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Totalschaden

hier erhältlich:

Mit leichter Hand, scharfem Blick und feiner Ironie erzählt Helena von Zweigbergk von den heiteren, aber auch gefährlichen Doppelbödigkeiten einer Ehe. Seit langem sind Agneta und Xavier verheiratet, die Kinder sind ausgezogen und haben eine zuweilen bedrückende Leere hinterlassen. Streitereien und Beziehungskämpfe haben die beiden längst alle ausgetragen, die Vergangenheit lassen sie Vergangenheit sein. Führen sie nicht eigentlich ein ziemlich gutes Leben, voller Bequemlichkeit und gegenseitiger Toleranz? Doch so unspektakulär die kleinen ehelichen Scharmützel anmuten, unter der Oberfläche brodelt es. Beiläufig und kompromisslos – beste Unterhaltung mit Substanz.


  • Erscheinungstag: 17.02.2020
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011643
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Totalschaden

ROMAN

 

Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder

 

Teil 1

***

 

Ich sehe fünf tote Hasen, und ich versuche zu lächeln.

»Nicht schlecht! So viele.«

Doch Xavier ist weder stolz noch glücklich, obwohl er sie selbst geschossen hat. Im Gegenteil, sein schönes Lächeln wirkt etwas verrutscht. Er hat noch nie zuvor Tiere getötet, und ich vermute, ihm ist nicht wohl dabei. Sein lächelnder Mund hängt schief wie der Flügel eines angeschossenen Vogels.

»Ja, schon.« Sein Blick gleitet an mir vorbei. »Aber jetzt brauche ich ein heißes Bad. Ich habe noch nie so gefroren.«

 

Der Wald bedeutet Xavier alles. Dreißig Jahre lang, seit er aus Argentinien nach Schweden gekommen ist, hat er im Rahmen seiner Arbeit an der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften den Zustand des Waldes und seinen Wandel dokumentiert. Jeden Sommer reist er von Schonen nach Lappland und sucht nach Veränderungen, schaut, wie es den Bäumen geht, studiert Laub, Rinde und Jahresringe. Nimmt Proben und schickt sie zur Analyse ein. Ich begleite ihn nie auf diesen Reisen, doch ich weiß, dass er mit Zelt und Gaskocher weit wandert, und ich sehe ihn vor mir: leise vor sich hin sprechend, ungeschützt offen und hellwach wie sonst selten. Als würde er sich selbst liebevoll den Arm um die Schulter legen und sich an einen geschützten Ort bringen. Dort draußen unter Fichtenzweigen und Kieferkronen, sagt er sich immer wieder, sei er sicher.

Xavier trägt eine lebenslange Trauer in sich, lässt sie aber meist ruhen. Der Wald hat Verständnis, hat er einmal gesagt. Der Wald hat Verständnis für Trauer, für Liebe. Der Wald hat Mut, der Wald weiß zu trösten. Die Stille des Waldes spricht ihn mehr an, als ein Mensch es vermag. Am Anfang unserer langen Ehe war ich deshalb eifersüchtig, fühlte mich unzulänglich. Heute denke ich: Es gibt den Wald, und es gibt mich. Wir halten Xavier gemeinsam, halten ihn aufrecht. Hielte der Wald ihn nicht, ich allein hätte es nicht geschafft.

Dass Xaviers Kollegen an der Universität für Agrarwissenschaften ihm zu seiner Pensionierung eine Jägerprüfung geschenkt haben, zeigt nur, dass sie ihn nicht wirklich gut gekannt haben können. Sie haben es bestimmt nicht böse gemeint. Sie mögen Xavier und seine schweigsame, etwas trockene Art.

»Du kannst doch jetzt nicht einfach nur als Waldschrat herumlatschen«, haben sie gesagt. »Du musst den Wald erobern. Bedien dich an dem, was er bietet.«

Von seiner Verabschiedung kam Xavier mit einem bezahlten Kurs, hohen grünen Stiefeln, einem Klapphocker und einem Fernglas nach Hause. Er sollte nun losziehen und schießen.

Als ich vorsichtig fragte, ob er das wirklich wolle, wurde er wütend.

Es sei nett von ihnen. Sie meinten es gut. Sie wollten ihn weiter dabeihaben. Müsse ich das infrage stellen und verderben? Sie hätten recht. Er sollte den Wald jetzt mal auf andere Weise kennenlernen.

Ich glaube, die Kollegen wollten Xaviers Sanftmut herausfordern. Ihn eine brutalere Seite an den Tag legen sehen. Für seinen jüngeren Kollegen Johan, der ihm anbot, mit ihm Hasen zu jagen, war der Anblick Xaviers mit einem Gewehr in der Hand sicherlich nicht frei von Komik. Professor Kalkül haben sie ihn immer genannt. Professor Kalkül auf der Jagd – geht in Deckung!

 

Während Xavier im Bad ist, um sich zu waschen und zu wärmen, stehen unsere zweijährige Border-Terrier-Hündin Molly und ich allein in der Garage und begutachten die Hasen. Die länglichen Leiber der Tiere liegen ausgestreckt da. Ihr Fell ist etwas zerzaust, als wüssten die Haare nicht wohin, nachdem unter der Haut kein Leben mehr ist. Mollys Nase bebt, und vor Aufregung zittert die Hündin am ganzen Leib, was sie noch mehr zum Tier macht, als sie es ohnehin schon ist. Sie schnuppert und leckt sich die Schnauze. Ich bewege mich möglichst vorsichtig, als könnten die Hasen jeden Moment wieder lebendig werden. Sich losreißen und mit den kräftigen Hinterbeinen zutreten. Aber sie liegen reglos und stumm auf der Werkbank. Dicht beisammen, als versuchten sie, einander zu wärmen. Es riecht streng.

Ihr armen kleinen Dinger! Habt ihr die Löffel gespitzt und auf Johan und Xavier gelauscht? Hastig den Kopf gedreht, um zu lokalisieren, woher das Geräusch kam? Habt ihr das Unheil gewittert?

Vorsichtig streiche ich mit zwei Fingern über das Fell: Es ist weich. Die Krallen sind lang und scharf. Als mein Blick auf ein stummes Hasenauge fällt, wende ich mich ab.

Ich gehe und zerre Molly mit. Sie sträubt sich erst, gibt dann aber nach.

»Die dürfen jetzt erst mal dort liegen, Molly. Wir lassen sie in Ruhe.«

Es ist so kalt, dass mir in der halben Minute, die ich brauche, um von der Garage zum Haus zu gehen, bereits die Finger schmerzen und die Wangen brennen. Die Tür ist zugefallen, und ich stehe da in meiner Strickjacke und fluche laut, weil sich mit klammen Händen der Schlüssel so schwer ins Schloss stecken lässt.

 

Als Xavier aus dem Badezimmer kommt, rubbelt er sich mit einer Heftigkeit die Haare trocken, als wollte er sich von einer festgeklebten Mütze befreien.

»Eigentlich sollte man sie gleich jetzt ausweiden«, sagt er. »Aber wir sind heute Morgen schon um sechs losgezogen, und ich schaffe es einfach nicht mehr. Das macht doch wohl nichts, oder?«

Ich kenne mich da überhaupt nicht aus. Das sage ich auch, füge aber in tröstendem Ton hinzu, dass es bestimmt nichts macht.

»Bist du denn jetzt ein richtiger Jäger?«

»Wie? Nein, natürlich nicht.«

»Klingt so.«

»Ach so. Es hörte sich eher wie eine Frage an. Gut, dann bin ich jetzt wohl besser still.«

 

Xavier ist in letzter Zeit schnell gereizt. Mir ist klar, dass das mit seiner Pensionierung zu tun hat. Eine Lebenskrise, die offenbar mit jedem Tag, den er allein daheim durchs Haus tigert, größer wird. Nicht eingebunden zu sein, bekommt ihm schlecht. Seit Neuestem läuft er mit ausgestreckten Händen umher, so als wollten sie jeden Moment zupacken. Oder einfach nur etwas anpacken. Mit meiner strengsten inneren Stimme ermahne ich mich, geduldig zu sein. Da zu sein. Aber ein Tag, ein Abend, eine Nacht – es gibt so viele Momente rund um die Uhr. Moment, Moment, Moment. Alle unter Kontrolle zu haben, ist unmöglich.

