schritten heran. Sie lenkte sich ab, indem sie ein Baguette mehrmals anschnitt, es in Alufolie wickelte und zum Aufbacken in den Ofen schob. Sie nahm einen Schluck Wein, ein wunderbarer Chianti aus der Region Montepulciano in der Toskana, den sie mithilfe des Inhabers ihres lokalen Weinladens entdeckt hatte. Sie nannte den Mann immer Geppetto, weil er der Comicversion des Holzschnitzers aus Pinocchio so ähnlich sah. Er war ein freundlicher Mann mit einem herabhängenden grauen Schnauzbart und einem hervorragenden Geschmack, was die Weine der Toskana anging. Er liebte seinen Spitznamen, aber niemand außer Taylor durfte ihn so nennen. Sie lächelte und trank noch einen Schluck.

Da es nichts weiter zu tun gab als darauf zu warten, dass die Soße fertig würde, setzte sie sich an den Küchentisch, trank Wein und beobachtete die Glühwürmchen auf ihrer Veranda. Ihr Haus war grundsolide, eine Blockhütte, die sie sich vor Jahren gekauft hatte, gemütlich, versteckt in der Hügellandschaft des Zentralbassins von Tennessee. Es gab hier Rehe und Kaninchen, und früher im Jahr hatte sie sogar eine Fähe mit ihren Jungfüchsen gesehen. Privatsphäre und Ruhe, alles, was ein überarbeiteter Detective der Mordkommission brauchte.

Ihre Gedanken schweiften unweigerlich zum heutigen Tatort zurück.

Sam hatte nach ihrer Ankunft gleich die Kontrolle übernommen und Jessicas Leiche für den Transport vorbereitet. Der Körper, dehydriert und warm, war schwierig zu handhaben, und einer der Träger hatte den Halt verloren, als sie die Leiche auf die Trage heben wollten. Ihm rutschte das Kopfteil des Leichensacks aus der Hand, und wütende Fliegen waren aufgestiegen. Taylor hatte das schwüle Wetter verflucht – der Tod war in der Kälte zwar nicht einfacher, aber erträglicher.

Mit was für einer Art Mörder hatten sie es hier zu tun? Einvernehmlicher Sex, dann Erwürgen und Missbrauch; wie ein schlechtes Date, das ganz schlimm verkehrt läuft. Taylor wusste, dass Baldwins Profil einige der Lücken füllen würde.

Die Autopsie an Jessica Porter würde am nächsten Morgen durchgeführt werden. Taylor wollte dabei sein, sowohl als Zeichen des Respekts als auch als Versuch, dem Mörder von Jessica auf die Spur zu kommen. Es gab immer irgendwelche Spuren – sogar der penibelste Mörder ließ irgendetwas von sich zurück. Die Tatsache, dass dies sein dritter Mord sein könnte, war verstörend, um es milde auszudrücken.

Die fehlenden Hände störten sie. Eine Grundregel besagte, dass der Tod niemals schön war. Das Entfernen der Hände der Mädchen war ein offensichtlicher Versuch, ihre Identifizierung zu erschweren. Sie bei über dreißig Grad auf einem verlassenen Feld abzulegen würde den Rest erledigen. Aber warum zum Teufel nahm er die Hand des vorherigen Opfers mit an den nächsten Ablageort?

Baldwins Erklärung der Signatur des Mörders hatte Taylor kalt erwischt. Sie hatte die offensichtliche Frage gestellt: Wo ist die andere Hand?

Er hatte freudlos gelacht. “Das ist die Frage, auf die wir alle gerne eine Antwort hätten.”

Sie hätten es auch leicht übersehen können. Verdammt, sie hatten wirklich Glück gehabt. Der Makler, der das Land zum Verkauf anbot, war vorbeigefahren, um eine neue Telefonnummer auf sein Schild zu kleben. Der Geruch nach verrottendem Fleisch hatte ihn überwältigt, und so hatte er die Polizei gerufen, die dann die Leiche entdeckte. Diesmal war das Glück wahrlich auf ihrer Seite gewesen. Ansonsten hätten sie Jessica Porter noch weitere Wochen vermisst, vielleicht sogar noch länger. Ausreichend Zeit für die Hitze und die Käfer und das andere Ungeziefer, ihren Job zu tun und es beinahe unmöglich zu machen, die Überreste zu identifizieren. Der Mörder war kein Dummkopf.

Aber sie hatten Jessica gefunden, und nun hatten sie eine Spur zum Mörder. Taylor überlegte, welche Verbindung es wohl zwischen Jackson, Mississippi und Nashville gab, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde.

“Wir geht es meiner liebsten Debütantin?”

