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Tödliche Rettung

Eine Jugendliche verschwindet auf dem Weg in die Schule. Zurück bleibt ein Brief, in dem sie ihren Tod voraussagt. Die Eltern beschuldigen sich gegenseitig. Profilerin Evelyn Baine hat Jordan Biltmore, den Freund der Schülerin im Visier; der präsentiert jedoch ein wasserdichtes Alibi. Zeitgleich ermittelt Evelyns Kollege Kyle McKenzie im Fall einer Studentin, die behauptet auf dem College-Campus betäubt und entführt worden zu sein. Des Colleges an dem auch Jordan studiert …


  • Erscheinungstag: 09.01.2017
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676366
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Heiter

Tödliche Rettung

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2017 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgaben:

Stalked

Copyright © 2017 by Elizabeth Heiter

Published by arrangement with Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Titelabbildung: Guido Klütsch

Redaktion: Thorben Buttke

ISBN 978-3-95967-636-6

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

 

 

 

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

PROLOG

„Du musst damit aufhören.“

Die Stimme ihres Ehemannes drang langsam und wie aus weiter Ferne zu ihr durch, auch wenn sie wusste, dass er in der Tür zum Zimmer ihrer Tochter stand. Anstatt sich umzudrehen, fuhr Linda Varner fort, methodisch die Dinge unter Haleys ungemachtem Bett hervorzuziehen.

Ein rot-weißer Cheerleader-Pompon. Ein pinkfarbenes Sweatshirt, das Haley zu einfach allem trug. Ein Stapel Hochglanzmagazine über alles, worüber Teenagermädchen sich Sorgen machten; etwa, ob ein Junge in sie verliebt war oder nicht.

Ein Schluchzen entrang sich Lindas Brust, doch sie schaffte es zu unterdrücken, bevor es ihr über die Lippen kam. Trotzdem spürte sie, dass ihr Körper erbebte, und sie wusste, dass ihr Mann es gesehen hatte.

„Das bringt sie auch nicht wieder nach Hause“, sagte Pete sanft in diesem vorsichtigen, gedämpften Tonfall, der normalerweise für Beerdigungsinstitute und Friedhöfe reserviert war.

Linda schloss fest die Augen und presste Haleys Sweatshirt an ihre Nase. Sie atmete ein, hoffte, einen Hauch von dem etwas zu vanilligen Duft zu erhaschen, den ihre Tochter so liebte, aber es roch nur leicht muffig.

Wie hatte Haleys Parfüm so schnell verfliegen können?

Sie saß da, das Sweatshirt an die Nase gedrückt, den Körper schützend zusammengekrümmt, bis sie ihren Mann seufzen und weggehen hörte. Erst dann öffnete sie die Augen und schaute sich in Haleys Zimmer um. Alles wirkte so unberührt. Die Polizei hatte darauf geachtet, nichts durcheinanderzubringen, sie hatten ihre sterilen Handschuhe und die ernsten Mienen getragen, während sie nach einem Hinweis darauf gesucht hatten, wohin Haley verschwunden war.

Linda schaute zurück zur Tür, um sicherzugehen, dass sie alleine war. Pete würde später zurückkommen. Dieses Ritual vollführten sie jeden Abend. Er würde ihr eine weitere Stunde geben, und sie dann davon überzeugen ins Bett zu gehen. Manchmal stand sie auf und folgte ihm bereitwillig; wenn sie das Gefühl hatte, am Boden festgeklebt zu sein, trug er sie. Dann reichte er ihr ein Glas Wasser und die Tabletten, die ihr Arzt ihr verschrieben hatte, und die sie pflichtbewusst schluckte, um sich kurz darauf von der Dunkelheit umfangen zu lassen.

Pete hatte ihr zur Seite gestanden. Sie wusste, dass es nicht leicht war – dass es in letzter Zeit nicht leicht gewesen war, mit ihr zusammenzuleben. Aber er konnte nur einen gewissen Teil des Verlustes mit ihr teilen. Er liebte seine Stieftochter, aber es war einfach nicht das Gleiche.

„Wo bist du, Haley?“, flüsterte Linda in die Stille.

Heute war es exakt einen Monat her, dass ihre Tochter verschwunden war. Seit Haleys Freund Jordan sie für das Cheerleadertraining an der Schule abgesetzt hatte. Seit ihre beste Freundin Marissa ihr an diesem ungewöhnlich warmen Tag vom Spielfeld aus zugewinkt und ihr nachgeschaut hatte, wie sie das Schulgebäude betreten hatte.

Sie war nie wieder herausgekommen.

Als sie nicht zum Training erschien, war Marissa zur Umkleidekabine geschickt worden, um sie zu holen. Nur war sie nicht dort gewesen. Bei der folgenden Durchsuchung der Schule war sie ebenfalls nicht aufgetaucht. Jetzt, dreißig Tage später, hatte man sie noch immer nicht gefunden.

Wie konnte ein junges Mädchen aus dem Inneren der Schule verschwinden? Das konnte Linda niemand beantworten. Während die Zeit verstrich und die Polizei eigentlich mehr hätte finden müssen, schienen sie immer weniger Antworten und noch mehr Fragen zu haben.

Aber Linda wusste es. Sie wusste aus einer Quelle tief in ihrem Inneren, die sie nicht anders erklären konnte als mit mütterlichem Instinkt, dass Haley irgendwo da draußen war. Und zwar nicht begraben in einem namenlosen Grab, wie sie zwei Polizisten hatte spekulieren hören, als Tag um Tag ohne neue Hinweise verging. Haley lebte noch. Das wusste Linda. Sie lebte und wartete nur darauf, dass irgendjemand kam und sie nach Hause brachte.

Deshalb zwang sich Linda jeden Tag, aufzustehen, ihre beste Kleidung anzuziehen, ein wenig Schminke aufzulegen, um die Zeichen der Trauer zu verdecken, und für ein Update zum Polizeirevier zu gehen. Wenn sie dort fertig war, sprach sie mit den Nachrichtensendern, flehte sie an, eine Sondersendung zu bringen oder wenigstens Haleys Namen zu erwähnen, damit sie nicht in Vergessenheit geriet. Damit die Leute weiter nach ihr suchten.

Dann wandte sie sich den sozialen Medien zu, den Orten, die ihre Tochter besucht hatte, und die sie bisher nicht interessiert hatten. Jeden Tag postete sie zwei neue Nachrichten. Eine für irgendwelche Hinweise zum Verbleib ihrer Tochter, die wegen der ganzen Presseberichte Tausende Male geteilt wurde. Und eine direkt an ihre Tochter, in der sie Haley wissen ließ, dass sie niemals aufgeben würde, nach ihr zu suchen.

Nur abends, nachdem sie der Welt gezeigt hatte, wie stark sie sein konnte, kam sie hierher und ergab sich ihrer Schwäche. Ihren Ängsten.

Warum fand man nicht mehr Informationen? Warum hatte sich niemand gemeldet, warum hatte niemand sie gesehen? Wie konnte ein siebzehnjähriges Mädchen einfach so verschwinden?

Sie klammerte sich fester an das Sweatshirt und spürte, wie die Schluchzer erneut aufstiegen. In dem Versuch, sie zu unterdrücken, sackte sie gegen Haleys Bett und die Matratze glitt zur Seite.

Linda rutschte aus und schlug sich die Stirn an dem Metallrahmen auf. Fluchend setzte sie sich auf, wischte mit der Hand über ihre Schläfe und sah, dass sie blutete. Aber sie ignorierte das Blut, weil ihr Blick in dem Moment auf ein kleines schwarzes Notizbuch fiel.

Das Buch klemmte zwischen der Matratze und dem Bettgestell. Die Polizisten mussten es übersehen haben, denn sie hatte gesehen, wie sie bei der Durchsuchung des Zimmers, bei der sie die Habseligkeiten ihrer Tochter so ungerührt betrachtet hatten, unter Haleys Matratze geschaut hatten.

Lindas Puls schoss in die Höhe, als sie sich auf die Knie stemmte und das Büchlein herausriss. Sie erkannte es nicht, doch als sie den Deckel aufschlug, gab es keinen Zweifel, dass es sich um die Handschrift ihrer Tochter handelte. Und die Wörter …

Sie ließ das Notizbuch fallen, schleuderte es förmlich von sich in dem Verlangen, es loszuwerden, die Dinge ungesehen zu machen, die sie darin entdeckt hatte. Sie merkte erst, dass sie angefangen hatte zu schreien, als ihr Mann ins Zimmer gelaufen kam und seine großen Arme um sie schlang.

„Was ist? Was ist los?“, fragte er wieder und wieder, aber sie konnte nur schluchzen und mit zitternder Hand auf das Notizbuch zeigen, das auf der ersten Seite aufgeschlagen auf dem Boden lag. In Haleys unverkennbarer Schrift stand dort:

Wenn ihr das hier lest, bin ich bereits tot.

1. KAPITEL

Kyle McKenzie lehnte sich über den Tisch in dem winzigen italienischen Restaurant mit dem gedämpften, romantischen Licht und sagte mit zu ruhiger Stimme: „Ich werde morgen meinen neuen Job in der Washingtoner Dienststelle antreten.“

Evelyn Baine verspürte den gleichen Anflug von Bedauern, den sie immer empfand, wenn das Thema aufkam. „Hast du dich für diese Dienststelle beworben?“

Sie arbeiteten beide beim FBI, sie als Profilerin in der Behavioral Analysis Unit, kurz BAU, der Einheit, die sich um die Verhaltensanalyse kümmerte, und Kyle bis letzten Monat im Hostage Rescue Team, dem Geiselrettungsteam. Er war krankgeschrieben, nachdem er sich auf einer Mission, die, wie sie wusste, viel zu gefährlich gewesen war, eine Kugel eingefangen hatte. Sie hatte nicht vehement genug Einspruch erhoben, als das HRT eingreifen wollte, und hier saßen sie nun und Kyle tat so, als wäre es okay für ihn, den Job zu verlassen, den er so geliebt hatte. Und sie tat so, als würde sie deswegen nicht von höllischen Schuldgefühlen geplagt.