Ich sage nichts und gehe in die Küche, fühle mich verletzt. Xavier folgt mir und öffnet den Kühlschrank.

»Man muss sie aufschneiden, die Eingeweide herausnehmen und stattdessen Fichtenreiser hineinlegen. Dann müssen sie ein paar Tage abhängen.«

»Wie reizend«, sage ich mit spöttischem Unterton.

Xavier schmiert sich ein Brot. Mit ordentlich viel Butter und zwei Scheiben Wurst. Er setzt sich mir gegenüber an den Tisch, isst und schaut auf den Raureif draußen, der sich gegen den langsam blau werdenden Winterhimmel abzeichnet. Fährt sich mit der Hand durchs Haar. Es ist an den Schläfen mittlerweile etwas schütter, sonst aber immer noch voll, und im Nacken lockt es sich. Bis heute staune ich, wie schön er ist. Die stattliche Nase, gebogen wie der Schnabel eines großen, arrogant aufgeblasenen Aras, die breiten Knöchel und die sensiblen langen Finger, der forschende Blick seiner grünen Augen, seine kräftigen, gesunden elfenbeinfarbenen Zähne. Er ist so hervorstechend gut aussehend, dass es schon peinlich ist, fast banal. Wie oft habe ich mich in unseren vielen gemeinsamen Jahren zurückhalten müssen, um nicht allzu zufrieden zu erscheinen. Ich gebe mich immer möglichst unbeteiligt, während ich insgeheim mit meiner augenfälligen Trophäe triumphiere. Schließlich bin ich auch nicht mehr das, was ich einmal war. Uns trennen vierzehn Jahre.

Trotzdem.

Ich strecke die Hand aus.

»Hast du schon mal Hasen gegessen?«, frage ich.

»Nein, nur Kaninchen. Als Kind habe ich sie gestreichelt und ihnen Blätter zu fressen gegeben, bevor sie sonntags im Kochtopf landeten. Sie haben mir immer leidgetan, weil ihre Hinterbeine zusammengebunden waren. Carmen, die bei uns kochte, lachte mich aus, wenn ich die Tiere streichelte und tröstete und fütterte. Wenn ich Carmen bat, die Schnur um die Beine zu entfernen, sagte sie, dann würden sie mir beim Essen Löcher in den Bauch kratzen … Was für dummes Zeug man Kindern nicht alles erzählt! Na ja. Aber diese Karnickel waren gemästet und zart. Die mageren armen Dinger draußen in unserer Garage sind dagegen sicher immer nur herumgerannt und hatten Angst und Hunger.«

»Ich habe auch noch nie Hasenfleisch gegessen.«

»Vielleicht schmeckt es ja gar nicht. Dann habe ich sie umsonst geschossen.«

»Natürlich schmeckt es. Gilt es nicht sogar als Delikatesse?«

»Ja. Wie Surströmming.«

»Ach, komm. Es ist doch einfach nur Fleisch. Wenn du die Tiere in normale, handhabbare Stücke zerteilst, verspreche ich, sie zuzubereiten. Hauptsache, ich muss sie nicht abbalgen und zerlegen.«

»Ja, das überlässt du dem Henker!«

»Mensch, Xavier. Okay. Ich helfe dir. Ist zwar gruselig, aber was soll’s. Fleisch zu essen, ohne zu fragen, wo es herkommt, ist bequem.«

Vage lächelnd schluckt Xavier den letzten Bissen seines Butterbrots: »So ist es.«

»Wir werden ein Wildessen veranstalten«, sage ich, auf einmal übermütig. »Wir bereiten ein Hasengericht zu und laden unsere Freunde ein.«

Ich gehe die Idee sofort an: Kommt zu uns, an einem Samstag mitten im eiskalten Februar. Zu Wild, Rotwein und Ofenkartoffeln. Einfach so. Weil wir euch bei uns haben wollen. Xaviers neues Leben in Freiheit feiern. Feiern, dass bald Frühling ist, auch wenn man es noch nicht merkt. Habt ihr schon mal Hasen gegessen? Ja? Na dann. Wenn nicht, bekommt ihr jetzt dazu Gelegenheit. Sie haben in unserer Garage abgehangen, Xavier hat sie geschossen, und wir haben sie höchstselbst abgebalgt und zerlegt.

Eigentlich wird das niemand von mir erwarten, auch von Xavier nicht. So etwas: In unserem Alter noch das Weltbild der Freunde durcheinanderbringen zu können – allein das wird den Abend besonders feierlich machen. Die leichte Schräglage scheinbar unverrückbarer Gegebenheiten.

Wir beschließen, ein paar unserer Freunde anzurufen. Xavier willigt ein und sagt, das werde sicher gut. Doch sein vages Lächeln ist verschwunden.

 

Uns fehlt etwas. Das denke ich, als ich draußen auf der Treppe meine Abendzigarette rauche. Die einzige, die ich mir am Tag gönne, die mir aber lebensnotwendig erscheint. Xavier hasst es, wenn ich rauche, und ich liebe es. Weil ich aber am liebsten nicht zu früh sterben möchte und auch keinen Mann will, der sich von mir abwendet, bleibt es bei dieser einen Zigarette. Rauchen schärft mein Denken. Der Moment mit der Zigarette auf der Treppe, den Blick zu den Baumwipfeln und zum Himmel, dieser Moment gehört nur mir. Das halte ich schon so, seit die Kinder klein waren. Sobald sie eingeschlafen waren, bin ich nach draußen gegangen und habe mir eine Zigarette angezündet, und mit jedem Zug schienen Verantwortung und Elternrolle an Gewicht zu verlieren. Nicht dass ich unter der Rolle als Mutter gelitten hätte, wirklich nicht. Eher im Gegenteil. Aber ich musste meinem ursprünglicheren Ich einfach mal Hallo sagen.

Doch jetzt fehlt uns etwas, Xavier und mir. Zwischen uns herrscht eine Leere, über die wir nicht sprechen. Eine Leere, die ich mit launigen Ideen übertöne, auf die Xavier sich wohl nur deshalb einlässt, weil er nicht weiß, was er sonst tun soll.

Also gibt er nach, zieht aber eigentlich nicht mit.

Diese Leere war nicht immer da; sie ist erst mit dem Auszug der Kinder entstanden und nach und nach gewachsen. Nicht nur die Stille, die sie hinterlassen haben, hat sich bei uns eingeschlichen. Auch zwischen uns ist etwas passiert. Wir haben – oder soll ich sagen: hatten – beide ein hitziges Temperament. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich tränenüberströmt dastand und schrie, dies sei das letzte Mal, und sollte es sich wirklich so verhalten, dann könne er sich zum Teufel scheren. Und ich weiß nicht mehr, wie oft Xavier vor Wut über die schwedischen Wörter stolperte, die er eigentlich perfekt beherrscht, und stattdessen Kaskaden Funken sprühenden Spanischs auf mich niedergehen ließ. Allerdings konnten wir uns im selben Moment auch wieder versöhnen. Nicht weil wir mit dem Streiten irgendetwas erreicht hatten, sondern weil wir des Streitens müde wurden und begannen, uns nach einander zu sehnen. Eine Hand, ein Lächeln, eine Umarmung. Wir waren jedes Mal so froh, einander wiederzuhaben, dass wir über den Auslöser unseres Streits nur noch lachten.

Bis zum nächsten Mal. Bis wieder die Fetzen flogen.

Heute verstehe ich nicht mehr so recht, worüber ich mich eigentlich so entsetzlich aufregen konnte. Vermutlich hatte ich vor allem Angst. Und den Eindruck, dass ich die Kontrolle verloren hatte, dass Xavier mir auswich. Ich glaube, er trug mit seiner Lebenstragödie im Hintergrund an einer Schuld und fühlte sich deshalb schnell provoziert, wenn ich Forderungen an ihn stellte.

