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Triff das Glück auf halbem Weg

Als Buch hier erhältlich:

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Eine Schatulle mit einer Kette und drei Anhängern: Herz, Kreuz und Schlüssel. Das ist es, was Rebecka erbt. Vom wem, weiß sie nicht. Und sie hat keine Zeit darüber nachzudenken, denn ihr Alltag als Ehefrau, Mutter von zwei Kindern und erfolgreiche Journalistin bei einer Zeitung nimmt sie in Anspruch. Vor allem im Job stehen große Herausforderungen an, denn sie hat sich auf die Stelle der Chefredakteurin beworben. Doch sie bekommt unverhofft Konkurrenz: Ihre erste große Liebe Sam kehrt nach 15 Jahren in New York nach Stockholm zurück. Und als sie herausfindet, wer ihr die Kette vermacht hat, nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung.


"Vielen Dank für diese supertolle Sommerlektüre. Fantastisch geschrieben. Ich hoffe auf zahlreiche weitere Bücher." Facebook-Fan
"Tausend Dank für diese wunderbare Geschichte, die noch lange in meinem Kopf und meinem Herzen bleiben wird." Leser-Mail
"Dieses Buch hat mich glücklich gemacht. Ich konnte es nicht aus der Hand legen. Ein großes Dankeschön an Jenny Fagerlund. Fünf von fünf Sternen" Bokraden-Blogg


  • Erscheinungstag: 08.05.2017
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956497094

Leseprobe

Für Alexander, Isabelle & Vilhelm

März

„Nimm doch endlich die Schatulle“, sagte Rebeckas Mutter und blickte auffordernd auf das Kästchen mit Messingbeschlägen, das Arvid Ström ihr mit zitternden Händen entgegenhielt.

Das zerfurchte Gesicht des Notars hatte eine leicht rötliche Färbung angenommen, und an seinen Schläfen bildeten sich Schweißtropfen. Schnell beugte Rebecka sich vor und befreite ihn von der Last, die eigentlich nicht mehr als ein paar Hundert Gramm wog. Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Minuten kam ihr der Gedanke, ob der Notar nicht besser seinen Lebensabend in einem Seniorenstift genießen sollte, anstatt in einer dunklen Kanzlei am Mariatorget in Stockholm zu sitzen. Rebecka nieste und wedelte mit der Hand, um den muffigen Geruch zu vertreiben, der ihr schon beim Betreten des Raums entgegengeschlagen war. Die abgestandene Luft wurde mit jedem Moment unangenehmer.

„Ich verstehe immer noch nicht“, sagte sie schniefend. „Wer ist tot?“ Als Ingela neben ihr hörbar nach Luft schnappte, bereute sie ihre Wortwahl. „Ich meine, ist es ein Angehöriger, der … äh … entschlafen ist?“, fuhr sie fort, um ihre Mutter zu beschwichtigen, die alles verabscheute, was mit dem Tod zusammenhing.

Allerdings war Ingela selbst schuld. Schließlich hat sie gewusst, dass es bei diesem Termin nicht um einen Lottogewinn, sondern um ein Testament ging, dachte Rebecka und spielte ungeduldig mit einem losen Holzsplitter auf der Armlehne ihres Stuhls.

Der Notar hustete und griff nach dem Wasserglas, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Nachdem er ein paar große Schlucke getrunken hatte, richtete er seinen Blick auf einen unbestimmten Punkt hinter Rebeckas Kopf und begann.

„Wie ich bereits gesagt habe, kann ich nur so viel verraten, dass Sie und Ihre Mutter Erben eines Nachlasses sind. Sie haben das Recht, das Erbe abzulehnen, aber …“

Rebeckas Gedanken schweiften ab. Soweit ihr bekannt war, hatte sie keine Verwandten, die kürzlich verstorben waren. Ihre Großeltern mütterlicherseits wie auch ihre Großeltern väterlicherseits waren schon seit vielen Jahren tot, und da ihre Eltern beide Einzelkinder gewesen waren, gab es auch keine Tanten oder Onkel, von denen sie etwas hätte erben können.

„… eine Geldsumme.“ Die angenehme Stimme des Notars drang wieder zu ihr durch, und sie blickte ihn schuldbewusst an.

