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Rocket Boys. Roman einer Jugend.

Als Buch hier erhältlich:

Für die einen ist Sputnik nur ein heller Fleck am Himmel. Doch Sonny bedeutet er die Welt. In der tristen Bergarbeiterstadt Coalwood gibt es für ihn nur zwei Möglichkeiten: Entweder er erhält ein Football-Stipendium am College oder er fristet sein Dasein in der Kohlemine seines Vaters. Doch Sonny hat eine Mission: Er will eine Rakete bauen. Gemeinsam mit seinen Freunden wagt er es, seine Zukunft in neue Bahnen zu lenken. Gegen die Angst. Gegen den Willen seines unnahbaren Vaters. Für die Hoffnungen einer ganzen Stadt. "Der Text ist voller Witz, voller Selbstironie, immer erfüllt von Lebensfreude und liebendem Ernst." Die Welt "Wundervoll." The Times "Durch und durch charmant." New York Times


  • Erscheinungstag: 19.08.2019
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673006

Leseprobe

Für Mom und Dad
und die Leute von Coalwood

„Das einzige, was man seinen Kindern wirklich hinterlässt, ist das, was sich in ihren Köpfen befindet. Mit anderen Worten: Erziehung und Ausbildung und nicht irdische Güter sind das höchste Vermächtnis, das einzige, was niemand mehr wegnehmen kann.“

Dr. Wernher von Braun

„Ich habe dir nur ein Buch gegeben. Aber du musst den Mut aufbringen, all das zu lernen, was drinsteht.“

Miss Freida Joy Riley

Vorbemerkung

Die Rocket Boys der Big Creek Missile Agency und ihre Geschichte hat es wirklich gegeben. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass ich mir gewisse schriftstellerische Freiheiten herausgenommen habe. Während es sich bei den Namen der Jungen, meiner Eltern und der meisten Personen in diesem Buch um ihre tatsächlichen Namen handelt, habe ich für einige andere Pseudonyme gewählt und in manchen Fällen sogar zwei oder mehr Personen zu einer Figur verschmelzen lassen, wenn es der besseren Verständlichkeit und Übersichtlichkeit diente. Darüber hinaus habe ich die Geschichte – insbesondere was den genauen Ablauf der Ereignisse betrifft oder die Frage, wer was wann zu wem gesagt hat – aus meiner eigenen Sicht wiedergegeben. Wenn sich die Erzählung also an manchen Stellen von einer detailgenauen Wiedergabe der damaligen Geschehnisse unterscheidet, geschah dies in der Absicht, die zugrunde liegende Wahrheit deutlicher zum Ausdruck zu bringen.

1. Coalwood

Bevor ich anfing, Raketen zu bauen und in die Luft zu schießen, wusste ich nicht, dass man sich in meiner Heimatstadt um die Zukunft der Kinder stritt und dass meine Eltern einen Kampf über die Frage ausfochten, wie mein Bruder und ich einmal leben sollten. Ich ahnte nicht, dass ein gerade eben von einem Mädchen gebrochenes Herz von einem anderen – zumindest im Geiste keuschen – Mädchen noch in derselben Nacht geheilt werden konnte. Und ich hatte überhaupt keine Ahnung davon, dass ein Rückgang der Enthalpie in einem konvergenten Durchlass in kinetische Antriebsenergie transformiert werden kann, wenn man einen weiteren divergenten Durchlass hinzufügt. Die anderen Jungs entdeckten ihre Wahrheiten, während wir unsere Raketen bauten, und ich entdeckte meine.

Die Stadt Coalwood in West Virginia, in der ich aufwuchs, war einzig und allein zu dem Zweck errichtet worden, die Millionen Tonnen fetter Steinkohle tief unter ihr abzubauen. 1957, als ich vierzehn war und an meinen ersten Raketen bastelte, lebten hier etwa zweitausend Menschen. Mein Vater, Homer Hickam, war der Zechenleiter, und unser Haus lag nur wenige hundert Meter vom Grubeneingang entfernt, einem siebenhundert Meter tiefen senkrechten Schacht. Von meinem Schlafzimmerfenster aus konnte ich den schwarzen Stahlturm sehen, der über dem Schacht stand, und das Kommen und Gehen der Männer beobachten, die ein- und ausfuhren.

Eisenbahnschienen führten zu einem weiteren Schacht, der zum Abtransport der Kohle diente. Die Konstruktion, mit der die Kohle an die Erdoberfläche gebracht, sortiert und verladen wurde, hieß „der Kipper“. Von Montag bis Freitag, und in guten Zeiten sogar samstags, konnte ich die schwarzen Kohlenwaggons beobachten, die unter den Kipper rollten, um ihre gewaltige Ladung aufzunehmen. Anschließend zogen rauchspuckende Lokomotiven sie mühsam weg. Den ganzen Tag über donnerte das schwere Stampfen ihrer Dampfkolben durch unser enges Tal, und wenn die langen Züge Fahrt aufnahmen, erzitterte die Stadt unter dem Crescendo ihres knirschenden Stahls. Aus den offenen Waggons stiegen Wolken von Kohlenstaub auf, der überall eindrang, durch Fensterritzen sickerte und unter Türen hindurchkroch. Meine ganze Kindheit über war es das gleiche Bild: Wenn ich morgens meine Bettdecke anhob, konnte ich beobachten, wie ein schwarzes, glitzerndes Pulver von ihr herabrieselte. Und wenn ich abends meine Schuhe auszog, waren meine Socken immer schwarz vor Kohlenstaub.

Wie jedes Haus in Coalwood gehörte auch unseres der Gesellschaft; sie verlangte eine niedrige Monatsmiete, die automatisch vom Lohn der Arbeiter abgezogen wurde. Einige Häuser waren winzig; sie hatten nur ein Stockwerk und ein oder zwei Schlafzimmer. Es gab aber auch große, zweigeschossige Zweifamilienhäuser, die man in den blühenden zwanziger Jahren als Wohnheime für alleinstehende Bergleute gebaut hatte und die später, während der Depression, in Einfamilienwohnungen aufgeteilt wurden. Alle fünf Jahre ließ die Gesellschaft unsere Häuser im firmenüblichen Weiß streichen, das der umherwehende Kohlenstaub unmittelbar danach wieder grau färbte. So fühlte sich jede Familie – für gewöhnlich im Frühjahr – verpflichtet, ihr Haus von außen mit Hilfe von Schlauch und Bürsten abzuschrubben.

Zu jedem Haus in Coalwood gehörte ein abgezäuntes viereckiges Stück Garten. Meine Mutter, die ein größeres Stück ihr Eigen nannte als die meisten anderen, legte einen Rosengarten an. Sie schleppte auf ihren Schultern säckeweise Erde aus den Bergen heran, düngte, goss und beschnitt jeden Rosenbusch mit äußerster Sorgfalt. Im Frühling und Sommer wurde sie dafür mit Büschen voller großer, blutroter Blüten und zart rosafarbenen oder gelben Knospen belohnt – trotzige Farbflecken inmitten des dichten Grüns der großen Wälder, die unsere Stadt umgaben, und des düsteren Schwarz und Grau der Zeche weiter die Straße hinauf.

Unser Haus stand an einer Ecke, an der die Bundesstraße nach Osten in Richtung Zeche abbog. In entgegengesetzter Richtung führte eine von der Gesellschaft gepflasterte Straße ins Zentrum der Stadt. Die Main Street, wie wir sie nannten, verlief durch ein Tal, das an manchen Stellen so eng war, dass ein Junge mit etwas Geschick einen Stein von einer Talseite zur anderen werfen konnte. In den drei Jahren, bevor ich zur Highschool ging, stieg ich jeden Morgen auf mein Fahrrad, hängte mir eine große weiße Baumwolltasche über die Schulter und lieferte im ganzen Tal den ‚Bluefield Daily‘ aus. Ich strampelte an der Schule von Coalwood vorbei und an den Häusern, die in Reihen an einem kleinen Bach standen und sich bis an die Hänge der auf beiden Seiten des Tals aufragenden Berge erstreckten. Eineinhalb Kilometer die Main Street hinunter öffneten sich die Berge zu einer großen Talsenke, die sich am Zusammenfluss zweier Bäche gebildet hatte. Dort standen die Büros der Gesellschaft, die von der Gesellschaft gebaute Kirche, ein gesellschaftseigenes Hotel namens Club House, das Postamt, in dessen Gebäude zugleich der Arzt und der Zahnarzt der Gesellschaft ihre Praxis hatten, und der Laden der Gesellschaft, den alle nur Big Store nannten. Auf einem Hügel mit Blick über die Stadt thronte ein mit Türmchen verziertes Herrenhaus, in dem der Bergwerksdirektor der Gesellschaft wohnte – ein Mann, den unsere Eigentümer aus Ohio hierher geschickt hatten, um ein Auge auf ihre Vermögenswerte zu werfen. Die Main Street führte weiter nach Westen, zwischen zwei Bergen hindurch zu zwei Ansammlungen von Bergarbeiterhäusern, die wir Middletown und Frog Level nannten. Zwei Abzweigungen führten durch Bergsenken hinauf zu den „farbigen“ Siedlungen von Mudhole und Snakeroot. Dort endete das Pflaster, und eine zerfurchte, unbefestigte Straße begann.

Am Eingang nach Mudhole stand eine winzige hölzerne Kirche, der Reverend „Little“ Richard vorstand; den Spitznamen „Little“ hatte er wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Soulsänger bekommen. Niemand oben in Mudhole hatte die Zeitung abonniert, aber immer wenn ich ein Exemplar übrig hatte, legte ich es vor die kleine Kirche, und im Laufe der Jahre wurden Reverend Richard und ich Freunde. Ich liebte es, wenn er sich einen Augenblick Zeit nahm, auf die Kirchenveranda hinaustrat und mir schnell eine Geschichte aus der Bibel erzählte, während ich auf meinem Fahrrad hockte und zuhörte, fasziniert von seiner sonoren Stimme. Ganz besonders bewunderte ich seine Schilderung von Daniel in der Löwengrube. Wenn er mir mit hervorquellenden Augen das Erstaunen vorspielte, das Daniels Wärter ergriff, als sie nach unten blickten und sahen, wie ihr Gefangener sich in der Grube rekelte und den Arm um den Kopf eines riesigen Löwen gelegt hatte, lachte ich zustimmend. „Dieser Daniel, der kannte den Herrn“, fasste der Reverend mit einem leisen Glucksen zusammen, während ich immer noch kicherte. „Und das machte ihn so tapfer. Wie steht’s mit dir, Sonny? Kennst du den Herrn?“

Ich musste zugeben, dass ich mir da nicht so sicher war, aber der Reverend meinte, das ginge schon in Ordnung. „Gott hat ein Auge auf die Trinker und die Narren“, sagte er mit einem breiten Grinsen, das seine goldenen Vorderzähne zum Vorschein kommen ließ, „und ich schätze, er wird auch auf dich aufpassen, Sonny Hickam.“ Wann immer ich in späteren Jahren in Schwierigkeiten war, habe ich an Reverend Richard und seinen Glauben an Gottes Sinn für Humor und Seine Vorliebe für Taugenichtse gedacht. Es machte mich zwar nicht so tapfer wie den guten alten Daniel, aber zumindest gab es mir ein bisschen Hoffnung, dass Er mich gerade noch einmal durchkommen lassen würde.

Die Kirche der Gesellschaft, die die meisten weißen Bewohner unserer Stadt besuchten, stand auf einem kleinen, grasbewachsenen Hügel. Gegen Ende der fünfziger Jahre wurde ihr als neuer Pfarrer Reverend Josiah Lanier zugewiesen, ein Angestellter der Gesellschaft, der sich als Methodist entpuppte. Unsere Konfession passte sich automatisch dem Glauben an, dem der von der Gesellschaft beschäftigte Prediger anhing: Bevor wir Methodisten wurden, erinnere ich mich daran, eine Zeit lang Baptist gewesen zu sein und, für ein Jahr, ein Anhänger der Pfingstbewegung. Der Pentekostal-Prediger schleuderte Feuer und Schwefel und Warnungen vor dem Tod von seiner Kanzel herab und versetzte die Frauen in Angst und Schrecken. Als sein Vertrag auslief, bekamen wir Reverend Lanier.