Mit den Jahren hat unsere Streitlust nachgelassen, und seit die Kinder aus dem Haus sind, brausen wir allenfalls mal kurz auf. Der Gedanke, uns richtig zu streiten, ist schon fast absurd. Wir leben mit der unausgesprochenen Übereinkunft, dass die Zeit unserer Kämpfe vorüber ist. Wir lassen die Dinge kommen und gehen. Es ist ein ruhiger, angenehmer Frieden und eigentlich nichts, was wir infrage stellen wollen. Ich jedenfalls nicht. Gleichzeitig weiß ich, dass dieser Frieden seinen Preis hat. Unser Bau hat in gut zwanzig gemeinsamen Jahren durch Gewohnheiten, Vertrautheit und gewachsene Toleranz eine gewisse Stabilität erlangt. Wir können auf dem Sofa sitzen, jeder mit seinem Laptop auf dem Schoß und Kopfhörern, ohne nervös zu werden, weil wir uns fragen, wo wir bloß gelandet sind. Wir müssen nicht mehr wie früher hinterfragen, wohin wir uns bewegen, denn jetzt sitzen wir ja hier. Und im Grunde genommen haben wir nichts zu klagen.

Dennoch gibt es Momente, in denen ich in dieser Stabilität etwas Fragiles erahne. Als könnte ein Riss entstehen und tiefer gehen als früher. Ein dröhnendes Knacken, etwas Irreparables. Oder Trockenrisse, die sich ausbreiten, während wir machtlos zusehen. Uns wird niemand zu Hilfe eilen. Da sind nur wir und die Stille.

Manchmal frage ich mich, ob ich mich vor Xaviers Altern fürchte. Vierzehn Jahre sind immerhin vierzehn Jahre. Einerseits bin ich mir mit jedem Jahr, das vergeht, gewisser, ihn behalten zu dürfen. Er ist jetzt mehr mein denn je. Andererseits habe ich zunehmend das Bedürfnis, hervorzukehren, dass wir weiß Gott nicht gleichaltrig sind.

Ich sehe in ihm den alten Mann Gestalt annehmen, und ich denke: Ich nicht auch noch.

 

Ich zünde mir an der ersten Zigarette gleich noch eine an. Xavier wird es nicht merken, und ich muss noch ein bisschen nachdenken. Diese Treppe, sie wurde zu meiner Treppe in der Welt. Die Treppe zu unserem Haus auf Lidingö mit seinem Putz in der Farbe gebrannten Zuckers, mit Xavier, unseren Zwillingen Hanna und Astrid und Xaviers acht Jahre älterer Tochter Maria. Hier stehe ich immer, hinter mir das Haus, in dem es oft von verschiedenen Wünschen brodelte, und vor mir mein Himmel und meine Kiefernwipfel. Den Rauch der Zigarette blase ich wie abgeworfenen Ballast ins All. Ich lehne mich an die Haustür und halte den Augenblick fest, bevor ich tief Luft hole und wieder hineingehe. Wenn früher eines der Kinder während meines Rituals wach wurde und aufstand, stimmte es in Xaviers lautstarke Abscheu gegen den Rauchgeruch ein. Als sie klein waren, liefen sie davon, wedelten mit den Händen vor der Nase und schrien, ich würde ekelhaft nach Rauch riechen. Und ich weiß noch, dass ich lächelte und mir mit all meinen abgefeuerten Gedanken, den Resten abgeschossener Raketen, wie ein stinkender Drache vorkam. Aber um befreit wieder hineingehen zu können, musste ich das in Kauf nehmen.

Wir sind dabei, etwas zu verlieren, Xavier und ich. Aber was?

Auch die zweite Zigarette ist fast aufgeraucht. Ich drücke sie in der Dose hinter dem großen Blumentopf aus, in dem ich im Frühling immer Kresse und Tagetes ziehe. Hat das Hier und Heute aus Wehmut über all die vergangenen Jahre Trauerränder und schwarze Rahmen bekommen?

Verdammte Hasen. Es soll ein unbeschwertes Fest werden!

Ich putze mir gründlich die Zähne und wasche mir Gesicht und Hände mit einer nach Jasmin duftenden Seife. Schleiche ins Schlafzimmer und krieche zu Xavier ins Bett. Er hat sich abgewandt. Ich nähere mich mit dem Mund seinem Ohr, doch Xavier stöhnt und schüttelt sich. Warum kann er nie mit diesen lächerlichen Protesten aufhören?

Ich drehe mich auf den Rücken und starre ins Dunkel.

»Warum können wir die Sache mit den elenden Hasen nicht ein bisschen entspannter angehen?«

»Wie meinst du das?«, murmelt Xavier aus der Tiefe seines Kissens.

»Warum lassen wir uns von diesen Hasen derart verunsichern? Können wir das Ganze nicht einfach spannend und cool finden?«

»Aber du bist doch diejenige, die sie kaum ansehen will. Du wolltest dich sogar davor drücken, sie zu verarbeiten.«

»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Aber ich fand es einfach nur so … mühsam.«

»Also bist doch du es, die hier ein wenig entspannter werden müsste.«

Xavier klingt eingeschnappt. Er hat einen Hang zur Schwermut. Manchmal habe ich das Gefühl, er hält die Zwillinge und mich für gedankenlos. Wir sind für ihn das Danach.

Xavier kam mit der dreijährigen Maria nach Schweden, nachdem seine Frau Ana in Argentinien von der Polizei ermordet worden war. Sowohl er als auch Ana waren in der Widerstandsbewegung gegen die Militärjunta aktiv gewesen. Alte Feindschaften blieben bestehen und schwelten noch Jahre später weiter – Ana wurde von einem Polizisten ermordet, der behauptete, sie habe sich bedrohlich verhalten. Der Mord wurde nie aufgeklärt, doch Xavier sagte, er wisse, dass es ein Racheakt war. Ana war eine bekannte Journalistin gewesen und hatte unbeirrt weiterrecherchiert, was mit einigen verschwundenen Studenten passiert war. Die Wunden, die die Ereignisse geschlagen hatten, und soziale Unruhen führten zu einer gereizten und leicht entflammbaren Stimmung in der Gesellschaft. Nach Anas Tod hatte Xavier ein paar Sachen zusammengepackt und beschlossen, nie wieder einen Fuß in sein Heimatland zu setzen.

Man hat ihn und seine Tochter ihres Familienlebens und Xavier seiner geliebten Frau beraubt und ihn dazu verdammt, fortan mit bleierner Schwere durchs Leben zu gehen. Auf der anderen Seite besitzt Xavier aufgrund dieser Erfahrung ein geschärftes Bewusstsein und eine Hochachtung für das Gute. Einen wachen Sinn für die Vergänglichkeit des Lebens und das Wissen, dass einem alles genommen werden kann. Wie oft hat er uns nicht im Lauf der Jahre ermahnt, den Augenblick zu achten.

Bei Tisch zum Beispiel: Wir sitzen jetzt hier. Ich liebe euch. Wir lieben einander. Ein Hoch auf das Leben, auf die Liebe. Darauf, dass wir füreinander da sind. Auf den Frieden, auf die Fürsorglichkeit, auf die Solidarität.

Als die Zwillinge in die Pubertät kamen und Maria ausgezogen war, verdrehten sie schon mal die Augen oder zeigten Anzeichen von Langeweile oder Ironie, wenn sie wiederholten: ein Hoch auf das Leben und die Liebe.

Weniges brachte Xaviers Augen dazu, derart vor Zorn zu funkeln.

Und ein Hoch auf eure unschuldige Dummheit, sagte er einmal. Ein Hoch auf eure Verzogenheit und Ignoranz.

»Wir werden einen richtig schönen Hasenschmaus halten«, verkünde ich, drücke mich näher an ihn und lasse gleichzeitig meine Hand über die Haare auf seinem Bauch abwärts gleiten. »Das wird richtig toll, wir laden ein paar unserer besten Freunde ein, und alle können sich betrinken, und ich werde den Tisch richtig schön decken, und wir werden versuchen, einfach … du weißt schon … zu albern und zu blödeln wie früher und …«

Warum spreche ich mit dieser kindlichen Stimme? Ich hasse es, so zu klingen.

Xavier macht eine leichte Bewegung, sodass ich ihn nicht mehr streicheln kann.

»Ja«, gibt er zurück. »Ich habe nie etwas anderes gesagt.«

»Du wirst der Held des Abends sein. Ein richtiger Held. Der Latinomacho aus dem schwedischen Urwald, oder was?«

»Hör bitte mit diesen Kindereien auf!«

Ich bin still und weiß nicht, warum. Wende mich ab, drehe mich aber wieder zu ihm um und lege ihm die Hand auf den Rücken.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

»Xavier?«

»Mmh.«

»Ich liebe dich.«

Er murmelt etwas Bestätigendes.

