×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Solange es ein Morgen gibt«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Solange es ein Morgen gibt« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Solange es ein Morgen gibt

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Jessicas Leben könnte nicht besser laufen. Sie hat einen Sprung auf der Karriereleiter gemacht, liebt ihren neuen Job und ist glücklich mit ihrem Freund Johnny. Doch dann findet sie heraus, dass Johnny sie betrügt – und ein Arztbesuch verändert alles. Sie bekommt die Diagnose Brustkrebs. Plötzlich erscheinen all ihre Träume und Vorhaben ungewiss. Während Jessica dies verarbeiten muss, schmieden ihre Freundinnen Hochzeits- und Babypläne. Aber Jessica ist nicht allein, sie lernt Annabel kennen, die ebenfalls Krebs hat und ihr zeigt, dass jeder Tag ein besonderer ist. Und dann gibt es noch Annabels Bruder Joe, der nicht nur für seine Schwester, sondern auch für Jessica da ist …

»Ein Triumph … Ich habe gelacht und geweint. Es ist ein außergewöhnlicher Roman, den man gelesen haben sollte.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Alexandra Potter


  • Erscheinungstag: 22.02.2022
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749902101

Leseprobe

Für alle, die jemals von Brustkrebs oder einem unerfüllten Kinderwunsch betroffen waren oder einfach Pech in der Liebe hatten.

HOCHSTAPLER-SYNDROM

Ich habe das nicht richtig durchdacht.

Als das Taxi vor dem nobelsten Hotel in der Park Lane hält, sehe ich sofort den roten Teppich mit Scharen von Paparazzi zu beiden Seiten. Naiv, wie ich war, hatte ich geplant, schnell auf der Toilette zu verschwinden und dort die Schuhe zu wechseln, damit ich nicht mehr Zeit als unbedingt nötig in meinen abartig hohen Stilettos verbringen muss. Doch jetzt wird mir klar, dass sich der Eingang zu der Veranstaltung vor dem Hotel befindet, was bedeutet, dass ich in Turnschuhen über den roten Teppich laufen müsste und mich vermutlich auf irgendeiner Worst-Dressed-Liste wiederfinden würde, noch ehe der Abend um ist.

»Einen Moment«, bitte ich den Fahrer, der ungeduldig mit der Zunge schnalzt, weil er im Rückspiegel die Autos beobachtet, die sich hinter uns stauen.

Ich wühle in meinem Rucksack und krame die High Heels hervor, die Aisha mir vor ein paar Stunden aus der Modeabteilung der Redaktion zur Verfügung gestellt hat. Im Büro konnte ich in den Dingern kaum fünf Schritte geradeaus gehen; wie ich mein Glück kenne, werde ich also vermutlich direkt vor den Paparazzi auf die Nase fallen. Ich schließe die Riemchen und wünschte, ich hätte mir noch Zeit genommen, den abgeplatzten Lack an meinen Zehennägeln auszubessern.

Eine Minute später stoße ich die schwere schwarze Tür des Taxis auf und trete hinaus auf den Asphalt. Ich bin dankbar, dass der Hotelportier mir seinen Arm anbietet und ich mich darauf stützen kann. Ich klemme mir meinen abgewetzten Rucksack unter den Arm. Wer weiß, vielleicht starte ich einen neuen Trend: die Rucksack-Clutch.

Einen kurzen Augenblick bin ich von dem Starrummel geblendet, als eine bekannte Nachrichtensprecherin aus dem Frühstücksfernsehen durch das Blitzlichtgewitter ins Hotel schreitet. Sobald die Luft rein ist, stolpere ich hinterher. Ich halte den Kopf gesenkt, doch anscheinend haben die Fotografen den Braten ohnehin gerochen und mich als langweilige Journalistin identifiziert, denn das Klicken der Auslöser verstummt. Sie hätten wenigstens versuchen können, Interesse zu heucheln.

Drinnen nehme ich erst mal Kurs auf die Garderobe, um meinen Rucksack loszuwerden. Ich atme noch einmal tief durch, dann betrete ich den Saal. Auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht halte ich nach Aisha, Leah oder Tabitha Ausschau. Sie sind bereits während der Mittagspause hergekommen, um alles vorzubereiten, während ich in der Redaktion die Stellung gehalten habe. Inzwischen bereue ich es, die glamouröseste Veranstaltung der Hochglanzmagazinwelt ganz ohne Begleitung betreten zu müssen.

In der Nähe des Eingangs schreiten Frauen in glitzernden Roben über einen weiteren roten Teppich und bleiben, die Hand vollendet in die Hüfte gestemmt, kurz stehen, um sich vor den Fotografen in Pose zu werfen. Am Ende des samtenen Laufstegs angelangt, nehmen sie sich ein Glas Champagner von kunstvoll auf Händen balancierten Tabletts und streben auf das Schild mit der Aufschrift »Luxxe Women Awards« zu. Mag sein, dass ich im selben Verlagshaus lediglich ein paar Stockwerke nach oben gewandert bin, aber dies hier ist eine komplett andere Welt.

»Jess, da bist du ja endlich!«

Als ich mich umdrehe, steht unsere Moderedakteurin Tabitha Richardson vor mir. Ihre Schuhe sind noch höher als die, die sie normalerweise bei der Arbeit trägt, und mit ihrem atemberaubenden bodenlangen Kleid in Elfenbeinweiß und dem glänzenden, schräg geschnittenen blonden Bob ist sie kein bisschen weniger glamourös als die Gäste.

»Du siehst toll aus«, sage ich und bewundere die Art, wie sich das Material ihres Kleids um ihre Hüften schmiegt. Auf einmal komme ich mir regelrecht zerlumpt vor.

»Ach, danke, du Süße. Dein Jumpsuit ist auch sehr …« Sie taxiert mich von oben bis unten »… apart.«

Ich ziehe den Bauch ein und schaue an mir herunter auf das enge schwarze Teil, das mir schon jetzt einen akuten Fall von Cameltoe beschert. Aisha hat mich zu dem Outfitwechsel gezwungen, und dieser Jumpsuit ist bestimmt der letzte Schrei, trotzdem sehne ich mich nach meinen eigenen Klamotten. Ursprünglich hatte ich mir für die Veranstaltung mein kleines Schwarzes herausgesucht, dessen tiefes Dekolleté zumindest bei Johnny immer auf Beifall stößt, doch sobald klar wurde, dass man das große Pflaster auf meiner Brust sehen konnte, hat Aisha mir befohlen, mich umzuziehen.

»Und? Bereit für deine ersten Luxxe Women Awards

»Ich bin ganz schön nervös.« Ich lasse den Blick durch den Saal schweifen. Überall prominente Gesichter, Menschen, die einander umarmen und mit einem Überschwang begrüßen, als wären sie seit Jahrzehnten die engsten Freunde. Bei meinem alten Magazin habe ich Live-Interviews geführt und hin und wieder auch mal auf einer Bühne gestanden oder eine Veranstaltung moderiert, aber die Cake and Bake Show war nicht gerade ein besonders glanzvolles Event. Das hier ist eine ganz andere Nummer, und ich war zu lange weg aus dem Kosmos der Frauenzeitschriften, als dass irgendeiner der Gäste hier mich kennen würde.

»Es wird dir Spaß machen«, sagt Tabitha und späht an mir vorbei. »Das ist meine erste größere Veranstaltung nach der Babypause, da gehe ich mal lieber ein paar Hände schütteln.«

Sie rauscht davon und gesellt sich zu einer Gruppe von Gästen, die sie der Reihe nach mit Küsschen und Umarmungen begrüßt. Ich folge ihr und stehe etwas unbeholfen daneben, doch sie beachtet mich gar nicht. Nachdem sich die Gruppe zerstreut hat, versuche ich, mich an ihre Fersen zu heften, während sie durch den Saal marschiert.

»Könntest du mich vielleicht ein paar Leuten vorstellen?«, frage ich.

Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. »O mein Gott, natürlich. Ich dachte, du kennst hier schon alle.«

Wohl kaum. Der Sinn und Zweck meines Erscheinens heute Abend ist ja, dass ich mir die Preisverleihung einmal aus sicherer Entfernung anschauen und mich mit allem vertraut machen kann, bevor Leah in den Mutterschutz geht und ich ihren Posten als Chefredakteurin übernehme. Da Tabitha schon seit drei Jahren bei der Luxxe arbeitet, bin ich davon ausgegangen, dass sie mich unter ihre Fittiche nehmen würde.

Dann entdecke ich jemanden, der mir bekannt vorkommt. »Ist das nicht …«

»Ganz genau«, meint Tabitha, fasst mich am Handgelenk und zieht mich hinter sich her, sodass ich fast über eine Welle im Teppich stolpere. »Komm mit.«

»Schäääätz-chen«, ruft sie gedehnt und schließt die Frau in die Arme, als wären sie alte Sandkastenfreundinnen. »Wie geht es dir?«

Ein unangenehmes Schweigen tritt ein, weil die Frau Tabitha offensichtlich nicht erkennt, sodass diese sich erst vorstellen muss. Nachdem das erledigt ist, legt sie mir eine Hand auf den Rücken und schiebt mich nach vorn wie ein schüchternes Kleinkind. »Das hier ist übrigens Jess, unsere Neue.«

»Genau genommen die neue Chefredakteurin«, sage ich und schüttle der Frau die Hand. Hat Tabitha überhaupt begriffen, dass ich ihre Vorgesetzte bin?

Die Frau schaut zwischen Tabitha und mir hin und her, dann an uns vorbei. »Da ist jemand, mit dem ich mich unterhalten muss. Schön, euch getroffen zu haben.«

»Warte mal!«, ruft Tabitha. »Ich wollte dich noch fragen …«

Mit diesen Worten eilt sie der Frau hinterher, und ich bin einmal mehr auf mich allein gestellt.

Die meiste Zeit des Empfangs verschanze ich mich hinter einem Stehtisch, wo ich mich an mein Handy und ein Glas Champagner klammere, während ich gleichzeitig versuche, den nötigen Mut aufzubringen, um mich wenigstens einer der Frauen vorzustellen, die ich in all meinen Jahren als eifrige Luxxe-Leserin bewundert habe. Ich habe mein gesamtes Berufsleben bei Hartcourt Publishing verbracht und bin es gewohnt, mit wechselnden Kollegen zu arbeiten, doch es ist Jahre her, dass ich zuletzt für Frauenmagazine geschrieben habe und mit den Megastars zu tun hatte, die sich auf Veranstaltungen wie dieser tummeln. Ich könnte zu Paul Hollywood gehen, dem Juror aus The Great British Bakeoff, und er würde mich wie eine lange verschollene Freundin in die Arme schließen. Aber in der Welt weiblicher Promis bin ich ein Niemand.

»Da bist du ja!«

Als Aisha auftaucht, fällt mir ein Stein vom Herzen. Sie wirkt abgehetzt und hantiert mit ihrem Smartphone, einem tragbaren Blitzgerät sowie einem furchterregenden roboterarm-artigen Apparat herum, an dessen Ende eine Videokamera befestigt ist. »Sorry, hier rumzulaufen und Content für Social Media zu produzieren, ist jedes Mal ein Albtraum. Ich muss jetzt zurück zum roten Teppich. Hast du dich schon fotografieren lassen?«

Ich schüttle den Kopf. Ich möchte mich nur ungern zwischen lauter echten Promis ins Rampenlicht drängen, andererseits hätte ich nichts gegen ein schickes Foto für meinen neuen Instagram-Account.

