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Political Correctness

Als Buch hier erhältlich:

Die Grundlagen unseres Wissens und unserer Meinungen bestimmen unser Denken und Handeln, doch die westliche Zivilisation steht vor Herausforderungen, die sich vehement zuspitzen: den Differenzen zwischen den Geschlechtern (#MeToo), den Ethnien, den Religionen, den politischen und ökonomischen Extremen. Wie offen kann oder muss über soziale Konflikte gesprochen werden, warum gibt es Tabus? Diese angeheizte Diskussion über Political Correctness erhellt die Problemstellungen, sie differenziert und gibt Antworten. Eine aufregende Debatte, die 2018 in Toronto im Rahmen der Munk Debates (internationales Podium für zeitgeschichtliche Diskussionen) stattgefunden hat und durch die dezidierten Positionen der Beteiligten die eigene Meinungsbildung forciert.
  • Erscheinungstag: 23.09.2019
  • Seitenanzahl: 128
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011438
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

POLITICAL CORRECTNESS

Michael Eric Dyson & Michelle Goldberg

versus

Stephen Fry & Jordan Peterson

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und

mit einem Vorwort von Eva Illouz

Die Munk-Debatten

Die Munk-Debatten sind eines der wichtigsten politischen Ereignisse Kanadas. Sie werden halbjährlich durchgeführt und bieten Vordenkern ein internationales Forum zur Erörterung wichtiger politischer Themen. Sie werden in Toronto vor einem Live-Publikum durchgeführt und von nationalen und internationalen Medien dargestellt. Zu den Teilnehmern der jüngsten Munk-Debatten gehören Anne Applebaum, Louise Arbour, Tony Blair, Alain de Botton, Daniel Cohn-Bendit, Alan Dershowitz, Mia Farrow, Niall Ferguson, William Frist, Newt Gingrich, Malcolm Gladwell, Michael Hayden, Christopher Hitchens, Josef Joffe, Robert Kagan, Garry Kasparov, Henry Kissinger, Charles Krauthammer, Paul Krugman, Lord Nigel Lawson, Stephen Lewis, George Monbiot, Vali Nasr, Camille Paglia, Giorgios Papandreou, Samantha Power, Vladimir Pozner, Anne-Marie Slaughter, Hernando de Soto, Bret Stephens, Andrew Sullivan, Justin Trudeau, Amos Yadlin, Fareed Zakaria u.a. …

Die Munk-Debatten sind ein Projekt der Aurea Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung, die 2006 von Peter und Melanie Munk zur Förderung der Politikwissenschaften und der politischen Diskussion gegründet wurde. Weitere Informationen finden Sie auf der Website www.munkdebates.com.

 

Ein Brief von Peter Munk

Meine Frau Melanie und ich sind zutiefst dankbar dafür, wie schnell die Munk-Debatten seit der ersten Veranstaltung die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewonnen haben. Seit der ersten Debatte im Mai 2008 waren wir Gastgeber einiger der aufregendsten politischen Diskussionen in Kanada und weltweit. Mit ihrer globalen Ausrichtung haben die Munk-Debatten eine breite Palette von Themen erörtert, wie zum Beispiel humanitäre Hilfe, die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe, die Gefahr des Klimawandels, die Auswirkungen der Religion auf Geopolitik, den Aufstieg Chinas und den Niedergang Europas. Einige der bedeutendsten Vordenker und Akteure der Welt haben aus diesen spannenden Themen ihre geistigen und moralischen Funken geschlagen, von Henry Kissinger und Tony Blair über Christopher Hitchens und Paul Krugman bis zu Peter Mandelson und Fareed Zakaria.

Die Themen, die in den Munk-Debatten verhandelt wurden, haben nicht nur das öffentliche Bewusstsein geschärft, sondern auch vielen von uns geholfen, die Globalisierung besser zu verstehen und mögliche Ängste abzubauen. Es ist so einfach, Nabelschau zu betreiben, nationalistisch zu denken und alles Fremde abzulehnen, und so schwer, sich dem Unbekannten zu stellen. Die Globalisierung ist für viele eine abstrakte Angelegenheit. Diese Debatten sollen uns helfen, mit der sich rasant verändernden Welt vertrauter zu werden und am globalen Dialog um Themen teilzunehmen, die unsere gemeinsame Zukunft bestimmen werden.