Ich war stolz darauf, in Coalwood zu leben. Laut den Geschichtsbüchern von West Virginia hatte noch nie jemand in den Tälern und auf den Hügeln des McDowell County gelebt, bevor wir kamen, um nach Kohle zu graben. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatten zwar gelegentlich einige Cherokee-Stämme in diesem Gebiet gejagt, doch erschien ihnen das Gelände zu zerklüftet und wenig anziehend. Als ich acht Jahre alt war, entdeckte ich auf dem Berg hinter unserem Haus eine steinerne Pfeilspitze, eingebettet in den Stumpf einer alten Eiche. Meine Mutter sagte, dass ein Hirsch vor vielen Jahren großes Glück gehabt haben musste. Ich war so begeistert von meinem Fund, dass ich einen Indianerstamm erfand, die Coalhikaner, und meine Spielkameraden – Roy Lee, O’Dell, Tony und Sherman – davon überzeugte, dass er wirklich existiert hatte. Zu fünft malten wir auf unsere Gesichter Streifen aus Beerensaft und steckten uns Hühnerfedern ins Haar. Tagelang bildete unser kleiner Stamm von Wilden Angriffstrupps und beging Massaker in ganz Coalwood. Wir umzingelten das Club House und schossen mit unseren Bögen aus Birkenzweigen und unsichtbaren Pfeilen die alleinstehenden Bergleute ab, die von der Arbeit zurückkehrten. Die meisten ließen uns gewähren, und manche fielen sogar um und litten überzeugend auf dem riesigen, sorgfältig gepflegten Rasen vor dem Club House. Als wir am Tor vor dem Kipper aus dem Hinterhalt angriffen, kamen auch die zur Schicht gehenden Bergleute richtig in Fahrt, stießen Kriegsgeschrei aus und erwiderten das imaginäre Feuer. Mein Vater, der das Ganze von seinem Büro am Kipper aus beobachtete, musste die Ordnung wiederherstellen. Obwohl die Coalhikaner sich in die Hügel retten konnten, wurde ihr Häuptling am selben Abend während des Essens daran erinnert, dass die Zeche zum Arbeiten und nicht zum Spielen da war.

Als wir einige der älteren Jungen – darunter auch mein Bruder Jim – aus dem Hinterhalt überfielen, während sie oben in den Bergen gerade Cowboys spielten, brach ein großer Scheinkrieg aus, bis Tony, der der besseren Sicht wegen in einem Baum hockte, auf einen morschen Ast trat, herunterfiel und sich den Arm brach. Ich organisierte den Bau einer Trage aus Ästen, und wir beförderten den großen Krieger nach Hause. Der Arzt der Gesellschaft, „Doc“ Lassiter, fuhr in seinem alten Packard vor Tonys Haus vor und kam herein. Als er sah, dass wir immer noch unseren Federschmuck und unsere Kriegsbemalung trugen, sagte Doc, er sei „Mächtig Großer Medizinmann“. Dann richtete er Tonys Arm und legte ihn in Gips. Ich weiß noch, was ich darauf schrieb: Tony – nimm beim nächsten Mal einen besseren Ast. Im selben Jahr starb Tonys Vater, ein italienischer Einwanderer, bei einem Grubenunglück. Daraufhin gingen er und seine Mutter weg, und wir hörten nie wieder etwas von ihnen. Das Ganze erschien mir völlig logisch: Zu einer richtigen Coalwood-Familie gehörte ein Vater, der für die Gesellschaft arbeitete. Die Gesellschaft und Coalwood waren ein und dasselbe.

Fast alles, was ich über die Geschichte von Coalwood und die ersten Jahre meiner Eltern zu hören bekam, erfuhr ich am Küchentisch, nachdem das Abendbrot abgeräumt war. Dann machte Mom sich eine Tasse Kaffee, Dad nahm sich ein Glas Milch, und wenn sie nicht über irgendeine Angelegenheit stritten, redeten sie über die Stadt und die Leute, die hier wohnten, über das Neueste von der Zeche und was beim letzten Treffen des Frauenvereins gesagt worden war. Manchmal erzählten sie auch kleine Geschichten darüber, wie es früher einmal gewesen war. Mein Bruder Jim langweilte sich meistens und fragte, ob er aufstehen dürfe, aber ich war fasziniert von ihren Erzählungen und blieb am Tisch sitzen.

George L. Carter, der Gründer von Coalwood, kam im Jahre 1887 auf dem Rücken eines Maultiers in diese Gegend. Er fand nichts als Wildnis und, nachdem er ein wenig gegraben hatte, eines der ergiebigsten Steinkohlevorkommen der Welt. Daraufhin versuchte Mr. Carter sein Glück, kaufte das Land den Eigentümern ab, die nicht auf ihrem Grundbesitz lebten, und begann mit dem Bau einer Zeche. Außerdem errichtete er Häuser, Schulgebäude, Kirchen, einen Laden, eine Bäckerei und einen Eiskeller. Dann stellte er einen Arzt und einen Zahnarzt ein, die die Bergarbeiter und ihre Familien unentgeltlich behandeln sollten. Während die Jahre vergingen und seine Kohlengesellschaft florierte, ließ Mr. Carter Bürgersteige aus Beton gießen, die Straßen pflastern und die Stadt einzäunen, damit die Kühe nicht mehr überall frei umherlaufen konnten. Mr. Carter wollte, dass seine Bergleute einen anständigen Ort zum Leben hatten. Aber im Gegenzug verlangte er anständige Arbeit. Schließlich war Coalwood vor allem ein Ort, an dem gearbeitet wurde – eine harte, schmerzhafte, schmutzige und manchmal tödliche Arbeit.

Als Mr. Carters Sohn aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, brachte er seinen ehemaligen Kommandanten mit, einen Stanford-Absolventen mit großen technischen Fähigkeiten und hohem sozialem Engagement namens William Laird, den sämtliche Einwohner der Stadt voller Respekt und Ehrerbietung nur den Captain nannten. Der Captain, ein großer, ausladender Mann von fast zwei Metern Größe, betrachtete Coalwood als Versuchsterrain für seine Ideen, als einen Ort, wo die Gesellschaft den Bewohnern Frieden, Wohlstand und Ruhe schenken konnte. Von dem Augenblick an, als Mr. Carter ihn einstellte und ihm die Leitung des Betriebs übergab, führte der Captain die modernsten Errungenschaften der Bergwerkstechnik ein. Er ließ Wetterschächte zur Belüftung abteufen und die Maultiere, die bis dahin die Kohle aus der Grube geschleppt hatten, so schnell wie möglich durch Elektrokarren ersetzen. Später setzte der Captain dem Abbau von Hand ein Ende und führte riesige Maschinen ein, sogenannte Fräslader, die die Kohle aus dem Flöz rissen. Außerdem erweiterte er Mr. Carters Bauprogramm und stellte jedem Bergmann in Coalwood ein Haus mit sanitären Anlagen, einem Dauerbrandofen im Wohnzimmer und einer Kohlenkiste zur Verfügung, die die Gesellschaft immer gut gefüllt hielt. Für die Wasserversorgung der Stadt ließ er ein uraltes, unberührtes Wasserreservoir anzapfen, das etwa dreihundert Meter unter der Erde lag. Er legte an beiden Enden der Stadt Parks an, gründete Pfadfindervereinigungen (für Jungen und Mädchen unterschiedlicher Altersgruppen) und den Frauenverein. Er vergrößerte die Schulbücherei und ließ einen Schulhof und ein Footballfeld bauen. Da die Berge den Empfang beeinträchtigten, errichtete er 1954 eine Antenne auf einem hohen Bergkamm und verlegte als kostenloses Angebot für die Mitarbeiter eines der ersten Kabelfernsehsysteme in den Vereinigten Staaten.

Obwohl nicht alles perfekt war und es wegen der Löhne immer wieder zu Spannungen zwischen der Gesellschaft und den Bergarbeitern kam, blieben Coalwood, zumindest eine Zeit lang, die Gewalt, die Armut und das Leid anderer Städte im Süden West Virginias erspart. Ich erinnere mich, wie ich im Dunkeln auf der Treppe hockte und dem Vater meines Vaters – ich nannte ihn Poppy – zuhörte, der mit Dad in unserem Wohnzimmer über das „blutige Mingo“ sprach, einen Bezirk, der ein Stück die Straße hinauf begann. Poppy hatte eine Weile dort gearbeitet, bis ein Krieg zwischen den gewerkschaftlich organisierten Bergleuten und den „Detektiven“ der Gesellschaft ausbrach. In regelrechten Feldschlachten mit Maschinengewehren, Pistolen und Flinten waren Dutzende von Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. Um der Gewalt zu entkommen, zog Poppy mit seiner Familie zunächst nach Harlan County in Kentucky und später, als dort die Unruhen ausbrachen, ins McDowell County, wo er auf der Zeche in Gary arbeitete. Es war ein Fortschritt, aber auch in Gary kam es immer wieder zu Streiks und Aussperrungen, und gelegentlich gab es blutige Köpfe.

1934, im Alter von 22 Jahren, bewarb sich mein Vater bei Mr. Carters Gesellschaft als einfacher Bergmann um Arbeit. Er war nach Coalwood gekommen, weil er gehört hatte, dass ein Mann sich hier selbst etwas aufbauen konnte. Der Captain schien von Anfang an irgendetwas in diesem hageren, hungrigen Kerl aus Gary zu sehen – einen Funken roher Intelligenz vielleicht – und nahm ihn unter seine Fittiche. Nach einigen Jahren beförderte er Dad zum Steiger, brachte ihm bei, wie man Männer führt, eine Grube betreibt und belüftet und erfüllte ihn mit seiner Vision der Stadt.

Nachdem Dad Steiger geworden war, überredete er seinen Vater, die Zeche von Gary zu verlassen und nach Coalwood zu ziehen, wo es keine Gewerkschaft gab und ein Mann arbeiten konnte. Außerdem schrieb er einen Brief an Elsie Lavender, die auf der Highschool in Gary mit ihm in einer Klasse gewesen und ganz allein nach Florida gegangen war, und bat sie, nach West Virginia zurückzukommen und ihn zu heiraten. Sie lehnte ab. An diesem Punkt der Geschichte übernahm stets Mom und sagte, dass der nächste Brief, den sie erhielt, vom Captain kam, der ihr schrieb, wie sehr Dad sie liebte und brauchte. Könnte sie nicht aufhören, da unten stur unter den Palmen zu hocken, und stattdessen nach Coalwood kommen und den Jungen heiraten? Sie ließ sich zu einem Besuch in Coalwood überreden, und als Dad sie eines Abends im Kino von Welch noch einmal bat, seine Frau zu werden, antwortete sie, dass sie ihn heiraten würde, wenn er ein Einpackpapier von Brown-Mule-Kautabak bei sich hätte. Er holte eins aus der Tasche, und sie sagte ja. Es war eine Entscheidung, die sie, glaube ich, oft bereute, aber dennoch nie rückgängig gemacht hätte.

Poppy arbeitete so lange auf der Zeche von Coalwood, bis 1943 ein Förderwagen aus dem Gleis geriet und ihm beide Beine von der Hüfte an abtrennte. Er verbrachte den Rest seines Lebens im Rollstuhl. Meine Mutter sagte, dass Poppy nach dem Unglück ständig Schmerzen hatte. Um sich davon abzulenken, las er fast jedes Buch der Bezirksbücherei. Wenn Mom und Dad ihn besuchten, waren – wie Mom berichtete – Poppys Schmerzen oft so stark, dass er kaum sprechen konnte, und Dad quälte sich deswegen noch Tage danach. Schließlich verschrieb ein Arzt ein schmerzstillendes Mittel, und solange er genügend Vorrat hatte, fand Poppy etwas Frieden. Dad sorgte dafür, dass Poppy alle schmerzstillenden Mittel bekam, die er brauchte. Mutter erzählte, dass Poppy nie wieder ein Buch angerührt hatte, seit er diese Mittel nahm.

Da er sich dem Captain und der Gesellschaft so verschrieben hatte, sah ich meinen Vater während meiner Kindheit nur selten. Er war immer auf der Zeche oder schlief, bevor er zur Zeche musste, oder ruhte sich aus, wenn er von der Zeche kam. Als ich sieben Jahre alt war, erkrankte er an Dickdarmkrebs und fiel wegen innerer Blutungen auf der Zeche in Ohnmacht. Die Ärzte schnitten ein langes Stück seiner Eingeweide heraus, und knapp einen Monat später ging er wieder zur Arbeit.

Aber es gab zumindest einige wenige Momente, die wir alle zusammen verbrachten. Als ich klein war, gehörten die Samstagabende der Familie, und wir begaben uns gemeinsam auf die Reise nach Welch, der Hauptstadt des Bezirks, die elf Kilometer und einen Bergzug von Coalwood entfernt lag. Welch war eine geschäftige kleine Handelsstadt am Tug Fork River, und in ihrem Auf und Ab von Straßen drängten sich ganze Trauben von Bergarbeitern und deren Familien, die zum Einkaufen hierher kamen. Frauen, die Kinder auf dem Arm hielten oder an der Hand hinter sich herzogen, gingen von Geschäft zu Geschäft, während ihre Männer, häufig noch im Arbeitsanzug und mit dem Helm auf dem Kopf, hinter ihnen zurückblieben, um mit ihren Arbeitskollegen über die Zeche und Highschool-Football zu reden. Während Mom und Dad ihre Einkäufe erledigten, wurden Jim und ich im Pocahontas Theater abgeliefert, wo wir uns zusammen mit Hunderten anderer Bergmannskinder Cowboyfilme oder Abenteuerserien ansahen. Jim sprach nie mit einem der anderen Kinder, aber ich versuchte immer herauszufinden, woher der Junge oder das Mädchen kam, die neben mir saßen. Ich empfand es als besonders aufregend, wenn ich jemand aus einem so exotischen Ort wie Keystone oder Iaeger traf, Bergbaustädte, die auf der anderen Seite des Bezirks lagen. Im Kino sahen wir immer eine Folge einer Serie und eine Doppelvorstellung; anschließend holten uns unsere Eltern ab, und wir liefen durch Welch, um Mutters Einkäufe einzusammeln. Danach war ich jedes Mal völlig erschöpft. Meistens schlief ich auf dem Heimweg auf dem Rücksitz unseres Autos tief und fest ein. Wenn wir in Coalwood ankamen, lud Dad mich über seine Schulter und brachte mich ins Bett. Manchmal stellte ich mich aber auch nur schlafend, allein um seine Berührung zu spüren.