„Verzeihung, könnten Sie den letzten Satz bitte noch einmal wiederholen?“, fragte Rebecka und lächelte strahlend, als wollte sie sagen, dass sie natürlich mitbekommen habe, was er gesagt hatte, es aber noch ein weiteres Mal hören müsse. „Ich meine, der letzte Punkt war nicht ganz leicht zu verstehen. Das klang ein bisschen kompliziert.“

„Sie meinen, dass Sie eine Geldsumme geerbt haben?“, fragte Arvid Ström erstaunt.

Rebecka nickte und sah aus den Augenwinkeln zu ihrer Mutter hinüber, die in gerader Haltung mit übereinandergeschlagenen Beinen und im Schoß gefalteten Händen neben ihr saß. Ingelas langjähriges Engagement im Ballettensemble an der Königlichen Oper in Stockholm hatte ihr eine Anmut verliehen, die nur wenigen Menschen vergönnt war. Auch Rebecka hätte diese Haltung haben können, wenn sie nicht mit dem Ballett aufgehört hätte. Aber seit sie zwölf Jahre alt gewesen war, hatte sie nur noch davon geträumt, Journalistin zu werden.

„Nun, wie ich schon sagte, möchte die verstorbene Person –“ Arvid Ström hielt in seinen Ausführungen inne und musterte Ingela, die ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst hatte, „äh, die entschlafene Person Ihnen ebenfalls einen Geldbetrag in Höhe von hunderttausend Kronen hinterlassen. Selbstverständlich anonym“, erläuterte er weiter.

Hunderttausend, das ist eine Menge Geld, dachte Rebecka. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Ingela auf ihrem Sitz wand, und drehte sich zu ihr um. „Was weißt du darüber?“, fragte sie.

Eine leichte Röte zog über Ingelas Hals, sie riss ihre blauen Augen auf, bevor sie Rebeckas Blick schnell wieder auswich. Sie sah aus wie Rebeckas Labradorhündin Lollo, wenn Rebecka sie dabei erwischte, wie sie im Komposthaufen der Nachbarn nach etwas Fressbarem wühlte. Ein typisches Zeichen, dass irgendetwas nicht stimmte, und eine typische Reaktion von Ingela, wenn ihr etwas unangenehm war.

„Nicht viel mehr als du. Oder … jedenfalls nichts, was ich erzählen dürfte“, antwortete sie nach einer Weile, noch immer ohne ihre Tochter anzusehen.

„Du weißt also, worum es geht? Wer uns dieses Geld vermacht hat?“, fragte Rebecka, die immer neugieriger wurde. „Was hast du denn geerbt?“

„Die gleiche Summe wie du, hunderttausend Kronen. Das Geld kommt von einer Person, die entfernt mit uns verwandt war und die nicht viel Aufhebens um ihren Nachlass machen wollte. Anscheinend sind wir die einzigen Erben.“

„Ihre Mutter war letzte Woche hier und ist alles mit mir durchgegangen“, erklärte der Notar und kratzte sich an der Nase.

„Bei dem Termin, den du in letzter Minute abgesagt hast“, präzisierte Ingela.

„Weil Anton nicht wie versprochen die Kinder abholen konnte, ja. Ich musste ein Taxi zur Vorschule nehmen.“

„Na ja, jetzt sind Sie ja hier“, unterbrach der Notar. „Wie gesagt, die Schatulle und hunderttausend Kronen sind für Sie.“

Rebecka ließ langsam Luft durch die Lippen entweichen. Diese ganze Geheimniskrämerei ist so was von frustrierend, dachte sie und sah den Notar und ihre Mutter an, bevor ihr Blick wieder auf die Schatulle fiel. Sie machte Anstalten, den Deckel zu öffnen, aber die dunkle Stimme des Notars ließ sie innehalten.

„Ich schlage vor, dass Sie das Kästchen in aller Ruhe zu Hause öffnen. Wir können in ein paar Wochen einen neuen Termin anberaumen. Wenn Sie alles durchgesehen haben.“

Wieso das denn? dachte Rebecka und wollte gerade protestieren, als ein warnender Blick von Ingela sie davon abhielt.

„Gut, also wenn es dann nichts mehr zu besprechen gibt?“, fragte sie stattdessen und stand auf. Sie wollte hier weg. Die Kinder abholen und nach Hause fahren.