Ich muss Ihnen nicht sagen, wie lang die Liste der Problemstellungen ist. Klimawandel, Armut, Völkermord und die brüchige Weltfinanzordnung sind nur einige der Fragen, die den Menschen heute beschäftigen müssen. Mit Sorge beobachten ich und die Direktoren der Aurea Foundation, dass die Qualität der öffentlichen Diskussion eher abzunehmen scheint, je zahlreicher und dringlicher die Probleme werden. Als Diskussionsort für globale Schlüsselfragen sind die Munk-Debatten nicht nur ein Forum für die Überlegungen und Ansichten bedeutender Vordenker, sondern sie entzünden das Interesse der Öffentlichkeit, sie schaffen Wissen und geben uns Mittel an die Hand, die großen Probleme unserer Zeit anzugehen.

Ich habe gelernt, dass wir im Angesicht von Herausforderungen oftmals über uns hinauswachsen, und vielleicht haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Teilnehmer dieser Debatten fordern nicht nur einander heraus, sondern sie fordern auch uns auf, klar und vernünftig über die wichtigen Probleme nachzudenken, vor denen unsere Welt heute steht.

Peter Munk (1927 – 2018)

Gründer der Aurea Foundation / Toronto, Ontario

Vorwort Eva Illouz

Warum politische Korrektheit wichtig ist. Ein Kontrapunkt

Die Entkopplung von Demokratie und Kapitalismus

Der gegenwärtige historische Moment lässt sich nur als eine Gezeitenwende jener Welle der Demokratisierung verstehen, die die westlichen Gesellschaften während des letzten halben Jahrhunderts ausgezeichnet hat. Im Schatten der beiden Kriege, die Kontinente verheert und Millionen von Menschen das Leben gekostet hatten, zogen die westlichen Gesellschaften eine Bilanz der Verwüstung und gingen dazu über, ethnische und sexuelle Minderheiten zu gleichberechtigten Bürgern zu machen.

Diese Welle der Demokratisierung basierte paradoxerweise auf neuen Theorien, die das westliche Projekt insgesamt kriminalisierten: Zunehmend wurde der Westen mit seinen kolonialen Bestrebungen und mörderischen Kriegen gleichgesetzt, stand seine Wissenschaft für die männliche Kontrolle von Leben und Natur, galt seine bislang von den Intellektuellen bewunderte Hochkultur als ein Instrument der Erniedrigung und Ausgrenzung, wurden seine Geschlechterverhältnisse, die einmal der Schauplatz von Galanterie und Hingabe gewesen waren, als einer der Gewalt entblößt. Ja, immer öfter betrachtete man die Demokratie selbst als eine Schaufensterveranstaltung, hinter der sich mächtige wirtschaftliche Interessen und neokolonialistische Politiken verbargen. Kurzum: Hatten die Demokratisierungsschübe des 19. Jahrhunderts zur Regulierung von Kinderarbeit, zu mehr Sicherheit am Arbeitsplatz und einer Ausweitung des Wahlrechts geführt, so schienen sich die Wellen der Demokratisierung nach dem Zweiten Weltkrieg merkwürdigerweise genau gegen die Grundsätze zu richten, in deren Namen sie erfolgten. Diese seltsame Form der Demokratisierung verwirklichte zentrale Werte des Westens und trat sie gleichzeitig mit Füßen: Wissenschaft, Demokratie, nationalen (oder kulturellen) Stolz, Geschlechterunterschiede, religiöse Hingabe. Anfangs zumindest zahlte sich diese Strategie aus: Die Kriminalisierung sexueller Belästigung verbesserte die Sicherheit am Arbeitsplatz für Frauen; rassistische Sprache wurde strafrechtlich effektiv verfolgt; in den USA wurde die Aufhebung der Rassentrennung an der Schule rechtlich erzwungen; Diskriminierungen am Arbeitsplatz oder auf dem Wohnungsmarkt wurden verboten und vieles mehr. Dieser Demokratisierungsschub prägte schließlich den Lebensstil und die moralischen Auffassungen ganzer gesellschaftlicher Gruppen; er führte zu einem neuen Verständnis von Politik, demzufolge die Institutionen Individuen und jenen Gruppen, die sich nicht der Mehrheit anpassen, Achtung schuldeten.