»Na, dann komm.« Sie nimmt mich bei der Hand und schleift mich zurück in Richtung Eingang. Aisha und ich kennen uns seit unserer Zeit als Praktikantinnen. Dass ich bereits eine Freundin bei der Luxxe hatte, war einer der Gründe, weshalb ich mich überhaupt auf die Stelle als Leahs Vertretung beworben habe. Es ist zwar ein etwas komisches Gefühl, jetzt auf einmal Aishas Chefin zu sein, aber da sie für die digitalen Inhalte zuständig ist, gibt es praktisch keine Überschneidungen zwischen unseren Ressorts. Außerdem haben wir vereinbart, in der Redaktion ein professionelles Verhältnis zu wahren.

»Bist du sicher, dass man es nicht sieht?«, frage ich und deute auf das Oberteil meines Jumpsuits, unter dem sich das Pflaster verbirgt.

Aisha tritt einen Schritt zurück und beäugt mich. »Jess, du siehst rattenscharf aus. Und jetzt komm, zeig mir deine beste Pose.«

Immer noch etwas wacklig auf den geborgten Schuhen, stelle ich mich vor der Wand mit den Sponsoren-Logos auf. Um mir nicht anmerken zu lassen, wie unwohl und deplatziert ich mich fühle, setze ich ein Lächeln auf.

Aisha schaut hinter ihrer Kamera hervor und schüttelt den Kopf. Sie steigt über die Samtkordel, die den roten Teppich säumt, und biegt mich wie eine Gliederpuppe in die gewünschte Position. »So. Und jetzt nicht mehr bewegen.«

Sie klettert zurück auf die andere Seite und schießt mehrere Fotos, dann nickt sie zufrieden. »Ich muss jetzt los und dem Social-Media-Team helfen, alles für die Preisverleihung vorzubereiten. Ich schicke dir das Foto, sobald wir die Speicherkarten runtergeladen haben.«

Ich nicke zum Dank und kann es gar nicht erwarten, dem Scheinwerferlicht zu entkommen.

Aisha, schon im Davongehen, bleibt noch einmal stehen und dreht sich um. »Ach so, das hätte ich fast vergessen: Hals- und Beinbruch für nachher! Du machst das bestimmt großartig.«

Ich verziehe das Gesicht. Ich bin noch neu in meiner Rolle, und Veranstaltungen wie diese sind nervenzerfetzend. Na ja, immerhin muss ich keine Laudatio halten.

Oder … Ich stutze. »Moment mal – was?«

Aisha schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. »Dein Debüt auf der Bühne!«

Ich erstarre. »Wie bitte?«

Als ihr dämmert, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie redet, reißt sie die Augen auf. »Warte mal, hat Tabitha dir nichts gesagt?«

Es ist, als würde sich die Zeit verlangsamen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gleich erfahren werde, dass ich vor einem Saal voller einflussreicher Regisseurinnen, Podcasterinnen und Unternehmerinnen einen Preis überreichen muss. »Was hat Tabitha mir nicht gesagt?«

»Bei Leah haben die Wehen eingesetzt.« Aisha senkt die Stimme. »Verdammter Mist. Tabitha hat versprochen, dir Bescheid zu geben. Und Leah wollte dich eigentlich auch anrufen.«

Ich denke an den kurzen Wortwechsel mit Tabitha unmittelbar nach meiner Ankunft. Ja, sie wirkte ein bisschen gestresst, aber sie hätte ausreichend Gelegenheit gehabt, mich darüber zu informieren, dass unsere gemeinsame Chefin in den Wehen liegt. Jetzt wird mir auch klar, weshalb Leah nicht rangegangen ist, als ich sie im Taxi nach einem verpassten Anruf zurückrufen wollte.

»Moment mal.« Ich greife Halt suchend nach Aishas Hand. »Ist denn mit Leah alles in Ordnung? Es ist doch noch viel zu früh für die Geburt, oder?«

Aisha schüttelt den Kopf. »Ihr geht es gut, der errechnete Termin wäre in ein paar Wochen gewesen. Es tut mir so leid, ich dachte, du wüsstest Bescheid!«

»Ja. Okay. Scheiße.« Ich versuche die veränderte Situation zu erfassen. Wenn bei Leah früher als erwartet die Wehen eingesetzt haben, bedeutet das, dass sie ab sofort in der Babypause ist. Das wiederum bedeutet, dass ich ab morgen offizielle Chefredakteurin der Luxxe bin. Und das bedeutet …

»Glaubst du, du schaffst das? Die wichtigste Auszeichnung des Abends zu verleihen?«

Mist. Als ich das letzte Mal auf einer Bühne stand, war ich noch Chefredakteurin bei Perfect Bake und habe vor einem Publikum von Kuchenfans mit der Kochbuchautorin Mary Berry über die Tücken durchweichter Tortenböden diskutiert. Ich bin noch ganz neu bei der Luxxe. Niemand kennt mich, niemand weiß, dass ich Leahs Stelle übernommen habe, und es ist mein allererstes Mal als Chefredakteurin eines Lifestyle-Magazins für Frauen. Warum sollte mich irgendjemand hier ernst nehmen?

»Du musst nur zwei Sätze sagen, den Namen der Gewinnerin nennen, dann überreichst du den Preis und gehst von der Bühne«, erklärt Aisha, während sie zeitgleich einen Blick auf ihr Smartphone wirft. »Ich würde es dir ja abnehmen, aber ich muss in der ersten Reihe sitzen und Fotos für Insta machen. Fünf Minuten, bevor du dran bist, gehst du einfach in den Backstagebereich, dann verkabeln sie dich und geben dir eine Stichwortkarte, wo draufsteht, was du sagen musst. Du kriegst das schon hin.«

»Okay«, erwidere ich und nicke, um mich selbst davon zu überzeugen, dass ich der Aufgabe gewachsen bin. Ich habe so etwas schon einmal gemacht, wenngleich für eine andere Zeitschrift und vor einem anderen Publikum. Wenn ich bei der Luxxe bleiben möchte, nachdem Leah aus der Babypause zurückkommt, dann muss ich mich von Tag eins an in Bestform präsentieren. Augen zu und durch, wie Dad sagen würde.

Eine halbe Stunde vor Beginn der Preisverleihung humple ich nach draußen, um Johnny anzurufen. Meine Knöchel sind jetzt schon wund von den Schuhen. Die kalte Novemberluft streift meine Wangen, als ich mich an den Rauchern vorbeischlängle, um mir ein ruhiges Plätzchen in der Nähe des Bordsteins zu suchen.

Wenige Sekunden nachdem ich gewählt habe, erscheint Johnnys lächelndes, von dunkelbraunen Haaren umrahmtes Gesicht auf dem Display, und ich spüre, wie die Enge in meiner Brust ein wenig nachlässt. Wenn jemand in der Lage ist, mich zu beruhigen, dann er.

»Hey, Rotschopf. Schau an, wie elegant du aussiehst!« Seine mandelförmigen Augen blicken knapp an mir vorbei. »Wie läuft’s bisher?«

Jetzt bricht alles aus mir heraus. »Bei der Chefredakteurin haben die Wehen eingesetzt, und ich muss in einer Stunde auf die Bühne. Scheiße, Scheiße, Scheiße, ich glaube, ich kriege einen Herzinfarkt.«

»Tiefe Atemzüge«, sagt er, holt Luft und bedeutet mir, es ihm nachzutun. Ich versuche mein Bestes, während er weiterspricht. »Jessica Dawn Jackson. Muss ich dich daran erinnern, dass du letztes Jahr zur vielversprechendsten Jungredakteurin des Jahres gekürt wurdest? Dass du bereits vor deinem dreißigsten Geburtstag Chefredakteurin einer Zeitschrift warst? Dass du für diesen Job geboren wurdest? Der einzige Unterschied ist, dass es keine Torten sind, sondern Frauen. Okay?«

»Du hast recht«, sage ich und atme aus. Frauen statt Torten.

»Was immer du tust, schau nicht direkt in die Menge«, rät er mir. Er ist es gewohnt, vor Mandanten und auf großen Vorstandssitzungen zu sprechen. »Und vergiss nicht: Du bist die klügste und schönste Frau im Saal.«

Ich lächle. Johnny hat mich in den letzten Monaten nach Kräften unterstützt, während ich mich auf meinen Wechsel von der Welt der Backwaren in die eines Lifestyle-Magazins vorbereitet und mich dabei fast verrückt gemacht habe.

Ich fühle mich merklich ruhiger und werfe ihm eine Kusshand zu. »Danke dir.«

Er tut so, als würde er den Kuss auffangen und gegen seine Wange drücken.

»Loser.« Ich verdrehe die Augen.

»Ich liebe dich auch«, sagt er augenzwinkernd.

Auf dem Weg zurück zum Veranstaltungssaal durchquere ich ein Spalier aus Servicepersonal mit Getränketabletts. Ich schnappe mir ein frisches Glas Champagner und trinke einige Schlucke, dann versuche ich meinen inneren Johnny heraufzubeschwören und mich wie ein wichtiger Anwalt zu fühlen, der absolut Herr der Lage ist, ehe ich hocherhobenen Hauptes den Raum betrete. Als ich mich zu meinem Platz in der ersten Reihe begebe, entdecke ich neben mir ein bekanntes Gesicht: Stephanie Asante. Sie scheint ohne Begleitung gekommen zu sein, also fackle ich nicht lange und spreche sie an, bevor meine Nerven mir einen Strich durch die Rechnung machen können.

»Ich bin Jess«, stelle ich mich ihr vor und mache Anstalten, sie zur Begrüßung auf die linke Wange zu küssen, doch sie breitet die Arme aus und steuert stattdessen meine rechte Wange an, sodass wir uns am Ende fast auf den Mund küssen.

»Man müsste ja meinen, langsam hätte ich den Dreh raus«, sagt sie und hebt entschuldigend die Hände.

Ein Teil meiner Anspannung fällt von mir ab, als sie mich anlächelt und wir unsere Plätze einnehmen. Aus der Nähe sieht sie noch makelloser aus als im Internet. Ihre Haut strahlt unter einem Hauch von Rouge. Frauen wie sie sind der Grund, weshalb ich unbedingt bei der Luxxe arbeiten wollte – nicht, um die üblichen Artikel darüber zu schreiben, wie schön und perfekt sie ist, sondern weil mich die Geschichte dahinter interessiert. In einer Sozialwohnung in Hackney aufgewachsen, leitet sie mittlerweile ein Netzwerk zur Förderung von Frauen. Die wichtigste Auszeichnung des Abends wird – wie sollte es anders sein? – eine Frau bekommen, die mithilfe des elterlichen Bankkontos ihr eigenes Modeimperium aufgebaut hat, aber sofern ich dann noch etwas zu sagen habe, soll der Preis im nächsten Jahr an jemanden wie Stephanie gehen.

»Sind Sie auch nominiert?«, erkundigt sie sich.