Die Schichtwechsel waren in Coalwood die wichtigsten Ereignisse des Tages. Vor jeder Schicht traten die Bergleute, die zur Arbeit mussten, aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg in Richtung Kipper. Diejenigen, die von der Schicht kamen, schwarz vor Kohlenstaub und Schweiß, bildeten eine zweite Gruppe, die in die entgegengesetzte Richtung ging. Von Montag bis Freitag formierten sich diese Gruppen und trafen sich an Kreuzungspunkten, bis Hunderte von Bergleuten unsere Straßen füllten. Mit ihren Overalls und Helmen erinnerten sie mich an die Wochenschaubilder, die ich gesehen hatte: Soldaten, die sich mühsam zur Front schleppten.

Wie jeder andere in Coalwood lebte auch ich in dem Rhythmus, der durch die Schichten vorgegeben wurde. Morgens erwachte ich vom Trampeln der Füße und dem Scheppern der Henkelmänner, wenn die Frühschicht zur Arbeit ging, ich aß zu Mittag, wenn Dad die Mittagsschicht hatte einfahren lassen, ich ging ins Bett beim Klang eines Hammers auf Stahl und hörte während der Nachtschicht das trockene Zischen des Elektroschweißers vor der kleinen Reparaturwerkstatt am Kipper. Als wir Jungs noch in die Grundschule gingen, hatten wir manchmal keine Lust, in den Bergen zu spielen oder Jägerball an der alten Tankstelle oder Kinder-Baseball auf der winzigen Lichtung hinter unserem Haus, und dann gaben wir vor, selbst Bergarbeiter zu sein und begleiteten die Männer auf ihrem Marsch zum Kipper. Wir standen etwas abseits und sahen ihnen zu, wie sie ihre Grubenlampen umschnallten und ihr Werkzeug aufsammelten. Dann schlug eine Glocke – das Signal, in den Käfig zu steigen. Wenn die Erde sie verschluckt hatte, herrschte plötzlich eine unheimliche Stille. Es war ein beunruhigender Moment, und wir Jungen waren immer froh, zu unseren Spielen zurückkehren zu können, wo wir dann ein wenig lauter als nötig schrien und rauften, um den Bann zu brechen, mit dem der Kipper uns belegt hatte.

Coalwood war umgeben von Wäldern und Bergen, in denen es Unmengen von Höhlen gab und Felsen und Gasquellen und Feuertürme und stillgelegte Gruben, die nur darauf warteten, von mir und den Jungen und Mädchen, mit denen ich aufwuchs, entdeckt oder wiederentdeckt zu werden. Obwohl unsere Mütter es verboten, spielten wir auch an den Eisenbahnschienen. In regelmäßigen Abständen kam einer von uns auf die Idee, einen Penny auf die Schienen zu legen und von den Kohlenwaggons überfahren zu lassen, sodass eine große, flache Medaille entstand. Dann machten wir es ihm alle nach, bis wir unseren spärlichen Vorrat aufgebraucht hatten. Fast platzend vor unterdrücktem Lachen, gingen wir anschließend zum Big Store, legten die zerquetschten Kupferstücke auf die Theke und verlangten Süßigkeiten dafür. Der Verkäufer, der das im Lauf der Jahre schon viele Male gesehen haben musste, akzeptierte unser Zahlungsmittel meistens ohne jeden Kommentar. Wahrscheinlich gab es irgendwo im Büro des Ladens einen ganzen Haufen flacher Pennies, die sich über die Jahrzehnte angesammelt hatten.

Wenn man wirklich anständig Lärm machen wollte, gab es nichts Besseres, als sich auf die Brücke vor der Coalwood-Schule zu stellen und Limonadenflaschen in die leeren Kohlenwaggons zu werfen, die in Richtung Kipper rollten. Wenn die Waggons voll waren und unter der Brücke anhielten, sprangen einige der mutigeren Jungen sogar hinunter, wobei sie bis zur Hüfte in der lockeren Kohle versanken. Ich versuchte es auch einmal und kam nur ganz knapp davon, weil der Zug plötzlich anfuhr, in Richtung Ohio. Ich watete durch die Kohle, kletterte die Leiter außen am Waggon herunter und sprang um mein Leben, wobei ich meine Hände, Knie und Ellbogen auf den Kohlenhaufen neben den Schienen aufschürfte. Meine Mutter zeigte kein Mitleid und schrubbte mir den Kohlenstaub mit einer groben Bürste und einem Bimsstein vom Körper. Noch eine Woche danach fühlte sich meine Haut wund an.

Wenn ich nicht gerade draußen spielte, verbrachte ich viele vergnügte Stunden mit Lesen. Ich las für mein Leben gern – wahrscheinlich das Resultat der einzigartigen Erziehung durch die Lehrerinnen der Coalwood-Schule. Sie waren bekannt als „die Großen Sechs“, in Anspielung auf den Ausdruck „Klasse eins bis sechs“. Jahrelang sahen dieselben sechs Lehrerinnen Generationen von Coalwood-Schülern ihre Klassen durchlaufen. Obwohl Mr. Likens, der Leiter der Coalwood-Schule, die Junior Highschool mit fester Hand regierte, herrschten die Großen Sechs eindeutig über die Klassen darunter. Ihnen schien sehr viel daran zu liegen, dass ich las. Schon in der zweiten Klasse war ich mit ‚Tom Sawyer‘ und ‚Onkel Tom’s Hütte‘ gründlich vertraut und in der Lage, einigermaßen detailliert darüber Auskunft zu geben. ‚Huckleberry Finn‘ sparten sie mir für die dritte Klasse auf; sie hielten das Buch quälend lange zurück, als ob es die großen Geheimnisse des Lebens enthielt. Als man mir schließlich erlaubte, es zu lesen, wusste ich bereits sehr gut, dass es sich hier nicht um die simple Geschichte einer Floßfahrt handelte, sondern um die unsterbliche amerikanische Geschichte an sich, mit all ihrem Ruhm und ihrer Schande.

In der Eingangshalle der Grundschule standen Bücherregale mit vollständigen Ausgaben von ‚Tom Swift‘, ‚The Bobbsey Twins‘, ‚The Hardy Boys‘ und ‚Nancy Drew‘, die für jeden Schüler zugänglich waren. Ich verschlang sie und genoss das Gefühl von Abenteuer, das sie mir schenkten. Als ich in die vierte Klasse kam, ging ich zum ersten Mal nach oben in die Bücherei der Junior Highschool, um mir die ‚Black Stallion‘-Reihe anzusehen. Dort entdeckte ich auch Jules Verne. Ich liebte seine Bücher, weil sie nicht nur von großen Abenteuern, sondern zugleich von Wissenschaftlern und Ingenieuren handelten, für die das Aneignen von Wissen zu den größten Zielen der Menschheit gehörte. Nachdem ich alles von Verne in der Bibliothek gelesen hatte, interessierte ich mich für jedes Buch von modernen Science-Fiction-Autoren wie Heinlein, Asimov, van Vogt, Clarke oder Bradbury, das die Bücherei anschaffte. Ich mochte sie alle, solange sie nicht ins Reich der Fantasy abschweiften. Ich machte mir nichts aus Helden, die Gedanken lesen, durch Wände gehen oder zaubern konnten. Meine Helden hatten Mut und wussten einfach mehr über wirklich existierende Dinge als ihre Gegenspieler. Als die Großen Sechs meine Ausleihzettel studierten und ein deutliches Übergewicht in Richtung Abenteuer und Science-Fiction feststellten, verschrieben sie mir eine angemessene Dosis Steinbeck, Faulkner und F. Scott Fitzgerald. Im Nachhinein erscheint es mir, als hätte ich während meiner gesamten Grundschulzeit immer zwei Bücher gleichzeitig gelesen – eins für mich und eins für meine Lehrer.

Aber trotz allen Wissens und Vergnügens, das sie mir schenkten, vermittelten mir die Bücher meiner Kindheit keinerlei Vorstellung von dem, was später, in der Zeit „nach Coalwood“, aus mir werden könnte. Fast alle Jungen, die ich kannte und die in dieser Stadt aufgewachsen waren, gingen entweder zur Armee oder zur Arbeit auf die Zeche. Ich hatte keine Ahnung, was die Zukunft für mich bereithielt. Das einzige, was ich sicher wusste, war, dass meine Mutter mich nicht auf der Zeche sehen wollte. Einmal, nachdem Vater ihr seine Lohntüte zugeworfen hatte, hörte ich, wie sie zu ihm sagte: „Was du auch verdienst, Homer, es wird nie genug sein.“

Er antwortete: „Aber für das Dach über dem Kopf ist es gut genug.“

Sie blickte auf den Scheck, faltete ihn und steckte ihn in die Tasche ihrer Schürze. „Wenn du aufhören würdest, in diesem Loch zu arbeiten“, sagte sie, „könnte ich unter einem Baum leben.“

Nachdem Mr. Carter alles verkauft hatte, wurde die Gesellschaft in Olga Coal Company umbenannt. Mom nannte sie immer „Miss Olga“. Wenn irgendjemand sie fragte, wo Dad sei, antwortete sie: „Bei Miss Olga.“ Bei ihr klang es so, als ob sie seine Geliebte sei.

Moms Familie teilte ihre Abneigung gegen den Bergbau nicht. Alle ihre Brüder – Robert, Ken, Charlie und Joe – waren Bergleute geworden, und ihre Schwester Mary hatte einen Bergmann geheiratet. Auch die beiden Brüder meines Vaters arbeiteten unter Tage, trotz des schrecklichen Unfalls ihres Vaters; Clarence arbeitete auf der Zeche von Caretta, die auf der anderen Seite der Berge lag, und Emmett zog im ganzen Bezirk von Grube zu Grube. Dads Schwester Bennie hatte einen Bergmann aus Coalwood geheiratet und lebte mit ihm weiter unten im Tal, auf der anderen Seite des Bachs in der Nähe der großen Maschinenhalle. Aber selbst die Tatsache, dass ihre gesamte Familie und die Familie meines Vaters Bergleute waren, beeindruckte meine Mutter nicht. Sie hatte ihre eigene Meinung, die vielleicht ihrer unabhängigen Natur entsprang oder ihrer Fähigkeit, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich waren und nicht, wie die Leute, darunter auch sie selbst, sie gerne sehen würden.

Fast jeden Morgen, bevor sie ihren rituellen Kampf gegen den Staub aufnahm, konnte man meine Mutter mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch vor einem unvollendeten Wandgemälde mit einer Küstenlandschaft finden. Sie arbeitete an dem Bild, seit Dad die Leitung der Zeche übernommen hatte und wir in das Haus des Captains gezogen waren. Im Herbst 1957 hatte sie den Sand und die Muscheln und den größten Teil des Himmels sowie einige Seemöwen fertig gemalt. Außerdem konnte man die Andeutung einer Palme erkennen. Es schien, als ob sie sich eine andere Wirklichkeit herbeimalte. Von ihrem Platz am Tisch aus konnte sie durch das große Panoramafenster, das die Tischler der Gesellschaft für sie angefertigt hatten, die Rosen und die Futternäpfe für die Vögel überblicken und ihren Gedanken freien Lauf lassen. Das Fenster war nach ihren Vorgaben so ausgerichtet worden, dass man keine Spur von der Zeche sah.

Ich wusste schon als kleines Kind, dass meine Mutter anders war als fast alle anderen in Coalwood. Ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein, als wir Poppy in seinem kleinen Haus oben in Warriormine Hollow besuchten und er mich auf den Schoß nahm. Das machte mir Angst, denn er hatte keinen Schoß mehr, nur ein leeres, zerknittertes Tuch, wo seine Beine hätten sein sollen. Während ich gegen seine dicken Arme ankämpfte, schwebte Mom nervös näher. „Er ist genau wie Homer“, lispelte der zahnlose Poppy in Richtung meiner Mutter, während ich mich drehte und wand. Dann rief er meinem Dad auf der anderen Seite des Zimmers zu: „Homer, er ist genau wie du!“

Mutter löste mich ängstlich aus Poppys Armen, und ich klammerte mich an ihrer Schulter fest, während mein Herz vor namenloser Angst wie wild schlug. Sie trug mich hinaus auf die Veranda, strich mir über das Haar und beruhigte mich. „Nein, das bist du nicht“, summte sie gerade so laut, dass nur sie und ich es hören konnten. „Nein, das bist du nicht.“

Dad stieß die Fliegentür auf und stürmte auf die Veranda, als ob er mit ihr streiten wollte. Mom drehte sich weg von ihm, und ich sah, wie seine Augen – normalerweise ein leuchtendes, kühles Blau – sich in flüssige Farbkleckse verwandelten. Ich drückte mein Gesicht an ihren Hals, und Mom hielt mich fest, wiegte mich hin und her und sang die ganze Zeit ihr leises, eindringliches Lied: Nein, das bist du nicht. Nein, das bist du nicht. In all den Jahren meiner Jugendzeit hörte sie nie auf, dieses Lied zu singen, auf die eine oder andere Art. Den Grund dafür verstand ich erst, als ich auf der Highschool war und meine Raketen zu bauen begann.