Bis in die 1980er Jahre ging die Demokratisierung mit einer schrittweisen Einbindung der Arbeiterklassen in die kapitalistischen Institutionen einher. Rund ein Jahrhundert lang konnte es so aussehen, als arbeite der Kapitalismus Hand in Hand mit der Demokratie – selbst da, wo diese das Ergebnis harter Kämpfe war. Erst die neoliberale Wende brachte einen grundlegenden Wandel: Der Kapitalismus globalisierte sich und zerrüttete die Lebenswelt vieler Angehöriger der Arbeiterklassen durch Verarmung, instabile Familienverhältnisse, Arbeitsplatzunsicherheit, Lohnverfall und chronische Erwerbslosigkeit. Das Leben der Menschen aus den Arbeiter- und Mittelschichten wurde von dieser neoliberalen Wende tiefgreifend beeinflusst. Gleichzeitig waren die 1980er Jahre die Zeit, in der Minderheiten sowohl in der Kultur allgemein als auch besonders an den Universitäten größere Sichtbarkeit erlangten. Lautstark und nachdrücklich forderten sie ihre rechtliche Gleichstellung und ein Ende jeder – symbolischen oder materiellen – Diskriminierung ein. Das Zusammentreffen beider Entwicklungen – der Zerstörung der Lebenswelt der arbeitenden Klassen und der größeren Sichtbarkeit von Minderheiten – erzeugte ein Paradox: Die Arbeiterklassen waren de facto an den Rand der Hauptzentren des Wohlstands (der Städte) gedrängt, beanspruchten aber, die Breitenkultur zu repräsentieren. Dieses Paradox steht im Zentrum der gegenwärtigen Entkopplung von Demokratie und Kapitalismus, in Form einer Verschiebung, also einer psychischen und rhetorischen Figur, die Psychoanalytikern und Soziologen gut bekannt ist. Viele Angehörige der Arbeiter- und Mittelschicht erlebten die objektive Zerstörung ihrer Lebenswelt als einen Vorgang, von dem jene Minderheiten profitierten, die um Anerkennung und Gleichstellung gekämpft hatten.1 Das Phänomen Trump ist eine Folge des realen Privilegienverlusts der weißen Arbeiterschicht und ihrer halluzinatorischen Rückprojektion, sexuelle und ethnische »Minderheiten« erfreuten sich nunmehr unverdienter Privilegien. Es handelt sich um einen Versuch, die Welt wiederherzustellen, wie sie vor dem großen Umbruch durch Formen der Demokratisierung war, die die Arbeiterklassen nicht einschlossen, ja bis zu einem gewissen Grad sogar ausschlossen. Deshalb werden Frauen, Afroamerikaner, Transgender, Homosexuelle und gelegentlich die Juden für den gegenwärtigen Zusammenbruch der Gesellschaft verantwortlich gemacht (auch wenn inzwischen einzelne Juden eine beträchtliche Rolle in der trumpistischen Bewegung spielen).