»Ich meine es tatsächlich so, Xavier. Ich liebe dich wirklich.«

Ich sage es geradeheraus. Schließlich dreht er sich um und gibt mir einen Kuss. Der landet auf meiner Stirn.

Ich hole tief Luft, sehe zur Decke. Höre selbst, dass es wie ein erschrockenes Seufzen klingt, und werde kribbelig vor Nervosität, denn ich bin es gewohnt, Xavier alles zu erzählen. Aber diese Sache kann er nicht erfahren. Nicht, was ich für Hasse empfinde.

 

***

 

Als ich die Hasen das nächste Mal sehe, hängen sie von der Decke. Sie baumeln an Schlingen, und aus ihrem Bauch ragen Nadelzweige. Xavier hat die Eingeweide ausgenommen und den Hohlraum mit Wald gefüllt. Heute ist Samstag, sie werden jetzt also eine Woche abhängen, zum Kochtopf verdammt. Sie müssen mürbe werden.

Abhängen und mürbe werden.

Ich tippe einen der Hasen an, und er schwingt sachte hin und her. Irgendwie ist ihr Tod jetzt endgültiger. Das Leben scheint nun ganz aus ihnen gewichen zu sein, und es ist befreiend, das zu sehen.

Xavier ist mit Molly zum Wertstoffhof gefahren. Ich weiß, dass er das gern macht; es gefällt ihm, Kartons zusammenzupressen, auch mal darauf herumzutrampeln, und alte Zeitungen mit allen Unglücken und Gewalttaten der Welt wegzuwerfen. Wenn er zurückkommt, ist er immer erleichtert und aufgeräumt.

Ich starre die Hasen eine Weile an und gehe dann schnell zurück ins Haus. Seit Xaviers Pensionierung ist die Zeit, die ich dort für mich allein habe, knapp bemessen. Ich liebe mein Zuhause. Und am intensivsten ist diese Liebe, wenn ich für mich bin. Wenn niemandes Blick sich vor meinen schiebt, gilt meine ganze Aufmerksamkeit meinem Heim. Dann erlebe ich es am intensivsten.

Ich liebe diesen Ort so, wie er sich entwickelt hat. Er erzählt unsere Geschichte. Der große Küchentisch mit seiner robusten Holzplatte. Ich streiche mit der Hand darüber, lasse die Finger über eine Stuhllehne gleiten. Was wurde nicht alles davon abgewischt, wie viele klebrige Hände hinterließen nicht ihre Abdrücke, wie viele kleine und größere Ellbogen stützten sich nicht auf die Tischplatte und wurden wieder heruntergeschubst. Meistens von Xavier, der aus einer streng bürgerlichen Familie stammt und strikt auf Tischsitten achtet.

Hanna und Astrid zankten sich oft, als sie klein waren, konnten aber genauso gut unvermittelt losprusten, sodass ihnen die Milch oder das Essen zwischen den lückenhaften Milchzähnen herausspritzte. Und dann Maria mit dem glänzenden, vollen Haar, den dunklen, perfekt geformten Augenbrauen, mit Xaviers schönen Augen und der deutlich sichtbaren Gestalt einer Fremden. Der ihrer Mutter, der man so brutal das Recht genommen hat, dabei zu sein, und die in ihrer Abwesenheit besonders viel Raum einnimmt. Maria trägt jene Frau, der ich nie begegnet bin, deren Wesen aber stets präsent ist, ganz und gar in sich. Und ich weiß, dass Ana sich wie ein schmerzender Splitter in Xaviers Blick schiebt, wenn er seine Tochter betrachtet.

Ein schmerzender Splitter aus Liebe und Vermissen.

Hanna und Astrid bewunderten ihre große Schwester, sie wuchsen mit Achtung vor ihrem Schicksal auf. Als wäre Maria veredelt, einem anderen, mystisch aufgeladenen Reich entsprungen. Wenn Maria lachte, lachten auch sie, nur lauter. Und wenn Maria manchmal das Gequengel und Gekicher ihrer kleinen Schwestern leid war, schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie, sie sollten die Klappe halten.

»Ich halte euch nicht aus«, kreischte sie, »ich halte dieses Haus nicht aus.«

Und dann warf sie mit Schwung ihr langes, glattes Haar zurück und schlug mit einem Knall die Küchentür hinter sich zu. Die Zwillinge verstummten auf der Stelle und schielten unter ihrem Pony hervor ihren Vater an. Sie wussten, dass er unbeherrscht reagieren, nur schwer mit der Situation umgehen konnte, wenn Maria uns einfach verließ. Dann brüllte er schon mal: »Geht, und bittet eure große Schwester um Entschuldigung! Holt sie zurück!« In solchen Momenten rutschten Hanna und Astrid von ihren Stühlen, waren auf und davon und blieben weg. Sie kamen nur selten zurück, um aufzuessen.

Dann saßen Xavier und ich für den Rest der Mahlzeit allein da. Ich kaute wutentbrannt weiter und schluckte die Frage hinunter, ob ein solcher Ausbruch wirklich nötig gewesen war. Hoffte, er würde meine Frage dennoch spüren, wenn ich ihm hin und wieder einen grimmigen Blick zuwarf. Etwas zu sagen, war nicht möglich. Xavier explodierte in solchen Situationen meistens.

Er aß stets zu Ende, die Kiefer verspannt, die Nasenflügel gebläht, den Blick starr auf den Teller gerichtet. Erst, wenn er an der Spülmaschine stand und die Teller einräumte, brummte er, die Kinder müssten es schließlich irgendwann lernen.

Könnte man doch nur ein einziges Mal in Ruhe zu Abend essen! Jünger zu sein heiße noch lange nicht, sich nach Belieben aufführen zu können.

Ich reagierte normalerweise nicht darauf, sondern ließ ihn stehen und verließ mit hartem Schritt den Raum. Das war meine Taktik. Ohne mich als Gegenpart war er gezwungen, sich seine Fragen selbst zu beantworten. Er blieb mit seinem empfindlichen Gewissen allein, aber ich wusste, dass er schon bald seine drei Töchter aufsuchen und jeder einen Kuss auf den Scheitel drücken würde.

Einer von uns beiden fand die drei Mädchen für gewöhnlich zusammen auf dem Sofa vor dem Fernseher. Rechts und links von ihrer großen Schwester sitzend, versuchten die Zwillinge, ihren Teil von Maria abzubekommen. Auf der einen Seite pusselte Astrid an deren Haaren und flocht ihr Zöpfe, während sich Hanna auf der anderen Seite in Marias Arm schmiegte und zu Astrid, die bei ihrem Gepussel und Geflechte gern vor sich hin plapperte, sagte, sie solle still sein.

Als die Mädchen aus dem Haus waren, haben wir das Sofa gegen ein teures Stück mit einem sogenannten Diwan-Teil ausgetauscht, groß genug, um beim Fernsehen nebeneinanderliegen zu können. Es ist von kühl unwettergrauer Farbe und recht straff gepolstert. Das Sofa ist eine Manifestation unserer Freiheit, jedenfalls sehe ich das so. Xavier mag diese Art zu reden nicht. Er runzelt dann die Augenbrauen und fragt: »Freiheit von unseren Kindern? Wie kannst du nur so denken?«

Aber ich finde, ich darf so denken. Ich darf mir Freiheit denken, eigene Zeit und keine falsch herum auf dem Sofa gelandeten Kaviarcremebrote mehr. Ich liebe die Zeichen vergangenen Lebens, und ich liebe die Zeichen dafür, dass es nicht mehr so ist.

»Warum kannst du nicht verstehen, was ich meine?« Ich antworte Xavier mit einer Gegenfrage.

Erwachsene Kinder dauernd im Haus zu haben, wäre unbekömmlich. Man kann seine Kinder doch einfach lieben, wie sie sind, in der ihnen eigenen, natürlichen Bewegung.

Darauf geht Xavier nicht ein, und ich lasse ihn in Ruhe. Mir ist klar, es gehört letztlich zu seinem plötzlichen Gefühl der Leere, dass alles Schlag auf Schlag gegangen ist. Seine Kinder, seine Arbeit, seine Bedeutung – dahin. Und mit seiner Frau auf einem gewittergrauen Diwan-Teil zu liegen und sich im Fernsehen Talkshows oder Serien anzuschauen, war nie sein Ziel.