Sie warf dem Besitzer der lauten, tiefen Stimme einen bösen Blick zu, was ihn zum Lächeln brachte. In drei großen Schritten war er bei ihr, umfasste ihre Schultern und zog sie in seine Arme. Sie steckte ihre Nase in die Kuhle über seinem Schlüsselbein und seufzte. Er roch gut, frisch. Kein nachklingender Hauch von Tod, nur Seife und Zeder. Sie schnupperte noch einmal an ihm, dann schob sie ihn von sich. Er stolperte zurück und hielt eine Hand hoch, wie um die auf ihn zukommende Sturzflut zu bremsen.

“Verdammt, Baldwin, wieso hast du mir nichts davon erzählt?”

“Ich nehme an, es gibt heute Abend Pasta? Es duftet großartig.”

Ihr Blick war mörderisch, und er zuckte verlegen mit den Schultern. “Was hätte ich tun sollen, Taylor? Wie hätte ich wissen können, dass er nach Nashville kommt? Das Porter-Mädchen ist vor drei Tagen als vermisst gemeldet worden, und man hat mich nicht gleich darüber informiert. Nächstes Mal werde ich dran denken, dir vor dem Einschlafen Bescheid zu sagen, dass ein Mädchen in Mississippi vermisst wird und du besser Ausschau hältst, ob ihre Leiche hier in der Stadt auftaucht. Meine Güte, Taylor, mach mal halblang, okay? Ich hatte keine Ahnung, wohin er unterwegs war. Ich wusste noch nicht mal, dass es sich um den Strangler handelt, bis ich das Mädchen gesehen habe.”

Er streckte die Hand aus, als ob er ihre Wange streicheln wollte, aber sie drehte sich um und ging zum Herd. Angelegentlich widmete sie sich dem Umrühren der Soße.

“Komm schon, Liebste. Wenn ich gedacht hätte, dass die Spur zu unserem Jungen führt, hätte ich dir eher Bescheid gesagt, wirklich. Er war seit einem Monat nicht mehr aktiv. Wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben so wenig, auf das wir bauen können. Er hinterlässt nicht genug Spuren, um vernünftig damit zu arbeiten. Fehlende Hände und tote Mädchen.”

Taylor drehte sich wieder um und schaute ihn an. Seine grünen Augen waren von Sorge überschattet, das grau melierte Haar stand wirr um seinen Kopf. Sie wusste, dass er mit den Händen hindurchgefahren war in dem Versuch, sein Gehirn noch härter arbeiten zu lassen.

“Fehlende Hände und tote Mädchen erscheinen mir eine ganze Menge.” Sie klang gereizt und fühlte sich idiotisch. Es gab keinen Grund, sauer auf Baldwin zu sein. Er machte nur seine Arbeit. Eine Arbeit, von der er wollte, dass sie sie mit ihm teilte. Nun sah es so aus, als ob sie tatsächlich zusammenarbeiten würden.

“Stellst du eine Sonderkommission auf?”

“Die besteht im Moment bloß aus mir. Ich wusste, dass ich mit dir zusammen an dem Fall arbeiten könnte, also bin ich quasi als freier Mitarbeiter dabei. Zwei andere Jungs übernehmen die alten Fälle – Jerry Grimes und Thomas Petty. Ich werde alle Informationen mit ihnen teilen und sie mit mir. Du weißt ja, wie das läuft.”

Seit drei Monaten arbeitete Baldwin bereits als Berater für die Metro Nashville Mordkommission. Er war vom FBI ausgeliehen worden, und seine Hilfe war von unschätzbarem Wert für ihre Fälle gewesen. Und natürlich war es auch keine Strafe, das Bett mit ihm zu teilen.

Sie schenkte ihm ein abschätziges Lächeln. “Du verlierst keine Zeit. Du hast bestimmt auch schon mit Price gesprochen, oder?”

Er setzte sich an den Tisch und nickte. “Garrett Woods hat ihn angerufen.” Woods war Baldwins Boss beim FBI und ein Freund von Mitchell Price, dem Chef der Kriminalpolizei in Nashville. Morde fielen in seinen Zuständigkeitsbereich.

Taylor wandte sich wieder dem Herd zu. “Ich habe Hunger. Wir können später darüber reden.”

Baldwin lächelte sie an. “Wer sagt, dass wir überhaupt reden werden?”

Taylor stand unter der Dusche, als der Anruf kam. Baldwin hütete sich, ans Telefon zu gehen. Sie achtete penibel auf ihre Privatsphäre und fand die Vorstellung fürchterlich, dass irgendjemand von ihr und Baldwin erfahren könnte. Es wäre einfach nicht gut, wenn ihre Detectives ihre Motive oder Absichten infrage stellten. Sie zog es vor, sie im Unklaren über ihre persönlichen Beziehungen zu lassen. Wenn sie wüssten, dass Taylor Vollzeit mit einem FBI-Agenten schliefe, würden sie sie mit anderen Augen betrachten. Zumindest redete sie sich das ein.