„Im Moment nicht“, antwortete Arvid Ström.

Rebecka war nicht sicher, ob es das Lächeln oder der warme Blick war, der sie nach Luft schnappen ließ. Eine Sekunde lang glaubte sie, ihren Vater in den freundlichen nussbraunen Augen des Notars zu erkennen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie ähnlich sich die beiden sahen. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Natürlich war der Notar nicht ihr Vater. Ihr Vater war tot, und wenn er noch am Leben wäre, dann wäre er gut fünfundzwanzig Jahre jünger als der Notar. Sie hatten nicht einmal die gleiche Gesichtsform.

Rebecka schloss kurz die Augen. Sie hatte lange nicht mehr an ihren Vater gedacht. Hatte nicht an ihn erinnert werden wollen. Der Stress und die Schlaflosigkeit in der letzten Zeit sind schuld daran, dass ich mir Sachen einbilde und anfange, Gespenster zu sehen, dachte sie und fuhr sich über die Stirn.

Plötzlich fiel ihr auf, dass der Notar die ganze Zeit weitergeredet hatte.

„Das hätte ich fast vergessen“, sagte er gerade und hielt ihr ein paar Papiere entgegen. „Sie müssen unterschreiben, bevor wir Ihnen das Geld auf Ihr Bankkonto überweisen können.“

Rebecka nahm die Dokumente und legte sie auf den Schreibtisch, der genauso dunkel gehalten war wie die übrige Einrichtung der Kanzlei. Während ihr Schwindelgefühl langsam nachließ, überflog Rebecka die Unterlagen und setzte ihre Unterschrift darunter. Als sie fertig war, stand sie auf und griff nach ihrem taillierten dunklen Mantel, der über der Stuhllehne hing. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und realisierte, dass sie in einer Stunde in der Vorschule sein musste. Wenigstens ein Mal wollte sie ihr Versprechen einhalten, Julia und Trevor nicht als Letzte abzuholen.

Hektisch zog sie den Mantel an und ging in Richtung Tür. Als sie gerade die Hand auf die Klinke gelegt hatte, hörte sie die Stimme des Notars hinter sich und drehte sich um.

„Vergessen Sie das hier nicht“, sagte er und reichte ihr die Schatulle. „Und wie gesagt, melden Sie sich wieder, wenn Sie den Inhalt durchgegangen sind. Den ganzen Inhalt.“

Als Rebecka vor der Notarkanzlei auf die Straße trat, atmetete sie die kühle Luft tief ein, bevor sie sich fröstelnd ihren Schal um den Hals wickelte. Kurz darauf kam auch Ingela aus dem Gebäude und stellte sich neben sie. Einem Außenstehenden wäre sofort aufgefallen, wie ähnlich sich die beiden Frauen sahen, obwohl Rebecka die dunklen Haare und grünen Augen ihres Vaters geerbt hatte und Ingela blond und blauäugig war. Mit ihrer geraden Nase, ihrem vollen Mund und ihren mandelförmigen Augen war Rebecka trotzdem das Ebenbild ihrer Mutter.

Außerdem waren sie fast gleich groß, ungefähr einen Meter fünfundsechzig, und hatten eine schlanke Figur.

„Das ist ja gut gelaufen“, sagte Ingela und strich mit den Händen über ihren taupefarbenen Mantel, bevor sie ihre ohnehin schon tadellose Frisur zurechtzupfte.

„Findest du? Ich finde, dass der Termin mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hat“, entgegnete Rebecka und ging mit der Schatulle unter dem Arm in Richtung U-Bahn. Obwohl das Kästchen nicht besonders groß war, passte es nicht in ihre Handtasche, die bis obenhin mit Dingen vollgestopft war, von denen man nie wusste, wann man sie einmal brauchen könnte. Ingela passte sich ihrer Schrittgeschwindigkeit an, und eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, jede versunken in ihre eigenen Gedanken.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte Ingela plötzlich.

„Was?“, sagte Rebecka.

„Dein Telefon klingelt“, erklärte Ingela und zeigte auf Rebeckas Tasche.