Er zuckte mit seiner unverletzten Schulter, der, die nicht von einer Kugel durchbohrt worden war. „Ja. Ich bin überrascht, dass ich ihn bekommen habe, aber ich wollte in der Nähe bleiben. Bei dir natürlich, und …“

Seine Stimme verebbte, aber sie wusste, wie der Satz zu Ende gegangen wäre. Er wollte in der Nähe seines alten Teams bleiben. Die Dienststelle des FBI in Washington war mit dem Auto – und heulender Sirene – nur fünfundvierzig Minuten von Quantico entfernt, wo das HRT stationiert war.

Evelyn arbeitete in einer Stadt direkt neben Quantico. Während ihrer gesamten Zeit in der BAU hatte sie sich daran gewöhnt, dass Kyle nach Aquia kam, um sie in ihrem Büro zu besuchen. Er hatte immer so getan, als käme er nicht ihretwegen, aber alle um ihn herum hatten ihn durchschaut. Irgendwann hatte auch sie es kapiert und beschlossen, etwas zu unternehmen. Im letzten Monat hatte sie es vermisst, ihn im Büro zu sehen. Hatte die alten Sticheleien vermisst.

Und er hatte sein Team vermisst. Das wusste sie, auch wenn er es nicht laut aussprach. Als HRT-Agent war er auf kritische Missionen entsandt worden – vom Niederschlagen eines Gefangenenaufstands im Gefängnis über die Rettung von Geiseln aus einer Sekte bis zur Unterstützung von Rettungsmissionen in Kriegsgebieten in Übersee. Den Rest der Zeit hatte er damit verbracht, für diese Missionen zu trainieren. Es war ein ganz anderes Leben als das eines normalen Special Agents.

Sie war nicht sicher, wie gut er den Übergang zu diesem normalen Leben meistern würde. Für sich selber konnte sie sich das nicht vorstellen, auch wenn sie sechs Jahre in der Abteilung für Kapitalverbrechen gearbeitet hatte, bevor sie zur BAU gekommen war. Aber anstatt nur Ermittlungen in dem jeweiligen Gebiet der Dienststelle durchzuführen, wurde sie hier zu Fällen im ganzen Land hinzugezogen – und manchmal sogar im Rest der Welt.

Sie schaute ihn über den von Kerzen erleuchteten Tisch an und sah die Anspannung, die er zu verbergen suchte. Vielleicht könnte er eines Tages zum HRT zurückkehren. Aber wahrscheinlicher war, dass seine Karriere eine ganz andere Richtung einschlagen würde.

Sie spielte mit ihrer Serviette herum und ließ den Blick unwillkürlich zu der Eingangstür des Restaurants gleiten, als diese geöffnet wurde. Bis vor Kurzem hatten sie und Kyle ihre Beziehung geheim gehalten. Es war komisch, sich in Virginia in der Öffentlichkeit zu zeigen, wo sie jederzeit von jemandem vom FBI gesehen werden konnten.

Ironischerweise hatten sie es dem FBI gegenüber nur zugeben können, weil er nicht länger in der Critical Incident Response Group arbeitete, zu der sowohl die BAU als auch das HRT gehörten.

Er hatte es von Anfang an verkünden wollen. Sie war sicher gewesen, dass in dem Fall einer von ihnen seinen Rücktritt hätte einreichen müssen. Sie wusste nicht, ob ihre öffentliche Erklärung einfach ein Zeichen für Kyles übliche Selbstsicherheit war, dass alles so laufen würde, wie er es wollte – oder ein Zeichen dafür, dass er wirklich die Hoffnung aufgegeben hatte, zum HRT zurückzukehren.

Sie schenkte ihm ein peinlich berührtes Lächeln, als sie erkannte, dass einfach nur ein weiterer Gast das Lokal betreten hatte. Einige Gewohnheiten waren schwer abzulegen. „Das fühlt sich komisch an.“

Er erwiderte ihr Lächeln, was kleine Fältchen um seine meerblauen Augen und den Hauch von Grübchen in seinen Wangen hervorzauberte. „Vielleicht hast du unser Geheimnis ein klein bisschen zu sehr genossen.“

Womöglich hatte er recht. Sie war schon immer ein Mensch gewesen, der sein Privatleben unter Verschluss hielt, und in einem Büro voller Profiler war es nicht leicht, irgendetwas für sich zu behalten. Es lag ihnen allen genauso im Blut wie ihr: Jeden einschätzen, dem man begegnete; versuchen, hinter die Maske zu schauen. Die Geheimnisse auszugraben.

Sie versuchte, sich zu entspannen, und knöpfte das locker sitzende Jackett auf, das sie noch anhatte, weil sie direkt vom Büro aus hergekommen war. Es verbarg die SIG Sauer, die sie immer an ihrer Hüfte trug, war aber nicht unbedingt das passende Kleidungsstück für ein Date.

Sie war genauso gut darin, sich zu entspannen, wie darin, ihre Gefühle zu offenbaren.

Als die Tür des Restaurants erneut quietschend aufging und ihr Blick sofort hinüberschoss, verschränkte Kyle seine Finger auf dem Tisch mit ihren und die leichte Berührung schickte einen Funkenschauer durch ihren Körper. „Was hältst du davon, wenn wir uns das Essen einpacken lassen?“

Seine großen, schwieligen Hände wirkten noch blasser gegen ihre winzigen, dunklen Finger. Das Bild passte so wenig zusammen wie ihre Persönlichkeiten und doch funktionierte es irgendwie.

Sie nickte, aber bevor sie sagen konnte: „Komm, lass uns gehen“, vibrierte das Handy in ihrer Tasche.

Sie holte es mit ihrer freien Hand heraus. Sobald sie Dan Moores Namen sah, bereute sie es bereits. Wenn ihr Boss sie um neun Uhr abends anrief, bedeutete das, ein neuer Fall war eingetroffen. Einer, der nicht warten konnte.

Vor sechs Monaten war sie seine erste Ansprechpartnerin für nächtliche Fälle gewesen, weil es ihr nichts ausgemacht hatte, so spät gestört zu werden. Verdammt, dieser Job war ihr Leben gewesen.

Aber im Augenblick? Während Kyle McKenzie sie aus seinen tiefblauen Augen anschaute? „Das ist wichtig“, murmelte sie, bevor sie den Anruf entgegennahm. „Dan? Was ist los?“

„Erinnerst du dich an den Fall, der letzten Monat im Büro die Runde gemacht hat?“, fragte Dan ohne Vorrede. „Das vermisste Mädchen?“

„Ja“, sagte sie langsam. Sie hatte seitdem fünfzig Fälle bearbeitet, aber dieser war ihr im Gedächtnis geblieben.

Ein siebzehnjähriges Mädchen war zuletzt gesehen worden, als es seine Highschool betrat. Seitdem wird es vermisst. Es gab keinerlei Anzeichen einer Gewalttat. Die BAU hatte die Polizeiakte herumgereicht, aber es hatte nicht genügend Hinweise gegeben, um ein ordentliches Profil zu erstellen, und sie hatten keinen Profiler entbehren können, um sich tiefer in den Fall einzuarbeiten.

„Hat man sie gefunden?“, fragte Evelyn.

„Würde ich dich dann anrufen?“, gab Dan angespannt zurück. „Sorry. Hör mal, wir haben der Polizei gesagt, dass es sich vermutlich um die Entführung durch einen Fremden handelt, weil bislang keine Leiche aufgetaucht ist und der Elternteil, der das Sorgerecht nicht hat, auch nicht durchgebrannt ist. Tja, nun haben wir eine Nachricht, die andeutet, dass der Entführer doch jemand aus dem näheren Umfeld des Mädchens war.“

„Okay“, sagte Evelyn wieder langsam, während Kyle seine Hand von ihrer löste und zum Kellner hinüberging. Zweifelsohne bestellte er das Essen zum Mitnehmen, weil er erkannt hatte, dass ihr gemeinsamer Abend gerade geendet hatte. „Also, wenn es jemand aus ihrem Umfeld ist, sollte …“

„Ja, normalerweise macht es das für die Polizei leichter. Aber wir können für eine Woche oder so auf einen Profiler verzichten und die Nachricht war wirklich verstörend. Das Mädchen hat sie selber hinterlassen. Sie sagt darin ihren eigenen Tod voraus.“

Evelyn ließ die Worte sacken. „Haben sie eine Leiche?“

„Nein. Immer noch kein Anzeichen von dem Mädchen. Aber die Mutter ist hysterisch. Sie belagert die Nachrichtensender. Die Polizei braucht Hilfe, weil …“

„Das Mädchen seinen Tod vorausgesagt hat und mehr hinter dem Fall steckt, als es den Anschein hatte.“

„Ganz genau“, stimmte Dan zu. „Detective Sophia Lopez erwartet dich.“ Er legte auf und Einzelheiten zu dem Vermisstenfall Haley Cooke fluteten Evelyns Gehirn.

„Auch schön, mit dir gesprochen zu haben“, murmelte sie. Ihr Chef war normalerweise kurz angebunden – vor allem ihr gegenüber –, aber in letzter Zeit behandelte er alle seltsam schroff. Sie steckte ihr Handy zurück, als Kyle mit dem eingepackten Essen zurück an den Tisch kam.

„Die Pflicht ruft?“, fragte er und schaute sich in dem immer noch leeren Restaurant um. „Wir behalten unsere Beziehung noch etwas länger für uns?“

Sie nickte reumütig. Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die gerne Geheimnisse wahrte.

Auch Haley Cooke hatte das getan. Das siebzehnjährige Mädchen, dessen Überprüfung eine beliebte Einserschülerin enthüllt hatte, deren gefährlichster Zeitvertreib darin zu bestehen schien, beim Cheerleadertraining ganz oben auf einer menschlichen Pyramide zu stehen.

Worauf hatte sie sich eingelassen, dass sie glaubte, umgebracht zu werden?