Ihre beste Freundin war die Einzige, die sie eingeweiht hatte. Sam Loughley war der Meinung, sie wäre verrückt zu versuchen, es geheim zu halten. Wieder und wieder hatte sie versucht, Taylor davon zu überzeugen, dass niemand aus ihrem Team sie schikanieren würde, wenn sie von der Beziehung zwischen ihr und Baldwin erführen, aber Taylor hielt Privat- und Berufsleben lieber getrennt.

Sie trat aus der Dusche, trocknete sich ab und ging zum Anrufbeantworter. Die Nachricht war kurz. “Ruf mich an”, sagte die Stimme, die sie sofort als die von Fitz erkannte. Es war spät, und sie war müde, aber trotzdem wählte sie Fitz’ Handynummer und wartet darauf, dass er ranging.

“Hallo?”

“Fitz, ich bin’s, Taylor. Was gibt’s?”

“Ich wollte dich nur vorwarnen. Vor ungefähr einer halben Stunde kam eine Vermisstenmeldung rein. Ein Mädchen namens Shauna Davidson aus Antioch. Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat, aber sie wird seit gestern vermisst. Laut ihrer Mutter ist sie letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie hat versucht, sie zu erreichen, aber Shauna geht weder an ihr Telefon noch an ihr Handy. Die Mutter hat den Bericht über das tote Mädchen in den Nachrichten gesehen und dachte, dass es vielleicht ihre Tochter wäre. Sie ist total ausgeflippt. Das Problem ist, das Mädchen vom Feld heute ist nicht Shauna Davidson – und Shauna ist nirgends aufzutreiben.”

Taylors Magen zog sich zusammen. “Ist sie brünett?”

Sie hörte, wie Fitz in Papieren blätterte. “Ja. Braune Haare, braune Augen, eins siebzig groß, dreiundsechzig Kilogramm. Achtzehn Jahre alt.”

“Haben wir noch mehr Informationen? Wo arbeitet sie? Vielleicht ist sie da aufgetaucht?”

Fitz blätterte wieder um. “Das steht hier nicht. Aber ein Mädchen wie sie … ich würde schätzen, in einer Boutique oder als Kellnerin. Sie lebt in Antioch, arbeitet vielleicht bei Hickory Hollow oder so. Ich überprüfe das. Ich bin gerade auf dem Weg dahin. Sollte nicht zu schwer herauszufinden sein. Es sind bereits Officer vor Ort, und über Funk wurde Meldung gemacht, dass wir es eventuell mit einem Gewaltverbrechen zu tun haben. Vielleicht ist nur das Schloss ihrer Haustür geknackt worden, vielleicht steckt aber auch mehr dahinter.”

“Okay, fahr hin und sieh dir die Sache an. Hoffentlich hat sie einfach nur eine Nacht durchgemacht.”

“Gut. Ich ruf dich an, wenn wir dich brauchen.”

“Danke für deinen Anruf. Wir sehen uns dann morgen früh, wenn nicht noch was dazwischenkommt.”

Sie legte den Hörer auf. Die Presse würde sich mit Freude darauf stürzen. Es war eine Sache, Morde und Entführungen in anderen Staaten aus den Medien rauszuhalten. Aber ein Mord und eine Entführung in der eigenen Stadt konnte man unmöglich für sich behalten. Sie schaute auf ihre Uhr. Fünf vor zehn.

Taylor nahm sich eine Cola light und ging ins Wohnzimmer. Baldwin war auf der Couch eingeschlafen, einen dicken Ordner in den Händen haltend. Sie erkannte die Aufschrift – Nur für FBI-Agenten. Sie betrachtete ihn einen Augenblick, wollte ihn nicht wecken, wusste aber, dass sie es eigentlich tun sollte. Er würde es wissen wollen. Sanft schüttelte sie ihn an der Schulter.

“Was ist los?” Abrupt setzte er sich auf, und die Akte fiel zu Boden. Der Inhalt verteilte sich auf dem Fußboden. Taylor sah Tatortfotos, grausame Bilder des Todes. Während sie ihm half, die Bilder einzusammeln, fragte sie sich, was zum Teufel sie eigentlich taten. Sich jeden Tag mit dem Tod beschäftigen. Dieser Gedanke war ihr in letzter Zeit immer öfter gekommen.

“Fitz hat gerade angerufen, es gibt eine neue Vermisstenmeldung. Ein achtzehnjähriges Mädchen namens Shauna Davidson. Er ist gerade auf dem Weg zu ihrer Wohnung und ruft an, wenn er mich brauchen sollte. Ich wollte nur mal sehen, ob schon etwas darüber in den Nachrichten gebracht wird.”

Der Ausdruck von Grauen auf Baldwins Gesicht reichte aus, um ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass Shauna Davidson auch heute Abend nicht nach Hause kommen würde.