2. Sputnik

Ich war elf Jahre alt, als der Captain in den Ruhestand ging und mein Vater seinen Posten übernahm. Das Haus des Captains, ein großer, scheunenartiger Fachwerkbau, der von allen Häusern in Coalwood dem Kipper am nächsten lag, wurde unser neues Zuhause. Ich freute mich über den Umzug, weil ich mir zum ersten Mal in meinem Leben kein Zimmer mit Jimmy teilen musste, der nie den Anschein erweckt hatte, mich zu mögen oder mich gern um sich zu haben. Solange ich denken kann, war völlig klar, dass mein Bruder mich für die ständigen Spannungen verantwortlich machte, die zwischen unseren Eltern zu bestehen schienen. Vielleicht steckte in diesem Vorwurf tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Mom erzählte mir einmal, dass Dad sich eine Tochter gewünscht hatte – und als ich zur Welt kam, habe er seine Enttäuschung so deutlich geäußert, dass sie es ihm heimzahlte, indem sie mich nach ihm benannte: Homer Hadley Hickam junior. Ob dieser Vorfall auch der Auslöser für all ihre späteren Streitigkeiten war, konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur, dass ihre Unzufriedenheit mich mit einem Namen geschlagen hatte, der schwer auf mir lastete. Glücklicherweise rief Mom mich von Anfang an „Sunny“, weil ich, wie sie sagte, ein glückliches Kind war. Alle anderen übernahmen den Namen, bis meine Lehrerin in der ersten Klasse die Schreibweise in das etwas männlichere „Sonny“ änderte.

Mr. McDuff, der Bergwerkszimmermann, baute mir einen Tisch und einige Bücherregale für mein neues Zimmer, und ich füllte sie mit Science-Fiction-Büchern und Modellflugzeugen. In diesem Raum konnte ich stundenlang allein und glücklich sein.

Im Herbst 1957 wechselte ich nach neun Schuljahren an der Schule von Coalwood auf die andere Seite der Berge, auf die Big Creek Highschool des Bezirks, um dort die zehnte bis zwölfte Klasse zu absolvieren. Bis auf die Tatsache, dass ich morgens um 6.30 Uhr aufstehen musste, um den Schulbus zu erreichen, gefiel mir die neue Schule von Anfang an. Dorthin kamen Jungs und Mädchen aus allen Kleinstädten des Bezirks, und ich fand viele neue Freunde, obwohl der harte Kern immer noch meine Kumpel aus Coalwood waren: Roy Lee, Sherman und O’Dell.

Man kann sagen, dass sich mein Leben in West Virginia in zwei deutlich voneinander getrennte Phasen einteilen lässt: Alles, was vor dem 5. Oktober 1957 passierte, und alles, was danach geschah. An diesem Morgen, einem Samstag, weckte meine Mutter mich früh und sagte, ich sollte schnell nach unten gehen und Radio hören. „Was ist los?“, murmelte ich unter den warmen Decken hervor. Coalwood, das hoch in den Bergen lag, konnte selbst im Frühherbst ein ziemlich feuchter und kalter Ort sein, und mir wäre nichts lieber gewesen, als noch mindestens ein paar Stunden im Bett zu bleiben.

„Komm und hör dir das an“, sagte sie mit einiger Dringlichkeit in der Stimme. Ein Blick auf ihre sorgenvoll gerunzelte Stirn, und ich wusste, dass ich besser tat, was sie sagte, und zwar schnell.

Ich sprang in meine Sachen und lief nach unten in die Küche, wo heißer Kakao und Toast mit Butter auf der Küchentheke auf mich warteten. Es gab nur eine Radiostation, die wir morgens empfangen konnten, WELC in Welch. Normalerweise spielte WELC so früh morgens einen Plattenwunsch nach dem anderen für uns Schüler von der Highschool. Jim, ein Schuljahr vor mir und ein Footballstar, bekam für gewöhnlich jeden Tag von seinen weiblichen Verehrerinnen mehrere Titel gewidmet. Aber statt Rock’n’Roll hörte ich im Radio nur ein stetiges „Tut-tut-tut“. Dann sagte der Sprecher, dass dieser Ton von etwas stammte, das sich „Sputnik“ nannte. Es war russisch und es war im Weltraum. Mom schaute vom Radio zu mir herüber. „Was ist das für ein Ding, Sonny?“

Ich wusste genau, was es war. Endlich kamen mir all die Science-Fiction-Bücher und Dads Magazine zustatten, die ich im Laufe der Jahre gelesen hatte. „Es ist ein Weltraumsatellit“, erklärte ich. „Wir wollten dieses Jahr eigentlich auch einen hochschicken. Ich glaube einfach nicht, dass die Russen uns zuvorgekommen sind!“

Sie sah mich über den Rand ihrer Kaffeetasse an. „Was macht das Ding?“

„Es kreist in einer Umlaufbahn um die Erde. Wie der Mond, nur näher. In seinem Inneren ist wissenschaftliches Zeugs, um zu messen, wie kalt oder warm es im Weltraum ist. Das hätte unseres jedenfalls tun sollen.“

„Wird es auch Amerika überfliegen?“

Ich war mir nicht ganz sicher. „Ich glaube schon“, sagte ich.

Mom schüttelte den Kopf. „Wenn es das tut, wird dein Dad sich maßlos darüber aufregen.“

Ich wusste nur zu gut, dass das stimmte. Mein Vater war einer der unerbittlichsten Republikaner, die je in West Virginia das Licht der Welt erblickt hatten. Er hasste die russischen Kommunisten, aber – das sollte an dieser Stelle gesagt werden – nicht so sehr wie bestimmte amerikanische Politiker. Für Dad war Franklin Delano Roosevelt der Antichrist, Harry Truman der Vize-Antichrist und John L. Lewis, der Chef der Bergarbeitergewerkschaft UMWA, der Teufel in Menschengestalt. Immer, wenn mein Onkel Ken – Moms Bruder – uns besuchte, hörte man Dad all ihre menschlichen Schwächen aufzählen. Onkel Ken war, wie sein Vater, ein großer Anhänger der Demokraten. Onkel Ken sagte, dass sein Vater lieber unseren Hund Dandy gewählt hätte, als einem Republikaner seine Stimme zu geben. Dad sagte, er würde das Gleiche tun, bevor er einen Stimmzettel für einen Demokraten ausfüllte. Dandy war ein ziemlich beliebter Politiker in unserem Haus.

Den ganzen Samstag über kamen weitere Radiomeldungen über den russischen Sputnik. Jedes Mal, wenn es etwas Neues zu berichten gab, schien der Sprecher noch erregter und besorgter als zuvor. Man fragte sich, ob an Bord Kameras auf die Vereinigten Staaten gerichtet seien, und ich hörte einen Nachrichtensprecher offen die Frage stellen, ob sich vielleicht eine Atombombe an Bord befände. Dad musste den ganzen Tag auf der Zeche arbeiten, sodass ich seine Meinung über die Ereignisse nicht zu hören bekam. Ich lag bereits im Bett, als er nach Hause kam, und am Sonntag stand er schon vor Sonnenaufgang auf und ging zur Zeche. Laut Mom gab es ein Problem mit einem der Fräslader; irgendein großer Felsbrocken war darauf gefallen. In der Kirche erwähnte Reverend Lanier in seiner Predigt die Russen beziehungsweise Sputnik mit keinem Wort. Die Gespräche danach auf den Kirchenstufen galten hauptsächlich der Footballmannschaft und der Tatsache, dass sie bis dahin noch kein Spiel verloren hatte. Es brauchte seine Zeit, bis Sputnik von allen wahrgenommen wurde, zumindest in Coalwood.

Am Montagmorgen drehte sich fast jedes Wort im Radio um Sputnik. Johnny Villani blendete das „Tut-tut-tut“ immer wieder ein. Er wandte sich direkt an die Schüler „im ganzen McDowell County“ und forderte sie auf, ab jetzt noch mehr zu lernen, um „die Russen wieder einzuholen“. Anscheinend befürchtete er, wenn er uns weiter seinen üblichen Rock’n’Roll vorspielte, würden wir endgültig hinter der russischen Jugend zurückbleiben. Während ich auf das „Tut-tut-tut“ hörte, entstand vor meinem inneren Auge ein Bild von russischen Highschool-Schülern, die gemeinsam Sputnik hochhoben und auf die Spitze einer großen, schnittigen Rakete montierten. Ich beneidete sie und fragte mich, woran es lag, dass sie so klug waren. „Ich schätze, du hast noch fünf Minuten, ansonsten verpasst du deinen Bus“, erklärte Mom und durchbrach den Bann meiner Gedanken.

Ich schüttete meinen heißen Kakao herunter und stürzte an Jim vorbei die Treppen hinauf. Natürlich lag jedes einzelne seiner goldenen Haare so perfekt am Kopf wie seine wasserstoffblonde Stirnlocke, das Resultat einer einstündigen sorgfältigen Aufbauarbeit vor dem Spiegel des Medizinschränkchens im einzigen Badezimmer des Hauses. Er trug seine grün-weiße Footballjacke mit den Anfangsbuchstaben des Teams darauf, ein Hemd mit verdeckter Knopfleiste in Rosa und Schwarz (mit hochgeschlagenem Kragen), hauteng an den Knöcheln anliegende „Chino“-Hosen mitsamt Schnalle auf der Rückseite, hochglanzpolierte Slipper mit Kreppsohlen und rosa Socken. Jim war der am besten gekleidete Junge der Schule. Angesichts von Jims Rechnungen aus den Herrenmodegeschäften in Welch meinte Mom einmal, dass die Rockefellers bei einer ihrer Urlaubsreisen meinen Bruder durch Zufall verloren haben mussten. Im Gegensatz dazu trug ich ein bunt kariertes Flanellhemd, dieselben Baumwollhosen, die ich schon die ganze Woche über in der Schule getragen hatte, und die gleichen abgenutzten Lederschuhe, mit denen ich gestern am Bach hinter dem Haus spielen gewesen war. Keiner von uns beiden sagte ein Wort, als wir uns auf der Treppe begegneten. Es gab nichts zu sagen. In späteren Jahren erzählte ich den Leuten oft, ich sei als Einzelkind aufgewachsen, und Jim tat das gleiche.

Das heißt aber nicht, dass Jim und ich keine gemeinsame Vergangenheit gehabt hätten. Seit ich mich erinnern kann, haben wir uns ständig geprügelt. Ich war kleiner als er, aber gemeiner, und dank all unserer Kämpfe im Laufe der Jahre kannte ich jeden seiner Tricks und wusste, dass er mich nicht schaffen konnte, wenn ich nur nahe genug an ihn herankam. Im Herbst 1957 bestand zwischen Jim und mir schon zwei Monate lang ein angespannter Waffenstillstand; unser letzter Kampf hatte uns selbst so erschreckt, dass wir Frieden hielten. Es begann, als Jim in den Hinterhof kam und sah, dass mein Fahrrad auf seinem lag. Mein Kippständer musste nachgegeben haben (vielleicht hatte ich ihn auch nicht ganz ausgeklappt), jedenfalls war mein Fahrrad gegen seines gefallen und hatte beide umgerissen. Wütend trug er mein Fahrrad zum Bach und warf es hinein. Mom war drüben in Welch zum Einkaufen, und Dad war auf der Zeche. Jim stampfte nach oben in mein Zimmer, wo ich mich auf meinem Bett herumfläzte und ein Buch las, stieß krachend die Tür auf und erzählte mir, was er getan hatte und warum. „Wenn noch einmal irgendwas von dir irgendwas von mir berührt“, brüllte er, „dann prügle ich dich windelweich!“

„Wie wär’s mit jetzt gleich, Fettsack?“, schrie ich und stürzte mich auf ihn. Wir fielen in den Flur, ich blieb ganz dicht an ihm dran und boxte ihm in den Magen, er jaulte auf und schlug ein paar Schwinger in die Luft, bis wir die Treppe hinunterrollten und in die Diele krachten, wo ich mit meinem Ellbogen einen Glückstreffer gegen sein Ohr landete. Vor Wut brüllend packte er mich und schleuderte mich ins Esszimmer, aber ich kam sofort wieder auf die Beine und erwischte ihn mit einem von Moms geliebten Kirschholzstühlen, wobei eines der Beine abbrach. Er jagte hinter mir her in die Küche, wo ich einen Metalltopf vom Herd zu fassen bekam und ihm damit eins über die Rübe zog. Dann floh ich in Richtung der hinteren Veranda, aber er warf sich wie ein Footballverteidiger auf mich, und wir fielen durch die Fliegentür und rissen sie aus den Angeln. Wir rangen im Gras, bis er hochkommen konnte und von oben auf mich sprang. Ich fühlte, wie meine Rippen krachten; meine Brust tat so weh, dass ich zu weinen begann, aber ich sagte kein Wort, hauptsächlich, weil ich nicht mehr atmen konnte. Sein Bein war in meinem Gesicht; also biss ich hinein, so fest ich konnte, um ihn von mir herunterzubekommen. Er schrie und sprang auf, während ich mich auf den Rücken rollte und nach Luft schnappte. Meine Rippen fühlten sich wie eingedrückt an. Blut lief mir aus der Nase. An Jims Kopf schwoll langsam eine Beule, und an seinem Bein sah man einen hübschen purpurroten Striemen. Diesmal hatten wir es geschafft, uns wirklich zu verletzen, und wir wussten beide, dass wir schließlich zu weit gegangen waren.