»Ich? Um Himmels willen, nein«, sage ich halb geschmeichelt, halb verlegen. »Ich soll den Posten der Chefredakteurin übernehmen, wenn sie in die Babypause geht. Dummerweise haben bei ihr buchstäblich in diesem Moment die Wehen eingesetzt, deshalb muss ich ganz kurzfristig für sie einspringen und einen der Preise überreichen.«

»Oh, wow. Und? Machen Sie sich vor Angst in die Hosen?« Sie grinst. »Ich sollte das vielleicht nicht verraten, aber mir flattern immer noch die Nerven, wenn ich auf die Bühne muss.«

Ich lache, erleichtert, dass selbst eine Frau wie Stephanie nervös wird, wenn sie vor vielen Menschen auftreten soll. »Ja, ich mache mir vor Angst in die Hosen.«

»Sie sind bestimmt großartig. Wo waren Sie denn vorher beschäftigt?«

Während sich um uns herum die Sitzreihen langsam füllen, entspinnt sich zwischen Stephanie und mir ein angeregtes Gespräch. Sie scheint aufrichtig daran interessiert zu sein, weshalb ich einen Job gekündigt habe, bei dem ich jeden Tag umsonst Kuchen essen durfte, um stattdessen für eine Frauenzeitschrift zu arbeiten, wo ich auf einer Bühne stehen und – halbwegs nüchtern, wohlgemerkt – vor einem Publikum von zweihundertfünfzig Menschen sprechen muss. Nach einem fünfminütigen Monolog darüber, wie ich schon als Kind Fotos berühmter Frauen ausgeschnitten und in selbst gebastelte Zeitschriften eingeklebt habe, versteht sie, glaube ich, was meinen Wechsel zur Luxxe motiviert hat. Den wahren Grund braucht sie ja nicht zu erfahren.

Als im Saal die Lichter ausgehen, spüre ich ein nervöses Flattern. Nacheinander werden die Auszeichnungen für die beste Influencerin, die Ikone und die Unternehmerin des Jahres überreicht, während die jeweiligen Siegerinnen, begleitet von pathetischen Songs wie »Firework« oder »Girl on Fire« die Bühne betreten.

Kurz bevor Tabitha den Fashionista-Preis überreichen soll, begebe ich mich in den Backstagebereich. Mein Magen krampft sich zusammen, als stünde ich im Spaßbad von Blackpool oben an der steilen Rutsche. Als ich nach hinten komme, tigert Tabitha nervös hinter dem Vorhang auf und ab.

»Was dagegen, wenn ich noch mal kurz meinen Text mit dir durchgehe?«, frage ich und umklammere die Karte, die mir kurz zuvor jemand in die Hand gedrückt hat, während der Techniker das Mikro an meinem Jumpsuit befestigte.

»Klar.« Sie ist ganz blass vor Nervosität. »Aber schnell, ich bin gleich dran.«

Ich werfe einen Blick auf meine Moderationskarte und leiere meinen Text herunter. »… und die Gewinnerin ist … Sophia Henley-Jones!«

»Perfekt«, sagt Tabitha, während sie sich mit ihrer eigenen Karte Luft zufächelt. Ich sehe ihr an, dass sie kaum zugehört hat, kann es ihr aber nicht verübeln. Ich hätte im Moment auch keinen Kopf dafür.

»Viel Glück«, wünsche ich ihr, als sie ihr Stichwort bekommt und auf die Bühne eilt.

Wenig später bin ich an der Reihe.

Du kriegst das hin, Jess.

Ich stakse ins Scheinwerferlicht und stelle mir vor, ich hätte es mit einem Publikum von Backbegeisterten zu tun – das ist deutlich weniger Furcht einflößend. Auf der obersten Stufe der Bühnentreppe gerate ich ins Stolpern, weil mein linker Absatz an etwas hängen bleibt. Ich überspiele das kleine Missgeschick, so gut es geht, und nehme mir vor, nie wieder in nicht von mir eingelaufenen Schuhen auf eine offizielle Veranstaltung zu gehen.

Ohne weitere Unfälle erreiche ich das Podium und strecke die Hand nach dem Pult aus, um mich daran festzuhalten wie an einem Rettungsfloß. Ich falte meine Moderationskarte auseinander. Meine Finger zittern so heftig, dass ich sie um ein Haar fallen lasse.

»G-Guten Abend«, beginne ich. Dann beuge ich mich ein Stück weiter nach vorn und wiederhole die Begrüßung noch einmal, damit das Mikrofon meine Stimme einfängt. »Ich bin J-Jessica Jackson.«

Was immer du tust, schau nicht direkt in die Menge.

Sobald ich Johnnys Stimme in meinem Kopf höre, geht es mir besser. Ich packe das.

»Ich bin Jessica Jackson, die derzeitige Chefredakteurin der Luxxe.« Allmählich finde ich mich in der Situation zurecht. Konzentrier dich auf deinen Text. »Und, äh, an meinem Auftritt haben Sie höchstwahrscheinlich erkannt, weshalb ich nie den Preis als Frau des Jahres gewinnen werde.«

Irgendjemand im Publikum gackert laut, und eine Woge Gelächter schwappt durch den Saal. Als ich nach unten schiele, entdecke ich Aisha, die mich aus der ersten Reihe heraus angrinst.

Nur ein paar Sätze, dann hast du es hinter dir. Erneut suche ich Halt am Pult und versuche, meine verkrampften Beine zu lockern. Und das Atmen nicht vergessen.

»Es ist mir eine Ehre, hier sein zu dürfen«, fahre ich fort, während sich meine Muskeln ein wenig entspannen. »Nicht nur, um die neunten Luxxe Women Awards zu feiern, sondern auch, um die wichtigste Auszeichnung des Abends zu überreichen, den Preis für die Frau des Jahres.«

Jubelrufe aus dem Publikum. Wieder ist es Aisha, die mich anfeuert. So langsam finde ich in meinen Rhythmus.

»Mit gerade einmal achtundzwanzig Jahren hat diese Frau schon mehr erreicht als die meisten von uns in ihrem ganzen Leben. Ihr genügte es nicht, eine mehrfach ausgezeichnete Mode- und Kosmetiklinie, eine eigene Fernsehsendung und eine halbe Million Follower auf Instagram zu haben. Seit Kurzem ist sie auch noch stolze Autorin des aktuellen Sunday-Times-Bestsellers How I Wear it. Meine Damen und Herren … SOPHIA HENLEY-JONES

Es folgt ein Sekundenbruchteil der Stille. Ein Hüsteln dringt aus dem Zuschauerraum, kurz darauf betritt Sophia unter rauschendem Beifall die Bühne. Ihre lange schwarze Robe schleift hinter ihr auf dem Boden, während sie strahlend lächelnd auf mich zuschreitet. Einer ihrer Ohrringe schlägt rasselnd gegen mein Mikro, als sie mich so fest umarmt, dass mir fast die Luft wegbleibt.

»Ich heiße So-FAI-ah!«, zischelt sie mir mit giftiger Stimme ins Ohr. Im selben Moment wird mir mein Fauxpas bewusst. Warum hat Tabitha mich vorhin nicht korrigiert?

»Tut mir wahnsinnig leid«, erwidere ich unhörbar. »Entschuldigung.«

Ich trete ein paar Schritte zurück, um ihr die Bühne zu überlassen, und versuche mich daran zu erinnern, in welche Richtung ich abgehen muss. So schnell ich kann, eile ich die Stufen hinunter und nehme schnurstracks Kurs auf die Bar, wo ich auf Aisha warten und mich ordentlich volllaufen lassen werde.

FELT CUTE, MIGHT DELETE LATER

»Weiß doch jeder, dass sie So-FAI-ah heißt, du Gurke«, ertönt Laurens Stimme in meinem Ohr, als ich, das Smartphone zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, mit den übrig gebliebenen Goodiebags im Arm aus dem Hotel ins Freie trete.

Ich stolpere die Eingangsstufen hinunter und frage mich, ob es eine gute oder eine schlechte Idee war, insgesamt eine halbe Magnumflasche Champagner zu tanken. Pro: Ich war entspannt genug, um mich in einer Konversation mit Englands bekanntester Podcasterin, einem Transgender-Aktivisten und einer olympischen Goldmedaillengewinnerin zu behaupten. Kontra: Ich werde meinen ersten Tag als Chefredakteurin mit einem monumentalen Kater antreten.

»Aber woher hätte ich das wissen sollen?« Unbeholfen rutsche ich auf die Rückbank eines Taxis.

»Erinnerst du dich nicht mehr an die Reality-Show über ihr mondänes Leben in Chelsea mit ihrem schicken, superreichen Ehemann?«

Ich lache. Als wir noch zusammen in einer WG lebten, haben Lauren und ich praktisch jede freie Minute vor dem Fernseher gesessen und Scripted-Reality-Formate geschaut. Wir waren immer bestens darüber informiert, wie viel Geld die Erben irgendwelcher Bergbau-, Schmuck- oder Schokoladendynastien auf dem Konto hatten.

»Gott, ich habe mich vor einigen der heißesten Promis Englands zum Affen gemacht.«

»Ach, Quatsch«, sagt Lauren. »Diese Leute sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie auf Instagram rüberkommen, als dass sie sich aufregen würden, nur weil du irgendeinen Namen falsch ausgesprochen hast.«

»Ja, du hast recht.«

»Glaubst du, diese Tabitha hat dich mit Absicht ins offene Messer laufen lassen?«, will Lauren wissen.

»Nein. Sie hatte bloß andere Dinge im Kopf. Sie ist gerade erst aus der Babypause zurück, wahrscheinlich war sie genauso nervös wie ich.« Aber zugegeben: Ganz sicher bin ich mir nicht.

»Na dann, viel Glück für morgen.« Lauren gähnt. »Bei Gelegenheit müssen wir uns noch mal über die Hochzeit unterhalten.«

»Stimmt.« Laurens Hochzeit ist ein weiterer Punkt auf meiner schier unendlichen To-do-Liste, für den ich in den letzten Wochen kaum Zeit hatte, weil ich so sehr mit meinem neuen Job beschäftigt war. »Morgen, versprochen. Und jetzt lasse ich dich ins Bett gehen«, sage ich, bevor ich auflege.

Auf der Rückbank des Taxis öffne ich meine Kamera-App und schaue mir die Fotos an, die Aisha mir geschickt hat. Auf den meisten habe ich die Augen halb geschlossen, oder mein Arm ist in einem seltsamen Winkel abgeknickt, doch es gibt eins von mir auf dem roten Teppich, auf dem ich ganz passabel aussehe.

Ich öffne Instagram und scrolle durch die Promi-Fotos auf dem Account der Luxxe, ehe ich zu meinem eigenen Profil wechsle. Bei Perfect Bake habe ich das Thema Social Media den Experten überlassen, und bis vor Kurzem war mein einziger privater Post ein Bild von mir und Johnny aus den Anfangstagen von Instagram, als alle Welt noch den X Pro II-Filter und diese dicken schwarzen Rahmen verwendete, um den Fotos einen Vintage-Look zu verleihen. Nach meinem Entschluss, mich für die Position der Chefredakteurin der Luxxe zu bewerben, habe ich angefangen, mehr zu posten, weil Aisha meinte, ich müsse »meine Marke aufbauen«. Seitdem versuche ich, regelmäßig Bilder hochzuladen, um wie eine coole, trendbewusste Redakteurin zu erscheinen, auch wenn mein Bildmaterial zu zweiundneunzig Prozent aus Katzenfotos besteht.

Ich wähle das eine Foto, auf dem ich nicht vollkommen unmöglich aussehe, und poste es mit der Bildunterschrift: Auf dem Weg zu meinen ersten #LuxxeWomenAwards. Dann aktualisiere ich die Seite und warte auf Likes.

Als ich drei Minuten später noch keine bekommen habe, frage ich mich, ob ich das Bild vielleicht wieder löschen soll. Bis vor zwei Wochen war ich noch die Chefredakteurin eines Backmagazins. Niemand interessiert sich einen Scheißdreck dafür, ob ich auf dem roten Teppich posiere, als wäre ich eine ganz große Nummer. Im Gegenteil, wahrscheinlich lästern alle über mein Outfit und verdrehen die Augen, bevor sie weiterklicken.