Erst jetzt hörte Rebecka den gedämpften Klingelton. Hektisch griff sie in ihre Tasche und fing an, darin herumzukramen. Sofort machte sich der Stress wieder bemerkbar. Es könnte die Vorschule sein oder, schlimmer noch, ihre Chefin. Rebecka wusste aus Erfahrung, dass Ann-Katrin wahnsinnig wurde, wenn sie ihre Mitarbeiter nicht erreichte. Weil das verflixte Handy einfach nicht auftauchen wollte, leerte Rebecka ihre Handtasche kurzerhand auf dem Bürgersteig aus. Glücklicherweise war das Wetter in den letzten Tagen schön gewesen und der Matsch der vergangenen Wochen mittlerweile verschwunden. Jetzt landete der Tascheninhalt auf trockenem, knisterndem Kies. Erstaunt erblickte Rebecka Trevors Badehose. Hier hatte sie sich also versteckt. Nachdem sie Haargummis, Bürste, Portemonnaie, Aufnahmegerät, ungefähr ein Dutzend Stifte und einen einzelnen Nylonstrumpf beiseite geschoben hatte, fand sie endlich das Handy, das eifrig zwischen den Seiten eines Collegeblocks blinkte.

„Heute Morgen um elf war der Abgabetermin, und ich habe noch keine Zeile von deinem Text gesehen!“ Ann-Katrins wütende Stimme durchschnitt die Luft.

Hektisch senkte Rebecka die Lautstärke auf die niedrigste Stufe, damit niemand hörte, wie ihre Chefin am Telefon tobte. „Der Text ist fertig und eingereicht“, antwortete sie übertrieben fröhlich.

„Bei mir ist er nicht angekommen“, zischte Ann-Katrin mit ihrer vom jahrelangen Zigarillo-Qualmen heiseren Stimme.

„Ich habe ihn heute Vormittag ageschickt.“ Oder etwa nicht? Sie war sich sicher, dass sie ihn abgeschickt hatte. Auf jeden Fall fast. Konnte es sein, dass sie vorgehabt hatte, den Text in der Publikationsplattform der Redaktion zu hinterlegen, und es dann vergessen hatte? Rebecka spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. In der letzten Zeit hatte sie das Gefühl, allmählich die Kontrolle zu verlieren. Ein Gefühl, das sie gleichzeitig ängstigte und frustrierte.

Sie hörte, wie Ann-Katrin auf ihrer Tastatur herumtippte, ehe sie den Hörer wieder in die Hand nahm.

„Der Text ist da, aber du musst einige Änderungen einfügen.“

Keine Entschuldigung, nichts. Trotzdem durchfuhr Rebecka eine Woge der Erleichterung. Sie hatte es nicht vergessen.

Rebecka fing an, ihre Sachen einzusammeln und wieder in ihre Tasche zu räumen, gleichzeitig drückte sie mit der Schulter das Handy gegen das Ohr. Noch bevor sie Ann-Katrin antworten konnte, kam schon die nächste Frage.

„Wann bist du hier?“

„Ich hatte nicht vor, heute noch einmal reinzukommen. Es ist fast vier Uhr. Sind das Sachen, die du selbst ändern könntest?“, antwortete Rebecka so ruhig, wie sie nur konnte. Sie wollte nicht noch einmal in die Redaktion fahren. Sie musste die Kinder abholen. Hatte es ihnen versprochen. Hatte ihnen versprochen, nicht schon wieder jemand anderen zu schicken. Außerdem würde Anton sauer werden, wenn sie ihren Job über die Kinder stellte. Allein der Gedanke, Anton zu bitten, Julia und Trevor abzuholen, sorgte dafür, dass sich ihr der Magen erneut umdrehte.

„Du musst sofort herkommen. Du hast eine Stunde, bevor der Artikel in die Schlussredaktion geht.“

Ehe Rebecka protestieren konnte, teilte ihr das Tuten in der Leitung mit, dass Ann-Katrin aufgelegt hatte. Mit einem müden Seufzer hob Rebecka die Schatulle und ihre Tasche vom Boden auf. Sie zögerte einen kurzen Moment, bevor sie sich entschied.

„Julia und Trevor haben dich vermisst. Sie würden sich riesig freuen, wenn du sie heute abholen kommst“, sagte sie und drehte sich zu ihrer Mutter um.