Als Mom nach Hause kam, fand sie unsere beiden Fahrräder ordentlich nebeneinander abgestellt im Hinterhof und Jim und mich wie zwei Unschuldslämmer nebeneinander im Wohnzimmer. Jim hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaukelte faul hin und her, während er die Sportseite der ‚Welch Daily News‘ las. Ich saß daneben, sah fern und versuchte nicht zu stöhnen, obwohl ich bei jedem Atemzug Schmerzen hatte. Meine Rippen taten noch einen Monat danach weh. Der Esszimmerstuhl stand, sorgfältig neu verleimt, an seinem Platz. Tagelang ließen Jim und ich ihn nicht aus den Augen, um zu verhindern, dass sich jemand daraufsetzte, bevor er getrocknet war. Die Hunde bekamen die Schuld für die Fliegentür zugeschoben. Und entweder fiel es Mom nie auf, oder sie entschloss sich, die Beule in ihrem Topf nicht zu erwähnen.

Jim war schon an der Bushaltestelle, während ich immer noch herumhetzte und fertig zu werden versuchte. Ich brauchte knapp zwei Minuten im Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen und mir mit der feuchten Hand durch die Haare zu fahren. Ich hatte das gleiche Haar wie meine Mutter, schwarz, dick und lockig. Kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag hatte sie ihre ersten grauen Haare bekommen, sodass ich wusste, was vermutlich auch mir bevorstand. Es sah so aus, als hätte ich überhaupt nichts von Dads Seite der Familie geerbt. Mom sagte, ich sei ein Lavender wie sie, durch und durch. Dad stritt nie mit ihr darüber, also nahm ich an, dass es so war. Ich hatte nichts dagegen. Die Hickams wirkten auf mich immer wie ein nervöser Haufen. Dad, sein Bruder Clarence und seine Schwester Bettie schienen nie richtig zur Ruhe kommen zu können; sie sprangen immer auf, um möglichst schnell irgendwohin zu kommen, und genauso schnell redeten sie auch. Die Lavenders waren eine etwas gelassenere Familie, obwohl Moms Vater, meinem „Ground-Daddy“, in den Arm geschossen wurde, als er ins Bett irgendeiner Dame kroch, während ihr Ehemann vermeintlich drüben in Gary zur Nachtschicht ging. Meine Mom erzählte, ihre Mutter hätte ihrem Mann stets geholfen, seinen Mantel anzuziehen, solange sein verwundeter Arm heilte. Mom sagte aber auch, dass Ground-Daddy nackt im Schnee hätte herumlaufen können, bevor sie ihm zu Hilfe gekommen wäre.

Am ersten Schultag nach Sputnik warf ich mir eine von Jims abgelegten Baumwolljacken über, holte meine Schuhe unter der Treppe hervor und schnappte mir die braune Papiertüte mit meinem Mittagessen, die Mom mir an der Haustür entgegenhielt. Ich musste mich beeilen. Der große gelbe Bus stand schon an der Haltestelle vor Todds Haus, und Jack Martin, der Fahrer, wartete auf niemanden. Mit säuerlicher Miene, eine kalte Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, sah er zu, wie ich knapp vor den sich schließenden Türen an Bord kletterte. „Eine Sekunde später, und du würdest jetzt laufen, Sonnyboy“, sagte er. Ich wusste, dass er es ernst meinte. Jack herrschte über seinen Bus wie ein Diktator. Beim kleinsten Verstoß gegen die Regeln fand sich der Täter am Straßenrand wieder, ganz egal, wo wir gerade waren. Ich entdeckte ein fünf Zentimeter breites Stückchen Sitz auf einer Bank und quetschte mich zwischen Linda DeHaven und Margie Jones, zwei Mädchen, die seit dem ersten Schuljahr mit mir in eine Klasse gingen. Sie bewegten sich ein winziges Stück zur Seite und schliefen dann wieder ein. Jack legte den Gang ein, und wir fuhren los. Mein Freund und ehemaliger Coalhikaner-Bruder O’Dell machte vorn im Bus, direkt hinter Jack, ein Nickerchen. O’Dell war klein und leicht erregbar. Sein Haar besaß die helle, beinahe durchscheinende Farbe von gesponnener Seide. Auf dem Sitz hinter ihm schlief Sherman, ein kompakter, muskulöser Junge mit einem offenen, intelligenten Gesicht. Shermans linkes Bein war verkrüppelt und schwach, Resultat einer Kinderlähmung. In all den Jahren, in denen wir zusammen aufwuchsen, beklagte er sich nie über sein Gebrechen, und ich kümmerte mich nie darum. Entweder hielt er mit uns anderen Schritt oder nicht.

Der dünne und langbeinige Roy Lee kletterte an der nächsten Haltestelle in den Bus, manövrierte sich vorsichtig den Gang hinunter und quetschte sich hinter mir in die Reihe. Solange ich denken konnte, waren Roy Lee und ich Freunde. Er kreuzte vor meinem Haus auf oder ich ging zu ihm, und zusammen zogen wir in die Berge und spielten Cowboys oder Astronauten oder Piraten oder was uns gerade einfiel. Roy Lee war etwas Besonderes: Er hatte einen eigenen Wagen, das Ergebnis einer Versicherungsabfindung, nachdem sein Vater unter Tage ums Leben gekommen war. Da seine Mutter nicht mit Roy Lee aus Coalwood weggehen wollte, kämpfte sie darum, das gesellschaftseigene Haus behalten zu können. Überraschenderweise gestattete man ihr und Roy Lee, zu bleiben. Vielleicht lag es daran, dass Roy Lees Bruder nach wie vor auf der Zeche arbeitete. Roy Lee war ein gut aussehender Junge, und er wusste es. Er besaß rabenschwarzes Haar, das er nach hinten legte und mit viel Pomade und Liebe zu etwas formte, was wir einen Entenschwanz nannten. Er sah ein bisschen aus wie ein sehr junger Elvis. Roy Lee glaubte, dass die Mädchen hinter ihm her waren, und ich denke, er hatte gar nicht so unrecht; nicht umsonst war er jedes Wochenende mit einer anderen verabredet. Und ein eigenes Auto half wahrscheinlich auch.

Ich war froh, Roy Lee, Sherman und O’Dell als Freunde zu haben. Als ich in die erste Klasse kam, fand ich mich in einer Gemeinschaft von Jungen aus der ganzen Stadt wieder, und es wurde schnell offensichtlich, dass ich als Sohn meines Vaters durch seine Position gebrandmarkt war. Abends am Küchentisch machten die Gewerkschaftsväter Homer Hickam oft als Feind aus, und die Söhne aus diesen Familien sannen dann manchmal auf Rache. Jim war immer groß für sein Alter und bekannt für sein aufbrausendes Temperament; dagegen war ich als Zielscheibe viel besser geeignet. Mich konnte man erwischen, während ich in der Pause hinter der Schule stand oder um den Big Store herumlungerte. Aber selbst wenn ich mit blutiger Nase nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter nie, wer mich angegriffen hatte, und mein Vater erfuhr überhaupt nichts davon. Die Wut dieser Jungs war so echt, dass ich mich fragte, ob sie nicht vielleicht gute Gründe hatten, sich unbedingt mit mir prügeln zu wollen. Ich hielt mich so tapfer, wie es einem kleinen, kurzsichtigen Jungen möglich war, und entwickelte mich im Lauf der Zeit zu einem immer unangenehmeren Gegner. Manchmal gelang es mir sogar, selbst ein paar Nasen blutig zu schlagen. Aus irgendeinem Grund schienen Roy Lee, Sherman und O’Dell sich nie etwas daraus zu machen, wer mein Dad war. Soweit es sie betraf, waren wir alle einfach nur Jungs aus Coalwood.

Die Straße, die aus der Stadt führte, ging an der Zeche vorbei, und vor dem Kipper drückte Jack auf die Hupe. Diejenigen von uns, die noch wach waren, winkten den Männern am Förderkorb zu, und wir fuhren etwas über einen Kilometer weiter, bis wir wieder anhielten und die wenigen Schüler aus Hollow Six einluden (benannt nach dem sechsten Wetterschacht, der für die Grube abgeteuft worden war – man hatte einige Häuser um ihn herum gebaut). Sie waren die letzten, die der Bus einsammelte. Dann ging es den ersten Berg hinauf. Zwischen Coalwood und der Big Creek Highschool lagen zwölf Kilometer kurvenreicher Straßen voller Schlaglöcher. Wenn es nicht gerade schneite, brauchte Jack etwa 45 Minuten für die ganze Strecke.

Die Route den Berg hinauf führte über eine steil ansteigende Serpentine nach der anderen. Zu dritt auf den Sitzen festgekeilt, dösten die meisten von uns vor sich hin, wobei wir in den Kurven hin- und hergeschaukelt wurden. Nachdem der Berggipfel erreicht war, fiel die Straße sofort wieder steil ab; in Kehren ging es hinunter, bis in einem langen, schmalen Tal der Tiefpunkt erreicht war. Hier befand sich das längste Stück gerader Straße im ganzen Distrikt, beinahe anderthalb Kilometer Asphalt. Etwa auf der Hälfte der Strecke lag hinter einem Stacheldrahtzaun einer der großen Grubenlüfter, mit denen Frischluft unter Tage gepumpt wurde. An Samstagabenden diente dieses gerade Stück – das als „Little Daytona“ bekannt war – als Rennstrecke für die wenigen Teenager mit eigenem fahrbaren Untersatz, und der Grubenlüfter war der beliebteste Platz zum Parken und Herumknutschen. Da ich weder einen Führerschein noch eine Freundin hatte, kannte ich beides nur vom Hörensagen. Roy Lee war meine zuverlässigste Quelle, und er erzählte mir, dass er mit seinen Verabredungen nach einem Besuch im Dugout dorthin fuhr. Das Dugout befand sich im Keller des Restaurants Owl’s Nest gegenüber der Highschool, und jeden Samstagabend war dort Tanz. Ich war noch nie im Dugout gewesen, aber nach allem, was ich gehört hatte, musste dort richtig was los sein. Einer der Hausmeister der Highschool, Ed Johnson, machte den Discjockey, und Roy Lee erzählte, dass er eine der besten Plattensammlungen hatte, die gleich nach der vom ‚American Bandstand‘ kam, der bekanntesten Popmusiksendung im Fernsehen.

Nach einer scharfen Kurve am Ende von Little Daytona kamen wir nach Caretta. Dieser Ort gehörte der gleichen Gesellschaft wie Coalwood. Im vergangenen Jahr waren ihre Stollen zu unserer Grube durchgebrochen worden. Zwischen den beiden Gruben musste ein Quertrieb angelegt werden, und mein Vater kämpfte sich dort hindurch, als ob er im Krieg wäre. Sobald der Quertrieb eröffnet war, verursachten die vereinigten Gruben so viele Wetterprobleme, dass Dad die Leitung beider Zechen übernehmen musste. Ich hörte, wie Mom Onkel Joe bei einem Besuch erzählte, dass viele Menschen in Caretta einige wirklich gemeine Dinge über die Angelegenheit erzählten und Dad als „hochnäsig“ bezeichneten. Anscheinend gab es eine ganze Menge Leute, die Dad nicht verziehen, dass er kein College-Diplom besaß wie der Captain. Das erschien mir seltsam, weil sie selbst doch auch keinen Abschluss hatten. Mom erzählte Onkel Joe, dass die Leute in Caretta ihrer Meinung nach „noch nie besonders helle gewesen waren, aber jetzt endgültig den letzten Rest von Grips verloren hatten“. Mom schien manchmal in einen anderen Dialekt zu verfallen, wenn einer ihrer Brüder zu Besuch kam. Ich erinnere mich, wie Onkel Joe ernsthaft und zustimmend mit dem Kopf nickte.

Nachdem wir Caretta passiert hatten, erreichten wir eine Straßengabelung bei einem kleinen Ort namens Premier, wo ein heruntergekommener, alter, weiß getünchter Ziegelbau stand, den wir „Spaghetti House“ nannten. Ich war noch nie darin gewesen, aber Roy Lee kannte sich aus. Er sagte, dass dort die Huren wären, alte, hässliche Weiber, die dir einen Tripper anhängten. Ich wusste nicht, was ein Tripper war, aber allein der Klang des Wortes gefiel mir nicht. Roy Lee erzählte, dass er nur einmal dort gewesen wäre, um für einen Dollar Wechselgeld zu holen; stattdessen hätten sie ihm vier Gummis gegeben. Er hatte immer noch alle vier; ich wusste es, weil er sie mir gezeigt hatte. Eines trug er immer in seiner Brieftasche mit sich herum. Für mich sah es ziemlich alt aus.