Taylor schaltete den Fernseher ein und setzte sich mit untergezogenen Beinen auf die Couch. Die Hauptnachricht galt der in Bellevue gefundenen Leiche. Ein ausführlicher Bericht über die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Auffinden von Jessica Porter. Nashville liebte das Verbrechen, solange es in den Nachrichten stattfand.

Taylor schaltete durch die anderen Regionalprogramme, die alle die gleiche Story brachten.

“Mist. Mist, Mist, Mist, Mist, Mist.”

Baldwin lächelte schwach. “Sieht so aus, als ob die Katze aus dem Sack ist.”

Taylor schaltete zurück zu Channel Five. Whitney Connolly, die Chefreporterin, war am Tatort. Es sah aus wie ein Drei-Manegen-Zirkus – was hofften sie zu finden? Metro hatte den Tatort fein säuberlich durchgekämmt, es gab nichts mehr für sie zu sehen. Aber die Schnappschüsse vom Nachmittag waren Gold wert. Die Kameras hatten den richtigen Blickwinkel, um das weite Feld und den Highway mit seinen blinkenden blauen Warnlichtern und Streifenwagen einzufangen. Taylor zuckte zusammen, als sie sah, dass Channel Five den Moment gefilmt hatte, als den Kriminaltechnikern der Leichensack aus der Hand gerutscht war – dem Kameramann war sogar eine Nahaufnahme der aufgestörten Fliegen gelungen, die wie eine irre Staubwolke aufflogen. Ganz entzückend.

Taylors Handy klingelte – Fitz brauchte sie in Shauna Davidsons Apartment. So viel zum Thema ruhige Nacht. Sie legte auf und zog ihre Cowboystiefel an. Whitney Connolly, die jetzt keine schmutzige Wäsche mehr zu waschen hatte, bat darum, dass jeder, der über irgendwelche Informationen bezüglich der in Bellevue gefundenen Leiche verfügte, die Metro Police anrufen möge. Ihr Bericht war sorgfältiger als der der anderen Sender, in ihrer Stimme klang ein Hauch Begeisterung mit. Manchmal dachte Taylor, dass Connolly ihren Job ein bisschen zu sehr mochte. Über Tod und Desaster zu berichten war genau ihre Sache.

“Whitney Connolly ist so hartnäckig wie ein Pitbull. Sie ist eine der wenigen Reporter, die es zu genießen scheinen, über die lokalen Verbrechen zu berichten”, bestätigte Baldwin abwesend Taylors eigene Meinung über die Journalistin. Sie schaute ihn an. Er schien in Gedanken verloren und starrte auf den Fernseher.

“Ich bin mit ihr zur Schule gegangen.”

Das weckte seine Aufmerksamkeit, und er wandte sich ihr zu. “Eine weitere Debütantin von Father Ryan?”, zog er sie auf.

“Jesus, Baldwin. Ja, ich nehme an, dass sie das gewesen sein muss. Sie und ihre Zwillingsschwester Quinn. Sie waren ein Jahr unter Sam und mir. Also waren sie wohl Freshmen, als du schon Senior warst. Ich weiß, dass du erst später in deinem Senior-Jahr auf unsere Schule gekommen bist, aber erinnerst du dich nicht an sie? Die ganze Geschichte …” Ihre Stimme verebbte, als Baldwins Telefon klingelte.

Er antwortete schroff. “Ja …? Ja, hab ich gehört … Nein, werde ich nicht … ich werde … gut, mach ich … Okay. Bis morgen dann.” Er legte auf und begann, ruhelos im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.

“Das war Garrett, der sichergehen wollte, dass ich von dem vermissten Mädchen gehört habe. Ich bin jetzt offiziell Vollzeit auf diesen Job angesetzt, nicht nur als Berater. Ich nehme an, das war absehbar.”

Taylor schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. Sie stand bereits, ihre Waffe im Holster und bereit, sich auf den Weg zu machen. “Willkommen in meinem Albtraum. Lass uns gehen.”

* * *

Taylor fuhr bis an das gelbe Absperrband, das quer über den Parkplatz vor dem Apartmenthaus von Shauna Davidson gespannt war. Sie lächelte den jungen Officer an, der das Band anhob, damit sie darunter hindurchfahren konnte. Durch das geöffnete Fenster deutete sie auf das ihr nachfolgende Auto.

“Lassen Sie ihn bitte auch durch. Er gehört zu mir.” Der Officer nickte, und sie beobachtete im Rückspiegel, wie Baldwin unter dem Band hindurchlenkte. Sie fuhr zu der versammelten Schar von Polizeiwagen, stellte den Motor ab und stieg aus. Baldwin tat es ihr gleich. Gemeinsam bahnten sie sich dann einen Weg durch den Wust an weiß blauen Fahrzeugen und auf das Gebäude zu.