Ich liebe mein Heim, liebe, wie es sich entwickelt hat und die verstrichene Zeit widerspiegelt. Die Dinge, die Ideen, die lang durchdachten Entscheidungen. Die Farben und Formen. Von meinem älteren, verfeinerten Ich ausgewähltes Neues. Und aus dem Elternhaus Geerbtes, um das ich mit meinen beiden älteren Brüdern einst harte Kämpfe ausgefochten habe. Wie um den Kronleuchter, der so groß ist, dass es schon etwas Ironisches an sich hat, wie er da standesgemäß prächtig über dem Couchtisch hängt.

Mein bescheidenes Selbstbild hat damals bei dem Streit um den Kronleuchter einen Knacks bekommen. Ich habe den Sieg davongetragen, doch er forderte Opfer in Form anderer Erbstücke. Ich betrachte den Leuchter, bewege den Kopf hin und her, um das Licht der Wintersonne einzufangen, das sich in den Prismen bricht. Auch Xavier hat eine Schwäche für unser Prachtstück. Es erinnert ihn an sein Elternhaus. Aufgewachsen in überladener Großbürgerlichkeit, haben wir uns für unser eigenes Heim auf einen schlichten, skandinavischen Stil geeinigt, und deshalb fällt der Kronleuchter auf. Irgendwie protzig und vorlaut bildet er einen Kontrast zu unserer ansonsten modernen, lässigen Einrichtung. Zu besonderen Festen zünden wir immer alle zehn Kerzen an. Wenn jemand Geburtstag hat, zu Weihnachten und zu Ostern. Auf diese Weise hat er für alle in der Familie Bedeutung erlangt.

 

Xavier ist immer noch unterwegs, und ich hole die Erinnerung an Hasse und an die Gefühle hervor, die seine Berührung in mir hervorgerufen hat. Mein Gehirn ist wie infiziert, meine Fingerspitzen sind in Gift getaucht, meine Handflächen wollen das quälende Verlangen nach seinem Körper abstreifen. Ich will ihn berühren, weiß aber eigentlich nicht, warum. Einfach nur, weil ich das Gefühl habe, dass er mich will? Bin ich so ausgehungert nach Avancen, dass ein Mann, egal welcher, mir nur sein Begehren zu zeigen braucht, damit ich mich Hals über Kopf ergebe und mein Herz tickt: Ich will, will, will?

Angefangen hat alles vor ein paar Tagen. Das Lehrerzimmer war verwaist, es roch nach Orangenschalen und Kaffee. Ich wühlte in meiner Tasche nach dem Schrankschlüssel, fand ihn aber nicht. Vielleicht war ich auch schlichtweg so müde, dass ich herumkramte, ohne zu wissen, wonach ich eigentlich suchte.

Da kam Hasse herein. Er unterrichtet Mathematik, ist zehn Jahre jünger als ich, und ich habe ihn schon immer gemocht. Ein bisschen rätselhaft, unkonventionell und stets freundlich. Er liebt Zahlen, nähert sich ihnen mit einer Neugier, als könnten sie ihm geheime Zusammenhänge erschließen. Sein Enthusiasmus steckt die Schülerinnen und Schüler an. Die blonden Haare hat er im Nacken zum Pferdeschwanz gebunden, und er trägt in aller Regel einen eng anliegenden Collegesweater. Er ist etwas übergewichtig und hat weiche, runde Konturen. Riecht immer gut nach Rasierwasser und Seife.

»Ach, wie blöd. Ist der Kaffee alle?«

Hasse stöhnte laut und erzählte, dass er noch eine ganze Weile Klassenarbeiten korrigieren müsse und etwas »zum Durchhalten« brauche. Im selben Moment fand ich in meiner Tasche nicht nur meine Schlüssel, sondern auch einen ungeöffneten Schokoriegel.

»Hier bitte, nimm.«

Selig lächelnd nahm er den Riegel entgegen. Er freute sich so sehr, dass es mir fast peinlich war, doch sein Lächeln machte ihn für einen Moment schön.

Ich beugte mich vor und ließ mich von ihm zum Dank umarmen. Mit einem Mal war er nur noch Körper, und seine Hand auf meiner Schulter erschien mir wie eine Aufforderung. Ich war überhaupt nicht gefasst auf das, was geschah. Aber in mir loderte ein so heftiges Begehren auf, dass ich nach Luft rang. Verwirrt sah ich in Hasses breites, lächelndes Gesicht. Als er meinem verstörten Blick begegnete, änderte sich auch sein Gesichtsausdruck. Er drückte mich an sich, und meiner gewöhnlichen Gestalt entstieg ein mir unbekanntes Wesen, das begierig und vorwitzig schnuppern, anfassen, spüren wollte. Doch das, was ich leichter als mein Ich wiedererkenne, riss sich los und sagte, es müsse jetzt schleunigst gehen.

Ich wartete auf die U-Bahn, ließ sie vorbeifahren und steckte mir eine Zigarette an, was ich dort sonst nie tue.

So etwas sollte ich eigentlich hinter mir gelassen haben. Schließlich bin ich sechsundfünfzig Jahre alt. Ich zog an meiner Zigarette, sah auf die Gleise und Schneewälle und erkannte, dass ich im Grunde sauer war auf Xavier und mich. Dass wir mit der Lust nachlässig umgegangen sind. Dass wir unsere Körper dem Jetzt verschließen. Faul und lethargisch sind wir geworden, Leute, die sich hinlegen und vom Alter überrollen lassen.

 

Wann immer ich in den letzten Tagen nach Hause komme, tigere ich in Erinnerung an den Vorfall im Lehrerzimmer ruhelos durchs Haus, als könnte mich die Peinlichkeit nicht einholen, solange ich nicht stehen bleibe. Im Lehrerzimmer bewege ich mich seither linkisch und nervös, und es fällt mir schwer, mich auf die Gespräche im Kollegium zu konzentrieren. Ich bin zerstreut, und mein Blick schweift auf der Suche nach Hasse durch den Raum. Gestern Nachmittag erst kam er plötzlich hereingeschossen, und mir verschlug es vollkommen die Sprache. Er schien mich zunächst nicht zu bemerken, sondern blätterte in einer Zeitung, die auf der Spüle unserer Teeküche lag.

»Na, alles gut gegangen?«, brachte ich schließlich heraus, als ich mich gewollt nonchalant auf die Kaffeekanne zubewegte.

Er sah von der Zeitung auf und begegnete meinem Blick mit einem amüsierten Lächeln.

»Die Retterin in der Not! Ja, dank deiner Hilfe ging es ganz hervorragend.«

»Zwar kein Sugardaddy, aber vielleicht was anderes.«

Was redete ich da? Es klang so dumm, dass ich einen ganz trockenen Mund bekam.

»Dann eben Sugarlady«, erwiderte Hasse. »Sister Morphine.«

»Stets zu Diensten.«

»Wow, das lässt sich hören!«

In diesem Augenblick passierte es. Beim bloßen Gedanken daran wird mir ganz schlecht vor Peinlichkeit. Während unseres Geplänkels hatte ich mir eine Tasse Kaffee eingeschenkt. Und als Hasse nach seinem »Wow, das lässt sich hören!« lächelte, goss ich den Kaffee aus, als handelte es sich um ein paar letzte Tropfen, bevor ich die Tasse in die Spülmaschine stellen würde.

»Was mache ich denn da!«

Ich versuchte meine Verwirrung wegzulachen, schüttelte den Kopf und spürte, wie ich über und über rot wurde.

»Zu viel Zucker vielleicht?«

Sollte das ein Trost sein? Ich wusste nicht, was ich murmelte, wusste nicht, wohin mit meinen Händen, wollte lächeln, bleckte aber nur unterwürfig wie ein Hund die Zähne; die Situation war höchst peinlich und haute mich um. Ich hätte mich am liebsten auf den Rücken geworfen, die Kehle dargeboten, Idiotie und Unterlegenheit eingestanden und um Gnade und Nachsicht gebettelt.