Der War Mountain war nicht so steil wie der Berg, an dem Coalwood lag, aber die Straßen waren schmaler und es gab zwei Kurven, die fast wieder in die Richtung zurückführten, aus der man hineinfuhr. Vor jeder dieser beiden Kehren bremste Jack den Bus auf ein Schneckentempo herunter, hupte laut und manövrierte uns hindurch. Wer von uns an der Außenseite des Busses saß, blickte senkrecht nach unten auf einen Fluss, der tief unter uns lag; man sah keine Straße mehr, nicht einmal den Straßenrand, während diejenigen auf der anderen Seite nur wenige Zentimeter an riesigen, zerklüfteten Felsen vorüberglitten. Nach diesen beiden Kurven ging es in einer Schussfahrt den Berg hinunter nach War.

War hatte schon bessere Tage gesehen. Seine Hauptstraße bestand aus einigen heruntergekommenen Geschäften, einer Bank, ein paar Tankstellen und einem in sich zusammenfallenden Hotel. Nach den Geschichten, die die Kinder aus War von ihren Eltern erzählt bekamen, musste die Stadt in den zwanziger Jahren ein wilder, sittenloser Ort gewesen sein, voller Tanzhallen und Spielhöllen. Vielleicht war das der Grund dafür, warum meine Mutter über zu stark parfümierte Frauen sagte, sie würden riechen „wie ein Sonntagmorgen in War“.

Die Big Creek Highschool lag am Rand von War, direkt neben dem Fluss, dem der Distrikt seinen Namen zu verdanken hatte. Es war ein rußiges, dreistöckiges Ziegelgebäude mit einem sorgfältig gepflegten Footballfeld davor. Auf der anderen Seite des Feldes führte die Bahntrasse vorbei. Unser Unterricht wurde häufig durch das Rumpeln der Kohlenwaggons und das Ächzen der Dampflokomotiven unterbrochen, die an der Schule vorüberfuhren. Manchmal erschien es mir, als würden sie nie ein Ende nehmen – ein Zug folgte dem anderen und ratterte hinaus in eine Welt, die jenseits unseres Horizonts lag.

Nachdem wir in Big Creek angekommen waren, mussten wir gewöhnlich noch eine Stunde bis Schulbeginn warten. Roy Lee, Sherman, O’Dell und ich verbrachten die Zeit meistens zusammen in der Aula, wo wir unsere Hausaufgaben austauschten und die Mädchen betrachteten, die den Gang hinauf und hinunter stolzierten. An diesem Morgen wollte ich mich mit ihnen zusammensetzen und über Algebra sprechen, weil ich die Hausaufgaben nicht zu meiner Zufriedenheit hatte lösen können. Aber niemand außer mir war an Algebra interessiert, nicht solange es Sputnik gab, über den man sich Gedanken machen musste. „Die Russen sind gar nicht schlau genug, eine Rakete zu bauen“, sagte Roy Lee. „Sie müssen sie uns gestohlen haben.“ Ich war nicht seiner Meinung und sagte es ihm. Die Russen hatten Atombomben und Wasserstoffbomben gebaut, und sie verfügten über Düsenbomber, die die Vereinigten Staaten erreichen konnten. Also warum sollten sie dann keinen Sputnik bauen können?

„Ich frage mich, wie es ist, ein Russe zu sein“, sagte Sherman, der ganz genau wusste, dass keiner von uns die leiseste Ahnung hatte. Sherman fragte sich immer, wie es wäre, irgendwo anders als in West Virginia zu leben. Ich hatte darüber noch nie wirklich nachgedacht. Ich glaubte, dass ein Ort genauso war wie der andere – abgesehen von Chicago, New York oder einer anderen Großstadt. Laut Fernsehberichten musste man dort ziemlich hart im Nehmen sein.

Roy Lee erzählte: „Mein Vater hat immer gesagt, dass die Russen im Krieg ihre eigenen Babys gegessen haben und es von den Deutschen richtig war, sie anzugreifen. Er war der Meinung, wir hätten uns mit den Deutschen zusammentun und sie in den Hintern treten sollen. Dann hätten wir jetzt nicht so viele Schwierigkeiten mit ihnen.“

O’Dell hatte eine der älteren Cheerleaderinnen entdeckt, die im Gang stand, und sinnierte: „Ob sie mir wohl über den Kopf streicht, wenn ich jetzt zu ihr hinüberkrieche und ihr die Füße küsse?“

„Sie nicht, aber ihr Freund“, sagte Sherman, als ein riesiger Footballspieler zu ihr hinüberstolzierte und ihre Hand ergriff. Die Footballspieler hatten unter den Mädchen von Big Creek mehr oder weniger die freie Auswahl.

Ich wollte verzweifelt wissen: „Hat jemand Algebra?“

Die anderen drei sahen mich nur an. „Hast du Englisch?“, erkundigte sich Roy Lee schließlich.

Ich hatte – einen Haufen von Satzgefügen. Wir tauschten und unterhielten uns über die Aufgaben, während wir hastig voneinander abschrieben. Es war kein richtiges Mogeln und die einzige Möglichkeit für mich, überhaupt ein paar Punkte im Algebraunterricht zu ergattern. Mr. Hartsfield, der Mathematiklehrer von Big Creek, bewertete nie einzelne Teile eines Tests: Die Arbeit war entweder richtig oder falsch. Je frustrierter ich war, desto weiter schien ich danebenzuliegen – dies galt für Algebra und für alles andere auch.

Das Thema Sputnik tauchte später am Tag während Mr. Mams’ Biologiestunde erneut auf. Zu diesem Zeitpunkt betrachtete ich gerade nachdenklich einen langen konservierten Wurm, der ausgestreckt in einer viereckigen Stahlschale vor mir lag. Zu meinem anhaltenden Entzücken war es mir irgendwie gelungen, Dorothy Plunk als meine Partnerin beim Sezieren zugeteilt zu bekommen. Meiner festen Überzeugung nach war Dorothy Plunk aus War das schönste Mädchen unserer Klasse und damit in ganz Big Creek High. Sie hatte einen langen, glänzenden Pferdeschwanz und Augen, deren Stahlblau exakt der Lackierung des 1957er Buick meines Vaters entsprach. Darüber hinaus besaß sie eine knospende Figur, bei deren Anblick ich mich fühlte, als ob ich gleich explodieren würde. Ich hatte sie in den Gängen ein paarmal schüchtern gegrüßt, aber noch keinen Weg gefunden, eine wirkliche Unterhaltung mit ihr anzufangen. Ich wusste noch nicht einmal, was ich über den toten Wurm zu ihr sagen konnte, den wir beide zusammen aufschneiden sollten. Bevor ich mir irgendetwas einfallen lassen konnte, kam das Knistern der Lautsprecheranlage dazwischen. Die Stimme, die wir hörten, war die unseres Schulleiters, Mr. R. L. Turner:

„Wie ihr alle sicherlich schon wisst“, sagte Mr. Turner in seiner bedächtigen Art, „haben die Russen einen Satelliten in den Weltraum geschossen. Daraufhin sind viele Stimmen laut geworden, die eine Reaktion von den Vereinigten Staaten fordern. Der Schülerrat der Big Creek Highschool hat heute auf, ich zitiere, „die Sputnik-Drohung“ reagiert und eine Resolution verabschiedet – die ich gerade jetzt in meiner Hand halte –, das restliche Schuljahr ausgezeichneten akademischen Leistungen zu widmen. Ich genehmige und unterstütze diese Resolution. Das wäre alles.“

Dorothy und ich hatten den Lautsprecher angestarrt. Als wir wieder nach unten schauten, trafen sich unsere Blicke. Mein Herz schlug einen kleinen Salto. „Hast du Angst?“, fragte sie mich.

„Vor den Russen?“, schluckte ich und versuchte zu atmen. In Wahrheit hatte ich in diesem Augenblick mehr Angst vor Dorothy als vor einer Milliarde Russen und wusste nicht, warum.

Sie schenkte mir ein sanftes kleines Lächeln, und mein Herz geriet völlig aus der Bahn. Selbst über das Formaldehyd hinweg konnte ich ihr Parfum riechen. „Nein, du Dummkopf. Unseren Wurm aufzuschneiden.“

Unser Wurm! Wenn es unser Wurm war, konnten es dann nicht auch unsere Herzen, unsere Hände, unsere Lippen sein? „Kein bisschen!“, versicherte ich ihr, hob mein Skalpell und wartete auf Mr. Mams Startzeichen. Als es soweit war, schnitt ich unser Exemplar der Länge nach auf. Dorothy schaute einmal hin, hielt sich die Hand vor den Mund und taumelte mit fliegendem Pferdeschwanz zur Tür hinaus.

„Was hast du getan, Sonny?“, gluckste Roy Lee am Tisch hinter mir. „Gefragt, ob sie mit dir ausgehen will?“

Ich hatte noch nie ein Mädchen um eine Verabredung gebeten, geschweige denn die unvergleichliche Dorothy Plunk. Ich drehte mich zu Roy Lee um und flüsterte: „Glaubst du denn, sie würde mit mir ausgehen?“

Roy Lee zuckte mit den Augenbrauen, ein anzügliches Grinsen im Gesicht. „Ich habe ein Auto, und das hat einen Rücksitz. Ich bin euer Fahrer, wann immer du willst.“

Emily Sue Buckberry, Dorothys beste Freundin, starrte mich an; Bedenken standen ihr ins runde Gesicht geschrieben. „Sie hat einen Freund, Sonny“, sagte sie scharf, „sogar einige. Einer ist auf dem College.“

Roy Lee hielt dagegen. „Ach, die sind keine Konkurrenz. Du kennst Sonny nicht. Erst auf dem Rücksitz kommt er richtig in Fahrt.“

Mein Gesicht lief rot an, als ich Roy Lee so aufschneiden hörte. In Wirklichkeit war ich noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen, weder auf dem Rücksitz noch irgendwo anders. Ich hatte es noch nicht weiter gebracht, als in der Junior Highschool ein Mädchen zu küssen, und zwar Teresa Anello nach einem Tanz auf der Veranda ihres Hauses – und bei diesem einen Kuss war es geblieben. Ich wandte mich wieder dem Wurm zu, machte einen weiteren Einschnitt und begann, das Fleisch zur Seite zu schieben und meine Beobachtungen peinlich genau aufzuschreiben. Dabei dachte ich: Roy Lee versteht einfach nicht. Dorothy Plunk ist mehr als nur irgendein Mädchen. Konnte er nicht – so wie ich – erkennen, dass Dorothy Plunk die Krone der Schöpfung war? Sie musste angebetet und nicht angefasst werden. Glücklich in meinen Tagtraum versunken, schnitt ich und schrieb, schnitt und schrieb. Irgendetwas beflügelte mich. Ich arbeitete für Dorothy, meine Partnerin bei diesem Wurm und vielleicht auch darüber hinaus. Über den Resten eines riesigen, formaldehydgetränkten Wurms fasste ich den Entschluss, ihr Herz zu gewinnen.

Roy Lee schlich sich um meinen Tisch herum und starrte in mein glückseliges Gesicht. „Gott der Allmächtige“, erschrak er, „du bist verliebt.“

Von der anderen Seite tauchte Emily Sue auf. „Ich glaube, du hast recht“, sagte sie. „Es ist ernst.“

„Liebeskummer im Anmarsch?“, fragte Roy Lee, von einem Fachmann in Liebesdingen zum anderen.

„Ohne Zweifel“, erwiderte Emily Sue. „Sonny? Was für ein Tag ist heute, Sonny? Hallo?“

Ich ignorierte sie. In meinem Kopf hörte ich ein Lied mit einem Text, der nur aus einem einzigen Namen bestand. Wieder und wieder erklang es: Dorothy Plunk, Dorothy Plunk.

Die Stufen vor dem Big Store waren der Treffpunkt für alle Bergleute, die freihatten und herumhängen, Tabak kauen und tratschen wollten. Wenn ein Thema hier besprochen wurde, das nicht von Coalwood selbst handelte und sich auch nicht um die Zeche oder Football drehte, wusste man, dass es wichtig war. Sputnik schaffte es in der Mitte der Woche nach seinem Start. Ich wollte gerade in den Laden gehen, um eine Limo zu kaufen, als ich hörte, wie einer der Kumpel auf den Stufen sagte: „Wir sollten den verdammten Sputnigger einfach abschießen.“ Es entstand eine Pause, in der die Männer alle nachdenklich Tabaksaft in ihre Pappbecher spuckten; dann meinte einer von ihnen: „Tja, ich sag dir, wen wir abschießen sollten. Macht mich stinksauer (er sprach das Wort aus, als ob es sich auf „Aua“ reimte), wenn die da oben in Charleston versuchen, Big Creek aus den Landesmeisterschaften rauszutricksen. Die würd’ ich am liebsten in den Himmel schießen.“ Das brachte ihm laute Zustimmung von der versammelten Runde ein, gefolgt von noch herzhafterem Spucken. Wichtiger als Highschool-Football war in Coalwood nur noch die Zeche. Sputnik, ebenso wie alles andere, würde immer erst in gebührendem Abstand und frühestens an dritter Stelle kommen.