Das Polizeirevier von Neville, Virginia, sah genauso aus wie Hunderte andere Polizeireviere, in denen Evelyn während ihrer Zeit bei der BAU gewesen war. Aber der weibliche Detective, der in einer engen blauen Jeans und einem roten Blazer mit dreiviertellangen Ärmeln vor ihr stand, der besser zu einem Nachmittagstee passte als dazu, eine Glock an der Hüfte zu verbergen, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Durchschnittspolizisten.

„Detective Sophia Lopez.“ Die Frau streckte ihr die Hand mit den dunkelrot lackierten Nägeln hin und schaute Evelyn erwartungsvoll an. Sie war an sich schon sehr groß – und überragte Evelyns zierliche einen Meter siebenundfünfzig um mindestens zwanzig Zentimeter –, aber ihre hochhackigen Stiefel machten sie noch größer. Ihre langen, dunklen Haare waren zu einem losen Pferdeschwanz gebunden, der für die Tatortarbeit unpraktisch war, und ihr hellroter Lippenstift wirkte in einem Polizeirevier vollkommen fehl am Platz. Aber ihr intensiver Blick war einhundert Prozent Cop.

„Special Agent Evelyn Baine“, erwiderte sie und schüttelte die Hand fest.

Für die meisten männlichen Officer um sie herum hatten sie vermutlich viele Gemeinsamkeiten. Zwei Frauen von der Strafverfolgungsbehörde – eine mit bunt gemischter Herkunft, die andere Latina – schüttelten sich für einen ersten Eindruck die Hand. Und zwar so fest, dass die jeweils andere wusste, dass mit ihrem Gegenüber nicht zu spaßen war. Dazu ein eindringlicher Blickkontakt, der die Ernsthaftigkeit noch unterstützte.

Es war überall das Gleiche. Und Evelyn beherrschte das Spiel so gut wie alle anderen.

Aber wenn Sophias Kleidung eher zu einer Verkäuferin in einer trendigen Boutique passte, zog sich Evelyn eher wie ihre männlichen Kollegen an: ein etwas weiterer, praktischer schwarzer Anzug und Schuhe mit niedrigem Absatz. Gerade so viel, um ihr etwas zusätzliche Größe zu verleihen, aber nicht so hoch, dass sie darin nicht laufen konnte. Während Sophia offensichtlich herausstechen wollte, zog Evelyn es vor, zu verschmelzen – sich im Hintergrund zu halten, von wo aus sie alles und jeden analysieren konnte.

Sie musterte die Frau, die die Leitung im Haley-Cooke-Fall innehatte, nahm die Dinge auf, die nicht zusammenpassten, versuchte, sie allein anhand des Händeschüttelns zu entschlüsseln. Es war zwar unmöglich, jemandem nur aufgrund eines Handschlags und eines Satzes zu analysieren, aber Evelyn tat es trotzdem.

Sie erstellte nicht nur Profile über die Täter, auch wenn das in ihrer offiziellen Jobbeschreibung stand. Um das gut zu machen, musste sie auch die Persönlichkeiten der anderen Officer in dem jeweiligen Fall analysieren. Wenn sie das schnell tat, erleichterte das die Arbeitsbeziehung, was wiederum die Akzeptanz ihrer Profile erleichterte. Vor allem, da der leitende Detective oft nicht derjenige war, der ihre Hilfe angefordert hatte. Zu oft kam der Druck von oben, von einem Polizeichef oder dem Bürgermeister, und meist geschah es wegen des Medieninteresses.

Während Evelyn versuchte, ein Kurzprofil zu erstellen, unterbrach Sophia den Blickkontakt und ein breites Grinsen legte sich über ihr Gesicht und schien ihre unregelmäßigen Züge zusammenzufügen. „Okay. Das reicht an Posing. Wir sind beide harte Knochen und das wissen wir jetzt auch. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen, was wir im Fall von Haley Cooke haben.“

Sie drehte sich um und marschierte mit einer Geschwindigkeit den Flur hinunter, dass Evelyn beinahe laufen musste, um mitzuhalten.

Am Ende des Flurs drückte Sophia eine Tür auf und führte Evelyn in einen Raum von der Größe eines Besenschranks. Es roch auch genauso, als hätte man hier bis vor Kurzem Reinigungsmittel aufbewahrt. Der Geruch von Bleiche ließ Evelyn die Tränen in die Augen steigen und sie blinzelte sie fort, bevor sie die Fotos und Zeitangaben musterte, die jeden freien Fleck an den Wänden bedeckten.

Sophia schob ein paar Stühle und einen Klapptisch beiseite, der den Großteil des Raumes einnahm. „Ich weiß. Es ist erbärmlich wenig Platz für die Ermittlungen im Fall eines vermissten Teenagers. Aber mehr haben wir nicht, also versuche ich, damit klarzukommen.“

Evelyn nickte und sagte nicht, dass es mehr Platz war, als sie bei einem gerade mal einen Monat alten Fall ohne brauchbare Hinweise erwartet hätte. Andererseits, Neville, Virginia – Heimat von ungefähr zehntausend Menschen im Sommer und dreißigtausend während der Semester – sah vermutlich nicht die gleiche endlose Anzahl an Vermisstenfällen pro Jahr, die jeden Tag durch ihr Büro kamen.

Nur selten wurde sie zu einem Fall mit nur einem Opfer hinzugerufen. Aber ab und zu kam es vor, dass die Ermittlungen feststeckten, und wenn der Täter ein Fremder war, konnte ein Profiler alles verändern. Ein normaler Ermittler hätte Schwierigkeiten, einen Kidnapper zu finden, der keine Verbindung zum Leben seines Opfers hatte, aber ein Profiler konnte das schaffen.

„Soll ich das in unseren Kühlschrank stellen?“, fragte Sophia.

Evelyn schaute auf die Styroporbox, die sie immer noch in der Hand hielt. Das Abendessen, das zu essen sie noch keine Zeit gefunden hatte. „Danke“, sagte sie und reichte sie ihr, wobei ihr Magen laut knurrte.

Nachdem Sophia den Raum verlassen hatte, drehte Evelyn sich langsam im Kreis und betrachtete die Fotos, die mit Reißzwecken an die Wände geheftet waren. Auf den meisten war Haley Cooke zu sehen. Siebzehn Jahre alt, Schülerin der Neville High School. Die Presse liebte es, sie als „das typische Mädchen von nebenan“ zu beschreiben.

Blond, blaue Augen und auf jedem Foto lächelnd war Haley die Art Mädchen, bei der die meisten Menschen sich wohl nicht zurückhalten konnten, ihr Lächeln zu erwidern.

Evelyn hatte auf einmal einen Flashback zu einem anderen blondhaarigen Mädchen, das nie die Chance erhalten hatte, erwachsen zu werden. Cassie, ihre beste Freundin, deren Verschwinden Evelyn auf die Idee gebracht hatte, Profilerin zu werden. Hätte sie so ausgesehen, wenn sie es geschafft hätte, siebzehn zu werden?

Evelyn schob die bittersüßen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf Haley. Ihre täglichen Abläufe, ihre Beziehungen, ihre Persönlichkeit – all das würde in Evelyns Opferprofil einfließen und ihr helfen, herauszufinden, wer sie entführt hatte.

„Von allen geliebt“ war ein weiterer Satz, der ständig über Haley in den Medien zu hören und zu lesen war. Ob es nun daran lag, dass ihre Mutter engen Kontakt zu allen Nachrichtenstationen aufgebaut hatte, oder daran, dass das völlige Fehlen von Spuren die Neugier der Öffentlichkeit fesselte, konnte sie nicht sagen. Aber Fakt war, dass Haleys Gesicht inzwischen überall bekannt war.

Was es nur noch ungewöhnlicher machte, dass niemand sie gesehen hatte, seit sie vor einem Monat ihre Highschool betreten hatte. Außer, sie war nie wieder herausgekommen, weil sie vor Ort getötet worden war. Aber wenn das der Fall gewesen wäre, hätte man inzwischen mit Sicherheit eine Leiche gefunden.

Der Fall war bizarr. Und auch wenn die BAU sich auf das Bizarre spezialisiert hatte, hatte Evelyn vom ersten Moment an, als sie von dem Fall gehört hatte, ein schlechtes Gefühl gehabt. Wenn ein hübsches junges Mädchen spurlos verschwand, war das Ende meistens nicht positiv.

Die begrenzten Informationen, die sie vor einem Monat in der Fallakte gesehen hatte, ließen es nicht zu, ein ausführliches Profil zu erstellen, aber Evelyns Bauchgefühl hatte ihr gesagt, dass es sich um die Entführung durch einen Fremden handelte. Doch da Haley ihren eigenen Tod vorausgesagt hatte, schien ihr Bauchgefühl sich geirrt zu haben.

„Hier“, sagte Sophia. Evelyn drehte sich um und sah, dass sie ihr einen dünnen Pappbecher hinhielt, aus dem der bittere Duft von zu lange warm gehaltenem Kaffee aufstieg.