Durch den Stellenabbau in der Industrie hatten Männer aus der Arbeiterschicht die größten Verluste an Status und Privilegien zu verzeichnen, während ihre Frauen den Anforderungen der neuen Dienstleistungs- und Technologiewirtschaft im Großen und Ganzen genügten. (Auch können sie in der wachsenden Pflegebranche und anderen typischen Frauenberufen arbeiten und damit Löhne verdienen, die eher am unteren Ende der Einkommensskala angesiedelt sind, auch wenn sie gewerkschaftlich nicht so gut organisiert sind, wie ihre Männer es einmal waren.) Vor diesem Hintergrund eigneten sich die Männer aus den Arbeiterklassen Werte an, die zunehmend mit der Kultur der Linken in Widerspruch gerieten: Patriotismus, Heteronormativität, Familie und Religion standen für jene ontologische Sicherheit, die ihnen geraubt worden war; nach den 1980er Jahren wurden diese Werte (und diejenigen, die sie vertraten) von einem nennenswerten Teil der Linken abgetan oder verachtet. Anders gesagt: Die Männer der Arbeiterklassen erlebten einen gleichermaßen materiellen wie symbolischen Verlust, einen Verlust an Arbeitsplatzsicherheit und an jenem männlichen Ehrgefühl, das auf ihrer Vorherrschaft über die Frauen als »Haushaltsvorstand« beruht hatte. Diese Männer verloren ihre Ehre gleich doppelt: einmal an den globalen Kapitalismus und ein zweites Mal an den Feminismus. Dieser reale Verlust fand seine Entsprechung in der allgemeinen Ablehnung der Arbeiterschicht durch die Mainstream-Medien.

Die politische Korrektheit berührt den Prozess der Demokratisierung der zeitgenössischen Gesellschaften im Kern. Jordan Peterson ist zu der Berühmtheit geworden, die er ist, weil er es vor allem versteht, den Widerspruch zwischen den Existenzbedingungen der Arbeiterklassen und den Aporien einer Linken, die sich für kosmopolitische Werte einsetzt, vor seinen Karren zu spannen. So universell diese Werte in ihrer Einbeziehung aller Kulturen und Religionen auch sein sollen, identifiziert sich diese Linke doch bereitwilliger mit der Kultur und Religion von Nichtchristen und Nichtweißen als mit denen der enteigneten Klassen, die sie traditionell vertreten hat.

Petersons Ideen schnurren in diesem Sinne auf eine einfache Formel zusammen: Lasst uns zu den guten alten Zeiten zurückkehren, als die Hierarchien noch eindeutig und unumstritten waren, als sich Kulturen vielleicht nicht unbedingt feindlich gesonnen, als sie aber zumindest klar voneinander unterschieden waren, als ein Mann noch ein Mann und eine Frau noch eine Frau war. Für ihn gehen Hierarchien gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen voraus und wohnen ihnen zugleich inne. Versuche, Hierarchien zu korrigieren, seien tyrannisch, weil sie die moralische und natürliche Ordnung stören. Aus dieser Perspektive ist die Linke tyrannisch.

Politische Korrektheit

Politische Korrektheit geht von der Prämisse aus, dass Ungleichheiten, die lange Zeit als natürlich gegolten hatten, so wie Geschlechter- oder Rasseungleichheiten, dem Auge des Betrachters deshalb weitgehend entzogen waren, weil diese Ungleichheiten der Weltsicht und den Interessen von Weißen, Christen und Männern dienten. Diese Ungleichheiten haben tiefe Wurzeln in der Sprache geschlagen, die nicht umsonst von demselben Personenkreis kontrolliert wird, der auch die anderen sozialen Gruppen wirtschaftlich und politisch dominiert. Frauen sind bevorzugte Opfer von Vergewaltigungen, Belästigung oder Gewalt, weil man »Tussis«, »Fotzen«, »Puppen«, »Nutten«, »Goldgräberinnen«, »Schlampen«, »Welfare queens« (vorzugsweise schwarze Sozialhilfebetrügerinnen) aus ihnen gemacht hat. Ebenso lässt sich mühelos an der Intelligenz von Afroamerikanern zweifeln, weil sie nach über zweihundert Jahren der Sklaverei zu »Auberginen« (eggplants), »Affen«, »Krähen«, »Mammys«, »Monkeys«, »Niggern«, »Sambos« und dergleichen herabgesetzt worden sind. Systematische soziale, ökonomische und kulturelle Zerrbilder sind tief in unser Bewusstsein und unsere Beschreibungen eingegangen. Ohne ihren Einfluss auf unsere Denkweisen hätten sie nicht einen so großen Einfluss auf uns. Politische Korrektheit heißt anzuerkennen, dass Ungleichheiten nicht nur im Wohlstandsgefälle gründen, sondern auch in unbewussten sozialen und ideologischen Mechanismen, die der Sprache anhaften.