Ich blicke aus dem Taxifenster auf den Trafalgar Square, der leer ist bis auf einige Taubenschwärme, den einen oder anderen Obdachlosen und ein paar Betrunkene, die nach Hause torkeln. Ein Pärchen, das an gebratenen Hühnerbeinchen knabbert, schlendert Arm in Arm vorbei.

Abermals öffne ich Instagram. Das erste Like. Von Aisha Parker.

Eine Sekunde später erscheint ein kleines Herzchen. Ich habe einen neuen Kommentar erhalten.

@Aisha_Parker_ Siehst scharf aus, Jess! Willkommen in der Luxxe-Familie xx

Einige Aktualisierungen später gibt es ein weiteres Like und einen zweiten Kommentar.

@JohnnyWest So kenne ich dich, immer Vollgas! Bin stolz auf dich x

An der Wohnungstür werde ich von Oreo begrüßt, der sich schläfrig an mir reibt und dann eine Acht um meine Beine läuft. Als ich mich bücke, um seinen kleinen Kopf zu streicheln, schnurrt er zufrieden.

In der Küche brennt Licht, also gehe ich weiter. Auf dem Tisch stehen eine mit Frischhaltefolie abgedeckte Schüssel Klebreis und Johnnys grünes Thaicurry, das er selbst gekocht haben muss, denn Mörser und Stößel stehen noch auf der Arbeitsplatte, und der Duft von Zitronengras liegt in der Luft. Ich greife in die geöffnete Tüte mit Krabbenchips und schiebe mir eine Handvoll in den Mund.

Dann streife ich mir die High Heels von den Füßen und zucke zusammen, als ich die Blasen an meinen Fersen sehe. Weil ich es nicht erwarten kann, endlich aus dem Jumpsuit rauszukommen, taste ich mit einer Hand hinten an meinem Rücken, um mit fettigen Krabbenchipsfingern den Reißverschluss herunterzuziehen, doch er klemmt auf halber Strecke.

»Warte, ich helfe dir.«

Als ich mich umdrehe, entdecke ich Johnny im Türrahmen stehen. Die Pyjamahose sitzt ihm ziemlich tief auf der Hüfte.

Ich drehe ihm den Rücken zu, und er öffnet vorsichtig den Reißverschluss, sodass mir das Oberteil des Jumpsuits bis zur Taille herunterrutscht. Er gibt mir zärtliche Küsse in den Nacken, während sein Arm um meine Taille gleitet und er mich an sich zieht.

»An diesen sexy neuen Look könnte ich mich gewöhnen«, sagt er, legt mir die Hand unter das Kinn und dreht behutsam mein Gesicht zu sich herum.

Als ich ihn küssen will, wird mir bewusst, dass ich nach der Untersuchung letzte Woche immer noch das große Pflaster auf der Brust habe – der Grund, weshalb ich überhaupt diesen dämlichen Jumpsuit anziehen musste.

Johnny sieht es zur gleichen Zeit und löst sich von mir.

»Wie ist es denn heute Abend gelaufen? Soll ich das für dich aufwärmen?«

»Ungewöhnlich, dass du unter der Woche so aufwendig kochst«, sage ich und ziehe den Jumpsuit rasch wieder hoch, während er Reis und Curry auf einen Teller gibt und alles in die Mikrowelle stellt.

»Na ja, meine Freundin geht ja auch nicht alle Tage zu ihren ersten Luxxe Women Awards, oder?«

Er setzt Wasser auf, während ich ihm von den Ereignissen des Abends berichte – auch davon, dass ich den Namen einer der bekanntesten Mode-Influencerinnen des Landes falsch ausgesprochen habe.

»Wie hast du ihn denn ausgesprochen?«, fragt er verwundert.

»Ich habe So-FI-ah gesagt, aber anscheinend heißt sie So-FAI-ah.« Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn, um zu unterstreichen, was für ein Riesentrottel ich bin.

Johnny lacht, stemmt in einer übertriebenen Geste die Hand in die Hüfte und näselt in feinstem BBC-Englisch: »Oh, So-FAI-ah, Darling!« Dann wechselt er wieder zu seinem wunderschönen weichen Manchester-Dialekt. »Woher soll man so was auch wissen?«

Als ich höre, wie er sich darüber lustig macht, merke ich, wie banal das Problem eigentlich ist, und stimme in sein Gelächter mit ein. Als Johnny und ich uns kennenlernten, haben wir uns auf Anhieb gut verstanden, weil wir beide aus dem Norden kamen. Wir sagten »Grass« statt »Gras« und »Batt« statt »Bad«. Auf der Rolltreppe standen wir absichtlich links, um die mürrischen Londoner Pendler zu ärgern, und wann immer ich mir als nur mittelmäßig gebildetes Landei im urbanen Süden deplatziert vorkam, gab Johnny mir das Gefühl, bei ihm ein Zuhause zu haben.

»Ich wette, du warst genial«, meint er und reicht mir meine Tasse Tee, ehe er zur Mikrowelle geht, um das Essen aufzuwärmen.

»Danke, dass du auf mich gewartet hast«, sage ich, während ich ihm dabei zusehe, wie er eine frische Limette über dem Teller mit Reis und cremigem grünem Curry auspresst. Er kratzt die Sauce von zwei Shrimps und legt sie auf den Boden für Oreo, der sie sich innerhalb weniger Sekunden einverleibt.

Als er mir meinen Teller hinstellt, stelle ich fest, dass ich einen Bärenhunger habe. Gierig schlinge ich das Curry hinunter, während Johnny mir mein Smartphone abnimmt, um es an die Ladestation anzuschließen.

»Ich bin so stolz auf dich, Rotschopf«, sagt er und massiert eine verspannte Stelle in meinem Nacken.

Ich lächle. Für seine Verhältnisse ist das ein großes Lob. Mit Anfang zwanzig habe ich immer wieder Männer in Bars kennengelernt, die mich mit Komplimenten überschütteten und als »wunderschön« bezeichneten, nur um mich ins Bett zu kriegen. Sobald sie hatten, was sie wollten, wurden sie nie wieder gesehen. Johnny hingegen brauchte über ein Jahr, um mir zu sagen, dass er mich liebte, und einen Monat, ehe er mir mein erstes Kompliment machte: »Du hast eine ziemlich gute Figur.« Aus seinem Mund bedeutete mir das sehr viel.

Während ich weiteresse, schmiege ich mich in seine Berührung. Ich bin froh, dass es zwischen uns jetzt wieder besser läuft. Als ich von der Stelle als Chefredakteurin erfuhr, wusste ich, dass dies meine Chance war, Perfect Bake den Rücken zu kehren, auch wenn es bedeutete, dass ich eine Zeit lang sämtliche Abende und Wochenenden opfern musste, um mich auf das Vorstellungsgespräch vorzubereiten. Das hat für Konflikte zwischen Johnny und mir gesorgt, nicht nur, weil er wollte, dass ich meine freie Zeit mit ihm verbrachte, sondern weil er nicht verstand, wieso ich überhaupt von Perfect Bake wegwollte, zumal ich erst ein Jahr zuvor zur Chefredakteurin ernannt worden war. Er beschwerte sich, dass ich komplett auf Instagram »fixiert« sei und nie Zeit für ihn hätte, fand aber gleichzeitig nichts dabei, wenn er ein ganzes Wochenende über einem Fall brütete. Als wäre seine Karriere wichtiger als meine.

Dann kam ich eines Tages nach Hause und sah, dass die Bilder an der Wand hingen. Seit unserem Einzug hatte ich ihm damit in den Ohren gelegen, sie aufzuhängen. Darunter befand sich auch ein Abzug, den er von meinem allerersten Perfect-Bake-Cover gemacht hatte. Seitdem gibt er sich die größte Mühe, mich zu unterstützen.

»Mm«, seufze ich wohlig. Die Nackenmassage macht mich zugleich müde und scharf. Ich schiebe meinen Teller zur Seite und drehe mich zu Johnny um. Ich küsse ihn, dann stehe ich langsam auf und ziehe ihn auf eine Art und Weise an mich, die ihm zu verstehen geben soll, dass heute sein Glückstag ist. »Lass uns ins Bett gehen.«

INSTAGRAM VS. REALITÄT

»Hast du schon gesehen?«, ruft Aisha, als ich am Dienstagmorgen ins Büro komme. »Wir sind in den Twitter-Trends.«

Ich nehme Kurs auf meinen Schreibtisch und ziehe mir den schmal geschnittenen roten Mantel aus, den ich mir gegönnt habe, nachdem ich den Job bei der Luxxe in der Tasche hatte. Ich bin noch etwas benommen vom Alkohol und der kurzen Nacht, aber in meinen geliebten Absatzstiefeln und Skinny Jeans fühle ich mich immerhin wieder wohl in meiner Haut. Und dann ist da noch das wohlige Kribbeln nach dem spontanen Sex gestern Abend …

»Lass mal sehen.« Ich freue mich auf meinen ersten Tag als Chefredakteurin. Obwohl ich ohne Leahs Unterstützung auskommen muss und großen Respekt vor meiner Aufgabe habe, bin ich voller Tatendrang.

Ich werfe einen Blick auf die Aktivität rund um den Hashtag #LuxxeWomenAwards, dann wechsle ich zu Instagram, um nachzuschauen, wie es um meinen eigenen Post von gestern bestellt ist. Das kleine Herz-Icon zeigt an, dass ich mehrere hundert Likes und dreiundsiebzig neue Abonnenten habe, darunter auch Stephanie Asante und die Chefredakteurin unserer größten Konkurrenz. Ich aktualisiere meinen Feed und klicke auf das Foto, das ich gestern Abend im Taxi gepostet habe.

Zweihundertvierundfünfzig Likes. Das muss mein bisheriger Rekord sein – noch besser als bei dem Bild, mit dem ich letzte Woche meinen Stellenwechsel bekanntgegeben habe. Ich bin froh, dass Aisha da war, um mir bei der perfekten Pose zu helfen: das linke Bein vor dem rechten, das Gesicht leicht zur Seite gedreht.

Unter dem Bild gibt es Dutzende neue Kommentare von Freunden, Kolleginnen und Leserinnen. Von Lauren habe ich einen Flammen-Emoji bekommen, und Stephanie Asante schreibt: War schön, dich kennengelernt zu haben!

Stephanie Asante kommentiert meine Fotos. Ich fühle mich wie Beyoncé.

Ich scrolle durch die Liste meiner neuen Abonnenten auf der Suche nach jemandem, den ich ebenfalls abonnieren könnte, und klicke ein paar Profile an, die mir bekannt vorkommen. Dabei fällt mir eine neue Benachrichtigung ins Auge. Johnny West hat dich getaggt.

Ich klicke auf das Foto. Er muss es auf dem Weg zur Arbeit gepostet haben. Es ist das Bild von mir auf dem roten Teppich, darunter hat er geschrieben: Ich bin so unglaublich stolz auf meine Ausnahme-Chefredakteurin @Jess_Jackson_Luxxe! Viel Glück an deinem ersten Tag! Am Schluss hat er noch einen Bizeps-Emoji und zwei Küsschen hinzugefügt. Awww. Johnny ist sonst nie auf Instagram aktiv. Er ist eher ein stiller Beobachter, der allenfalls hin und wieder ein Like dalässt. Bisher hat er erst zwei Fotos gepostet, und die waren beide von seinem Rennrad. Das macht es umso schöner, dass er bei meinen Karriereschritt voll hinter mir steht. Ich nehme mir vor, die liebe Geste unbedingt zu erwidern. Ich weiß, dass Johnny es in letzter Zeit in der Kanzlei nicht leicht hatte, und ich habe es versäumt, ihm die nötige Aufmerksamkeit zu widmen.