Als Hasse an mir vorbeiging, lächelte er immer noch und tätschelte mir den Arm – drückte er dabei nicht ganz leicht meinen Oberarm? Ich bin mir nicht sicher.

An diesem Tag sah ich ihn nicht mehr.

Wenn ich nun Hasses Interesse an mir überinterpretiert habe? Diese Geschichte hat so viel Peinliches an sich. Ist es nur Überdruss, der mich antreibt? Romantischer Überdruss am eigenen Leben? Ein letzter aufflammender Lebensfunke eines Zustands, der mir unerbittlich entgleitet?

Freunde von mir halten einen Flirt im Job für etwas Erfrischendes. Nichts, was stören würde, nichts, was mehr bedeutete, als ein alltägliches Pfeifen oder Vor-sich-hin-Summen. Ich hatte noch nie einen Flirt am Arbeitsplatz, bin nie jemandem zum Flirten begegnet, habe nicht mal daran gedacht. Und jetzt überfällt mich das Ganze hinterrücks mit einer derartigen Wucht, dass mir die Knie weich werden. Ich bin mir nicht mal sicher, dass es mich froh macht. Es beunruhigt mich vor allem, und wenn ich durchs Haus streife und Xaviers Strickjacke auf einem Stuhl liegen sehe, greife ich danach und drücke sie in einem Anfall von Schuld und Wehmut an mich.

Ich liebe dich, denke ich, und habe Tränen in den Augen. Ich liebe dich, halt mich fest, bitte!

Die Haustür geht auf, und ich höre Xavier schnaufen und ächzen, als er sich bückt, um Molly von der Leine zu lassen und seine Schuhe aufzuschnüren. Voll Zärtlichkeit und vielleicht auch Sentimentalität gehe ich ihm entgegen. Seine Wangen sind gerötet, die Brillengläser beschlagen.

»Hallo, mein Schatz.«

Xavier erwidert meine Umarmung, schaut aber etwas verdutzt drein.

»Ist was passiert?«

»Wie? Nein, ich musste nur eben daran denken, wie sehr ich dich liebe. Wie dankbar ich bin, gerade dir begegnet zu sein und dass wir zusammen diese Familie haben. Es hat mich einfach so überkommen.«

»Hast du mit meinem Arzt gesprochen? Bin ich todkrank?«

»Haha. Ich meine es ernst.«

Xavier umarmt mich flüchtig, er hat die Kälte von draußen mit hereingebracht. Mich fröstelt in meinem dünnen Pulli. Er stampft den Schnee von den Füßen, zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche und putzt sich die Brille.

»Ich habe auf der Rückfahrt mit Maria gesprochen«, sagt Xavier. »Sie kommt nächste Woche nach Stockholm, da habe ich sie gleich auch zu unserem Hasenessen eingeladen.«

»Ach ja?«

Ich will das nicht. Wie ein schwarzer Pfeil schießt es mir durch den Sinn: Das ist mein Fest, unser Essen.

»Bleibt sie nicht länger? Wir können sie doch auch am nächsten Abend einladen?«

»Ich weiß nicht. Es ist doch in Ordnung, dass sie kommt, oder? Sie bringt Eddy mit.«

»Sollen wir auch Hanna und Astrid einladen?«

»Nein, müssen wir das? Maria ist so selten hier, und es macht ihr vielleicht Spaß, unsere Freunde zu treffen. Frederik zum Beispiel. Sie hat ihn bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.«

»Okay. Ich dachte nur, das sei eine Erwachsenenveranstaltung.«

»Maria ist erwachsen.«

»Ich meine nur, dass es nicht selbstverständlich ist, seine Kinder mit einzuladen, wenn gleichaltrige Freunde zum Essen kommen. Das machen sie doch auch nicht, die Kinder, wenn sie …«

»Ja, ist ja gut, ich habe sie jedenfalls eingeladen.«

Schon ist Xavier gereizt und zwinkert heftig mit den Augen, die wie mit wütender Hand betätigte Scheren auf- und zuklappen. Ich verstehe es ja. Bin ich doch nicht mal mit mir selbst im Reinen. Meine Reaktion entspringt den dunkleren Winkeln meiner Seele. Da schafft sich etwas Raum, was stärker ist, als ich mir eigentlich eingestehen will. Nur ist es leider so, dass Maria immer ganz selbstverständlich im Mittelpunkt stehen soll, wenn sie bei uns ist. Meine Laune verfinstert sich, denn ich sehe den Abend schon vor mir: Xavier, der nur Augen für seine geliebte Erstgeborene hat. Sein Schuldgefühl, weil er sie in ein Land, weit weg vom Grab ihrer Mutter, mitgenommen hat. Dass er überlebt hat und nicht Ana. Dieses Gefühl ist fest und tief in ihm verankert. Er sieht nicht, dass die Jahre vergehen, dass Maria aus eigenem Antrieb weitergeht, sich immer mehr von seinem schweren, mit Trauer und Schuld beladenen Weg entfernt.

Ich verstehe es. Ich liebe Xavier in jedem Lebensalter, ich habe ihn gewählt, ob das nun vernünftig oder unvernünftig ist.

Ich sehe es schon vor mir, wie Marias fünfjähriger Sohn Eddy das Tischtuch bekleckern wird, noch bevor die Gäste überhaupt eintreffen. Ich will nicht die Frau sein, die Abdrücke von Kinderfingern hasst. Aber ich werde diese Frau nicht verbergen können. Auch nicht mit noch so guter Miene und der Behauptung, das mache alles nichts.

Xavier und Maria werden sich erheiterte Blicke zuwerfen, wenn ich eine hässliche Schüssel wegstelle, die sie hervorgeholt haben, und amüsiert Zeugen meines Kampfes sein, alles schön und durchdacht zu gestalten. Ich möchte schwören, dass sie genau wissen – zumindest Maria weiß es –, wie kribbelig es mich macht, wenn eine hässliche Verpackung benutzt wird, und wie sehr ich mich gleichzeitig dafür schäme, dass ich der Ästhetik derart verfallen bin.

Maria weiß, wie hin- und hergerissen ich bin zwischen dem Wunsch, als eine zu gelten, der das Geschmackvolle leicht von der Hand geht, als eine, der es zufällig gelungen ist, es hübsch aussehen zu lassen, und der harten Arbeit, die es mich kostet, es tatsächlich so hinzubekommen. Maria hat ihre halbe Kindheit mit mir verbracht und den Kampf und das Theater aus nächster Nähe miterlebt.

Außerdem, und das zuzugeben ist noch schwerer, werde ich auf das Interesse der Gäste an Maria und Eddy eifersüchtig sein. Hallo, Maria, wie schön, dich zu sehen! Wo wohnst du denn jetzt, was machst du, was für einen süßen Sohn du hast, was bist du tüchtig, dass du es auf die Journalistenschule geschafft hast, einfach so umzusatteln, dir ist immer alles leichtgefallen, versteh mich nicht falsch, du hast auch kämpfen müssen. Und dann alleinerziehende Mutter von Eddy. Du arbeitest wirklich hart.

Maria wird strahlen und die Haare fliegen lassen. Eddy wird über sie hinwegklettern und Aufmerksamkeit beanspruchen, und mein Lächeln wird immer verkrampfter werden, das weiß ich jetzt schon. Xavier wird Maria mit unverstelltem Stolz betrachten, sein Herz schwillt und schlägt für Maria, die immer nur einzustreichen braucht.

Und dann, wenn sie das Haus verlässt, wird das strahlende Leuchten in Xaviers Augen erlöschen und sich in seine Stimme wieder diese Kraftlosigkeit einschleichen. Zwischen Xavier und Maria gibt es etwas, was nie nachlässt. Hanna und Astrid gegenüber empfinde ich sowohl sein als auch mein Verhältnis entspannter. Wir können uns über ihre Fehler und Makel unterhalten, ohne dass es jemals heikel wird. Schließlich wissen wir, dass wir sie auf jeden Fall lieben.

Doch wenn es um Maria geht, ist alles ungleich komplizierter. In Xaviers Augen hat sie nicht den geringsten Makel, er verteidigt sie leidenschaftlich und energisch, selbst wenn sie offenkundig mit irgendetwas schludert oder sich einfach dumm benommen hat.

Soll ich Hanna und Astrid bitten, ebenfalls zu kommen?

Als ob die das wollten!