Davon will Jordan Peterson nichts wissen. Ganz gleich, auf welche Geschichte Gruppen zurückblicken (systematische Unterdrückung, Sklaverei, Holocaust), sollen sie keine Erinnerung pflegen oder zumindest keine an Trauma und Leid. Individuen sollen sich auf eigene Faust durchschlagen, also Verantwortung für sich übernehmen, und sich nicht als Angehörige von Opfergruppen verstehen, sondern als stolze Einzelkämpfer, die für ihre Lebensumstände selbst verantwortlich sind. Die Tatsache, dass die Soziologie Individuen als gruppengeprägt betrachtet, bezeichnet er als »Kollektivismus«, und dieser Kollektivismus habe viele Menschenleben auf dem Gewissen – vermutlich eine Anspielung auf den Gulag. Sein ultimatives ›Totschlagargument‹ gegen die politische Korrektheit beruft sich auf die Natur: Hierarchien gebe es von Natur aus, und es liege gerade in der Natur von Hierarchien, dass sich die Menschen am unteren Ende der Skala sammeln (als ob Kinderarbeit, die Vorenthaltung des Wahlrechts für Frauen oder die Sklaverei einer natürlichen Ordnung entsprächen). Aus der Beschwörung der Natur folgt unweigerlich ein weiteres Argument: Wenn weiße Männer an der Spitze stehen, dann deshalb, weil sie es verdienen. Michelle Goldberg und Michael Dyson haben völlig recht, wenn sie darauf hinweisen, dass diese Annahme eines verdienten männlichen Privilegs der Schlüssel ist, um Peterson zu begreifen, weil soziale Hierarchien für ihn Hierarchien der Kompetenz widerspiegeln, die wiederum von Natur aus bestehen. Daraus folgt natürlich, dass es unmoralisch und schädlich ist, Hierarchien in Frage zu stellen. Ideologien herrschen zu Recht vor, weil sie … vorherrschen. Das ist so, weil Mehrheiten, nun ja … Mehrheiten sind. Ich weiß nicht, ob sich Peterson der jahrhundertelangen philosophischen Diskussionen darüber, welche Verhältnisse Mehrheiten mit Minderheiten unterhalten sollten, eines der Grundprinzipien liberaler Demokratien, nicht bewusst ist; doch zeigt er sich im Allgemeinen so unbekümmert um Tautologien wie um die Gefahren der Herrschaft von Mehrheiten über Minderheiten. Mehr noch: In einer spektakulären Umkehrung, wie sie typisch für bedrohte Mehrheiten ist, betrachtet er jeden Versuch, Mehrheiten für die Belange von Minderheiten zu sensibilisieren, als diktatorisch. Politische Korrektheit wird so zu einer illegitimen Machtumkehr. Schließlich geht Peterson so weit, Minderheiten dafür verantwortlich zu machen, dass sie mit ihren Forderungen den Gesellschaftskörper spalten. (So viel ist wahr: Man kann keine stillschweigende Vorherrschaft mehr ausüben.) Sollte es einen Unterschied zwischen Petersons Position und dem Glauben an die Überlegenheit weißer Männer geben, dann ist er mir entgangen.