Gerade will ich die App schließen, als das Herzchen-Icon erneut aufblinkt. Es ist nur ein kleines optisches Signal, aber es wirkt auf mich wie eine Droge und hält mich mitunter stundenlang auf Instagram fest. Ich habe eine neue Abonnentin, @LittleMissAvo, die sämtliche meiner aktuellen Posts geliked zu haben scheint. Auf ihrem winzigen Profilbild sieht man eine knapp bekleidete dunkelhaarige Frau mit beeindruckendem Waschbrettbauch, und weil ich von Natur aus ein neugieriger Mensch bin, klicke ich es an, um mehr über sie zu erfahren. Sie hat zweiundzwanzigtausend Follower, kein Vergleich zu meinen mageren achthundertzweiundsechzig. (Ich bin nicht mal im vierstelligen Bereich!) Ganz oben auf ihrer Seite steht: gefällt Tabitha_Richardson_, Aisha_Parker_, Perfect_BakeUK + 14 anderen.

Ich überfliege ihre Thumbnails, eine Mischung aus Food- und Porträtfotos. Bei näherem Hinsehen stelle ich fest, dass es sich hauptsächlich um Body-Positivity-Posts handelt. Jedes Bild ist in zwei Hälften unterteilt: links hält Little Miss Avo in knappen Hosen und Sport-BH ihre makellosen Bauchmuskeln und straffen Brüste in die Kamera, rechts sieht man dieselbe Aufnahme aus einem anderen Winkel, sodass ein Hauch von Cellulite sichtbar wird. Darunter stehen diverse No-Bullshit-Hashtags, von #InstagramvsReality bis hin zu ihrem eigenen Tag #LittleMissAvo. Neben diesen Body-Positivity-Posts gibt es auch Food-Collagen, in denen kalorienreiche Torten oder klassische Desserts ihren faden »Diät«-Alternativen gegenübergestellt werden. Eine Frau ganz nach meinem Geschmack.

Ein weiterer Post etwas weiter unten erregt meine Aufmerksamkeit. Darauf steht sie in einem figurbetonten Business-Kostüm, schwindelerregend hohen Absätzen und mit einem Kaffeebecher in der Hand vor einem großen Zimmerspringbrunnen. Daneben sieht man ein Selfie von ihr, wie sie ohne Make-up, mit fettigen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren, wenngleich nicht weniger atemberaubend, zu Hause in ihrem Schlafzimmer am Schreibtisch sitzt und über einem Stapel Unterlagen brütet. Der Text darunter lautet: Bild 1: Wenn man sich aufgebrezelt hat, um sich in der tollen neuen Firma dem Chef vorzustellen. #RunningInHeels. Bild 2: Wenn man zum fünften Mal hintereinander die Nacht durcharbeitet, um sich in besagter toller neuer Firma auf das *beängstigendste aller Meetings* vorzubereiten. #Hochstapler-Syndrom.

Ich klicke sofort auf »abonnieren«. Dies ist genau die Art von Frau, über die ich in der Luxxe berichten möchte – eine Frau, die hinter ihre Fassade blicken lässt und sich traut, die Wahrheit zu sagen. Die andere Frauen nicht als Konkurrentinnen betrachtet, sondern ihnen Mut macht und zeigt, dass Erfolg sich nicht ohne harte Arbeit einstellt.

»Ich liebe sie!«, sagt Tabitha, die wie aus dem Nichts hinter meinem Schreibtisch aufgetaucht ist. »Sie ist so erfrischend anders, findest du nicht? Ich wünschte, ich hätte ihre Bauchmuskeln. Na ja, wenn man erst mal ein Baby zur Welt gebracht hat, kann man das vergessen.«

Ich schließe die App, weil es mir wichtig ist, in der Redaktion von Anfang an einen professionellen Eindruck zu machen. Obwohl ich nach interessanten Persönlichkeiten Ausschau halte, über die wir in unserem Magazin schreiben könnten, soll Tabitha nicht denken, ich würde meine Arbeitszeit in den Sozialen Medien vertrödeln. Auf keinen Fall werde ich den Job verspielen, auf den ich fast zwanzig Jahre lang hingearbeitet habe.

Bereits in meiner frühen Jugend war ich fasziniert von Magazinen wie Sugar, Bliss und J-17 und verkündete stolz, dass ich später einmal Redakteurin bei einer Frauenzeitschrift werden wolle. Während meine Freundinnen sich für Klamotten oder die neuesten Make-up-Trends aus dem Body Shop interessierten, freute ich mich über Papier, Druckerpatronen und Klebestift, damit ich meine eigenen Problemseiten basteln und mir packende Storys für imaginäre Zeitschriften ausdenken konnte.

Es tat gut, dass Mum dabei voll hinter mir stand. Wir blätterten gemeinsam in Hochglanzmagazinen, während sie mir die schillernde Welt von Covent Garden beschrieb, wo sie in dem berühmten Restaurant Simpson’s in the Strand als Kellnerin gearbeitet hatte, ehe sie zu Dad in den Norden zog. Sie hatte immer ein offenes Ohr für meine Träume und sagte, wenn ich erst reich und berühmt sei, würde sie mich zu all den rauschenden Partys begleiten. Vielleicht würde sie dabei eines Tages Cliff Richard über den Weg laufen – dem einzigen Mann, der sie jemals zum Ehebruch verleiten könne. Dad schüttelte dann immer in gespielter Missbilligung den Kopf, doch ich konnte sehen, wie sehr es ihn freute, dass Mum und ich uns so gut verstanden.

Meine Eltern kamen mit der Teestube, die sie in unserem kleinen Dorf in Yorkshire gekauft hatten, als ich zehn war, finanziell gerade so über die Runden. Das Geld war bei uns immer knapp, aber da Mum eine Schwester in London hatte, konnten sie es sich leisten, mich mit fünfzehn für ein zweiwöchiges Praktikum in die Hauptstadt zu schicken. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Mum mir zum Abschied winkte. Sie hatte mir so viele belegte Brote eingepackt, als wollte ich ein Jahr lang fortbleiben. Als Dads Wagen am Ende der Straße um die Ecke bog und ich mich noch einmal umdrehte, um einen letzten Blick zurückzuwerfen, stand sie immer noch in Pantoffeln, die Schürze über ihrem Lieblingskleid, in der Einfahrt und winkte. Als ich am selben Abend bei Tante Cath und Onkel Paul den Koffer auspackte, fand ich ein in Alufolie gewickeltes Päckchen Zitronenkuchen, das sie darin versteckt hatte. Dabei lag ein Zettel, auf dem stand: Zeig ihnen, wo der Hammer hängt, Jessie. Wir sind stolz auf dich. Alles Liebe von Mum und Dad.

Diese zwei Wochen in London waren genau so, wie ich sie mir immer erträumt hatte. Ich nahm jeden Tag den Zug und die U-Bahn von Peckham nach Soho und kam mir unglaublich erwachsen vor. Obwohl ich kein einziges Wort schreiben durfte und die meiste Zeit bloß Sandwiches und Cola light für die Chefredakteurin holen musste, war es spannend, die Artikel zu sehen, ehe sie in den Druck gingen, seitenweise Interviews zu transkribieren und die Chefredakteurin zu beobachten, wie sie in ihrem Eckbüro saß, Kaffee aus einem hohen Pappbecher trank und auf ihrem riesigen Apple Macintosh tippte. Das, so dachte ich, war meine Welt.

Nachdem die Leute aus der IT-Abteilung mir einen Internetzugang eingerichtet haben, arbeite ich mich durch Leahs Mails. Ich mache mich mit unseren verschiedenen Werbepartnern, dem Etat und das Layout für die kommende Ausgabe vertraut. Wenn ich wie geplant drei Wochen Zeit gehabt hätte, ehe Leah in die Babypause geht, wäre das Timing perfekt gewesen. Am Ende war es nur eine Woche, und jetzt habe ich ungefähr eine Million Fragen an sie.

Um zehn Uhr bin ich mit Miles, dem Verlagsleiter, zum Gespräch verabredet. Da ich bereits bei Perfect Bake mit ihm zu tun hatte, weiß ich, wie man mit ihm umgehen muss. Miles ist nicht am Klein-Klein der monatlichen Ausgaben interessiert – solange das Cover gut aussieht und wir die anvisierten Verkaufszahlen erreichen, ist er zufrieden. Einerseits bin ich froh, niemanden über mir zu haben, der jeden meiner Arbeitsschritte überwacht, andererseits bedeutet das zwangsläufig, dass ich mich bei Fragen zum normalen Arbeitsablauf an Tabitha wenden muss, und ich möchte bei ihr nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich keine Ahnung von meinem Job.

Während eines spontan einberufenen Meetings versichere ich dem Redaktionsteam, dass ich alles im Griff habe – was auch der Fall sein wird, sobald ich mir einen Überblick über die anstehenden Aufgaben verschafft habe, die ich infolge von Leahs überstürztem Ausscheiden noch erledigen muss. Obwohl es erst Mitte November ist, planen wir bereits die Inhalte fürs nächste Jahr, es dreht sich also alles um Neuanfänge und darum, den Traumberuf zu finden – beides Themen, mit denen ich mich identifizieren kann. Was die Mode- und Beautyseiten angeht, kenne ich mich weit weniger gut aus, das ist Tabithas Metier. Ich könnte ohne Probleme tausend Wörter über die jeweiligen Besonderheiten von Cronuts, Duffins und anderen neumodischen Hybridgebäcken aus dem Ärmel schütteln, weiß aber so gut wie nichts über Paperbag-Hosen oder was auch immer gerade modern ist. Zum Glück geht es in der Luxxe nicht in erster Linie um Mode, sondern eher um Lifestyle-Themen: Feminismus, Beziehungen, Karriere.

Irgendwann während des Vormittags unterläuft mir mein erster Fehler. Ich maile der falschen Freelancerin wegen eines Artikels über ein veganes Hochzeitsbankett, den sie vorgeschlagen, mit dem Leah am Schluss jedoch eine andere Autorin beauftragt hat. Im ersten Moment wünsche ich mir, ich könnte in den Aufzug steigen und zurück nach unten in mein altes Stockwerk fahren, wo ich mich so heimisch fühlte, dass ich die Hälfte meiner Klamotten unter meinem Schreibtisch aufbewahrte. Aber dann rufe ich mir ins Gedächtnis, weshalb ich Perfect Bake verlassen habe. Es ist klar, dass man die Liebe zum Backen verloren hat, wenn selbst eine dreistöckige Torte mit Biscoff-Cremefüllung keinerlei Emotionen bei einem auslöst.

Ich weiß noch, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich bei Perfect Bake anfing. Ich hatte unter Leahs Leitung bei einem Teeniemagazin gearbeitet, als der Verlagsinhaber verkündete, eine Backzeitschrift mit kleinem Budget und noch kleinerem Team herausbringen zu wollen. Dank der Praxiserfahrung, die ich in den Schulferien mit Mum in der Teestube gesammelt hatte, war ich eine ideale Kandidatin für eine Stelle als Feature-Autorin. Die TV-Backshow The Great British Bakeoff erfreute sich immer größerer Beliebtheit, und das Magazin wuchs ebenso schnell. Innerhalb weniger Jahre wurde ich erst zur festen Redakteurin und einige Jahre darauf zur Chefredakteurin befördert. Mum legte immer Ausgaben von Perfect Bake in der Teestube aus und erzählte allen Kunden voller Stolz, dass ihre Tochter für diese Zeitschrift arbeitete.