„Aber wir haben uns doch gestern erst gesehen“, entgegnete Ingela erstaunt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so wichtig bin.“

„Sei froh, dass sie mit dir zusammen sein möchten. Die Kinder einer Kollegin wollen ihre Großmutter nicht mehr sehen, weil sie sie nie abgeholt hat, als sie klein waren“, argumentierte Rebecka und hielt die Luft an, während sie auf die Reaktion ihrer Mutter wartete.

Ingela kniff die Lippen zusammen und schnaubte: „War das eben deine Chefin am Telefon?“

Rebecka biss sich auf die Lippe. „Ich muss noch mal in die Redaktion.“

„Musst du wirklich, oder kannst du einfach nicht Nein sagen?“

„Komm schon. Wenn jemand weiß, wie wichtig es ist, hart zu arbeiten, um ans Ziel zu kommen, dann du“, murmelte Rebecka und sah, wie ihre Mutter sich langsam beruhigte.

„In Ordnung, aber die Kinder werden enttäuscht sein, dass du nicht kommst – schon wieder“, antwortete sie.

Rebecka umarmte ihre Mutter fest. „Danke. Bald wird alles ein bisschen ruhiger, da bin ich mir sicher“, sagte sie, bevor sie in Richtung U-Bahn davoneilte.

Rebecka hatte kaum mit einer Schulter die Eingangstür des Redaktionsgebäudes aufgedrückt und Fredrik an der Rezeption begrüßt, als Elise aus der Cafeteria kam und direkt auf sie zuschoss. Sie war eine der neuen Reporterinnen, frisch von der Uni. Rebecka schlug eine Duftwolke aus Kaffee und blumigem Parfüm entgegen.

„Wow, was für eine schöne Schatulle. Ist das Art déco?“, fragte Elise und lächelte so strahlend, dass tiefe Lachgrübchen auf ihren Wangen sichtbar wurden. Sie hatte große blaue Augen und blonde Locken, die ihr herzförmiges Gesicht wie eine Wolke umrahmten, und soweit Rebecka wusste, war mindestens die Hälfte der männlichen Redaktionsmitarbeiter in sie verliebt.

Schwärmereien, die nicht erwidert werden würden, da Elise bereits seit fünf Jahren in festen Händen und verlobt war.

„Wie ist es bei dem Termin gelaufen?“, fragte Elise weiter, ohne Rebeckas Antwort abzuwarten, und begleitete sie in Richtung der großen offenen Bürolandschaft, wo sie ihre Arbeitsplätze hatten.

Rebecka trat einen Schritt zur Seite, als die Tasse in Elises Hand leicht kippte und ein bisschen Kaffee über den Rand schwappte. „Ganz gut, würde ich sagen. Ich habe Geld und diese Schatulle hier geerbt.“

Sie wollte eigentlich nicht über den Notartermin reden. Auf dem ganzen Weg zur Redaktion hatte sie darüber nachgedacht, wer ihnen etwas hinterlassen haben könnte. Bei nächster Gelegenheit musste sie ihre Mutter noch einmal danach fragen.

Rebecka und Elise näherten sich der Feature-Redaktion, die zwischen Sportredaktion und Gesundheitsressort eingeklemmt lag. Obwohl es schon fast fünf Uhr nachmittags war, herrschte fieberhafte Betriebsamkeit: Reporter, Fotografen und Redakteure legten letzte Hand an ihre Artikel, bevor sie in den Druck gingen. An Rebeckas Platz setzte sich Elise auf den Schreibtisch und ließ ihre langen Beine über die Tischkante baumeln. Als die Zeitung aus den alten Redaktionsräumen auf Södermalm in die Stockholmer Innenstadt umgesiedelt war, hatte Rebecka sich den besten Platz gesichert. Von ihrem Schreibtisch aus konnte sie die gesamte Redaktion überblicken und brauchte nur den Kopf zu heben, um einen Blick auf den Newsdesk und die TV-Monitore zu werfen, die ständig die neuesten Nachrichten aus unterschiedlichen Medien anzeigten.

„Okay, jetzt musst du die Schatulle aufmachen“, sagte Elise und ignorierte Steven, einen der Fotografen, der versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Ich komme gleich rüber“, sagte sie abweisend, und Steven schlurfte davon.

„Wird er eigentlich nie sauer auf dich?“ Rebecka stellte ihre braune Ledertasche auf den Boden und legte die Schatulle auf den Schreibtisch.