Anstatt Sophia zu sagen, dass sie keinen Kaffee trank, lächelte Evelyn dankbar und nahm den kochend heißen Becher entgegen. „Können Sie die Highlights für mich kurz zusammenfassen? Und dann würde ich gern die Nachricht sehen, die die Mutter gefunden hat. Konnte schon bestätigt werden, dass sie von Haley geschrieben wurde?“

„Haleys Mutter sagt, dass es sich um die Handschrift ihrer Tochter handelt.“ Sophia lehnte sich gegen den Klapptisch, der daraufhin laut knarrte. „Das Meiste von dem, was wir wissen, haben Sie vermutlich schon in den Nachrichten gesehen. Es ist, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte. Puff. Weg war sie. Die kriminaltechnische Untersuchung am Ort ihres Verschwindens hat nichts ergeben.“

„Wer war noch da?“

„Ihr Freund ist weggefahren, nachdem er sie abgesetzt hat, und die Cheerleader auf dem Spielfeld haben ihn dabei gesehen. Ansonsten waren da noch die Trainerin auf dem Feld und in der Bibliothek ein paar Schüler samt Lehrer. Keiner von ihnen hat sie im Inneren des Gebäudes gesehen. Und niemand hat gesehen, dass sie die Schule verlassen hat. Aber als ihre Freunde reingegangen sind, um sie zu suchen, konnten sie sie nicht finden.“

„Was ist mit anderen Ausgängen?“

„Ja, das ist eine logische Annahme, aber so, wie die Schule liegt, befindet sich der Haupteingang – an dem Haley abgesetzt wurde – direkt in der Nähe der Hauptstraße. Auf der rechten Seite liegt das Spielfeld, auf dem die Cheerleader trainiert haben. Von dort aus kann man den Haupteingang sehen. Auf der linken Seite ist ein offenes Feld, das von der Schule für Fußball und andere Sportarten genutzt wird. Es grenzt direkt an das Wohnviertel. Dazwischen liegt ein kleiner Wald. Dann gibt es noch die Rückseite mit dem Lehrerparkplatz und dem Lieferanteneingang. Der ist vermutlich am wenigsten einsehbar, führt aber auf eine Seitenstraße. Auch hier hat niemand Haley gesehen, aber das war vielleicht auch nicht möglich. Wie auch immer, für eine Entführung ging es unglaublich schnell.“

Als Sophia innehielt, um Luft zu holen, fragte Evelyn: „Wie weit sind die Umkleidekabinen, wo sie hätte sein sollen, von dem hinteren Ausgang entfernt?“

„Das ist ein ganzes Stück. Man hätte schon genau wissen müssen, wo Haley sich befand, um dann hineinzugehen und sie ohne ein Geräusch sehr schnell zu überwältigen. Die Bibliothek liegt einigermaßen dicht an den Umkleideräumen, zumindest dicht genug, dass man dort Haleys Schreie gehört hätte. Danach hätte die Person Haley nach draußen tragen müssen, ohne von jemandem gesehen zu werden. Wäre das möglich? Vermutlich. Aber sehr riskant.“

„Entweder jemand war bereit, dieses Risiko einzugehen, oder Haley hat ihn – zumindest anfangs – freiwillig begleitet“, sagte Evelyn. „Was halten Sie von der Nachricht?“

„Ah, die Nachricht.“ Sophia drehte sich auf dem Tisch herum und zog eine Beweismittelliste aus dem Karton, der neben ihr stand. „Ein Satz.“

Evelyn nahm die Liste und schaute sich die Beschreibung des letzten Punktes an, der Nachricht. Die nüchternen Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. „Wenn ihr das hier lest, bin ich bereits tot.“

„Ja, Unheil verkündend.“

„Und sonst befand sich nichts in dem Notizbuch? Keine weiteren Informationen?“

„Nein, gar nichts. Wir haben sogar nach Abdrücken gesucht, für den Fall, dass sie noch mehr geschrieben und die Seiten dann herausgerissen hat, aber auch da haben wir nichts gefunden.“

„Haben Sie die Nachricht auf Fingerabdrücke überprüft?“

„Jupp. Wir haben die von Haley gefunden. Und die von Linda – Haleys Mom. Mehr nicht“, bestätigte Sophia.

„Und die Mutter hat die Nachricht erst heute gefunden?“

„Ja. Unter der Matratze.“

„Also haben Ihre Leute sie bei der Durchsuchung des Zimmers übersehen?“

Sophia runzelte die Stirn.

„Was ich wissen will“, erläuterte Evelyn. „Kann das Notizbuch dort versteckt worden sein, nachdem Haley verschwunden ist? Könnte es dort platziert worden sein?“ Für einen Fall mit dieser Dringlichkeit war ein Monat eine äußerst lange Zeit, um ein solch wichtiges Beweismittel nicht zu bemerken.

Sophia zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Wir haben unter der Matratze nachgesehen. Könnten wir es übersehen haben? Ja. Könnte es dort hingelegt worden sein, nachdem wir den Raum durchsucht haben? Ich schätze schon. Ich meine, wir haben nicht jeden Zentimeter durchkämmt wie bei einem Tatort. Wir waren dort, um mehr über Haley zu erfahren. Wir haben nach Hinweisen darauf gesucht, was passiert sein könnte, wir wollten ein Gefühl für ihre Persönlichkeit entwickeln, für ihre Geheimnisse. Wieso sollte jemand die Nachricht nachträglich dort platziert haben?“

„Wegen der Aufmerksamkeit“, schlug Evelyn vor. Das hatte sie schon zuvor erlebt. Manchmal war es ein fehlgeleiteter Versuch, mehr Personal für einen Fall zugeteilt zu bekommen, manchmal wollte aber auch nur die Familie des Opfers wieder ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gerückt werden. „Die Mutter des Mädchens war in den Nachrichten …“

„Stimmt“, unterbrach Sophia sie. „Linda Varner braucht keinen Trick, um noch mehr Aufmerksamkeit für ihre Tochter zu bekommen. Die Frau hat ihren Job gekündigt. Sie macht nichts anderes, als zu versuchen, den Fall am Laufen zu halten. Aber es geht ihr nur darum, Haley zu finden. Sie würde keine Beweise platzieren, die uns in die falsche Richtung führen könnten.“

„Sind Sie sich da sicher?“

„Sie sind die Profilerin“, erwiderte Sophia. „Aber wenn Sie mich als Polizistin fragen – und als Mutter? Linda Varner scheint die am Boden zerstörte Mutter eines vermissten Kindes zu sein. Tut man da manchmal Dinge, die man besser nicht getan hätte, um dem, was man durchmacht, einen Sinn zu geben? Sicher. Aber ich glaube nicht, dass das hier der Fall ist. Linda weiß, dass ich an dem Fall arbeite. Ich spreche jeden Tag mit ihr.“

„Jeden Tag?“, hakte Evelyn nach.

„Ja. Jeden einzelnen Tag kommt sie her, egal, wie oft ich ihr sage, dass ich sie anrufe, wenn es etwas Neues gibt. Wir könnten es genauso gut fest in unseren Terminplan eintragen. Und überhaupt, Linda hat bestätigt, dass es sich bei der Nachricht um die Handschrift ihrer Tochter handelt.“

„Die Mutter …“

„Es ist nicht Lindas Schrift“, fiel Sophia ihr ins Wort. „Hätte sie jemand anderen dazu bringen können, das zu schreiben? Ich schätze schon, aber dann hätten wir es mit einer Verschwörung zu tun.“

Evelyn nickte. Verschwörungen waren ziemlich selten, weil immer irgendeiner redete.

„Also, selbst wenn wir glauben, dass jemand anderes die Nachricht dort versteckt hat, wurde sie von Haley geschrieben.“

„Was uns wieder an den Anfang bringt.“

„Stimmt.“ Sophias Schultern sackten zusammen und mit einem Mal fielen Evelyn die dunklen Schatten unter dem dick aufgetragenen Concealer der Polizistin auf.

Diese dunklen Schatten stammten nicht nur von diesem Fall. Sophia war zwar ein ganzes Stück älter als Evelyn mit ihren knapp dreißig, aber sie schätzte sie auf kaum über vierzig.

„Sie hat sich auf irgendetwas eingelassen“, sagte Sophia und zählte die Möglichkeiten an ihren Fingern ab. „Oder sie wusste etwas, das sie nicht hätte wissen sollen; vielleicht hat sie etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen. Sie war ein Opfer, das beschlossen hatte, zu reden, und jemand wollte sie zum Schweigen bringen.“ Sophia zuckte wieder mit den Schultern. „Was auch immer es ist …“

„Sie wusste beinahe mit Sicherheit, wer sie entführt hat“, beendete Evelyn den Satz.

„Und wenn Haleys Nachricht stimmt“, sagte Sophia leise, „hat diese Person sie bereits getötet.“

2. KAPITEL

Früh am nächsten Tag wurde die Tür zu Evelyns besenkammergroßen Büro aufgestoßen und sie schaute von der offiziellen Fallakte auf. Sie war gestern spät gegangen und heute so früh wiedergekommen, dass sie auch genauso gut auf dem Revier hätte schlafen können. Sie hatte kaum Zeit gehabt, vorher noch kurz im BAU-Büro vorbeizuschauen, und sich nur zwei Minuten auf der Fahrt hierher mit Kyle unterhalten können, bevor er zu seinem Termin beim Physiotherapeuten musste.

Im Türrahmen stand Quincy Palmer, der grummelige, langjährige Detective, den Sophia ihr gestern Abend vorgestellt hatte. Sein mangelndes Haupthaar machte er mit einem dichten, grau melierten Bart wieder wett. Selbst auf dem Revier trug er seine Polizeimarke an einem Band um den Hals und er schien nicht in der Lage zu sein, zu lächeln. Sie hatte außerdem gelernt, dass er keine Grenzen kannte, wenn es um das Essen von anderen Polizisten im Kühlschrank des Reviers ging. Ihr Abendessen hatte um zwei Uhr nachts aus einem Schokoriegel aus dem Automaten auf dem Korridor bestanden, nachdem Quincy ihre Pasta aufgegessen hatte.

„Das wird Sie nicht freuen“, verkündete er und warf Sophia eine Fernbedienung zu, die sie mit einer Hand auffing, ohne auch nur den Blick von dem Bericht zu lösen, den sie gerade las.

„Was?“

„Die Morgennachrichten.“ Er drehte sich um und verließ den Raum wieder, ohne ihnen weitere Informationen zu geben.

„Mist.“ Sophia ließ den Bericht auf den Tisch fallen und folgte ihm.

Evelyn ging ihr nach, versuchte aber nicht einmal, mit ihr Schritt zu halten. Sie fand Sophia und Quincy im Pausenraum am anderen Ende des Reviers, in dem es nach Schießpulver und Körperdüften roch. Hier saßen ein paar Streifenbeamte bei einem Kaffee zusammen und unterhielten sich, bevor ihre morgendliche Schicht startete. In der Ecke lief ein kleiner Fernseher, dessen Lautstärke weit heruntergedreht worden war.