Unser größter Pluspunkt war, dass wir ein Magazin geschaffen hatten, das junge Backenthusiasten ebenso ansprach wie ältere, erfahrene Bäckerinnen. Mit der Luxxe will ich Ähnliches erreichen. Obwohl ich als Leahs Stellvertreterin keine größeren Veränderungen vornehmen darf, möchte ich den Inhalt des Magazins so gestalten, dass sich möglichst viele Frauen angesprochen fühlen. Ein Artikel über die neuesten Modetrends soll für eine Cisfrau aus Liverpool mit Kleidergröße 44 genauso relevant sein wie für eine Transfrau aus Brighton mit Größe 34. Als jemand, der in Yorkshire aufgewachsen ist, fühlte ich mich von solchen Magazinen nie richtig wahrgenommen – alles schien sich immer nur um London zu drehen. Deshalb habe ich mir geschworen, falls ich es jemals zur Chefredakteurin einer Frauenzeitschrift bringen würde, wollte ich dafür sorgen, dass jede Frau sich mit dem Inhalt identifizieren kann.

Um die Mittagszeit herum habe ich so langsam meinen Rhythmus gefunden. Ich führe mit allen Mitgliedern des Teams Einzelgespräche, in denen ich betone, dass ich offen bin für Anregungen und so viel wie möglich von ihnen lernen möchte. Da Aisha und ich seit Jahren befreundet sind, dachte ich, es könnte ein bisschen unangenehm für sie sein, mich als Chefin zu haben, doch sie freut sich, dass ich jetzt ein Teil des Teams bin, und hat tonnenweise Ideen, wie man unsere Print-Inhalte ins Digitale übertragen könnte. Auch der Rest der Redaktion ist sehr eifrig und freut sich, dass ich ein offenes Ohr für ihre Vorschläge habe.

Als Tabitha an der Reihe ist, rattert sie alles Wissen herunter, was sie in ihren drei Jahren bei der Luxxe angesammelt hat. Sie scheint wild entschlossen, mir zu beweisen, wie kompetent sie ist. »Miles mag es nicht gern, wenn wir zu viele Artikel über Menstruation bringen«, sagt sie etwa, oder: »Hygge ist so 2016«, oder: »Oh, wir würden niemals einen Reality-TV-Star aufs Cover nehmen.« Ich weiß genau, was sie wirklich meint: Sie würden niemals einen Reality-TV-Star aus der Arbeiterklasse aufs Cover nehmen. Doch fürs Erste möchte ich sie nicht vor den Kopf stoßen. Stattdessen versuche ich ihr deutlich zu machen, dass ich keine Bedrohung darstelle und nicht die Absicht habe, mich in ihre Arbeit einzumischen. Leider hört sie mir kaum zu, weil sie die meiste Zeit mit ihrem Handy beschäftigt ist. Bis wir miteinander warm werden, wird es wohl noch eine Weile dauern.

Gegen sechzehn Uhr kommt die frohe Kunde von Leah: »Es ist ein Junge!«, jubelt Tabitha laut hinter ihrem Schreibtisch.

Wir scharen uns um ihren Monitor und schauen der Reihe nach auf das Foto, das Leah an die redaktionsinterne WhatsApp-Gruppe geschickt hat. Es zeigt sie ungeschminkt, wie sie ein winziges, blasses Geschöpf mit einem vollen Schopf Haare im Arm hält. Neben den beiden sieht man den Kopf ihrer Ehefrau. Leah sieht erschöpft, aber glücklich aus.

Unser kleines Wunder hat am Dienstag, dem 14. November, um 12:20 h das Licht der Welt erblickt. Er wiegt 3,7 kg. Mummy, Mama und das Baby sind wohlauf, aber Mummy braucht nach zwanzig Stunden Wehen erst mal einen starken Scotch. Wir sind bis über beide Ohren verliebt! Die Nachricht endet mit einem kleinen blauen Herzchen.

Tabitha hat bereits geantwortet: Ach du meine Güte, herzlichen Glückwunsch! Es gibt nichts Magischeres als die ersten Tage mit einem neuen Baby. Genießt jeden kostbaren Augenblick! Xx

Die nächste halbe Stunde können wir uns kaum auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder betrachten wir das Baby, seufzen verzückt und spekulieren, wie der Kleine wohl heißen wird. Leah und ich sind auch nach meinem Wechsel zu Perfect Bake in Kontakt geblieben, und ich weiß, wie sehr sie sich gewünscht hat, Mutter zu werden. Sie und ihre Ehefrau haben es jahrelang versucht und viele Mühen auf sich genommen, bis sie endlich mithilfe einer Samenspende schwanger wurde. Daher ist es besonders ergreifend, dass sie nun endlich ein gesundes Baby haben.

Als ich mich für den Job bei der Luxxe beworben habe, meinte sie scherzhaft, dass ich höchstwahrscheinlich auch schwanger wäre, wenn sie aus der Babypause zurückkäme. Ehrlich gesagt, habe ich immer gehofft, dass Johnny und ich vorher heiraten – falls er mir jemals einen Antrag macht. Aber im Moment verschwende ich ohnehin keinen Gedanken an Babys und Windeln. Ich habe die einmalige Chance bekommen, Chefredakteurin eines Magazins zu sein, das ich seit Jahren liebe. Das werde ich garantiert nicht aufs Spiel setzen.

Da es mir wichtig ist, morgens als Erste in die Redaktion zu kommen und abends als Letzte zu gehen, sitze ich bis neunzehn Uhr an meinem Schreibtisch und schaue mir das Layout der nächsten Ausgabe an, während ich gleichzeitig bergeweise E-Mails von irgendwelchen Promotion-Girls mit Namen wie Sapphire und Arabella durchgehe, die mir anbieten, mich im Austausch für ein Feature auf die Seychellen zu schicken. Das ist schon eine Nummer größer als die Torten, die ich bei Perfect Bake tagtäglich geschickt bekam, weil die Absenderinnen hofften, ihre Werke würden es auf unsere Social-Media-Seiten schaffen. Aber ich will mich unbedingt als ernst zu nehmende Chefredakteurin etablieren, die keine Werbegeschenke annimmt.

Meine Hoffnung, die U-Bahn wäre um diese Uhrzeit nicht mehr ganz so voll, erweist sich als trügerisch. Ich stehe mit verrenktem Hals im Türbereich, meine Schulter klemmt unter der Achsel eines Mannes im Anzug, der den Geruch von schalem Bier verströmt. Ich lasse den Blick durch den Wagen voller Lemminge schweifen, von denen jeder einzelne mit seinem Smartphone beschäftigt ist. Ganz so habe ich mir das nicht vorgestellt, als ich mit Mum von einem Leben in London träumte, aber nun, da immer mehr Zeitschriften pleitegehen, ist nichts mehr so wie früher. Ich kann dankbar sein, in der gegenwärtigen Situation überhaupt einen Job zu haben – noch dazu bei einem der wenigen Magazine, die schwarze Zahlen schreiben.

»Nächste. Station. London. Bridge.«

Ich presse meinen Rucksack fest an die Brust, als die Pendler sich unter Einsatz ihrer Ellbogen an mir vorbeischieben und aus den offenen Türen ergießen wie Badewasser, nachdem man den Stöpsel gezogen hat. Gleich darauf füllt sich die Wanne erneut. Die Leute drängeln und schubsen, überall sind Handtaschen, und der restliche Raum wird von auseinandergefalteten Abendzeitungen eingenommen.

Eigentlich sollte uns die Wohnung in Clapham das Leben leichter machen. Für Johnny ist es nur eine kurze U-Bahnfahrt aus der City Richtung Süden, und ich muss auf dem Nachhauseweg von Soho lediglich einmal umsteigen. Leider haben wir die Rechnung ohne die grauenhafte Northern Line gemacht.

In den ersten Jahren unserer Beziehung wohnte ich noch mit Lauren in einer WG in Crystal Palace, während Johnny ganz im Norden Londons in Stoke Newington lebte. Wann immer ich die Odyssee zu ihm auf mich nahm, sagte er mir, ich solle Sachen zum Wechseln mitbringen und so lange wie möglich bleiben, weil er nicht wollte, dass wir uns in entgegengesetzte Richtungen bewegten. Als Mum krank wurde, sprach er endlich die Worte aus, auf die ich schon die ganze Zeit gewartet hatte: »Ich möchte, dass wir nie mehr auseinandergehen, Jess. Lass uns zusammenziehen.«

»Bitte durchrücken!«, ruft jemand. Aber ich kann nicht. Ich stehe in einer Sackgasse zwischen einer Sitzreihe und dem Ende des Wagens und bin kurz davor, von nachdrängenden Leibern zerquetscht zu werden.

»Verdammte Scheiße noch mal.«

Als ich aufblicke, wird mir klar, dass dieser Fluch an mich gerichtet ist, weil ich einen winzigen freien Stehplatz blockiere. Aber wenn ich dorthin durchrutsche, kann ich mich nirgendwo festhalten. Gleich darauf knallt mir jemand seinen Aktenkoffer gegen das Schienbein, und ein scharfer Schmerz fährt mir den Knochen hinauf.

Noch vor wenigen Wochen wäre ich in Tränen ausgebrochen. Ich hätte mich gefragt, warum andere Leute ihren Lebensunterhalt damit verdienen, in gesponserten Badeanzügen auf den Malediven in der Sonne zu liegen, während ich tagaus, tagein wie eine Wilde schufte, nur um mich abends in der U-Bahn von Männern mittleren Alters anpöbeln zu lassen, denen es komplett am Arsch vorbeigehen würde, wenn ich zu ihren Füßen tot umfiele.

Doch heute perlt das alles an mir ab. Ja, in letzter Zeit hatte ich viel um die Ohren, und Johnny und ich haben eine schwierige Phase hinter uns, aber im Grunde genommen ist mein Leben perfekt. Ich habe alles, was man sich nur wünschen kann: einen Traumjob, einen liebevollen Freund und blendende Zukunftsaussichten.

LITTLE MISS AVO

»Ich habe deinen ersten Artikel gelesen!«, sagt Johnny und zeigt mir sein Smartphone mit dem Text über Stephanie Asante auf dem Display. Ich habe ihn bereits vor einigen Wochen geschrieben, als Leah uns aufgetragen hat, jeweils einen Artikel über eine der Luxxe-Women-Awards-Gewinnerinnen für die Website zu verfassen, aber Aisha hat ihn erst heute Nachmittag gepostet. Mein allererster Artikel für die Luxxe. »Ich fand es toll, dass du den Fokus darauf gelegt hast, wie unterrepräsentiert sozial schwächere Gesellschaftsschichten in den Medien sind. Stephanie ist cool, oder?«

Mir geht das Herz auf. Ich glaube, ich werde niemals aufhören, ihm dafür dankbar zu sein, dass er jedes von mir geschriebene Wort liest. Als wir uns kennenlernten, hat er sich sogar viele meiner älteren Artikel angeschaut, nur damit er sich bei unseren Dates mit mir darüber unterhalten konnte. Fünf Jahre später ist er immer noch genauso sehr an meiner Arbeit interessiert wie zu Anfang.

Während Johnny unser Essen auf zwei Teller gibt, will ich noch ganz schnell einen Post über meinen ersten Online-Artikel für die Luxxe tippen, doch kaum habe ich Instagram geöffnet, werde ich von einem Video abgelenkt.