Nein. Ich weiß, ich würde nur in der Mutterrolle landen, während ich doch eigentlich ohne den gestrengen Blick von Töchtern ein Glas über den Durst trinken und laut lachen will.

Aus Wut über Xaviers Alleingang verheddern sich meine Gedanken wie in schwarzen Schlingen. Ich finde nicht mehr heraus, bin völlig darin verfangen, und mich beherrscht nur noch der eine Gedanke: Ich will, dass nur wir und unsere Freunde zusammensitzen. Wir würden eine ungezwungenere Art des Umgangs finden, jetzt, wo wir die Freiheit haben, nur wir selbst zu sein. Ich beobachte Xavier, der mit dem Smartphone in der Hand und der Lesebrille auf der Nasenspitze krampfhaft versucht, unberührt dreinzuschauen. Ab und zu erwidert er trotzig meinen Blick.

»Hanna und Astrid bitte ich nicht dazu«, sage ich. »Es ist ein Essen für uns und unsere Freunde. Eigentlich. Jetzt wird es eben anders.«

Mit einer heftigen Bewegung nimmt Xavier die Brille ab und sieht mich streng an.

»Unsere Kinder sind doch wohl wichtiger als unsere Freunde. Habe ich die Wahl zwischen Maria und deiner Freundin Sara samt diesem unausstehlichen Menschen, mit dem sie verheiratet ist, dann geht mir allemal …«

»… Maria vor. Ich weiß. Maria geht für dich immer vor, daran besteht kein Zweifel und hat nie einer bestanden.«

»Ach Gott, sind wir jetzt wieder da angelangt.«

»Sei doch nicht albern, Xavier, und gib dir ein bisschen Mühe, zu begreifen, was ich meine. Es sollte ein Fest für uns und unsere erwachsenen Freunde sein. Aber Maria darf auf alle Fälle auch kommen, und damit ist es gut.«

»Darf kommen? Soll ich dafür dankbar sein, dass meine eigene Tochter hierherkommen darf und Hasen essen, die ich höchstpersönlich geschossen habe? Haben wir etwa beschlossen, diejenigen nicht einladen zu dürfen, die man am liebsten treffen will?«

»Exakt so würde ich das formulieren: Niemand darf diejenigen einladen, die man am liebsten treffen will«, wiederhole ich sarkastisch. »Warum hörst du denn nicht auf? Du weißt genau, was ich meine. Ich weiß, dass du das weißt!«

»Und ich weiß, dass unsere Freunde sie gerne sehen und sich nicht an solchen Konventionalitäten und Lächerlichkeiten stören wie unterschiedlichem Alter …«

»Darum geht es doch gar nicht!«

»Worum geht es dann!«

Wir stehen einander gegenüber und schreien uns an. Das ist seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Ich schreie, weil ich eigentlich ein schlechtes Gewissen habe: Ich fühle mich zu einem anderen Mann hingezogen, und ich möchte Maria ausschließen, aus Gründen, die ich kaum vorbringen kann. Xavier war immer schon ein Pulverfass, wenn ich seiner ältesten Tochter gegenüber Ansätze von Eifersucht gezeigt habe. Er weiß, dass er ein überspanntes Verhältnis zu ihr hat, mit dem er nur schwer umgehen kann, und im Grunde schämt er sich dafür.

»Es geht bloß darum, dass ich mir einen Abend nur für dich und mich und unsere Freunde vorgestellt habe. Wir sollten mal feiern, dass sich unser Leben geändert hat und wir jetzt etwas Neues aufbauen.«

»Und an diesem Neuen dürfen unsere Kinder nicht teilhaben. Ist es das, was du sagen willst? Weißt du was? Dann ohne mich!«

Ich hole tief Luft und merke, dass ich bei jedem Atemzug zittere.

»Okay. Dann vielleicht auch ohne mich!«

Ich gehe in den Flur, um in meine Winterschuhe zu steigen. Nachdem ich den ersten Fuß hineingequetscht habe, setze ich mich auf die Garderobenbank, und schon schwindet die Lust, in die Kälte hinauszugehen. Es ist lächerlich, mit Getöse vor die Tür zu treten, wenn es dermaßen kalt ist draußen. Und mir extra einen Pullover, Schal, Handschuhe und eine Mütze zu suchen, wäre einfach zu albern.

»Maria ist willkommen«, sage ich gedämpft.

»Ergebensten Dank, meine Gnädigste«, entgegnet Xavier spitz. »Zu gütig!«

Ich antworte nicht, sehe ihn nur düster an. Molly kommt und legt sich vor meine Füße. Das macht sie immer, wenn sie ahnt, dass etwas nicht stimmt. Ich weiß nicht, ob sie es tut, um mich vor Xavier zu schützen oder um umgekehrt auf mich aufzupassen, damit ich nicht auf ihn losgehe. Jetzt liegt sie jedenfalls da und hält den Blick nervös auf ihn gerichtet.

Xavier lässt die Schultern sinken und holt mit der Hand aus, als wollte er eine Rede halten.

»Mensch. Ich möchte nur, dass Maria sich willkommen fühlt …«

»Aber sie ist doch willkommen! Jederzeit! Es war nur eben …«

»Ja. Nun kommt sie, und so ist das jetzt.«

»Ja, und weiter gibt es dazu nichts mehr zu sagen, oder?«

Ich streife mir den Schuh vom Fuß und gehe nach oben in unser Schlafzimmer. Falle der Länge nach aufs gemachte Bett und horche auf Xaviers Schritte, aber sie kommen nicht. Rufe dann mit so leiser Stimme nach Molly, dass nur sie es hört, aber auch sie kommt nicht.

 

 

***

 

Was ich alles geschultert habe. Versucht habe. Und wie schnell es doch geht, uns auf Dinge zu verweisen, mit denen wir uns früher herumgeschlagen haben und von denen wir dachten, wir hätten sie fortgeräumt wie ausgemusterte Sachen, die auf dem Dachboden gelandet sind. Maria war sechs Jahre alt, als ich Xavier kennenlernte. Langes, braunschwarzes Haar mit geradem Pony, Xaviers breite Zähne, ein ernster Mund, der oft rot und geschwollen wirkte, als würde sie sich oft auf die Lippen beißen. Und dann dieser durchdringende Blick, der nicht von Xavier war, sondern von Ana sein musste.

Anfangs machte sie mich unsicher, ja sogar ängstlich. Ihr prüfendes Kindergesicht fällte ein Urteil über mich und besiegelte mein Schicksal. Sie hatte alle Macht über den Mann, in den ich so verzweifelt verliebt war und ohne den ich nicht würde leben können, zu dessen Herzen ich ohne ihre Zustimmung aber nicht vorgelassen würde.

Xavier hütete die Erinnerung an Ana, indem er mir klarmachte, dass Maria eine Mutter hatte, die niemals zu ersetzen sei. Das band mir die Hände. Wann immer sich Maria zu mir setzte, ihren Kopf an meine Schulter lehnte und sich von mir vorlesen lies, ahnte ich, wie es Xavier warm und leicht ums Herz wurde, aber dennoch – und ich glaube wirklich nicht, dass er das zeigen wollte – war er in wachsamer Bereitschaft.

Bilde dir ja nicht ein, ihre Mutter werden zu können.

Wie oft haben wir darüber gestritten. Immer wieder im Lauf der Jahre war ich der Meinung, dass er mich ausschließt und mir dabei im Weg steht, mich zu der Mutter zu entwickeln, die ich für Maria sein sollte. Ich glaube, Xavier war nie so böse auf mich wie damals, als ich geplatzt bin und geschrien habe, warum er nicht einsehen könne, dass sie keine Mutter mehr hat.

Xavier baute sich vor mir auf und schrie mir ins Gesicht, sie habe sehr wohl eine Mutter. Sie heiße Ana und sei ermordet worden, weil sie zu gut war für diese Welt.

Ich ging in unser Badezimmer und übergab mich vor Empörung. Das habe ich weder früher noch später jemals getan. Anschließend fuhr ich zu meiner Freundin Susanne und wohnte einige Tage bei ihr. Damals gab es die Zwillinge noch nicht.

Es dauerte fünf Tage. Dann wartete Xavier vor meiner Arbeitsstelle auf mich, bat um Entschuldigung und sagte, ich sei für ihn und Maria der wichtigste Mensch auf der Welt.