Sophia richtete die Fernbedienung auf den Fernseher und stellte ihn so laut, dass die anderen Cops sie böse anschauten und den Raum verließen. Sophia und Quincy ignorierten sie. Evelyn nickte ihnen entschuldigend zu und trat aus dem Weg.

Vor einem großen weißen Haus im Kolonialstil stand eine Frau mittleren Alters in einer gut sitzenden Anzughose und einem hellblauen Pullover. Sie hatte blonde Haare und traurige blaue Augen. Aus allen Richtungen wurden ihr Mikrofone entgegengestreckt, als hätte sie eine Pressekonferenz einberufen.

„Linda Varner“, erklärte Sophia unnötigerweise. Haleys Mom war seit einem Monat Thema in den Nachrichten, aber es war eine Weile her, seit Evelyn sie das letzte Mal vor einer Kamera gesehen hatte.

„Wo ist der Ehemann?“, fragte sie sich. In den ersten Tagen nach Haleys Verschwinden hatte sie sich daran gewöhnt, Linda Varner in die Mikrofone sprechen zu sehen, während Pete Varner schräg hinter ihr stand und schweigend ihre Hand hielt. Er hatte immer den Part des pflichtbewussten Ehemannes gespielt, trotzdem hatte Evelyn das Gefühl gehabt, dass es nur Show war. „Was ist los? Campieren die immer noch vor ihrem Haus oder hat sie sie einbestellt?“

Sophia schüttelte den Kopf, aber es schien eher wegen der Vorgänge im Fernsehen zu sein als wegen Evelyns Frage. „Tu es nicht, Linda.“

„Meine Tochter hat eine Nachricht hinterlassen“, sagte Linda mit starker, klarer Stimme.

„Verdammt“, brach es aus Sophia heraus. „Was zum Teufel denkt sie sich nur?“

„Sie muss die Presse angerufen haben“, sagte Evelyn leise. Was für eine Katastrophe.

„Was stand darin?“, rief einer der Reporter.

„Wann haben Sie sie erhalten?“, wollte ein anderer wissen.

„Ich habe die Nachricht gestern Abend gefunden“, sagte Haleys Mutter mit der gleichen ruhigen Stimme, beinahe so, als läse sie von einem Manuskript ab. „Darin stand …“ Auf einmal schien ihre Stimme zu brechen und sie ließ das Kinn kurz auf die Brust sinken, bevor sie den Kopf wieder hob und entschlossen nach vorne schaute. „Darin steht, dass sie um ihr Leben fürchtet.“

„Tja, nicht ganz“, sagte Sophia. „Ich kann nicht glauben, dass sie das tut. Sie müsste es besser wissen.“

„Darin stand, dass sie weiß, dass jemand hinter ihr her ist.“ Mit einem Mal schaute sie verstörenderweise direkt in die Kamera. Die zoomte nah an ihr Gesicht heran. „Meine Tochter hat vermutet, dass jemand sie stalkt. Diese Person hat sie entführt. Aber ich weiß, dass sie noch da draußen ist. Ich weiß, dass sie nach Hause kommen will. Also, wer immer Sie sind, Sie sollen wissen, dass ich nicht aufhören werde, nach ihr zu suchen. Wir werden meine Tochter finden und wenn Sie sie nicht gehen lassen, bedeutet das, wir werden auch Sie finden.“

Die Kamera war jetzt so nah, dass Evelyn, als Linda aufhörte zu sprechen, sehen konnte, wie die Frau schluckte. Sehen konnte, wie flach ihr Atem trotz ihrer ruhigen Haltung ging. Aus der Ferne wirkte sie gefasst. Aus der Nähe sah man die Risse.

Als Linda nichts mehr sagte, fingen die Reporter an, sich gegenseitig mit ihren Fragen zu übertönen.

„Das ist alles, was ich zu sagen habe.“ Linda trat zurück, öffnete die Tür und verschwand in ihrem Haus.

Sophia hob die Fernbedienung an, drückte auf einen Knopf und der Fernseher wurde dunkel. „Unglaublich.“

„Haben Sie mit ihr über die Presse gesprochen und …“

„Ja, verdammt“, sagte Sophia und Evelyn warf Quincy einen Blick zu, der schweigend und mit verschränkten Armen mitten im Raum stand und sie beide musterte.

Sie fragte sich, welche Rolle er hier wohl einnahm. Für die kurze Zeit, die sie mit dem Fall befasst war, schien er oft aufzutauchen und sich nach den Details zu erkundigen. „Sind Sie in die Ermittlungen involviert?“

Er stieß ein grunzendes Geräusch aus. „Nein. Das hier ist ein kleines Revier. Sophia und ich sind die einzigen erfahrenen Detectives. Sophia kümmert sich beinahe Vollzeit um den Fall und sie ist alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern.“

„Das ist irrelevant“, gab Sophia angespannt zurück. „Ich bin nicht der einzige Cop mit Kindern.“

„Tja, aber du bist der einzige Detective hier, der die ganze Nacht durcharbeitet, während ein Babysitter auf deine Kinder aufpasst. Glaub mir, das kann zu nichts Gutem führen. Wann hat dein nichtsnutziger Ex das letzte Mal …“ Seine Stimme erstarb, als Sophia die Lippen zusammenpresste und die Hände in die Hüften stemmte. „Wie auch immer, das bedeutet, dass ich mich um beinahe alles andere kümmere. Also betrachten Sie mich als interessierten Dritten.“

„Wir hatten letztes Jahr einen ziemlichen Personalwechsel in der Abteilung“, erklärte Sophia und ließ die Arme wieder sinken.

Sie wirkte immer noch von Quincy genervt, aber Evelyn hatte den Eindruck, dass die beiden Freunde waren und sie den kleinen Schlagabtausch schnell wieder abschüttelte.

„Wir haben ein paar neue Detectives, aber die sind noch nicht vollständig eingearbeitet“, fügte Sophia hinzu.

Nach dem bedeutungsschweren Blick zu urteilen, den Quincy seiner Kollegin zuwarf, hatte Evelyn das Gefühl, dass mehr dahintersteckte, aber anstatt zu fragen, sagte sie: „Sollten wir noch mal mit Haleys Mutter reden? Der Schaden ist vermutlich schon angerichtet, aber …“

„Ich kümmere mich darum“, unterbrach Sophia sie. „Tatsache ist, ich kann Linda nicht davon abhalten, mit der Presse zu reden. Sie tut alles, um Haleys Geschichte in den Medien zu halten. Und ehrlich gesagt, wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich vermutlich das Gleiche tun. Das könnte Haleys beste Chance sein. Wenn sie noch lebt, muss irgendjemand sie gesehen haben.“

„Sicher, aber wenn sie noch lebt und man zu viel Druck auf den Entführer ausübt ...“

„Ich weiß“, sagte Sophia. „Dann wird sie nicht mehr lange am Leben bleiben. Also legen wir los. Sie haben sich die Akten angeschaut. Was denken Sie? Lebt sie noch?“

„Ich muss mir erst alle Spieler genauer ansehen, bevor ich das beantworten kann“, wich Evelyn aus, denn auch wenn sie bereit war, Sophia eine Einschätzung des Opfers zu geben, war es noch zu früh, ein hilfreiches Profil des Täters zu erstellen. Zuerst einmal musste sie sich noch den Rest der Fallakte ansehen, die angesichts der wenigen Spuren, die sie hatten, ziemlich umfangreich war. Man konnte Sophia Lopez definitiv nicht vorwerfen, sich nicht bemüht zu haben. „Aber ich habe eine Frage zu dieser Pressekonferenz. Warum glaubt Linda, die Nachricht ihrer Tochter würde bedeuten, dass Haley einen Stalker hatte? Ist zu diesem Thema irgendetwas aufgetaucht?“

Sophia schenkte sich seufzend einen Kaffee aus der Kanne im Pausenraum ein und schüttelte den Kopf. „Nein. Aber Linda ist überzeugt, dass Haley von einem Fremden entführt wurde. Das glaubt sie schon von Anfang an. Sie bringt es nicht fertig, sich vorzustellen, dass es jemand ist, den sie kennt.“

„Aber es ergibt überhaupt keinen Sinn, dass Haley eine kryptische Nachricht hinterlässt, wenn sie glaubt, von einem Fremden beobachtet zu werden. Das hätte sie doch jemandem erzählt.“

„Sehe ich genauso“, sagte Sophia.

„Warum sollte sie überhaupt so eine Nachricht hinterlassen?“, warf Quincy ein. „Wenn es ein Fremder war, warum hat sie dann nicht gleich gesagt, dass sie sich bedroht fühlt? Und wenn es kein Fremder war und sie wirklich Angst um ihr Leben hatte – wenn sie wirklich geglaubt hat, dass es, wenn jemand die Nachricht findet, für sie bereits zu spät ist –, warum hat sie uns dann nicht mitgeteilt, wer es ist? Oder uns wenigstens ein paar Einzelheiten verraten, damit wir es herausfinden können? Ich meine, wenn sie recht hat, kann diese Person ihr doch nicht mehr wehtun.“

„Das ist ein verdammt guter Punkt, Quincy“, sagte Sophia und schaute Evelyn an. „Haben Sie dazu eine Meinung? Glauben Sie, das Ganze könnte eine Art Schwindel sein? Einer, der nicht unbedingt mit dem in Verbindung steht, was passiert ist, sondern eher ein schlecht abgepasster Scherz?“

„Das wäre ein verdammt großer Zufall“, sagte Evelyn. „Aber Sie haben recht. Es ist eine seltsame Nachricht. Wir sollten die Möglichkeit im Auge behalten, dass Haley eine ganz andere Intention hatte; dass sie niemanden genannt hat, weil es niemanden zu nennen gab.“

„Soll heißen?“, fragte Quincy.

„Soll heißen, dass sie vielleicht weggelaufen ist und die Nachricht hinterlassen hat, um alle in die falsche Richtung zu schicken.“

„Das behauptet Haleys Vater auch.“

„Lindas Mann?“, fragte Evelyn überrascht.