Peterson ist fest vom Ethos der Selbsthilfe überzeugt. Er glaubt an die Fähigkeit der Menschen, ihr Leben selbst in den Griff zu bekommen. Das ist einerseits eine seit dem 19. Jahrhundert bestehende klischeehafte Obsession der nordamerikanischen Kultur und andererseits einer von tausend neoliberalen Standard-Glaubenssätzen über die Macht des Denkens, das Individuum und die Verantwortung des Selbst, seine Lebensumstände zu gestalten und zu ändern – allesamt Vorstellungen, die dazu dienen, gesellschaftliche Probleme zu entpolitisieren und in die Psyche der Individuen zu verlagern. Peterson käut den individualistischen Hokuspokus von spirituellen Gurus, Psychologen und neoliberalen Slogans wider: Die Individuen haben ihr Geschick selbst in der Hand und sollten nicht lamentieren oder sich als Opfer aufspielen. Für ihr schlechtes Leben sollten sie niemand anderen als sich selbst verantwortlich machen. Erfolg ist eine Frage des Charakters. Sich in Form zu bringen und die Zähne zusammenzubeißen, das ist die tiefgründige Sozialphilosophie, die Peterson uns anempfiehlt (zu seinen berühmten zwölf Regeln gehören Ratschläge wie »Wähle deine Freunde mit Bedacht«, »Sei aufrichtig« oder »Vergleiche dich nicht mit anderen«). Petersons Weltsicht ist simpel. Weil aber so viele Menschen an sie glauben, muss man sie ernst nehmen.

Mit Ressentiments zur Prominenz

Jede Zeit hat ihren eigenen Theoretiker, den Intellektuellen, der ihre zentralen Wünsche und inneren Konflikte zum Ausdruck bringt und rechtfertigt. Die Aufklärung hatte Kant, der Sozialismus hatte Marx, der Spätkapitalismus hatte Lyotard und Derrida – und der Trumpismus hat Jordan Peterson. Obwohl Peterson ein globales Internetphänomen ist, erfolgt sein Kreuzzug doch in Reaktion auf die US-amerikanischen »Campus Wars«. Die Windmühlen, gegen die er anrennt, heißen politische Korrektheit, Intersektionalität und »die toxische Linke«.

Nachdem Peterson Prominenz erlangt hatte, wollte ich mir seine Texte zu Gemüte führen und war auf einen überragenden Intellekt gefasst, der es im Alleingang mit der globalen akademischen Welt aufnehmen kann. Zu meiner Verblüffung aber offenbarten seine Texte und Reden etwas anderes: Seine Interventionen werden von der brodelnden Wut eines Mannes getragen, der das Gefühl hat, dass die Linken die Sprache und die Werte kontrollieren und sich der natürlichen Ordnung widersetzen. Seiner Meinung nach hat die toxische Linke zu einem moralischen Orientierungsverlust der Gesellschaft geführt. Für einen Mann, der gegen Wissenschaftskritiker vom Leder zieht, befleißigt er sich eines intellektuellen Stils, der seltsam frei von Wissenschaftlichkeit ist: Vergeblich würde man nach Nüchternheit, Ausgewogenheit oder einer sorgfältigen Überprüfung relevanter Fakten suchen. So verzichtet Peterson beispielsweise darauf, sich mit der enormen Menge an empirischen Belegen auseinanderzusetzen, die sich in seinem eigenen Fach (der Psychologie) oder in anderen Fächern angesammelt haben und die die Allgegenwart von Diskriminierung sowie die gewaltigen Auswirkungen von Stereotypen auf das Selbstwertgefühl belegen. Er verweist nie auf anders gelagerte Daten oder Statistiken. Seine Tiraden begnügen sich damit, den Umstand anzuprangern, dass die Universitäten voll von Linken seien, Vertretern einer Linken, die seiner Meinung nach zu weit gegangen und »toxisch« ist. Ebenso wenig fundiert sind seine Behauptungen, dass allen Gesellschaften eine menschliche Hierarchie innewohnt, dass eine solche Hierarchie, also Ungleichheit, eine Eigenschaft von Mutter Natur ist, dass unterdrückte Minderheiten in Wirklichkeit keine Verantwortung für sich übernehmen, dass Mehrheitsbevölkerungen dazu berechtigt sind, die Vorherrschaft ihrer eigenen Kultur zu sichern (der Beweis? China entschuldigt sich nicht dafür, chinesisch zu sein). Zu seinem intellektuellen Stil gehört es, dass er den Gerichtshof der Wissenschaft verachtet, seine Moralpredigten aber als Wissenschaft ausgibt und gleichzeitig die Linke für ihren Mangel an Wissenschaftlichkeit geißelt. Die Belege, die er anführt, um seine Thesen zu stützen, sind nichts weiter als fantasiereiche Charakterisierungen der Natur, die als Tatsachen ausgegeben werden.