Little Miss Avo in einem weißen Bikini. An einen hölzernen Pfeiler gelehnt, macht sie Handstand-Pushups auf der Veranda eines exotischen Urlaubsdomizils. Als sie sich wieder in die Aufrechte begibt, sieht man das Spiel ihrer festen, sonnengebräunten Oberschenkelmuskeln, und ich bin gebannt vom Anblick ihrer Brüste, die selbst kopfüber der Schwerkraft zu trotzen scheinen. Das zweite Video auf ihrer Startseite ist ein Zusammenschnitt missglückter Szenen. Einmal fällt sie aufs Gesicht, ein anderes Mal muss sie ihr Bikinitop zurechtrücken, weil man eine Brustwarze sehen kann. Ich lache schallend. Diese Frau ist wirklich der Hammer.

»Was ist so lustig?« Johnny stellt eine Schüssel Pasta auf den Tisch, deren Sauce hauptsächlich aus TK-Erbsen und gekauftem Pesto besteht. Das Curry von gestern Abend war also wohl eine Ausnahme.

»Diese neue Influencerin, die ich entdeckt habe«, antworte ich und halte ihm mein Smartphone hin. »Ich überlege, ob wir ein Interview mit ihr machen sollen.«

Johnny starrt mit zusammengekniffenen Augen auf das Video, runzelt kurz die Stirn und schüttelt dann den Kopf. »Du und dein blödes Instagram. Kannst du das nicht mal sein lassen?«

Betreten lege ich mein Handy mit dem Display nach unten neben mich auf die Bank. Irgendwann werde ich Johnny nicht mehr weismachen können, dass ich das nur für die Arbeit tue, zumal ich selbst nicht hundertprozentig davon überzeugt bin.

Bevor er sich hinsetzt, nimmt er sein eigenes Smartphone in die Hand, tippt kurz etwas und schaltete es dann in den Ruhemodus, um mir zu signalisieren, dass auch er bereit ist, unsere Kein-Handy-beim-Abendessen-Regel einzuhalten, die wir in letzter Zeit immer öfter haben schleifen lassen.

»Und, wie war heute die Stimmung zwischen dir und Tabitha?«, will er wissen.

»Hmm …« Ich suche nach einem Wort, das ihre Haltung zu mir adäquat beschreibt. »Feindselig?«

»Sie ist neidisch auf dich«, sagt Johnny, während er frischen Pfeffer aus der Mühle auf seine Pasta gibt. »Jemand, der so eine Karriere hingelegt hat wie du und ihr dann als neue Chefin vor die Nase gesetzt wird? In der Situation würde sich doch jeder bedroht fühlen.«

Vielleicht hat er recht. Ich will niemandem auf die Zehen treten, trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass es in Wahrheit genau andersherum ist: Tabitha hat unglaublich viel Erfahrung und kennt sich so gut mit Mode aus, dass ich mir neben ihr total unfähig vorkomme. Bis vor Kurzem dachte ich noch, Sandro sei kein Fashionlabel, sondern eine Pizzakette.

»Vielleicht solltest du sie einfach mal zum Mittagessen einladen, um sie ins Boot zu holen?«, schlägt er vor. »Es heißt doch immer, man soll seine Feinde stets im Auge behalten, oder?«

»Guter Tipp.« Ich frage mich, was Tabitha davon halten würde, dass ich mich hier mit Nudeln vollstopfe, als hätte ich einen Monat lang keine Nahrung zu mir genommen. Ich habe sie kaum je etwas anderes als Quinoa essen sehen.

Johnny nippt an seinem Wein. Das Hemd spannt sich über seinem Bauch, und oben aus dem Kragen schaut ein Büschel Brusthaare hervor. Ich versuche schon länger, ihn dazu zu überreden, wieder mehr Sport zu machen, doch als ich ihn das letzte Mal darauf hingewiesen habe, dass er ja auch mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren könne, hat er bloß irgendetwas über die hohe Anzahl tödlicher Fahrradunfälle in London gemurmelt.

»Wie läuft es denn bei dir in der Kanzlei?«, frage ich. Ich möchte unbedingt herausfinden, wie ich ihn motivieren kann.

Er zuckt mit den Schultern. »Ach, wie immer eigentlich. Habe ich erwähnt, dass dein Dad mich schon wieder angerufen hat?« Er spießt mit der Gabel mehrere Penne auf. »Er macht sich Sorgen um dich.«

Mist. Ich muss Dad unbedingt zurückrufen. Genau wie ich mit Lauren über ihre Hochzeit sprechen muss. Ich habe einfach zu viel um die Ohren. Ich werde mich am Wochenende bei ihm melden.

Während Johnny das Geschirr abräumt, nehme ich wieder mein Smartphone in die Hand, um den Post abzuschicken, doch das Instagram-Profil von Little Miss Avo zieht mich geradezu magisch an. Sie verkörpert genau die Art von Persönlichkeit, die ich für die Luxxe interviewen möchte – eine Frau, die stark, klug und humorvoll ist und trotzdem eine Scheißangst vor einem Job hat, für den sie sicher mehr als qualifiziert ist.

Ich klicke auf den Link in ihrer Biografie und navigiere zu ihrer »Über mich«-Seite, wo mich ein großformatiges Foto von ihr begrüßt. Darauf räkelt sie sich in einem schicken Hotelbett, eine gebräunte Schulter entblößt, die Kate-Middleton-Wallemähne über ihren nackten Brüsten drapiert. Der Text dazu lautet: Mia King, 23. Vollzeit-Anwältin und Teilzeit-Bullshit-Detektor. Referendarin bei Mackenzie Paige in Manchester.

»O mein Gott, sie arbeitet in deiner Kanzlei!«, rufe ich und erinnere mich an ihren Post mit dem Hashtag #Hochstapler-Syndrom. Der Zimmerbrunnen kam mir doch gleich bekannt vor!

»Wer?« Johnny, der an der Spüle steht, dreht sich zu mir um.

»Diese neue Influencerin. Mia King?«

Johnny sieht mich verständnislos an. »Nie gehört.« Er schüttelt den Kopf.

»Könnte sie eine eurer neuen Referendarinnen sein? Vielleicht stellst du sie mir mal vor.«

Er dreht sich wieder zur Spüle. »Ich kenne nur die, die in London arbeiten.«

»Okay«, sage ich und fange an, eine Nachricht an sie zu tippen. »Wenn das so ist, schreibe ich ihr einfach eine DM

»Warte!« Johnny dreht den Wasserhahn zu und wischt sich die schaumigen Hände an der Hose ab. »Leg mal kurz das Handy weg.«

»Was ist denn?« Ich höre auf zu tippen und schiebe mein Handy zur Seite.

Johnny kommt zum Küchentisch und setzt sich mir gegenüber auf einen Stuhl. Er stößt einen Seufzer aus, der so tief ist, als hätte er einen ganzen Monat lang die Luft angehalten. Dann schluckt er. »Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, aber …«

»J, was ist denn los?« Erst jetzt fällt mir seine niedergeschlagene Miene auf.

»Ich habe die Stelle als Partner nicht bekommen.«

»Was?« Die Beförderung zum Partner war für Johnny so etwas wie eine Frage von Leben und Tod. Er arbeitet schon seit Ewigkeiten darauf hin. »Aber ich dachte, das entscheidet sich erst in ein paar Wochen?«

Abermals seufzt er. »Erica hat mir gesagt, dass es mit der Beförderung nicht klappt.«

»Wann?«

»Vor vierzehn Tagen.«

»Was? Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

Er knibbelt an seinen Fingernägeln. »Du warst so sehr mit deiner neuen Stelle beschäftigt. Du hattest genug andere Probleme.«

Ich wusste, dass er mir etwas verheimlicht. Er hat sich zwar bemüht, für mich da zu sein, aber in letzter Zeit war er ganz schön launenhaft. In einer Minute stierte er gedankenverloren aus dem Fenster, in der nächsten schmiedete er Pläne für unseren gemeinsamen Sommerurlaub.

Ich nehme seine Hand. »Das tut mir leid. Irgendwann schaffst du es bestimmt. Ich weiß doch, wie sehr Erica dich schätzt.«

Erica Paige ist eine waschechte Alphawölfin. Sie kommt mit vier Stunden Schlaf pro Nacht aus und wirbelt in ihrem teuren Kostüm durchs Büro, ohne jemals auch nur im Geringsten müde auszusehen. Sie ist mit vierunddreißig Partnerin geworden, obwohl sie drei Kinder unter sechs Jahren zu Hause hat, und findet trotz allem noch die Zeit, ein Symposium für Juristinnen auf die Beine zu stellen. Doch ihrem ehrfurchtgebietenden Auftreten zum Trotz ist sie ein sehr fürsorglicher Mensch. Sie greift Johnny unter die Arme, wann immer er Schwierigkeiten hat, setzt sich für Diversität ein und begrüßt alle Volontäre, als wären sie ihre leiblichen Kinder.

»Warte mal – woher weißt du, dass sie nicht in London arbeitet?«

»Was?« Johnny ist schon wieder mit seinem Smartphone beschäftigt.

»Mia King.«

»Was meinst du?«

»Du hast eben gesagt, du hättest den Namen noch nie gehört, aber trotzdem wusstest du, dass sie nicht in London arbeitet. Dann muss sie ja logischerweise in der Filiale in Manchester beschäftigt sein.«

Er verzieht das Gesicht. »Das habe ich einfach daraus geschlossen, dass ich ihr noch nie begegnet bin.« Er zögert kurz, ehe er als Nachsatz hinzufügt: »Weil ich alle Volontäre in London kennengelernt habe.«

»Aber du fährst doch einmal im Monat nach Manchester, und das Büro dort ist winzig!« Ich rufe ihr Instagram-Profil auf und scrolle nach unten, um ihm das Bild mit dem Zimmerbrunnen zu zeigen, doch dann erregt ein Selfie mit rosafarbenem Hintergrund meine Aufmerksamkeit. Ich erkenne den unverwechselbaren Speisesaal des Restaurants Sketch auf Anhieb wieder, weil wir bei Perfect Bake einmal ein Feature über deren Nachmittagstee gemacht haben – und weil Johnny zu einer Firmenfeier dort war, die Erica organisiert hatte, um die neuen Volontäre mit den alteingesessenen Anwälten der Kanzlei in Kontakt zu bringen.

Ich blicke zu ihm auf. »Warst du nicht im September auch bei dem Abendessen im Sketch

Johnny schaut zur Seite und kratzt sich an der Nase. »Ach ja«, sagt er, und seine Stimme rutscht eine Oktave in die Höhe. »Lass mal sehen, wie sie aussieht.«

Doch ehe ich die Chance habe, ihm mein Smartphone zu zeigen, bemerke ich am äußersten Rand des Bildausschnitts eine Hand, die neben Mia auf dem Tisch ruht. Ich zoome näher heran und sehe die unverwechselbaren dunklen Haare am Handgelenk, dann die silbernen Manschettenknöpfe. Die habe ich ihm zum Geburtstag gravieren lassen. Ich würde diese Hand immer und überall wiedererkennen.

»J, du hast direkt neben ihr gesessen!« Ich halte ihm das Telefon unter die Nase. »Warum behauptest du …«

Urplötzlich verkrampft sich mein Magen.

Das kann kein Zufall sein, oder? Sie wollte, dass ich sie auf Instagram finde. Sie hat mich abonniert, unmittelbar nachdem Johnny mein Foto gepostet hatte.

Es vergeht ein Moment, ehe meine Lippen die Worte formen können. »Gibt es … Läuft da was zwischen dir und dieser Mia?«

Johnny zuckt zurück, und mir kommen Zweifel. »Was? Natürlich nicht! Ich habe bloß vergessen, dass ich …«

»Du hast vergessen, dass du jemanden kennst, der bei einem intimen Dinner neben dir gesessen hat und den du einmal im Monat in einem Büro mit insgesamt … fünf Angestellten siehst?«

Auf dem Display seines Handys leuchtet etwas auf. Wir beide schauen gleichzeitig hin, doch er dreht es um, ehe ich die Nachricht lesen kann.