„Nein. Haleys biologischer Vater. Bill Cooke. Er hat sich kurz nach Haleys Verschwinden ebenfalls an die Presse gewandt. Allerdings hat er nicht so viel Sendezeit bekommen, weil ihm Linda Varners Ausstrahlung oder Hartnäckigkeit fehlen. Aber er hat behauptet, Haley sei von zu Hause weggelaufen, weil sie missbraucht worden ist.“

Evelyn sah Sophia mit offenem Mund an. „Darüber habe ich nichts in der Fallakte gefunden. Haben Sie diese Möglichkeit verfolgt?“

Sophia kippte ihren Kaffee in die Spüle und unterdrückte einen Fluch. Dann sagte sie etwas lauter: „Natürlich haben wir das. Und es steht in der Akte. Vermutlich sind Sie bisher noch nicht bei Bill Cookes Befragung angekommen. Aber ich habe nichts gefunden, das seine Behauptungen unterstützt. Wenn überhaupt, sehe ich Anzeichen dafür, dass Bill gewalttätig war und sie sich aus diesem Grund haben scheiden lassen.“

„Wie lange ist das her?“

„Die Scheidung? Ungefähr drei Jahre. Direkt bevor Haley auf die Highschool kam.“

„Okay. Was ist mit dem Stiefvater? Irgendein möglicher Missbrauch von seiner Seite?“

„Tja, Bill hat die ganze Zeit Pete beschuldigt“, sagte Sophia. „Aber wir haben uns auch Linda angeschaut. Und nichts gefunden. Überhaupt nichts. Auch wenn ich ehrlich gesagt nicht sonderlich von Lindas Ehemann beeindruckt bin. Er ist …“ Sophia schien nach einem Wort zu suchen und entschied sich schließlich für: „Zugeknöpft. Ich habe keine Beweise für eine Misshandlung gefunden. Was nicht bedeutet, dass es keine gab, wie Sie sicher wissen. Aber was Bills Behauptungen angeht, schienen sie eher darauf abzuzielen, Linda zu verletzen, als Haley zu helfen.“

Evelyn wollte noch weitere Fragen stellen, aber Sophia kam ihr zuvor. „Hören Sie, die Scheidung war hässlich. Richtig hässlich. Es gab einen Kampf ums Sorgerecht, den Bill mit Pauken und Trompeten verloren hat. Haley war alt genug, um gehört zu werden, und sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Sie ist nie so weit gegangen, zu sagen, dass sie misshandelt worden ist, zumindest nicht laut den Gerichtsakten, die ich ausgegraben habe, aber Linda hat das alleinige Sorgerecht zugesprochen bekommen. Bill hat nur ein paar Wochenenden im Jahr. Nach allem, was ich weiß, sind die meistens frühzeitig abgebrochen worden.“

„Von wem?“, wollte Evelyn wissen.

„Laut Linda war es Haleys Entscheidung. Aber angesichts der Feindseligkeiten zwischen den Eltern …“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Also könnte es sich um einen Sorgerechtsstreit handeln“, schlug Evelyn vor. „Vielleicht hat Bill sich Haley geschnappt und behauptet nun, der neue Ehemann der Mutter würde sie misshandeln, um von sich abzulenken.“

„Das ist möglich“, gab Sophia zu. „Aber wenn er sie entführt hat, wo ist sie dann? Wir haben Bill Cooke mehrere Male befragt. Er wohnt in einem kleinen Häuschen in D.C. Er lässt uns nicht hinein, aber um das Haus gibt es kaum Grundstück. Die Häuser stehen dort sehr dicht. Ich habe mit seinen Nachbarn gesprochen und sie konnten mir sagen, was er sich abends im Fernsehen anschaut. Es wäre ziemlich schwer, dort eine Siebzehnjährige zu verstecken, vor allem eine, die so oft in den Nachrichten ist wie Haley. Wenn er sie entführt hätte, hätte er sich dann nicht abgesetzt?“

„Vielleicht wartet er, bis nicht mehr so intensiv nach ihr gesucht wird, bevor er sie woanders hinbringt“, gab Evelyn zu bedenken.

„Das würde bei einer Vierjährigen funktionieren“, wandte Quincy ein.

Seine tiefe Stimme erschreckte Evelyn. Auch wenn er groß war und mitten im Raum stand, war er so ruhig gewesen, dass sie seine Anwesenheit beinahe vergessen hatte.

„Aber eine Siebzehnjährige zu verstecken ist schon etwas schwieriger“, fuhr er fort. „Ich glaube, es fiele ihm schwer, sie dort zu behalten, wenn sie nicht bleiben will.“

„Ja, es ist weit hergeholt“, stimmte Evelyn zu. „Aber wir müssen das trotzdem untersuchen, zumal in einem Fall, in dem es einen Streit ums Sorgerecht gab. Und da Haley in nicht einmal einem Jahr achtzehn wird, hat Bill Cooke vielleicht gedacht, das wäre seine letzte Chance, vor allem, nachdem Haley gedroht hat, ihn ganz aus ihrem Leben auszuschließen.“

Sophia nickte langsam. „Ja, das stimmt. Ich mag Bill Cooke generell nicht und es würde mich nicht überraschen, wenn er, falls wir ein Anzeichen für Missbrauch finden, seine Finger im Spiel gehabt hat.“

„Okay“, sagte Evelyn. „Lassen Sie mich noch die Fallakten zu Ende lesen. Denn im Moment kann ich Ihnen nur Informationen über Haley geben.“

„Ein Opferprofil?“, fragte Sophia. „Schießen Sie los.“

„Tja, der Schlüssel ist, dass Haley für denjenigen, der sie entführt hat, ein hohes Risiko darstellt. Und auch der Ort und der Zeitpunkt der Entführung waren sehr riskant. Er – oder sie – musste sicher sein, dass er es durchziehen konnte.“

Sophia nickte. „Also jemand, der ihr nahestand.“

„Zumindest jemand, dem Haley vertraut hat“, erwiderte Evelyn. „Denn entweder hat sie mit ihrem Entführer zusammen das Schulgebäude verlassen, oder sie hat ihn nah genug an sich herangelassen, dass er sie sich packen konnte, ohne dass sie geschrien hat.“

„Vielleicht hat sie die Person erwartet“, schlug Quincy vor. „Oder es waren mehrere und sie wurde überwältigt.“

„Beides ist möglich.“ Evelyn nickte. „Aber vergessen Sie nicht, niemand hat sie um Hilfe rufen hören oder etwas von einem Kampf mitbekommen. Sobald ich die Akte gelesen habe, möchte ich alle Menschen aus Haleys Leben kennenlernen. Jeden, der sie hätte schnappen können, und jeden, der irgendeinen Einblick hatte, warum sie glaubte, ihr Leben wäre in Gefahr.“

„Bill Cooke?“

Der Mann, der sie durch die Fliegengittertür finster anschaute, hatte seiner Tochter vermutlich einmal sehr ähnlich gesehen. Blondes Haar, das sich jetzt langsam zur Mitte seines Schädels zurückzog; blaue, durch Zeit oder Erfahrungen verblasste Augen; tiefe Falten um seinen Mund, die davon zeugten, dass er früher einmal viel Grund zum Lächeln gehabt hatte. Jetzt jedoch schrie alles von seinem kahl werdenden Kopf bis zu den Sohlen seiner schlammverkrusteten Stiefel: „wütend“.

„Ja.“ Bill schaute von Evelyn zu Sophia, die dicht nebeneinander auf der schmalen Stufe vor seinem Haus standen. „Was ist denn nun schon wieder? Sie haben Sie doch nicht gefunden, oder?“

„Wollen Sie das denn?“, fragte Evelyn, überrascht von seinem Tonfall.

Bill trat zurück und öffnete die Tür. „Vielleicht ist sie besser dran, wenn Sie es nicht tun. Ich sage es Ihnen, Haley ist weggelaufen. Linda sucht nach Aufmerksamkeit, aber meine Tochter hat nur versucht, zu entkommen.“

„Sie glauben, sie ist weggelaufen?“, hakte Evelyn nach, während sie sich seitlich an Bill vorbeischob und das Haus mit dem ordentlichen Eingangsbereich betrat, der jetzt von frischen Schmutzspuren durchzogen war.

Es lag kein Schnee, aber der Boden war immer noch fast gefroren. Wo hatte Bill Cooke den Schlamm an seinen Stiefeln her?

„Ja, und das habe ich Detective Lopez hier schon hundert Mal erzählt. Wer sind Sie? Sind Sie neu bei der Polizei? Tauschen Sie untereinander keine Notizen aus? Kein Wunder, dass Sie Haley nicht finden können.“

Evelyn ignorierte die Stichelei und streckte ihre Hand aus, als Bill einen Schritt zurückmachte und Sophia sich zu ihnen gesellte, die schwere Tür hinter sich zuzog und somit den schneidenden Wind aussperrte. Der letzte Monat war vielleicht ungewöhnlich warm gewesen, aber trotzdem hatten sie immer noch Januar.

„Special Agent Evelyn Baine. Ich wurde als Beraterin vom FBI zum Fall Ihrer Tochter hinzugezogen.“

Anstatt ihre Hand zu schütteln, legte Bill zwei raue Hände um ihre und drückte fest zu. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was er beruflich machte.

„Ich weiß den Gedanken zu schätzen, Agent Baine. Aber meiner Tochter geht es gut.“

„Haben Sie etwas von ihr gehört?“ Sophia trat langsam vor und sorgte so dafür, dass Bill Evelyns Hand losließ und sich zurückzog. Das geschah unbewusst, wenn jemand in den persönlichen Bereich eindrang, und es war ein kluger Schachzug von Sophia, um tiefer ins Haus vorzudringen.