Was den Bergmann „stinksauer“ machte, war die Tatsache, dass Big Creek in dieser Saison bisher keine einzige Niederlage eingesteckt hatte, aber nach Meinung des Highschool-Footballverbandes von West Virginia nicht für die Landesmeisterschaften qualifiziert werden konnte, weil die Mannschaft fast nur gegen Schulen in Virginia gespielt hatte. Auf den Personenzügen unter Tage, in den Läden und sogar in der Kirche war dieses Thema Gegenstand endloser Diskussionen und Debatten. Big Creek gewann weiterhin, und die für den Highschool-Football Verantwortlichen oben in Charleston antworteten weiterhin, dass dies ohne Belang sei – wir würden ohnehin nicht Landesmeister werden. Man musste kein besonders heller Kopf sein, um zu ahnen, dass Ärger in der Luft lag. Wie sich herausstellen sollte, war es schließlich mein Dad, der die ganzen Schwierigkeiten auslöste.

Mein Bruder Jim war der Schrecken aller gegnerischen Footballspieler. Er spielte Halbstürmer im Angriff und Linienverteidiger in der Verteidigung, und die Quarterbacks der gegnerischen Mannschaften rannten vor ihm davon wie verängstigte Kaninchen. Jim stürmte im Angriff vorwärts wie eine Lokomotive, und er war ein vernichtender Blocker. Damals wurden Footballspieler seiner Klasse im ganzen Big-Creek-Distrikt genauso verehrt wie Johnny Unitas und Bart Starr im Rest der Welt. Vor lauter Begeisterung über Jims Heldentaten auf dem Footballfeld ließ sich mein Vater zum Präsidenten der Footballväter-Vereinigung von Big Creek wählen. Eines Abends saß ich im Wohnzimmer und sah fern, während Dad am Zechentelefon (das wir das „schwarze Telefon“ nannten) mit einem seiner Steiger sprach und lang und breit mit Jims Leistungen prahlte. Als er aufgelegt hatte, machte Mom ihm den Vorschlag, zur Abwechslung einmal mit mir anzugeben. Obwohl er wusste, dass ich im selben Raum war, fragte Dad nach einem Moment des Nachdenkens deutlich vernehmbar und durchaus ernsthaft: „Und womit?“

Ehrlich gesagt wusste ich das auch nicht. Ich hatte überhaupt kein Talent zum Footballspieler. Zunächst einmal war ich schrecklich kurzsichtig. Als ich in der dritten Klasse saß, kam eines Tages Doc Lassiter mit einer Sehtesttafel in die Schule, und die ganze Klasse musste sich in einer Reihe davor aufstellen, um die Buchstaben zu entziffern. Die von der Schule benachrichtigten Mütter standen ebenfalls dabei. Als ich an die Reihe kam, hatte ich die meisten Buchstaben bereits auswendig gelernt, aber Doc trickste mich aus, indem er eine andere Tafel aufhängte. Das einzige, was ich erkennen konnte, war ein grauer Schleier. Sanft forderte Doc mich auf, so weit vorzugehen, bis ich den obersten Buchstaben erkennen könnte. Ich ging vorwärts, bis meine Nase fast die Wand berührte. „E!“, verkündete ich stolz, während meine Mutter aufschluchzte und die anderen Mütter sie zu beruhigen versuchten.

Drei Jahre hintereinander bewarb ich mich um einen Platz im Footballteam der Coalwood Junior Highschool, aber ich hätte es niemals weiter gebracht als bis zur Trainingspuppe. „Sonny ist zwar klein“, erzählte Coach Tom Morgan meinem Onkel Clarence eines Tages beim Training, „aber das gleicht er durch seine mangelnde Schnelligkeit wieder aus.“ Alle Zuschauer am Spielfeldrand hatten an dieser Bemerkung ihren Spaß. Dennoch kam es mir nie in den Sinn, aufzugeben. Meine Mutter hätte mich sofort wieder zum Training zurückgeschleift. Eine ihrer Regeln lautete: Wenn du etwas anfängst, musst du es auch zu Ende bringen.

Als ich nach Big Creek kam, warf Coach Merrill Gainer, einer der ehrgeizigsten Trainer in der Geschichte des südlichen West Virginia, einen Blick auf die Gestalt, die verloren in ihrem Trainingszeug vor ihm stand – und schickte mich vom Footballfeld. Stattdessen trat ich der Marschkapelle von Big Creek als Trommler bei. Mom sagte, dass ihr die Uniform gefiel. Dad sagte gar nichts. Jim war so verärgert, dass er sich beim Abendessen darüber beschwerte. Mit zwei riesigen Löffeln Kartoffelbrei im Mund klärte er uns über den Mangel an Männlichkeit bei den Jungen in der Kapelle auf: „Jungs, die nicht in ’nem Team spielen, müssen Waschlappen sein. Jungs, die in ’ner Kapelle spielen, müssen richtige Waschlappen sein!“ Jim arbeitete noch einen Augenblick an seinen Kartoffeln, schluckte und bemerkte dann: „Mein Bruder ist ein Weichei.“

„Und mein Bruder ist ein Idiot“, erwiderte ich vernünftig, und meiner Ansicht nach auch völlig objektiv.

„Wenn ihr zwei am Tisch nicht anständig reden könnt“, sagte Mom ausgesprochen leidenschaftslos, „würde ich vorschlagen, dass ihr überhaupt nicht redet.“

Jims Worte hatten wehgetan, aber ich hielt den Mund. Ich konnte sowieso nicht begreifen, woher die ganze Begeisterung für Football kam und vor allem, weshalb die Footballspieler der Schule wie Helden behandelt wurden. Sie waren draußen auf dem Feld mit einem Schiedsrichter, der darauf achtete, dass alle die Regeln befolgten, und die Spieler trugen Polster auf den Schultern und Hüften und Oberschenkeln und Knien und hatten Helme auf dem Kopf. Was war so heldenhaft daran, sich in einer Reihe aufzustellen, die Regeln zu befolgen und einen Haufen Zeug zu tragen, das dafür sorgte, dass man sich nicht wehtat? Ich konnte es einfach nicht begreifen.

Dad sagte während des Essens kein Wort, aber ich bemerkte, wie Jim und er einen Blick wechselten. Anscheinend waren sie beide der Meinung, dass es eine Schande sei, wenn ich in der Kapelle spielte. In der Hoffnung auf Unterstützung blickte ich hinüber zu Mom, aber sie schaute durch das Fenster hinter mir. Ich nahm an, dass sie Vögel an ihrer Tränke beobachtete. Ich sagte zu mir selbst: Ich mag die Uniform und ich spiele gerne die kleine Trommel. Und Dorothy Plunk ist auch in der Kapelle. Der letzte Gedanke ließ mich Jim einen selbstgefälligen Blick zuwerfen, der ihn maßlos verwirrte.

Den ganzen Herbst über erschienen in den ‚Welch Daily News‘ und im ‚Bluefield Daily Telegraph‘ Berichte über unsere amerikanischen Wissenschaftler und Techniker am Cape Canaveral in Florida, die verzweifelt versuchten, mit den Russen gleichzuziehen. Es kam mir so vor, als ob alle Science-Fiction-Bücher, die ich im Laufe meines Lebens gelesen hatte, Wirklichkeit würden. Nach und nach faszinierte mich die ganze Sache. Ich las jeden Artikel, den ich über die Männer am Cape finden konnte, und hockte wie festgenagelt vor dem Fernseher, um die letzten Neuigkeiten über ihre Arbeit zu erfahren. Dabei hörte ich immer häufiger von einem gewissen Dr. Wernher von Braun, Wissenschaftler und Raketenkonstrukteur. Der Name allein wirkte exotisch und aufregend. Ich sah im Fernsehen ein Interview mit Dr. von Braun, bei dem er mit seinem forschen deutschen Akzent sagte, dass er innerhalb von dreißig Tagen einen Satelliten in eine Umlaufbahn um die Erde bringen könnte, wenn man ihm grünes Licht dafür gäbe. Die Zeitungen schrieben, dass er warten müsste, weil zuerst ein Programm namens „Vanguard“ eine Chance bekommen würde. Vanguard war das Satellitenprogramm der Vereinigten Staaten zum Internationalen Geophysikalischen Jahr, aber da von Braun für die Armee arbeitete, war er durch diese Verbindung irgendwie zu belastet, um den ersten amerikanischen Weltraumversuch wagen zu dürfen. Bevor ich abends zu Bett ging, dachte ich darüber nach, was wohl Dr. von Braun gerade in diesem Moment unten am Cape tat. Ich stellte ihn mir hoch oben auf einem Montageturm vor, wo er auf dem Rücken lag wie Michelangelo und mit einem Schraubenschlüssel an den Benzinleitungen einer seiner Raketen herumschraubte. Ich begann darüber nachzudenken, was es für ein Abenteuer sein müsste, für ihn zu arbeiten und ihm beim Bau und dem Abschuss seiner Raketen in den Weltraum zu helfen. Ein so entschlossener Mann wie er wäre vielleicht sogar in der Lage, eine Expedition ins Weltall zu unternehmen, wie Lewis und Clark. Auf jeden Fall wollte ich dabei sein. Ich wusste, dass ich mich dafür irgendwie vorbereiten, irgendwelche Fertigkeiten erlernen oder spezielle Kenntnis über irgendetwas haben musste. Ich war mir noch nicht sicher, was es genau sein würde, aber zumindest konnte ich erkennen, dass ich so sein musste wie die Helden in meinen Büchern, mutig und mit mehr Wissen als die Männer um sie herum. Ich begann, mir ein Leben nach Coalwood vorzustellen. Wernher von Braun. Dorothy Plunk. Mein Lied bestand jetzt schon aus zwei Namen.

Als die Zeitungen schrieben, dass Sputnik auch über das südliche West Virginia fliegen würde, entschied ich, dass ich das mit eigenen Augen sehen musste. Ich erzählte es meiner Mutter, und bald darauf machte die Nachricht die Runde, von Gartenzaun zu Gartenzaun, dass ich mir Sputnik ansehen würde und dass alle, die Lust hatten, an dem Abend, an dem er laut Zeitplan erscheinen sollte, in unseren Garten kommen konnten.

Es war nicht viel dazu nötig, in Coalwood einen Menschenauflauf zu verursachen. Am bewussten Abend kam Mom zu mir in den Garten hinaus, und danach gesellten sich andere Frauen und ein paar kleine Kinder hinzu. Roy Lee, Sherman und O’Dell waren ebenfalls gekommen. Die Damen gruppierten sich um Mom, und sie hielt Hof. Seit Dad seinen neuen Posten hatte, konnte man sich darauf verlassen, dass sie immer das Neueste darüber wusste, was die Gesellschaft plante und welcher Steiger auf dem Weg nach oben oder nach unten war. Ich beobachtete sie und stellte plötzlich voller Stolz fest, wie hübsch sie war. Als ich später auf diese Zeit zurückblickte, wurde mir klar, dass sie mehr als nur hübsch aussah. Mom war wunderschön. Ihr Lächeln wirkte, als hätte jemand eine 100-Watt-Glühbirne angeschaltet. Ihr lockiges Haar fiel ihr über die Schultern, sie hatte große grünbraune Augen, und ihre Stimme – wenn sie nicht gerade Jim und mich zur Ordnung rief – war sanft und samtig. Ich glaube nicht, dass es einen Bergmann in der Stadt gab, der an unserer Vordertür vorbeigehen konnte, wenn sie in Shorts und bauchfreiem Oberteil draußen im Garten ihre Blumen pflegte. Sie alle blieben stehen, tippten sich an den Helm, zeigten ihre vom Kautabak verfärbten Zähne und sagten Sätze wie: „Tach auch, Elsie, deine Bluhm sehn aber verdammt gut aus, muss man sagen.“ Aber ich glaube nicht, dass sie dabei auf die Blumen schauten.

Es wurde dunkler, und die Sterne blinkten auf, einer nach dem anderen. Ich saß auf der Hintertreppe, drehte mich alle paar Sekunden um und blickte auf die Uhr an der Küchenwand. Ich hatte Angst, dass Sputnik vielleicht gar nicht auftauchen würde oder wir ihn verpassen könnten. Die Berge, die uns umgaben, ließen nur einen schmalen Streifen Himmel zur Beobachtung frei. Ich hatte keine Ahnung, wie schnell Sputnik war, ob er vorbeizischen oder bummeln würde. Ich nahm an, dass wir viel Glück haben mussten, um ihn überhaupt zu Gesicht zu bekommen.

Dad kam nach draußen, auf der Suche nach Mom. Irgendetwas an der Tatsache, dass sie hier draußen im Garten zu finden war, wo sie mit den anderen Frauen nach oben in den Himmel schaute, irritierte ihn. „Elsie? Was in Gottes Namen sucht ihr da oben?“

„Sputnik, Homer.“

„Über West Virginia?“ Sein Ton war ungläubig.