„Ach, wenn es was Wichtiges war, muss er sich eben durchsetzen“, entgegnete Elise und schlug die Beine übereinander. „Außerdem weiß ich, dass er über einen Auftrag in der nächsten Woche reden will, den wir schon sieben Mal besprochen haben. Wie schwer kann es sein, einen Trendforscher zu fotografieren? Abdrücken und ein Bild machen, mehr ist das doch nicht.“

„Toll, dass du den Artikel bekommen hast. Ich habe Ann-Katrin gesagt, dass es dir bestimmt Spaß machen würde, über die Trends des nächsten Jahres zu schreiben.“ Rebecka hängte ihren Mantel über die Stuhllehne und setzte sich auf ihren Platz.

„Obwohl es ja nicht ganz dasselbe ist, wie die Titelstory zu schreiben“, seufzte Elise und fuhr fort: „Ich habe gehört, dass du das große Interview für nächste Woche machen sollst.“

Rebecka nickte. Sie hatte lange genug gebraucht, um Ann-Katrin zu zeigen, dass sie die beste Reporterin für die Titelreportagen war. Aber mittlerweile gehörten sie zu ihren festen Aufgabenbereichen.

„Wolltest du heute nicht eigentlich deine Kinder abholen? Ich dachte, du hättest gesagt, dass du heute nicht noch mal herkommst?“, fragte Elise.

„Dein Gedächtnis ist einfach zu gut“, murmelte Rebecka und schaltete ihren Computer ein. Obwohl sie ihrer Mutter dankbar war, dass sie die Kinder abholte, war ihr klar, dass sie sich früher oder später wieder Kommentare über ihr Arbeitspensum würde anhören müssen.

„Wer holt die Kinder ab?“

„Meine Mutter“, antwortete Rebecka und verscheuchte die Bilder von Julias und Trevors enttäuschten Gesichtern, die vor ihrem inneren Auge vorbeiflimmerten. Aber sie wussten ja, dass sie einen wichtigen Job hatte, und sobald Ann-Katrin auf der Karriereleiter den nächsten Schritt nach oben machte und sie selbst zur Leiterin des Reportage-Ressorts ernannt wurde, würde ihr Familienleben wieder anders werden. Bis es so weit war, musste sie beweisen, dass sie die Beförderung verdient hatte.

„Hast du Ann-Katrin gesehen?“, erkundigte sie sich, um Elise abzulenken und nicht weiter über ihre Familie und die Schatulle reden zu müssen.

„Schon eine Weile nicht mehr. Aber ich gehe ihr zurzeit auch aus dem Weg, damit ich nicht noch mehr langweilige Aufgaben übertragen bekomme. An meiner Stelle würdest du dasselbe tun. Ich habe den halben Tag in einer stinklangweiligen Pressekonferenz zum Thema Grasanbau gesessen.“

„Grasanbau? Meinst du Cannabis?“, fragte Rebecka, während sie das Passwort für die Publikationsplattform eingab, in der sämtliche Artikel bearbeitet wurden. Sie rief die Reportage über Amanda Samuelsson auf, eines von Schwedens neuen, aufstrebenden Schauspieltalenten. Es war ein gutes Interview geworden. Amanda war präsent und schlagfertig gewesen und hatte dieses kleine Detail ausgeplaudert, von dem jeder Reporter träumte. Rebecka überflog den Text und suchte nach Ann-Katrins Markierungen.

„Nein, ich meine Grasanbau und sechzehn Tipps für einen schönen grünen Rasen“, antwortete Elise düster.

Rebecka lachte. „Da waren wir alle mal“, sagte sie tröstend und fügte schnell die Änderungen in ihren Artikel ein.

„Ja, wahrscheinlich“, entgegnete Elise und beugte sich vor. „Jetzt darfst du mich aber nicht länger auf die Folter spannen“, sagte sie und warf einen vielsagenden Blick auf die Schatulle.

Rebecka folgte ihren Augen. „Eigentlich habe ich jetzt gar keine Lust hineinzuschauen“, sagte sie gespielt gleichgültig. Obwohl sie neugierig war, hatte sie auch ein bisschen Angst. Was, wenn der Inhalt mit ihrem Vater zusammenhing? Mit Dingen, von denen sie nichts wissen oder an die sie nicht erinnert werden wollte? Allerdings war ihr Vater schon lange tot, und außerdem hatte er keinen Pfennig Geld besessen, den er hätte vererben können. Demzufolge war die Wahrscheinlichkeit, dass er hinter der Sache steckte, ziemlich gering.