Sie hatte Evelyn erzählt, dass er sie nie hereingelassen, sondern immer darauf bestanden hatte, sich auf dem Revier zu treffen. Evelyn hatte diese Befragung spontan durchführen wollen, in der Hoffnung, das würde etwas ändern, aber sie war immer noch überrascht, dass er sie so einfach hereingebeten hatte. Sollte Haley jemals hier versteckt gewesen sein, so war sie es jetzt nicht mehr.

„Nein, ich habe nichts von meiner Tochter gehört. Und ich bezweifle, dass ich das jemals tun werde. Zumindest nicht, bis sie achtzehn ist und sich endlich von ihrer Mutter und Lindas neuem Ehemann lossagen kann.“ Er spuckte das Wort Ehemann aus, als wäre es ein Schimpfwort.

Sophia machte noch einen Schritt nach vorne, doch dieses Mal rührte Bill sich nicht, sondern schob nur seine Hände unter den jeweils anderen Ellbogen und starrte sie an. Die Aggression in seinen Augen wurde kaum von seiner Verbitterung verdeckt.

„Warum sind Sie so überzeugt davon, dass sie weggelaufen ist?“

„Das haben wir doch schon alles besprochen. Haley hat es gehasst, in dem Haus zu wohnen. Lindas neuer Ehemann ist ein echtes Arschloch. Er ist genervt davon, sich um einen Teenager kümmern zu müssen, und er hat Haley wie Dreck behandelt.“

„Inwiefern?“, fragte Evelyn in der Hoffnung, dass er eher gewillt wäre, die Einzelheiten noch einmal durchzugehen, wenn sie die Fragen stellte und nicht Sophia.

Er musterte sie und sie sah, wie er die Details katalogisierte: ihre langen, dunklen Haare, die zu einem ordentlichen Knoten zusammengebunden waren. Die hellgrünen Augen, die ein Geschenk ihrer Mutter waren und sich von der hellbraunen Haut abhoben, die von ihrem Vater kam. Der schlichte schwarze Anzug, der zu groß war und sie noch kleiner aussehen ließ, als sie es ohnehin schon war.

Sie schätzte, dass er wie viele Verdächtige war, und „klein“ mit „keine Bedrohung“ gleichsetzte. Sie schwor sich, wenn er für Haleys Verschwinden verantwortlich war, würde sie es ihn bereuen lassen.

„Haley hat mir nie irgendwelche Einzelheiten erzählt. Aber sie hat immer wieder Bemerkungen über Pete Varner fallen lassen, die bei mir den Eindruck erweckten …“ Er zuckte mit den Schultern und scharrte mit den Füßen, womit er Evelyns Aufmerksamkeit wieder auf den Schlamm an seinen Stiefeln lenkte, der einen starken Kontrast zu dem sauberen, ordentlichen Haus bildete.

Zumindest war der Teil des Hauses, den sie sehen konnte, sauber und ordentlich. Sie standen zu dritt in dem kleinen Flur, von dem aus Evelyn nur ein winziges Wohnzimmer blicken konnte. Alles wirkte frei von Staub und Schnickschnack, aber auch von jeglicher Persönlichkeit. Ein Ensemble dunkler Polstermöbel, die er sich vermutlich nach der Scheidung gekauft hatte, bestimmten den Raum.

Sie fragte sich, wie viel von Bills Feindseligkeit einen Grund hatte und wie viel darauf beruhte, dass seine Familie weitergezogen war. Andererseits wusste sie über Lindas neuen Ehemann, Pete Varner, nur das, was die Hintergrundüberprüfungen von Sophia ergeben hatten. Da war nichts herausgestochen, außer sein Job – das Installieren von Verkaufsautomaten. Diese Arbeit führte ihn an viele Highschools, einschließlich der von Haley. Vielleicht hatte er die Tochter gesehen, bevor er die Mutter geheiratet hatte.

„Glauben Sie, sie wurde sexuell missbraucht?“, kam Evelyn direkt zum Punkt, wobei sie Bill sorgfältig beobachtete.

Sein Kopf zuckte bei der Frage zurück. Dann schüttelte er ihn. „Nein, nicht … Nein, das glaube ich nicht."

„Also was für eine Form von Missbrauch dann? Hat Pete sie geschlagen?“, hakte Evelyn nach.

„Ich … ich weiß es nicht. Vielleicht.“ Bill verlagerte nervös sein Gewicht. „Ich weiß nur, dass sie unglücklich war. Dass sie es dort gehasst hat. Sie ist weggelaufen.“ Er schaute auf die Uhr und sagte: „Ich habe gleich einen Termin. Rufen Sie mich doch nächstes Mal bitte an, dann komme ich aufs Revier.“

„Es könnte uns helfen, Haley aufzuspüren“, probierte Evelyn es.

„Sie stellen mir keine Frage, die ich nicht schon Detective Lopez beantwortet habe“, unterbrach Bill sie. „Und die Sache ist die: Ich weiß, dass Haley weggelaufen ist. Und ich werde Ihnen nicht helfen, sie zu ihrer verrückten Mutter und dem Arschloch zurückzubringen, das sie geheiratet hat.“

„Was, wenn sie nicht weggelaufen ist?“, hakte Evelyn nach, als Bill ihren persönlichen Bereich betrat, um sie förmlich aus der Tür zu scheuchen. „Was, wenn Sie sich irren?“

Sie rührte sich nicht, sondern legte nur den Kopf ein wenig in den Nacken, sodass sie Bill anschauen konnte, der beinahe dreißig Zentimeter größer war als sie. Sophia blieb direkt neben ihr.

„Ich bin mir sicher …“

„Sie haben nichts von ihr gehört“, erinnerte Evelyn ihn. „Was bedeutet, es besteht die Chance, dass sie entführt wurde. Selbst wenn nur die winzigste Möglichkeit besteht, dass sie in Schwierigkeiten steckt, wollen Sie da nicht sichergehen, dass es ihr gut geht?“

In Bills Augen veränderte sich etwas, aber Evelyn war nicht sicher, was genau sie da gesehen hatte, bevor er blinzelte und es wieder weg war.

„So ist es nicht gewesen“, beharrte Bill und legte nun tatsächlich eine Hand auf ihren Arm, um sie nach hinten zu schieben. „Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.“

Evelyn löste sich aus seinem Griff und stellte sich breitbeinig hin. „Okay.“ Sie zog eine Visitenkarte heraus und reichte sie ihm. „Aber das FBI verschwendet seine Zeit normalerweise nicht darauf, Leute zu suchen, die weggelaufen sind. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte.“

Sie drehte sich um und verließ das Haus, aber vorher sah sie noch, wie er stirnrunzelnd ihre Visitenkarte betrachtete.

Sobald sie wieder in Sophias Polizeiwagen saßen, fragte Evelyn: „Was macht Bill Cooke beruflich?“

„Er ist Vorarbeiter auf dem Bau. Warum?“

Evelyn nickte. Das könnte den Schmutz an seinen Stiefel erklären, auch wenn sie es immer noch seltsam fand, dass er den Dreck durch das ganze sauber geputzte Haus getragen hatte, um ihnen die Tür zu öffnen. Vor allem, weil er sie nicht dort haben wollte. Aber vielleicht hatte er nicht durch den Spion geguckt, bevor er aufgemacht hatte. Oder er war so erpicht darauf gewesen, sie wieder loszuwerden, dass er sich wegen des Drecks keine Gedanken gemacht hat. „Ich war nur neugierig.“

Sophia schob den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn aber nicht. „Okay, ich habe auch eine Frage. Was denken Sie? Lügt Bill Cooke uns an? Hat er Haley entführt?“

Evelyn schaute stirnrunzelnd zu dem Haus hinüber, das sie gerade verlassen hatten. Sie sah, dass sich in einem der vorderen Fenster eine Gardine bewegte, so als beobachte Bill sie. „Er lügt. Aber ich bin nicht sicher, weswegen – vielleicht, was die Misshandlungsvorwürfe angeht. Aber er schien aufrichtig überrascht – und besorgt –, als ich sexuellen Missbrauch erwähnte. Es ist schwer zu sagen. Ich glaube nicht, dass er uns ins Haus gelassen hätte, wenn Haley dort wäre. Aber weiß er, wo sie ist?“ Sie seufzte und wünschte sich, es gäbe eine einfache, gesicherte Antwort. „Vielleicht. Er hat ziemlich schnell behauptet, nichts von ihr gehört zu haben. Aber als ich ihn gefragt habe, ob er sicher sei, dass es ihr gut geht, hat seine Körpersprache verraten, dass er das nicht ist. Trotzdem ist es seltsam, dass er sich nicht mehr Sorgen um sie macht oder darum, wo sie sein oder mit wem sie weggelaufen sein könnte. Dieser Mangel an Sorge könnte ein Anzeichen dafür sein, dass er die Antwort darauf kennt. Sein gesamtes Verhalten war ein wenig widersprüchlich.“

Sophia trommelte frustriert auf dem Lenkrad herum und startete dann den Motor. „Was müssen wir tun, damit Sie uns in die richtige Richtung weisen können? Ich laufe in diesem Fall im Kreis. Und wenn Haley irgendwo da draußen ist, will ich sie nach Hause bringen.“

Als sie aus der Ausfahrt fuhr und Evelyn die Gardine in Bills Fenster beobachtete, die wieder zufiel, fügte Sophia hinzu: „Wenn Bills Vorwürfe bezüglich der Misshandlungen stimmen, möchte ich mich auch darum kümmern.“

„Dann sprechen wir am besten mit Linda und Pete“, erwiderte Evelyn. „Denn Profiling ist leider nicht wie ein Blick in die Kristallkugel. Ich kann nicht einfach zehn Minuten mit jemandem reden und Ihnen dann sagen, dass er es war. Aber sobald ich einen besseren Eindruck von allen Beteiligten habe, sollte ich in der Lage sein, Ihnen zu helfen, die Suche einzugrenzen.“

Sophias Handy klingelte und unterbrach damit ihre mögliche Antwort. Sie drückte sich das Telefon ans Ohr und lenkte den Wagen auf die Straße. „Lopez.“

Es entstand eine kleine Pause und auch wenn Evelyn nicht hören konnte, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde, verriet Sophias mit einem Mal wütende Miene, dass es nichts Gutes sein konnte.