Eine Reihe von Elementen macht Peterson zu einem spezifisch trumpistischen Phänomen: Er ist das Megaphon für das männliche Ressentiment. Wie Bolsonaro, Salvini oder die polnische PiS ist Trump die Manifestation eines neuen Kriegs gegen die Frauen, der das Ziel hat, sie an den Herd zurückzubringen, um die männliche Kontrolle über den weiblichen Körper wiederzuerlangen und sich nach den angeblich in die Natur eingeschriebenen Geschlechterungleichheiten zu richten. Wo Trump die Lüge zu einem erfolgreichen politischen Stil gemacht hat, bedient sich Petersons intellektueller Stil der Arglist: Er unterstellt der Linken pauschal Behauptungen, die überhaupt nur sehr wenige machen, und ignoriert ihre zentrale moralische Position, nämlich dass manche Menschen auf der Sonnenseite und manche auf der Schattenseite des Lebens geboren werden und dass erstere letzteren helfen sollten, weil das, was wie »Glück« aussieht, oft nichts anderes ist als ein Privileg. Wie Trump ist Peterson geschickt darin, den (intellektuellen) Konkurrenten in einen Feind zu verwandeln und ihn zu dämonisieren; er verteidigt irgendeinen verlorenen Glanz von Gesellschaft und Wissenschaft; er macht das liberale Mitgefühl zum Gespött und lässt den Spencerschen Glauben des 19. Jahrhunderts wiederaufleben, es gebe keine unverdienten Privilegien – manche Menschen seien von Natur aus zur Führung und andere zur Gefolgschaft geboren. Trump hat aus dem weißen männlichen Ressentiment eine politische Karriere gemacht, Peterson eine Internetkarriere. Wie Michael Dyson und Michelle Goldberg mehrfach aufzeigen, läuft seine Ideologie auf eine Verteidigung der verlorenen Privilegien weißer Männer heraus, die notdürftig in eine bunte Hülle von Evolution und Biologie verpackt ist.

Doch sollte Peterson – wie Trump – nicht pauschal abgetan werden; eben deshalb schreibe ich dieses Vorwort. Man sollte sich in einer verständlichen Sprache mit ihm auseinandersetzen. Geringschätzung und Verachtung – leider zwei häufige Reaktionen der Linken – sind keine verantwortungsvollen Antworten auf Jordan Peterson. Trump und Peterson sind Symptome für die soziale Distanz der Linken zu den Arbeiterklassen und für die echten Aporien, in die sich die Linke hineinmanövriert hat. Wie Trump profitiert auch Peterson von einer gewissen Erschöpfung des Liberalismus, weshalb man beide analysieren muss, auch – und gerade – wenn die Versuchung groß ist, sie einfach abzutun.

Das Argument für politische Korrektheit

Die Linke behauptet schon lange, dass kapitalistische Demokratien zwar auf der Grundannahme beruhen, alle Menschen seien gleich geboren und sollten die gleichen Chancen auf ein gedeihliches Leben bekommen, dass jedoch soziale Hierarchien und Ausgrenzungsmechanismen diese erklärte Gleichheit konterkarieren.