Fitz empfing sie auf halber Strecke im Treppenhaus. Es sah aus, als ob er gerade auf dem Weg nach unten gewesen wäre. Doch jetzt machte er ihnen Platz und folgte ihnen dann die Stufen hinauf. Währenddessen teilte er ihnen mit, was er an neuen Informationen gesammelt hatte.

“Der erste Officer vor Ort klopfte an die Tür, aber hörte und sah keine Bewegung im Inneren. Keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens. Der Vermieter gab ihm einen Ersatzschlüssel, und damit hat er die Tür geöffnet. Sie war abgeschlossen, aber nur das normale Schloss, nicht das Bolzenschloss. Der Officer ist reingegangen und hat sich umgesehen. Es sah eigentlich alles in Ordnung aus, bis er ins Schlafzimmer kam. Das Bett ist ungemacht, Spuren überall. Die Kriminaltechniker sind beinahe fertig. Wir haben auch eine Befragung hier im Haus durchgeführt, aber niemand hat sie gestern Abend oder heute gesehen. Sieht nicht so gut aus.”

Sie erreichten die Tür zu der Wohnung und duckten sich unter noch mehr Absperrband hindurch. Es hielten sich nur noch ein paar Menschen in dem Zimmer auf. Taylor nickte ihnen zu, als sie die Umgebung einer genauen Betrachtung unterzog.

Shauna Davidson hatte gut gelebt. Das Apartment war geschmackvoll und modern eingerichtet. Ein Flachbildfernseher hing an der Wand, darunter stand eine teure Surroundanlage. Der Raum wurde von einem hellbraunen Ledersofa dominiert, auf dem sich butterweiche, rehbraune Wildlederkissen türmten. Ein schöner Platz, um sich zu entspannen. Es gab passende Sessel in dunkelbraunem Wildleder und einen Tisch mit Schieferplatte, der alle Farben zusammenbrachte. Soweit Taylor beurteilen konnte, war alles an seinem Platz. Penibel ausgerichtete Zeitschriften lagen auf dem Couchtisch. Es gab keine herumstehenden Gläser oder Flaschen, keine alten Zeitungen. Guter Geschmack und Ordnungsliebe. Interessante Kombination für ein junges Mädchen.

Zu ihrer Rechten konnte Taylor eine kleine Küche sehen und einen kleinen Flur, der vom Wohnzimmer wegführte. Sie folgte ihm und fand ein ungenutztes Gästezimmer, ein Büro und endlich das Schlafzimmer. Hier war es nicht so ordentlich.

Die Überdecke lag auf dem Fußboden, die Laken lagen zerknüllt am Fußende des Bettes. Blut hatte die Matratze durchtränkt. Taylor schaute den Kriminaltechniker an, der auf der linken Seite des Bettes stand und auf sie wartete.

“Haben Sie Polaroids, die zeigen, wie genau der Raum aussah, als sie hier ankamen?”

“Ja, Ma’am. Wir haben versucht, beim Probensammeln so wenig wie möglich zu verändern.”

“Haben Sie danach alles wieder an seinen Platz geräumt? Sieht es hier jetzt so aus wie auf den Polaroids?”

“Ja, Ma’am, ziemlich genau so haben wir den Raum vorgefunden. Wir kamen rein, sahen das Blut, gingen wieder raus und haben angefangen, Bilder zu machen. Dann haben wir die Proben gesammelt. Es ist nicht so viel, wie es aussieht, und die biologischen Spuren waren schon getrocknet. Muss mindestens schon einen Tag her sein. Wir haben das Bett und die Nachttische auf Fingerabdrücke untersucht und auch ein paar gefunden. Wir werden alles ins System eintragen und es Sie dann wissen lassen. Sobald Sie hier fertig sind, packen wir alles ein und bringen es ins Labor.”

Taylor nickte ihm einen Dank zu, und der junge Mann verließ das Zimmer. Sie wandte sich an Baldwin und Fitz. “Und?”, fragte sie.

Baldwin ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, über das Blut. Taylor sah die Anzeichen des Wiedererkennens auf seinem Gesicht. Sie wartete. Er schlich durch das Zimmer, machte sich Notizen, schoss ein paar eigene Fotos.

Aus dem Augenwinkel sah Taylor, dass Fitz langsam ungeduldig wurde. Sie war es auch. “Baldwin, sprich mit uns. Was hat das hier zu bedeuten?”

Er klappte sein Notizbuch zu und schlang sich die Kamera über die Schulter. “Das sieht alles nur zu bekannt aus. Das Gleiche, was ich in den Apartments der anderen beiden Mädchen gesehen habe. Das ungemachte Bett, das Blut. Ich denke, er spricht sie an, verdreht ihnen den Kopf, damit sie ihn nach Hause und in ihr Bett einladen. Er erwürgt sie und trennt ihnen die Hände ab. Dann bringt er die Leichen zu dem Ort, an dem er das nächste Mal zuschlagen will.” Er schüttelte den Kopf. “Shauna Davidson. Ich weiß nicht, wo wir sie finden werden, aber sie ist Nummer vier. Er beschleunigt die Sache.”