„Du machst Witze“, sagte Sophia und seufzte dann schwer. „Ja, okay, ich kümmere mich darum.“

Sie legte auf und warf das Handy auf die Mittelkonsole. „Unglaublich“, murmelte sie.

„Was ist los?“

„Sie wollen Haleys Mom kennenlernen?“ Sophia drückte aufs Gas. „Dann sollten wir das gleich erledigen. Ich habe ihr auch noch ein paar Takte zu sagen.“

„Worum ging es in dem Anruf?“ Evelyn stützte sich mit dem Ellbogen an der Tür ab, als Sophia die Kurven aus Bill Cookes Viertel zu schnell nahm.

„Jemand hat gerade ein Foto von Haleys Nachricht im Internet veröffentlicht.“

„Was?“ Evelyn sah sie ungläubig an.

„Ja, Sie haben ganz richtig gehört“, sagte Sophia. „Jetzt weiß die ganze Welt, dass Haley vorausgesagt hat, dass sie von jemandem umgebracht wird. Was bedeutet, alle Irren, die jetzt schon unsere Hotline blockieren und behaupten, sie hätten sie gesehen, werden jetzt auch noch behaupten, sie umgebracht zu haben.“

„Und außerdem verrät es jedem mit einer Internetverbindung, dass die Person, die sich Haley Cooke geschnappt hat, vermutlich jemand ist, den Haley kennt“, ergänzte Evelyn.

„Jupp“, stimmte Sophia zu. „Was bedeutet, wer auch immer es war, er weiß jetzt, dass wir ihm auf der Spur sein könnten. Er könnte in diesem Moment Beweise zerstören. Und wenn Haley sich geirrt und ihr Entführer sie bislang noch am Leben gelassen hat …“

„Dann könnte er anfangen, sich Sorgen zu machen, dass wir uns auf die Menschen konzentrieren, die Haley kennt, was ihn zum Handeln zwingt.“

„Ganz genau. Wenn Haley nicht ihren eigenen Tod vorausgesagt hat, hat derjenige, der die Nachricht durchsickern ließ, ihn womöglich gerade verursacht.“

3. KAPITEL

„Er lügt.“ Linda Varner stand mit verschränkten Armen im Türrahmen ihres Hauses. Ihr Ehemann war hinter ihr und schaute über ihre Schulter.

Während Linda eine seltsame Mischung aus wütend und Nervenbündel war, funkelten Pete Varners Augen einfach nur verdächtig. Evelyn schätzte Linda auf Mitte fünfzig, doch Pete musste mindestens zehn Jahre jünger sein. Er hatte den Körperbau eines Gewichthebers, zu dem sein langes, schmales Gesicht nicht zu passen schien. Er hielt sich dicht bei Linda, als versuche er, sie vor der Welt zu beschützen.

Trotzdem wirkte er seltsam entspannt. Nach nicht einmal dreißig Sekunden in Lindas Gegenwart spürte Evelyn, wie ihre zuckenden Nerven auf sie übersprangen.

Sophia hatte die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt und Evelyn bemerkte, dass sie sich sehr bemühte, ruhig zu bleiben. „Wer lügt?“

„Mein Exmann“, sagte Linda. „Er hat hier angerufen und einen Riesenaufstand gemacht, weil Sie ihn besucht haben. Offensichtlich dachte er, wir hätten Sie geschickt, was …“

„Wir wissen, was der Mistkerl erzählt“, unterbrach Pete Varner seine Frau.

„Er hat von Anfang an behauptet, dass Haley von zu Hause weggelaufen ist.“ Lindas Hände zitterten, als sie die Tür weiter für sie öffnete. „Wenn Sie seine Lügen darüber, dass Haley weggelaufen ist, geglaubt hätten und die Polizei deswegen keine Ermittlungen aufgenommen hätte, hätte ich ihn umgebracht.“

„Ich bin nicht sicher, ob Sie das gegenüber einem Detective laut aussprechen sollten“, murmelte Sophia. Dann trat sie ein und fügte hinzu: „Das hier ist FBI-Profilerin Evelyn Baine. Sie ist die zuständige Beraterin im Fall Ihrer Tochter.“

Lindas große Augen schauten Evelyn an und sie packte ihre ausgestreckte Hand mit ihren beiden Händen. Im Gegensatz zu Bill Cookes rauem, aggressiven Griff fühlten sich Lindas kalte Hände verzweifelt und zittrig an.

Evelyn musterte sie eindringlich, nahm die blutunterlaufenen Augen in sich auf, die Linda vergeblich unter einer dicken Schicht Mascara zu verbergen versucht hatte, und fragte sich, ob sie wohl irgendwelche Medikamente nahm.

Pete schlang von hinten die Arme um seine Frau, sodass ihre Arme gefangen waren und sie Evelyns Hand losließ.

Die Bewegung war gleichzeitig beschützend und aggressiv und Evelyn unterdrückte ein Stirnrunzeln. Könnte an den Behauptungen von Bill Cooke etwas dran sein? Versuchte Pete nur, seine Frau zu beschützen, die nach einer persönlichen Tragödie ins Rampenlicht geschubst worden war? Oder versuchte er, sie ständig im Blick zu behalten, um sicherzugehen, dass sie nicht ein Geheimnis ausplauderte, das er lieber für sich behalten wollte?

„Haben Sie etwas gefunden?“, fragte Linda panisch. Evelyn wandte ihr wieder ihre Aufmerksamkeit zu. Sie klammerte sich an den Arm ihres Ehemannes, ihre Fingernägel gruben sich tief in seine Haut. „Haben Sie ein Profil erstellt, das wir uns ansehen können? Von dem, der sie entführt hat?“

„Ehrlich gesagt“, schaltete Sophia sich ein, „sind wir hier, um mit Ihnen darüber zu reden, dass einer von Ihnen oder sogar alle beide unsere Ermittlungen behindern und damit auch unsere Chancen mindern, Haley sicher wieder nach Hause zu bringen.“

Evelyn versuchte, bei diesem groben Vorgehen keine Miene zu verziehen, vor allem, weil Haley bereits tot sein könnte, aber sie wusste, wie sehr es einem Fall schaden konnte, wenn die falschen Informationen an die Presse durchsickerten. „W-was?“, stotterte Linda und lehnte sich zurück, auch wenn sie nirgendwo hinkonnte, weil ihr Ehemann sich gegen ihren Rücken presste.

„Irgendjemand hat heute Nachmittag ein Foto der Nachricht, die unter Haleys Matratze gefunden wurde, im Internet veröffentlicht“, fuhr Sophia fort und trat vor, bis ihre Nase beinahe die von Linda berührte. „Dadurch, und durch ihre kleine Show in den Nachrichten, gefährden Sie unsere Ermittlungen – und womöglich auch das Leben Ihrer Tochter.“

„I… ich …“ Linda wurde so blass, dass Evelyn automatisch einen Schritt vormachte, um sie aufzufangen, sollte sie umkippen.

Nicht, dass das nötig gewesen wäre, denn ihr Ehemann hatte sie ja quasi um die Schultern im Schwitzkasten. Er funkelte sie wütend an, aber in seinem Blick war noch etwas anderes, das Evelyn eine Gänsehaut verursachte.

Die Erkenntnis ließ ihren Atem schneller gehen und ihre Hände ballten sich automatisch zu Fäusten. Sie kannte diesen Blick. Den Blick von jemandem, der glaubte, die Macht zu haben. Jemand, der aufblühte, wenn er die Kontrolle hatte – üblicherweise auf Kosten anderer.

Eine Erinnerung blitzte in ihr auf. Die Erinnerung an einen Mann, der überhaupt nicht wie Pete Varner aussah. Ein Mann, mit dem ihre Mutter zusammen gewesen war und der die zehnjährige Evelyn mit der Intensität eines Raubtiers angeschaut hatte. Ein Mann, bei dem sie vom ersten Blick an gewusst hatte, dass sie ihm aus dem Weg gehen musste.

Sie hatte sich bemüht, aber mit einer Mutter, die dazu neigte, in einer Wolke aus abgestandenem Wodka auf der Couch ins Koma zu fallen, war das unmöglich gewesen. Nur durch Glück und aus Verzweiflung geborenem Einfallsreichtum war sie einem schlimmen Schicksal entronnen.

Evelyn richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Linda und sie bemerkte den Schleier vor ihren Augen. Hatte sie angefangen, Medikamente zu nehmen, um den Schmerz über das Verschwinden ihrer Tochter zu dämpfen, oder war sie vorher schon auf Schmerzmitteln gewesen?

Wut brandete in ihr auf und sie wusste, dass die mehr gegen ihre Mutter als gegen Linda Varner gerichtet war.

Man musste es ihr angesehen haben, denn Pete sagte auf einmal angespannt: „Lassen Sie sie in Ruhe“, und sorgte so dafür, dass Evelyn sich wieder auf die Unterhaltung konzentrierte. „Wir haben mit dem Durchsickern der Nachricht nichts zu tun.“

„Da Sie die Einzigen sind, die Zugriff darauf hatten, bevor sie in einem Beweismittelraum bei der Polizei gelandet ist, bezweifle ich das sehr.“ Sophias Blick schoss zu ihm hoch; in ihren Augen flammte ein zu persönlicher Zorn auf.

Evelyn fragte sich unwillkürlich, ob Sophia in ihrer Vergangenheit eine ähnliche Tragödie erlebt hatte. Oder vielleicht nahm sie sich den Fall nur so zu Herzen, weil sie selber Kinder hatte. Wie auch immer, sie und Sophia strahlten vermutlich zu viel Zorn aus. Und das könnte Linda und Pete dazu veranlassen, sich zu verschließen und nicht mehr mit ihnen zu kooperieren.

„Vielleicht hat einer der Polizisten die Nachricht weitergegeben“, erwiderte Pete eher selbstgefällig als wütend.

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