„Bist du gar nicht neugierig?“

„Nicht besonders“, log Rebecka und runzelte die Stirn. „Das ist bestimmt irgendein Müll, den niemand haben möchte“, sagte sie, um Zeit zu gewinnen.

„Wer weiß. Es könnten alte Liebesbriefe sein, eine Schatzkarte oder … jetzt hab ich’s: Du hast ein Haus geerbt, und alle Papiere liegen in der Schatulle. Du musst doch wenigstens ein biiiiisschen neugierig sein.“

Rebecka blickte erst auf die Schatulle, dann auf Elise, die auf ihrem Platz fast auf und ab hüpfte.

Vielleicht sollte sie wirklich jetzt in die Schatulle schauen, obwohl Elise dabei war, und nachsehen, ob sie dort irgendwelche Hinweise fand. Vorausgesetzt, sie wollte überhaupt welche finden.

„Okay, ich guck rein. Aber nur, weil du so nervst.“

„Ach, du willst doch auch wissen, was drin ist.“ Elise beugte sich über Rebecka, um besser sehen zu können.

„Du musst mir dabei aber nicht gleich auf dem Schoß sitzen.“

„Ups, entschuldige. Ich bin vielleicht ein bisschen ungeduldig.“

Im selben Augenblick rief Ann-Katrin nach Elise. „Ich hör sie nicht. Ich hör sie nicht“, murmelte Elise und duckte sich. „Wie schön es sein wird, wenn der neue Mitarbeiter anfängt. Vielleicht stalkt Ann-Katrin dann ihn.“

„Welcher neue Mitarbeiter?“, fragte Rebecka und erstarrte.

„Anscheinend ein Typ, der ziemlich lange im Ausland gearbeitet und eine steile Karriere hingelegt hat. Ich hoffe, es ist jemand Cooles und kein überambitionierter Streber.“

Rebecka sah Elise an, die immer noch nach vorn gebeugt dasaß, damit Ann-Katrins Argusaugen sie nicht entdeckten. „Das kann man nur hoffen … woher weißt du denn davon? Und hast du eine Ahnung, in welches Ressort er kommt?“, fragte sie und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die Antwort interessierte.

„Zu uns in die Feature-Redaktion. Ich habe mitgekriegt, wie Ann-Katrin und Margareta vor ein paar Tagen darüber geredet haben.“

„Du hast also gelauscht?“

„Na ja, es war eher so, dass ich mich durch Zufall am gleichen Ort aufgehalten habe, und sie haben mich nicht gesehen.“ Elise zuckte grinsend mit den Schultern.

Ann-Katrins wütende Stimme kam näher, und Elise sprang elegant vom Schreibtisch. „Ich muss jetzt leider gehen, aber was das hier angeht, musst du mich auf dem Laufenden halten“, sagte sie und zeigte auf die Schatulle.

Rebecka nickte abwesend. „Das mache ich“, murmelte sie und sah Elise nach, die sich eilig davonmachte. Ein neuer Mitarbeiter. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Leute kamen und gingen die ganze Zeit, aber auf einen neuen Starreporter konnte sie gerne verzichten. Das kann ich gerade gar nicht gebrauchen, dachte sie und fingerte zerstreut an dem rostigen Verschluss der Schatulle herum.

In ihrem großen Einfamilienhaus mit den hellgrauen Giebeln im Stockholmer Vorort Bromma brannte kein Licht, als Rebecka aus dem Taxi stieg und die Tür zuschlug. Sie blieb am Gartentor stehen und betrachtete die Hausfassade. Es kam ihr immer noch unwirklich vor, dass sie genau hier wohnte – in ihrem alten Viertel –, obwohl sie sich über viele Jahre lang nichts sehnlicher gewünscht hatte.

Sie schloss die Haustür auf und betrat den Flur. Sofort hörte sie das Geräusch von vier trappelnden Hundepfoten auf dem Parkett, als Lollo sich schläfrig hochrappelte, um sie zu begrüßen.

„Hallo, meine Süße.“ Rebecka beugte sich vor und kraulte sie hinter den Ohren.