Baldwin ging im Zimmer auf und ab. “Seht ihr, es gibt keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen in die Wohnung. Das stimmt überein mit den anderen drei Mädchen. Ich denke, er gabelt sie irgendwo auf, in einer Bar, der Bücherei, wer weiß. Sie laden ihn zu sich nach Hause ein. Vielleicht geraten die Dinge außer Kontrolle, vielleicht fängt der Sex einvernehmlich an, aber genauso schnell sind sie tot. Es gibt keine wirklichen Anzeichen für einen Kampf. Wir haben keine Rückstände von Drogen in ihren Körpern gefunden. Ich denke, dass er sie festbindet.” Er umrundete das Kopfteil des Bettes. “Hey, holt mal eure Techniker zurück.”

Fitz verschwand und kam mit einem der Kriminaltechniker zurück. Baldwin winkte den Mann zu sich heran und deutete auf das Kopfteil des schmiedeeisernen Bettes. “Sie haben etwas übersehen”, beschuldigte er den Mann.

Der Techniker wurde rot, als ihm aufging, dass er tatsächlich etwas übersehen hatte. Eine farblose Faser klebte am Rahmen des Kopfteils. Er sammelte sie schnell ein und entschuldigte sich. Als er sich zum Gehen wandte, klopfte Baldwin ihm auf den Rücken.

“Vielleicht von einem Seil. Wir haben so etwas auch an den anderen Tatorten gefunden. Deshalb gibt es auch keine Anzeichen für einen Kampf. Es würde passen, dass er sie festbindet. Wisst ihr, diese Art von Mörder macht Hilflosigkeit an. Wut, Aufregung, Vergnügen, all das kommt für diesen Kerl aus der gleichen Quelle. Er hat eine Vorliebe für ihre Hände, deren Grund ich allerdings noch nicht herausgefunden habe. Die Fetisch-Elemente sind alle vorhanden. Ich glaube nicht, dass er es tut, um ihre Identitäten zu verschleiern. Er ist im höchsten Grade organisiert, plant weit im Voraus. Die Tatsache, dass er sich von Teilen seiner Trophäen trennt, ist sehr interessant. Es ist ein Hinweis, eine Brotkrume, die er uns hinterlässt. Er will seine Morde sensationalisieren. Das Verbringen der Leichen über Staatsgrenzen, die Verstümmelungen, all das sind kalkulierte Anstrengungen, um diese Verbrechen besonders grausam und abscheulich wirken zu lassen. Ein todsicheres Rezept, um das FBI ins Boot zu holen. Er will, dass wir ihn erkennen. Dass wir sicher sind, dass er es war. Er wird nicht von seinem Muster abweichen, weil es zu seiner Unterschrift geworden ist. Nun müssen wir nur noch herausfinden, wer er ist. VICAP hat keinen Treffer zu seinem Modus Operandi im System. Und außer den forensischen Beweisen haben wir keine weiteren Informationen über ihn. Zeugenaussagen sind dünn bis nicht existent. Er ist ein echtes Gespenst, was Teil seines Plans ist.” Das Violent Criminal Apprehension Program, kurz VICAP, hatte sämtliche verfügbaren Informationen über alle begangenen Verbrechen gespeichert und würde ihnen anzeigen, wenn bei einem anderen Fall ähnliche Parameter aufgefallen wären. Baldwin hatte auf einen Treffer gehofft, aber bisher kein Glück gehabt.

Er hörte auf, herumzutigern. Seine Augen funkelten. “Es ist eine Herausforderung. Er genießt die Tatsache, dass wir ratlos sind. Wir können nicht vorhersagen, wohin es ihn als Nächstes zieht. Und das stellt sicher, dass wir auf der Hut sind. Denkt an meine Worte. Er bettelt uns geradezu an, zu versuchen ihn zu finden.”

5. KAPITEL

Whitney Connolly saß in ihrem Büro zu Hause an ihrem Computer und schrieb E-Mails an Leute im ganzen Land. Das war ihr morgendliches Ritual. Egal an welchem Tag, sie stand aus ihrem einsamen Bett auf, lief für einen Latte Macchiato zu Starbucks, grüßte auf dem Weg dorthin alle Menschen, die sie kannte oder auch nicht, mit einem milden Lächeln, kehrte nach Hause zurück und schaltete den Computer ein. Sie hatte ein großes Netzwerk, mit dem sie kommunizierte, und die E-Mails waren nach Wichtigkeit sortiert. Freunde kamen als Erstes, weil es in dieser Kategorie die wenigsten E-Mails gab. Und weil sie im Großen und Ganzen die freundlichsten ihrer Kommunikationspartner waren, folgten sie als Nächstes: die Fans. Es gab sie in allen Formen und Farben. Weiblich und männlich, jung und alt. Erfreulich und nicht so erfreulich. Es war schwer, ihren Mitteilungen auszuweichen, wurden doch die E-Mail-Adressen der Reporter immer am unteren Bildschirm eingeblendet, sobald sie auf Sendung waren. Außerdem fand man sie auch auf der Internetseite direkt neben dem jeweiligen Foto. Die interessierte Öffentlichkeit hatte also jederzeit Zugriff auf diese Adressen.