„So hat es Sonny in der Zeitung gelesen.“

„Präsident Eisenhower würde so etwas nie erlauben“, sagte er mit Nachdruck, worauf Mom ihren Lieblingsspruch anbrachte:

„Wir werden sehen.“

„Ich gehe …“

„… auf die Zeche“ – den Satz beendeten meine Eltern im Chor.

Dad öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Mom wandte sich ihm zu und hob ihre Augenbrauen, woraufhin er es sich anders zu überlegen schien. Mein Vater war ein kräftig gebauter Mann, knapp über einen Meter achtzig groß, aber meine Mutter konnte es leicht mit ihm aufnehmen. Er setzte seinen Hut auf und stapfte davon in Richtung des Kippers. Dabei schaute er nicht ein einziges Mal hoch zum Himmel.

Roy Lee setzte sich neben mich. Es dauerte nicht lange, bis er mir ungefragt Ratschläge erteilte, wie ich meine geliebte Dorothy Plunk gewinnen könne. „Also, das läuft so, Sonny“, erklärte er und legte seinen Arm um meine Schultern, „du gehst mit ihr ins Kino. Irgendein Film wie ‚Frankenstein gegen den Werwolf‘. Dann legst du ganz locker den Arm auf die Rücklehne ihres Kinosessels, etwa so, und wenn die Sache gruselig wird und sie nur noch auf den Film achtet, lässt du deine Hand über ihre Schulter nach unten gleiten, bis …“ Er zwickte mich in die Brustwarze, und ich sprang auf. Roy Lee krümmte sich vor Lachen und hielt sich den Bauch. Ich fand das Ganze nicht so witzig.

Jim schlenderte draußen umher und betrachtete Roy Lee und mich nachdenklich. Er hatte einen Mohrenkopf dabei. „Idioten“, entschied er. „Zehnte-Klasse-Schwachköpfe.“ Jim konnte schon immer gut mit Wörtern umgehen. Er stopfte sich den ganzen Mohrenkopf in den Mund und kaute zufrieden darauf herum. Eines der Mädchen aus der Nachbarschaft, das ein Stück die Straße hinunter wohnte, entdeckte ihn, kam herüber und stellte sich so eng neben ihn, wie sie sich traute. Er grinste affektiert und fuhr mit seiner Hand über ihren Rücken nach unten, während sie in nervösem Entzücken zitterte. In kriecherischer Bewunderung gaffte Roy Lee hinüber. „Auch wenn sie mir jeden Knochen im Leib brechen – im nächsten Jahr muss ich ins Footballteam.“

„Da oben, da oben!“, schrie O’Dell plötzlich, hüpfte auf und ab und zeigte in den Himmel. „Sputnik!“

Roy Lee sprang auf die Füße, brüllte „Ich kann ihn auch sehen!“, und dann stieß auch Sherman einen Freudenschrei aus und zeigte auf etwas. Ich stolperte die Treppe hinunter und blinzelte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, in die alle blickten. Das einzige, was ich erkennen konnte, waren Millionen von Sternen. „Dort“, sagte Mom, nahm meinen Kopf und richtete meine Nase auf einen Punkt am Himmel.

Dann sah ich den leuchtenden kleinen Ball, wie er majestätisch über das schmale Sternenfeld zwischen den Bergketten glitt. Ich starrte ihn mit einer verzückten Aufmerksamkeit an, als würde ich Gott selbst sehen, wie er in einem goldenen Triumphwagen am Himmel entlangfuhr. Er zog seine Bahn mit einem in meinen Augen unerbittlichen und gefährlichen Zielbewusstsein, so als ob es keine Macht im Universum gäbe, die ihn aufhalten könnte. Mein ganzes Leben lang hatte sich alles, was wichtig war, immer irgendwo anders ereignet. Aber Sputnik war dort oben, genau vor meinen Augen in unserem Garten in Coalwood, McDowell County, West Virginia. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte das Gefühl, ihn berühren zu können, wenn ich mich nur lang genug machte. Dann, in weniger als einer Minute, war er verschwunden.

„Hübsches Ding“, sagte Mom und fasste damit die allgemeine Meinung der Gartenbesucher zusammen. Sie und die anderen Damen wandten sich wieder ihren Gesprächen zu. Eine gute Stunde später waren alle gegangen, aber ich blieb zurück, mein Gesicht himmelwärts gerichtet. Immer wieder schloss ich meinen Mund, und immer wieder fiel mir die Kinnlade herunter. Noch nie zuvor hatte ich etwas so Wunderbares gesehen. Ich war immer noch im Garten, als Dad nach Hause kam. Er öffnete das Tor und sah mich. „Ist es nicht ein bisschen spät, um noch draußen zu sein?“

Ich antwortete nicht. Ich wollte den Bann nicht brechen, in den Sputnik mich gezogen hatte.

Dad blickte mit mir zusammen in den Himmel. „Suchst du immer noch nach Sputnik?“

„Hab’ ihn gesehen“, antwortete ich schließlich. Ich war immer noch so überwältigt, dass ich nicht mal ein „Sir“ anhängte.

Dad schaute noch eine Weile mit mir nach oben, aber als sich nichts weiter tat, schüttelte er den Kopf und ging hinunter in den Keller. Kurz darauf hörte ich, wie die Dusche zu rauschen begann und er sich mit Bürste und Bimsstein abschrubbte. Wahrscheinlich hatte er zwar schon auf der Zeche geduscht, aber Mom ließ ihn nicht in die Wohnung, solange sich irgendwo an seinem Körper noch ein Molekül Kohle befand.

In dieser Nacht dachte ich in meinem Zimmer weiter an Sputnik, bis ich nicht mehr daran denken konnte und einschlief. In der Nacht wurde ich vom Geschlurfe der Stiefel und den leisen Stimmen der Nachtschicht geweckt, die den Weg hinauf zum Kipper ging. Ich kniete mich auf mein Bett und sah durch das Fenster, wie die schwarzen Schatten der Bergleute die Straße entlangzogen. Die Nachtschicht war als Sicherheits- und Steinstaubmannschaft dafür zuständig, schweren Steinstaub in die Luft zu versprühen, um den explosiven Kohlenstaub auf dem Boden zu halten. Darüber hinaus inspizierten die Männer das Innere der Strebe, die Stützbalken und die Dachbolzen. Ihre Aufgabe war es, die Grube für die beiden Förderschichten sicher zu machen. So wie sie sich im Mondlicht durch den Staub schleppten, stellte ich mir Raumfahrer auf dem Mond vor. Der von Baken erleuchtete Kipper hätte die Raumstation sein können. Ich ließ meine Fantasie schweifen und sah vor mir die ersten Forschungsreisenden auf dem Mond, die sich nach einem Tagesmarsch durch Krater und über Ebenen wieder zu ihrer Station zurückkämpften. Dort an der Spitze war Wernher von Braun, der seine sorgfältig ausgewählte Mannschaft anführte. Die Kumpel der Nachtschicht überquerten die Gleise, und ich sah das Glitzern ihrer Henkelmänner im Licht des Kippers und kehrte langsam wieder in die Realität zurück. Dies waren keine Forscher auf dem Mond, sondern einfach nur Bergleute aus Coalwood auf dem Weg zur Arbeit. Und ich gehörte nicht zu von Brauns Team. Ich war ein Junge aus Coalwood, West Virginia. Und plötzlich erschien mir das nicht mehr gut genug.

Am 3. November schlugen die Russen erneut zu und starteten Sputnik II. Diesmal war eine Hündin namens Laika mit an Bord, und ihrem Bild in der Zeitung nach zu urteilen, sah sie ein wenig wie Poteet aus. Ich ging hinaus in den Garten, rief Poteet zu mir und hob sie hoch. Sie war kein großer Hund, fühlte sich aber ziemlich schwer an. Mom sah mich und kam nach draußen. „Was machst du mit dem Hund?“

„Ich wollte nur wissen, wie groß eine Rakete sein muss, die sie in eine Erdumlaufbahn schicken kann.“

„Wenn sie nicht aufhört, auf meine Rosensträucher zu pinkeln, geht sie bestimmt in eine Erdumlaufbahn, und zwar ganz ohne Rakete“, sagte Mom.

Poteet jaulte und vergrub ihren Kopf in meiner Armbeuge. Auch wenn sie nicht jedes Wort verstanden hatte, wusste sie sehr genau, was Mom meinte. Sobald Mom wieder hineingegangen war, setzte ich Poteet ab, und sie lief hinüber und stellte sich neben einen Rosenstrauch. Ich blieb nicht lange genug, um zu sehen, was sie danach tat.

Dad bekam jede Woche mit der Post zwei Magazine, ‚Newsweek‘ und ‚Life‘. Sobald sie eintrafen, las er sie von vorn bis hinten durch, und als nächster bekam ich sie. In einer Novemberausgabe von ‚Life‘ fand ich, zu meinem größten Interesse, Zeichnungen des Innenaufbaus einer Vielzahl von Raketentypen. Ich studierte sie sorgfältig und erinnerte mich daran, wie Wernher von Braun als Jugendlicher Raketen gebaut hatte. Dabei hatte ich eine Erleuchtung. Am gleichen Abend legte ich beim Essen meine Gabel auf den Tisch und verkündete, dass ich eine Rakete bauen würde. Dad, der über seiner Schüssel mit Maisbrot und Milch grübelte, sagte nichts. Wahrscheinlich dachte er gerade über irgendein Wetterproblem nach, und ich bezweifelte, dass er mich überhaupt gehört hatte. Jim kicherte. Er dachte wahrscheinlich, dass dies wieder eine Sache für Waschlappen war. Mom sah mich lange an und sagte dann: „Spreng dich nicht in die Luft.“

Ich versammelte Roy Lee, O’Dell und Sherman in meinem Zimmer. Chipper, ein Eichhörnchen, das meine Mom als Haustier hielt, hing kopfüber an den Gardinen und beobachtete uns. Chipper ging bei uns ein und aus und liebte jede Art von Geselligkeit. „Wir werden eine Rakete bauen“, sagte ich, während der kleine Nager sich selbst auf meine Schulter katapultierte. Nach der Landung kuschelte er sich an mein Ohr. Ich streichelte ihn abwesend.

Die anderen Jungen sahen einander an und zuckten die Achseln. „Wo werden wir sie starten?“, war alles, was Roy Lee wissen wollte. Chipper wackelte mit seiner Nase in Roy Lees Richtung und hüpfte dann von meiner Schulter zum Bett und danach auf den Boden. Der Überraschungsangriff war Chippers Lieblingsspiel.

„Am Zaun bei den Rosensträuchern“, antwortete ich. Unser Haus lag in einer schmalen Lücke zwischen zwei Bergen und einem Bach, aber es gab eine kleine Lichtung hinter Moms Rosengarten.

„Wir brauchen einen Countdown“, stellte Sherman entschieden fest.

„Natürlich müssen wir einen Countdown haben“, hielt O’Dell dagegen, obwohl niemand etwas anderes gesagt hatte. „Aber woraus wollen wir unsere Rakete machen? Ich kann allen möglichen Kram besorgen, wenn du mir sagst, was wir brauchen.“ O’Dells Vater – Red – war der Müllmann der Stadt. An den Wochenenden halfen O’Dell und seine Brüder ihm auf dem Lastwagen, und dabei sahen sie im Lauf der Zeit so ziemlich jede Art von Kram, den es in Coalwood gab.

Sherman war ein stets praktischer Junge mit einem Sinn für Ordnung. „Wissen wir überhaupt, wie man eine Rakete baut?“, fragte er.

Ich zeigte ihm die Ausgabe von ‚Life‘. „Wir müssen nur Treibstoff in eine Röhre geben und am Ende ein Loch hineinschneiden.“

„Was für eine Art Treibstoff?“

Ich hatte in dieser Hinsicht schon einige Überlegungen angestellt. „Ich habe vom 4. Juli noch zwölf Riesenkracher übrig“, sagte ich. „Ich wollte sie für Silvester aufbewahren. Wir nehmen einfach ihr Pulver.“

Sherman nickte zufrieden. „Okay, das müsste reichen. Wir beginnen den Countdown bei zehn.“

„Wie hoch wird sie fliegen?“, fragte O’Dell.

„Hoch“, schätzte ich.

Wir hockten in einem kleinen Kreis zusammen und sahen einander an. Ich musste es nicht aussprechen. Es war ein bedeutender Augenblick, und wir wussten es. Wir Jungen von Coalwood waren beim Wettlauf ins All dabei. „Also gut, dann mal los“, sagte Roy Lee genau in dem Augenblick, als Chipper auf seinem Entenschwanz landete. Roy Lee sprang auf und schlug wild, aber wirkungslos auf seinen Angreifer ein. Chipper keckerte und floh auf die Gardine.

„Chipper! Du böses Eichhörnchen!“, brüllte ich, aber er schloss einfach seine kleinen Knopfaugen und bebte vor unverhohlener Freude.

Roy Lee rollte das ‚Life-Magazin‘ zusammen, aber bevor er den Arm heben konnte, war Chipper wie ein Blitz die Treppe hinunter verschwunden, zu Mom in die Küche und damit in Sicherheit. „Ich freue mich schon auf die Eichhörnchensaison“, brummte Roy Lee.

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