Bald darauf waren die Zwillinge unterwegs.

Doch Xavier konnte jahrein, jahraus immer wieder davon anfangen, dass ich im Grunde auf Maria eifersüchtig sei – was fraglos stimmte – und dass es mies sei, einem mutterlosen Mädchen die Liebe des Vaters zu missgönnen.

Und so fühlte ich mich mies. Am miesesten von allen. Und genauso mies fühle ich mich auch jetzt. Ich stehe auf und suche Xavier. Finde ihn in seinem Arbeitszimmer. Die Tür ist angelehnt, und ich klopfe am Türrahmen. Xavier sieht von seinem Computer hoch.

»Verzeih«, sage ich. »Es ist gut, wenn Maria kommt.«

»Ich weiß.«

»Es ist nur so, dass …«

»Lass gut sein jetzt.«

»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Ich habe auch angeboten, dass wir am Freitagabend auf Eddy aufpassen. Maria will ein paar Freundinnen treffen.«

»Am Abend vor dem Fest, wenn wir den Tisch decken und die Hasen zubereiten müssen?«

»Ich kümmere mich um ihn.«

»Das tue ich doch immer.«

»Ich mache das, habe ich gesagt.«

»Das hätten wir vielleicht auch zusammen entscheiden können. An dem Abend ist ziemlich viel zu tun. Auch noch für Eddy Zeit zu haben, wird schwierig.«

Ich bin den Tränen nahe. Xavier starrt unverwandt auf seinen Computer, weicht meinem Blick aus.

»Jetzt ist es nun mal so«, sagt er nach einer Weile, die Augen weiter auf den Bildschirm gerichtet. »Er ist mein Enkel. Niemand auf der Welt ist mir wichtiger.«

»Ach, sollte das nicht Maria sein?«

Ich kann es nicht lassen. Xavier hebt den Blick und sieht mich finster an. Schwarzes Auge mit scharfer Spitze, die stets zielsicher meine Tränenkanäle punktiert. Damit hatten wir doch aufgehört. Ich mache den Mund auf und zu, schlucke und schlucke, will bitte nicht weinen, das ist doch vorbei, wir sind alt und darüber hinweg. Aber ich bin machtlos und merke, wie mir die Tränen über die Wangen laufen und die Schwärze in Xaviers Augen intensiver wird. Ich weiß, er empfindet Schuld, und er mobilisiert sich. Er glaubt, ich möchte, dass er Schuld empfindet, und vielleicht möchte ich das auch. Seine Augen sind kalte Universen, und in dieser schwarzen Kälte ist weder etwas zu hören noch zu sehen oder zu spüren.

Er macht sich unerreichbar. Was habe ich in all den Jahren nicht draußen gestanden und angeklopft.

Aber jetzt nicht mehr. Nicht noch einmal. Diese Zeiten sind vorbei. Das mache ich nicht mehr mit.

»Im Übrigen kann es für mich so nicht weitergehen. Das ist mir viel zu dumm.«

Sage ich und gehe davon.

Wir belassen es dabei. Das Wochenende und der erste Teil der Woche vergehen im Zeichen beherrschter Freundlichkeit, mit Wein und Fernsehserien. Auf der Arbeit habe ich mich daran gewöhnt, einen Flirt zu haben. Da ich auf Xavier sauer bin, werde ich mutiger. Überlege, was ich anziehe, föhne die Haare und schminke mich sorgfältig. Ich meine zu ahnen, dass Hasse mein Lächeln und meine Annäherungsversuche erwidert, aber allein der Verdacht des Gegenteils ist mir so unerträglich unangenehm, dass ich schon beim leisesten Gedanken daran Bauchschmerzen bekomme.

Merkt man es, wenn man sich lächerlich macht? All diese launigen und hoffnungslosen Versuche älterer Leute, mit Jüngeren zu flirten. Muss ich jetzt das Gefühl haben, so jemand zu sein? Hasse ist zwar nur zehn Jahre jünger, aber trotzdem.

Habe ich nicht begriffen, dass ich auf dem Markt der Liebe zur ausgelachten Kaste gehöre? Dabei bin ich nicht mal verliebt. Ich will nur, dass Hasse und ich einander berühren.

 

Es ist Donnerstag, und die aufgehängten Hasen müssen abgebalgt werden. Ich habe auf der Arbeit früh Schluss gemacht und bin schon gegen zwei Uhr zu Hause. Um die gefrorene Stimmung zwischen Xavier und mir aufzutauen, habe ich zwei Fastensemmeln mitgebracht. Ich bereue, versprochen zu haben, dass ich mich am Zerlegen der Tiere beteiligen werde. Wünschte, ich hätte irgendein vermeintliches Frauenprivileg vorgeschoben – erledige du deinen Teil, und ich ziehe mir in der Zwischenzeit schon mal die Schürze an. Dann könnte ich auf der Treppe heimlich rauchen und überlegen, wie ich meine Anerkennung zum Ausdruck bringe, wenn er fertig ist.

Wir essen das Gebäck und sind verbissen bereit. Das kann doch wohl nicht sehr viel schwieriger sein, als ein Huhn zu zerlegen, denke ich.

»Weißt du, wie es geht?«

Xavier zuckt die Achseln.

»Na ja. Ich habe es mir heute Vormittag auf YouTube angesehen.«

»YouTube? Habt ihr so was nicht im Kurs gelernt?«

»Jein. Nicht direkt. Es wird wohl kein Zuckerschlecken werden.«

»Kann man die Dinger nicht einfach irgendwo hinbringen? Gibt es denn dafür keine Spezialisten? Sodass man die Teile vakuumverpackt und mit Aufklebern versehen zurückbekommt?«

Ich versuche zu lachen, vergebens hoffnungsvoll. Xavier springt nicht darauf an, und ich hole tief Luft.

Wir müssen da jetzt durch.

»Äh, na gut, wir machen das einfach. Das bringt Erfahrung. Wenn es zum Krieg kommt, können wir immerhin einen Hasen zerlegen.«

Xavier nickt gedankenversunken.

»Mmh. Ich habe das nötige Werkzeug besorgt.«

Er holt eine Tüte und reiht vor uns auf dem Tisch fünf verschiedene Gerätschaften auf. Sie sehen aus, als gehörten sie einem Mörder, der seine Opfer zerstückelt, oder einem Folterer. Er nimmt eine Art Gartenschere in die Hand und zwackt damit ein bisschen in der Luft herum. Ich zucke unwillkürlich zurück, und da zwackt er noch mehr in meine Richtung. Dann lacht er, und das macht mich richtig glücklich. Wir sind wie zwei alte Walkie-Talkies, die plötzlich zu knistern anfangen und Verbindung aufnehmen. Es knistert, wir kichern, und als wir uns beruhigen, sind wir entwaffnet, alle beide. Im Takt, eins.

Xavier gibt mir das große Gerät, aber ich traue mich kaum, es zu nehmen. Ich schiele zu Molly, die auf dem Fußboden liegt und gelangweilt wirkt. Schnipp, wie leicht oder schwer ist das? Ein Hundehals? Ein Rosenzweig? Wie wird es bei den Hasen gehen? Wird die ganze Garage voller Blut sein?

»Wollen wir dann mal?«, sage ich und stehe resolut auf. Wir ziehen uns etwas Wärmeres an und gehen in die Garage, Molly schwanzwedelnd hinterdrein.

Ich bleibe in dem strengen Geruch stehen. Xavier hat die Hasen vorher schon auf der Werkbank aufgereiht. Sie sehen zerzauster aus als vor ein paar Tagen. Ihr Fell hat seine organische Funktion verloren, ist nur noch ein Gewirr von Haaren auf bald getrockneter Haut.

In der Garage liegt ein Hauch von Verwesung in der Luft.

»Warum müssen sie so lange hängen? Soll Fleisch nicht so frisch wie möglich sein?«

»Fleisch muss mürbe werden«, erklärt Xavier und schiebt einen schräg liegenden Hasen zurecht. »Die Fichtenreiser haben sie im Bauch, damit sie nicht zu verwesen anfangen.«

»Bist du sicher, dass das funktioniert hat? Ich finde, die riechen etwas dubios.«

»Ja. Jetzt mäkel hier nicht rum.«

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