Whitney fand, dass es wichtig war, zu antworten; denen zu danken, die ihre Arbeit vom Vorabend lobten, und höflich zu denen zu sein, die es nicht taten. Die Top-Reporterin in Nashville zu sein hatte seine Vorteile, das war sicher. Aber es war auch unvermeidlich, hier und da einige Zuschauer zu verärgern, und sie fühlte sich ein bisschen dafür verantwortlich, das Unbehagen dieser Menschen anzuerkennen und zu versuchen, die Dinge wieder geradezurücken. Kundenpflege, sozusagen.

Heute war jedoch ein guter Morgen. Sie hatte vierzig Fanmails, und nur fünf davon waren nicht einverstanden mit ihrer Vorstellung am Vortag. Sie las die Kommentare sorgfältig und fertigte die Spinner mit einem einfachen “Es tut mir leid, dass Sie mit unserer Leistung nicht zufrieden waren. Wir geben unserer Bestes in der Hoffnung, Sie in Zukunft zufriedenzustellen” ab. Denen, die wohlwollende, liebevolle E-Mails geschrieben hatten, dankte sie überschwänglich, und die Fragen derer, die meinten, besser zu wissen, wie die Welt funktionierte, beantwortete sie mit großer Ernsthaftigkeit. Nachdem diese Aufgabe erledigt war, nahm sie einen großen Schluck von ihrem kalt werdenden Latte Macchiato und machte sich an die nächste Gruppe. Die wichtigste Gruppe. Die, die wirklich zählte. Die der Informanten.

Whitney verfügte über ein weit gespanntes Netzwerk an Leuten im gesamten Land, das ihr Informationen schickte. Sie pflegte diese Gruppe seit Jahren, ergänzte seriöse und nicht so seriöse Kontakte. Sie hatte Ziele, große Ziele. Sie wusste, dass sie nur eine Story von ihrem großen Durchbruch entfernt war. Eine der besten Reporter in Nashville zu sein war schon nicht schlecht. Ihr Sender war Marktführer und sicherte sich stets höhere Marktanteile als die Konkurrenz. In der Woche kümmerte sie sich um die Recherchen, und am Wochenende war sie die Sprecherin der Zehnuhrnachrichten. Aber tief drinnen fühlte sie, dass sie besser war als jeder Vollzeit-Nachrichtensprecher. Sie war schon ein paar Jahre im Geschäft – und mit vierunddreißig wurde es langsam Zeit, von einer der großen Sendeanstalten bemerkt zu werden. Sie wollte nach New York. Nicht nach Atlanta, wo alle gleich aussahen und keine eigene Meinung äußern durften. Nein, man musste in New York sein, und sie war nur eine große Geschichte davon entfernt.

Unbestritten hatte sie das dafür notwendige Aussehen. Groß, mit langen, schlanken Beinen, blonden Haaren, einer perfekten Nase, die sie nicht dem Können eines Schönheitschirurgen verdankte, vollen Lippen, bei denen nur ein klitzekleines bisschen nachgeholfen worden war, und einem Paar makelloser Brüste, die sie ein Vermögen gekostet hatten. Dazu bogen sich sorgfältig zwei Töne dunkler als ihr Haar gefärbte Augenbrauen über blauen Augen, die man nur als spektakulär bezeichnen konnte. Ja, sie hatte das Aussehen. Und das passende Köpfchen dazu. Nicht zu vergessen den Ehrgeiz, in ihrem Beruf voranzukommen. Sie brauchte nur noch diese eine Geschichte in ihrem Portfolio, die sie alle sprachlos machen würde.

Als sie auf der Suche nach der Adresse, die sie zum Star machen würde, durch ihre E-Mails scrollte, erlaubte sie sich eine kleine Pause und schaltete den Fernseher an, und zwar genau auf dem Sender, für den sie so unglaublich gerne arbeiten würde.