»Wer war das?« Mein Herz schlägt schneller. Ein Gefühl der Angst ergreift von mir Besitz.

»Niemand.« Er schaut kurz auf das Telefon, dann legt er es erneut mit dem Display nach unten auf den Tisch. »Nur die Arbeit.«

Ich presse eine Hand gegen meine Brust, um Kraft zu sammeln. Dann sage ich mit erzwungener Ruhe: »Wieso habe ich das Gefühl, dass du mich anlügst?«

Johnny stellt die Finger unter seiner Nase auf und atmet mit geschlossenen Augen tief ein. Als er die Hände sinken lässt, sehe ich, dass er zittert.

»Johnny, was ist los?«

Er spricht leise, wie ein Kind, das gesteht, die Tapete mit Wachsmalstiften beschmiert zu haben. »Ich bin so ein Idiot, Jess. Ich habe einen Fehler gemacht.«

Er schluckt, dann hebt er den Kopf und schaut an die Decke. Ich folge seinem Blick, wobei mir auffällt, dass er den Wok schon wieder an den falschen Haken gehängt hat.

»Was hast du gemacht?«, sage ich. Mein Herz hämmert schmerzhaft in meiner Brust.

»Mia und ich …«

Er sieht mich an, als erwartete er, dass ich den Satz beende, aber alles, woran ich denken kann, sind ihre perfekten, straffen Brüste in dem weißen Bikini.

»Was ist mit Mia und dir, Johnny?« Auf einmal kriege ich kaum noch Luft. Das Gefühl kommt wie ein Faustschlag in die Magengrube, schnell und heftig.

Abermals schüttelt er den Kopf, so als wäre das alles nicht real, solange er es nicht laut ausspricht.

»Es war nur einmal, ich schwöre es. Ich war betrunken …«

NUR EIN DRINK

»Du musst was essen.« Aisha schiebt mir den Teller mit Süßkartoffelpommes hin und wedelt mit einem von ihnen vor meinem Gesicht herum. »Komm schon, nur ein paar, sonst muss ich dich füttern.«

Ich habe gestern Nacht kaum ein Auge zugetan. Ich bin durch die Redaktion geschlichen wie ein Zombie, und meine Augenlider waren dick und rot wie Wassermelonen, weil ich so viel geweint hatte. Eine Mail oder ein Meeting vermochte mich für fünf Sekunden von meinem Elend abzulenken, dann ging es wieder los, mit voller Wucht. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, dass der Mensch, den ich am meisten auf der Welt liebe, mich so schändlich hintergangen hat, war es wie ein Tritt in den Magen.

Ich schiebe mir die Pommes in den Mund und versuche zu kauen, aber es schmeckt nach Pappe. Ich bin völlig entkräftet, trotzdem bringe ich nichts herunter. Ich wusste, dass er lügt. Jetzt ergibt endlich alles einen Sinn. Erst regte er sich auf, weil ich so auf die Arbeit fixiert war, und dann kam er eines Tages heim und war wie ausgewechselt. Er erledigte den Haushalt und versuchte mir mit selbst gekochtem Essen und Instandsetzungsarbeiten in der Wohnung eine Freude zu machen. Schuldgefühle.

Ich kann nicht einmal ihren Namen sagen, ohne dass mir die Galle hochsteigt. Ich habe nicht lockergelassen, bis er mir die Wahrheit gestanden hat – oder jedenfalls seine Version der Wahrheit. Jede Information, die ich ihm aus der Nase zog, war wie ein weiterer Schlag ins Gesicht, während mir Stück für Stück das Ausmaß seines Verrats klar wurde. Wie sich herausstellt, ist Mia die Gefeierte Neue Star-Referendarin, Die Einfach Alles Kann. Sie hat Ende des Sommers in Johnnys Kanzlei angefangen. Die beiden hatten Sex – nur ein einziges Mal, wie er immer wieder beteuert. Als er ihr hinterher eröffnete, dass er in einer festen Beziehung sei, habe sie ihm gedroht, mich zu finden und mir alles zu verraten.

»Das Schlimmste ist, dass er heute Morgen nach Manchester gefahren ist«, sage ich und schnaube, als mir bewusst wird, wie fertig ich aussehen muss. »Er hätte sich krankmelden oder behaupten können, dass er es diesen Monat nicht schafft – was auch immer. Aber nein, er kehrt buchstäblich an den Ort seines Verbrechens zurück, um die nächsten zwei Tage mit ihr zu verbringen.«

»Und wie seid ihr verblieben?«, fragt Aisha und reicht mir eine Serviette, damit ich meine Tränen trocknen kann.

Kopfschüttelnd erinnere ich mich an unseren grauenhaften, sehr lauten und tränenreichen Streit, der in der Küche begann und den wir zunächst im Wohnzimmer und irgendwann im Bad fortsetzten, ehe ich schließlich um vier Uhr morgens zu Tode erschöpft auf dem Bett zusammenbrach. Johnny hat auf dem Sofa geschlafen. Er hat mir vorgeschlagen, ich könne auch mit jemandem Sex haben, dann seien wir »quitt« – als würde ein erneutes Fremdgehen alles wieder ins Lot bringen. Ich sagte ihm, dass es aus sei, weil ich um nichts in der Welt mit einem Mann zusammenbleiben wolle, der mich betrogen hat.

»Und da besaß er doch allen Ernstes die Dreistigkeit, mir zu sagen, dass er mich eines Tages heiraten will.« Ich muss lachen, weil es einfach zu absurd klingt.

Aisha schneidet eine Grimasse. »Bisschen spät dafür, oder?«

Ich nicke. Als Johnny und ich uns kennenlernten, war ich sicher, dass es nur eine kurze Affäre sein würde. Wir saßen bei einer Hochzeitsfeier am Singletisch, und ich fühlte mich sofort von seinem Dialekt angezogen, weil er sich so vertraut anhörte. Allerdings war er zu jung, zu gut aussehend, zu erfolgreich, um etwas anderes als ein Aufreißer zu sein, und ich wusste von vornherein, dass er für etwas Ernstes nicht zu haben war. Erst nachdem wir einen Monat lang miteinander ausgegangen waren, fand ich heraus, dass Johnny die Sitzordnung bei der Hochzeitsfeier heimlich verändert hatte, damit er neben mir sitzen konnte. Er hatte mich in der Kirche gesehen, den Bräutigam nach meinem Namen gefragt und dann die kleinen Teetassen vertauscht, die als Tischkarten dienten. Wir haben später noch oft darüber gelacht, dass ich seinetwegen keine Chance hatte, herauszufinden, wie gut ich mich mit Onkel Nigel verstanden hätte. Jetzt kommt mir dieser Witz schal und peinlich vor.

»Hey.« Aisha drückt meine Hand. »Ich finde es furchtbar, was er dir angetan hat. Er ist ein Arschloch.«

Aber er ist eben kein Arschloch. So sehr ich ihn auch dafür hasse, dass er fremdgegangen ist, der Johnny, den ich gestern Abend erlebt habe, passt einfach nicht zu dem Mann, der mein Handy für mich auflädt, weil er weiß, dass ich in Panik gerate, sobald der Akkustand unter zwanzig Prozent sinkt. Er passt nicht zu dem Mann, der mich immer zuerst baden oder duschen lässt, der den Kater mit kleinen Gourmetmahlzeiten in Form aufgerollter Schinkenscheiben füttert, wenn er denkt, dass ich gerade nicht hinsehe, und der mir immer das letzte Bonbon, die letzte knusprige Ecke der Lasagne, das letzte Stückchen von allem überlässt.

Ich war mir ganz sicher, dass wir eines Tages heiraten würden. Ich wollte keine große Traumhochzeit in Weiß, stattdessen hatte ich mir immer vorgestellt, wie wir im Kreis unserer engsten Freunde und Verwandten auf dem Standesamt die Ehe schließen, genau wie Mum und Dad. Die Art von Liebe, die ewig hält, oder wenigstens bis dass der Tod uns scheidet.

»Er hat allen Ernstes gesagt, sie habe ihm ›zugehört‹.« Ich male Anführungszeichen in die Luft, auch wenn ich mich gleich darauf dafür verachte.

Aisha verdreht die Augen. »Heilige Scheiße, will er den Preis fürs Klischee des Jahres gewinnen?«

»Aber was, wenn er recht hat?« Ich spiele mit dem Stiel meines Margaritaglases. »Ich war wirklich die meiste Zeit mit meinem Job beschäftigt. Wahrscheinlich habe ich ihn vernachlässigt. Ich wusste nicht mal, dass das mit der Partnerschaft in der Kanzlei nicht geklappt hat.«

Aisha droht mir mit dem Finger. »Wage es ja nicht, dir selbst die Schuld dafür zu geben. Dieses ganze ›Sie hört mir zu‹-Ding ist doch der älteste Trick der Welt.«

Da ist ohne Zweifel etwas Wahres dran, dennoch gibt es einen Teil von mir, der denkt, dass Johnny anders ist. Dass er wirklich das Gefühl hatte, ich würde ihm nicht genügend Aufmerksamkeit schenken. Er hatte es nicht leicht mit Mums Krankheit und mit seinem Vater, und jetzt kommt auch noch die geplatzte Beförderung dazu.

»Ich weiß nicht, ob ich ihm das verzeihen kann«, sage ich und lasse die Reste meines Cocktails im Glas kreisen.

»Ist ja klar, du liebst ihn. Aber er ist echt ein Arschloch, dir so was anzutun.«

Ich will, dass sie mich für verrückt erklärt, weil ich ihm nicht verzeihen kann. Ich will, dass er den Seitensprung wirklich so tief bereut, wie er behauptet. Ich habe seine Anrufe den ganzen Tag lang ignoriert und bin unser Gespräch immer wieder im Kopf durchgegangen, aber ich sehe keinen Weg, wie wir jemals zur Normalität zurückkehren sollen. Der bloße Gedanke daran raubt mir jede Kraft.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass es ausgerechnet Little Miss Avo war«, meint Aisha kopfschüttelnd. Als ich ihr in der Mittagspause in der Redaktion alles erzählt habe, hat sie sich erst mal ihr Profil vorgenommen und ausgiebig über sie gelästert, bevor wir sie beide feierlich deabonniert und blockiert haben. Sie versuchte, mich zu trösten, indem sie Dinge sagte wie: »Du bist tausendmal schlauer als sie«, und: »Männer haben sowieso lieber was in der Hand«, doch das ändert alles nichts an der Tatsache, dass er mit dieser Mia geschlafen hat. Wenn ich jetzt ihr Bild sehe, spüre ich den Schmerz tief in meinen Eingeweiden, eine Reaktion meines Körpers auf Johnnys Tat. Ich weiß, dass sie keine Schuld trifft, weil sie nicht wusste, dass er gebunden ist, aber sie hat es darauf angelegt, dass ich es herausfinde, oder? Sie wollte mir wehtun.

Ich muss aufhören, darüber nachzugrübeln.

»Genug von mir«, sage ich und versuche die Gedanken an Miss Mia und ihre prallen Avocados beiseitezuschieben. »Ich will alles über dein Date mit diesem Maler hören.«

»Wenn ich dir von meinem Liebesleben erzählen soll, brauchen wir mehr Alkohol«, sagt sie und winkt dem Barkeeper.

Autor