Es gibt eine überwältigende Fülle an soziologischen, psychologischen und ökonomischen Belegen dafür, dass das Geschlecht, die Klasse und die Hautfarbe eines Menschen eine gewaltige Rolle dabei spielen, wie es voraussichtlich um sein Einkommen, seine Bildung, seinen Gesundheitszustand, seine Langlebigkeit und seine eheliche Stabilität bestellt sein wird. Es existieren so viele Untersuchungen, die aufgezeigt haben, wie Wohlstand an die nächste Generation weitergegeben wird, wie soziale Netzwerke dabei helfen, die Investitionen von Menschen zu befördern, wie die Hochkultur dazu beiträgt, andere auszuschließen oder abzuwerten, wie Männlichkeit zu handfesten und immateriellen Vorteilen verhilft, dass die Beweislast nunmehr bei demjenigen liegt, der etwas anderes behauptet. Weil Peterson solche Beweise nicht beibringen kann, verlegt er sich auf die Unterstellung, die liberale Linke verlange eine Gleichheit im Ergebnis. Der überwiegende Teil der herkömmlichen Linken, auf die sich Peterson bezieht, fordert aber keine Einkommensgleichheit, sondern echte Chancengleichheit: gleiche Bildungsressourcen, eine angemessene Besteuerung der Reichen und ererbten Reichtums, die Öffnung der Eliteuniversitäten für alle gesellschaftlichen Gruppen, die Bereitstellung einer soliden Infrastruktur in allen Wohngegenden. In Ermangelung adäquater politischer Strategien für eine faire Umverteilung von Wohlstand und Chancen bildeten Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen, bildete also die positive Diskriminierung die einzige Möglichkeit, der gewaltigen und systematischen Verzerrung der Chancengleichheit entgegenzuwirken.

Ein Großteil von Petersons Argumentation beruht auf einem grundlegenden Fehler, bei dem unterschiedliche Bedeutungen von Wörtern verwechselt und durcheinandergeworfen werden. In seinem Fall sind dies die Begriffe »Individualismus« und »Kollektivismus«, auf denen das Hauptgewicht seiner Vorwürfe ruht. Peterson zeigt sich erschrocken über das, was er »Kollektivismus« nennt – zweifellos ein Echo der Angst und Abscheu vor allem Sowjetischen und Marxistischen aus der Zeit des Kalten Krieges. Doch versteht er unter Kollektivismus auch etwas ganz anderes, nämlich die erkenntnistheoretische Auffassung, dass Menschen Gruppen angehören und von ihnen geprägt werden. Dagegen pocht er auf den Vorrang des Individuums bei der Gestaltung seines eigenen Schicksals und empört sich über die Behauptung, dass Individuen das Produkt ihrer sozialen Klasse, Religion, ihres Geschlechts und ihrer Nationalität sein können. Die beiden Bedeutungen von Individualismus und Kollektivismus – eine epistemische und eine moralische/politische – zu verwechseln ist ein ziemlich grundlegender Kategorienfehler. Es ist eine typische soziologische These, dass Individuen sozialen Gruppen (auf der Ebene von Religion/Nationalität/Gender/Hautfarbe/sozialer Klasse) angehören; in diesem Sinne sind Soziologen erkenntnistheoretische »Kollektivisten«. Doch ist es für Soziologen (und Linksliberale) nicht weniger typisch zu glauben, dass Individuen Würde und volle Rechte zustehen und dass sie einen politischen Vorrang vor Institutionen genießen; in diesem Sinne sind sie moralische Individualisten. Diese begriffliche Unterscheidung zwischen der epistemischen und der moralischen Perspektive auf Individualismus und Kollektivismus muss man im Auge behalten. Peterson aber betet lieber das neoliberale Ethos des »sich selbst aus der Patsche Helfens« nach und wirbt für den Individualismus als eine krasse Spencersche Sozialphilosophie getreu dem Motto: Der Stärkere gewinnt. Er muss damit einen der zentralen epistemischen und moralischen Grundsätze von Soziologie, Philosophie, Anthropologie und Ökonomik leugnen: Institutionen und gesellschaftliche Einrichtungen prägen das Selbst langfristig und tragen erheblich dazu bei, Charakter, Selbstwertgefühl und Selbstachtung zu fördern oder zu untergraben. Praktisch jeder, der einmal ernsthaft über die Bedingungen für das menschliche Wohlergehen nachgedacht hat, ist zu dem Schluss gekommen, dass Institutionen – Familien, Bildungssystem, politisches System, Märkte – in erheblichem Maße bestimmen, wie wir uns zu uns selbst und zur Welt verhalten, welches Gefühl der Kompetenz wir haben, wie wertvoll oder wertlos wir uns fühlen.

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