Der Schriftzug Breaking News flimmerte rot über den Bildschirm, und Whitney fühlte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Immerhin war sie eine Vollblut-Nachrichtenfrau. Worum ging es? Ein Bombenanschlag in Übersee? Ein Urteil in einem aufsehenerregenden Gerichtsprozess? Ein Politiker, der mit einem toten Mädchen oder einem höchst lebendigen Knaben erwischt worden war? Schlechte Nachrichten waren gute Nachrichten für einen Reporter, egal, was die Öffentlichkeit darüber dachte. Als das sorgenerfüllte Gesicht des Sprechers den Bildschirm füllte, fühlte sie, wie sich Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Sie lehnte sich in ihrem bequemen Ledersessel zurück und lächelte. Er hatte wieder zugeschlagen.

6. KAPITEL

Taylor wachte früh auf und schaltete den Fernseher ein. Trotz Baldwins Vorhersage, dass Shauna Davidson nicht in der näheren Umgebung gefunden werden würde, war eine großangelegte Suchaktion gestartet worden. Die Frühnachrichten brachten entsprechende Bilder – eine lange Reihe von Männern und Frauen in blauen Cargohosen und T-Shirts, in den Händen lange Stäbe, bewegte sich vorsichtig über ein offenes Feld in der Nähe von Shaunas Apartmentkomplex. Zufrieden, dass die Ermittlungen angemessen fortgeführt wurden, nahm sie eine Dusche, zog ihre Jeans und die Stiefel an, befestigte das Holster samt Pistole am Gürtel und machte sich auf den Weg zur Autopsie von Jessica Porter.

Zwischen mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Lastzügen rollte sie über den Highway und nahm wie nebenbei die Schönheit des Tages wahr. Der blaue Himmel verlockte sie, das Fenster ein bisschen zu öffnen, was sofort eine Wolke Dieselabgase in ihr Auto pustete. Sie rümpfte die Nase und schloss das Fenster wieder. Ihre Gedanken gingen zurück zu dem Gespräch, das sie mit Baldwin geführt hatte, bevor sie beide zu Bett gegangen waren. Er war sich sicher gewesen, dass die Beweise in Shauna Davidsons Apartment mit den anderen drei Morden in Verbindung gebracht werden konnten und hatte darauf beharrt, dass der Southern Strangler langsam die Kontrolle über sich verlor. Baldwin hatte eine Art sechsten Sinn, wenn es um seine Fälle ging, eine Fähigkeit, die in seinem Beruf hoch geschätzt und notwendig war. Als Profiler war man beinahe selber ein bisschen so etwas wie ein Krimineller. Er konnte einfach nachvollziehen, was im Kopf eines Mörders vorging, dem er nachjagte. Manchmal machte er Taylor Angst, mit seiner Intensität und starken Fokussierung, aber er erzielte Ergebnisse. Sie hoffte, wenn er Vollzeit an ihrem Fall mitarbeiten würde, gäbe es ein Happy End für Shauna Davidson, aber so richtig glaubte sie nicht daran. Dafür hatte es im Zimmer des Mädchens einfach zu viel Blut gegeben.

Seine kleine Debütantin. Sie schnaubte. Sie hasste es, wenn er sie so nannte, und das wusste er auch. Er mochte es einfach, diese Nadel ab und zu ein wenig in ihr Fleisch zu stechen. Zum Teufel, sie würde alles geben, um diesen Teil ihrer Vergangenheit ungeschehen zu machen. Aber das ging nun mal nicht, egal, wie sehr sie es auch versuchte. Taylor stammte aus einer wohlhabenden Familie und war in der als Forest Hills bekannten, reichen Gegend von Nashville aufgewachsen. Sie hatte allen Luxus, den Mädchen aus gutem Haus genossen, inklusive des Debütantinnenballs, den sie widerwillig besucht hatte, um der feinen Gesellschaft von Nashville vorgestellt zu werden. Das war der Silvesterabend nach ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen. Sie überlegte kurz, ob Shauna Davidson auch zu solchen sinnlosen Veranstaltungen eingeladen worden war, schob den Gedanken dann aber schnell beiseite.

Sie musste immer noch lachen wenn sie an die Wut dachte, die sie mit ihrer Ansage, Polizistin werden zu wollen, bei ihren Eltern ausgelöst hatte. Wenn es nach ihren Eltern gegangen wäre, hätte sie einen der wenigen sozial akzeptablen Wege eingeschlagen, die sich für eine reiche Tochter geziemten. Natürlich wäre ein Besuch des Colleges der erste Schritt gewesen, wo sie ihren zukünftigen Mann kennenlernen würde, der auf dem Weg zu einem Medizin- oder Jurastudium war. Nachdem er seine Assistenzzeit oder seine Juniorpartnerschaft erfolgreich abgeschlossen hätte und sie zurück nach Nashville gezogen wären, könnte sie sich der Erziehung der Kinder widmen, sich in der Junior League engagieren, vielleicht ein kleines Spezialitätengeschäft eröffnen oder sich in Wohltätigkeitsorganisationen nützlich machen. Natürlich erst, nachdem die Kinder auf der Ganztagsschule untergebracht waren.

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