Die große schwarze Labradorhündin wedelte eifrig mit dem Schwanz und versuchte, Rebecka ihre Zuneigung zu demonstrieren, indem sie ihr übers Gesicht leckte. Rebecka drehte den Kopf zur Seite, um Lollos nasser Zunge zu entgehen. Sosehr sie ihren Hund auch liebte, auf Küsse von jemandem, der seine Nase mit derselben Begeisterung in den nächstbesten Komposthaufen steckte, mit der er sich am Hinterteil leckte, konnte sie gerne verzichten. Nach einer Weile richtete sie sich auf, zog Mantel und Stiefeletten aus und bewegte vorsichtig ihre schmerzenden Füße. Schließlich ging sie ins Wohnzimmer, Lollo blieb ihr dicht auf den Fersen. Es war spät geworden. Die große Wanduhr in der Rezeption hatte kurz vor Mitternacht gezeigt, als sie die Redaktion schließlich verlassen und auf der Straße ein Taxi ergattert hatte. Irgendwann zwischen neun und zehn Uhr hatte Anton angerufen, aber sie hatte ihr Handy auf lautlos gestellt und weitergearbeitet. Wenn sie rangegangen wäre, hätte sie erklären müssen, warum ihre Mutter die Kinder abgeholt hatte, und Anton hätte vermutlich erzählt, wie traurig und enttäuscht die beiden gewesen seien. Informationen, die sie nicht unbedingt hören wollte.

Anton lag mit geschlossenen Augen auf ihrem kürzlich erworbenen Sofa vom schwedischen Designunternehmen Svenskt Tenn. Der Fernseher lief leise, und im offenen Kamin glühten ein paar Holzscheite. Rebecka nahm die Fernbedienung in die Hand und stellte den Fernseher aus, bevor sie sich auf die Sofakante setzte und ihren Mann betrachtete. Seine dunklen Haare waren wirrer als üblich, sie folgte seinen markanten Gesichtszügen, bis ihr Blick an seinem resoluten Kinn und den vollen Lippen hängen blieb. Obwohl sie seit vierzehn Jahren ein Paar und seit zehn Jahren verheiratet waren, war er in ihren Augen immer noch der attraktivste Mann, den sie jemals getroffen hatte. Auch wenn ihr Herz nicht mehr aus der Brust springen wollte, sobald sie ihn sah: Er war der stabile Punkt in ihrem Leben, seit sie sich auf einem Fest bei ihrer besten Freundin Anna, die mittlerweile im Haus nebenan wohnte, das erste Mal begegnet waren.

Rebecka strich mit der Hand über Antons Kinn, beugte sich nach unten und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Anton schlug die Augen auf, und bevor Rebecka zurückweichen konnte, schlang er seine Arme um sie und zog sie an seine Brust.

„Hallo“, begrüßte er sie schläfrig.

„Hallo“, erwiderte Rebecka und drückte ihr Gesicht in sein weiches Hemd. Sie atmete den Duft von Aftershave und Kaminfeuer ein.

„Die Kinder haben dich heute vermisst“, murmelte Anton, während seine Hände gleichzeitig den Weg unter ihre Bluse fanden und ihren Rücken streichelten.

Rebecka erstarrte und wand sich aus seiner Umarmung. „Sie haben mir auch gefehlt, aber du weißt, wie viel ich momentan zu tun habe“, antwortete sie und stand auf. Sie ging ans Fenster und starrte hinaus auf die Straße, die durch die Straßenlaternen in weiches goldenes Licht getaucht war.

„Vielleicht solltest du langsam mal darüber nachdenken, ob dir deine Arbeit wirklich guttut. Du bist ja fast gar nicht mehr zu Hause.“

„Diese Diskussion haben wir schon tausendmal geführt“, entgegnete Rebecka. „Warum musst du immer auf meiner Arbeit rumhacken?“

„Es ändert sich ja nichts. Obwohl du es immer wieder versprichst. Ich frage mich langsam wirklich, ob wir dir überhaupt wichtig sind. Früher standen die Kinder bei dir immer an erster Stelle, und …“

Rebecka konnte es nicht mehr hören. Die Arbeit und die Kinder. Das waren ihre ständigen Gesprächsthemen. Ihr permanentes schlechtes Gewissen. Ihre ewigen Schuldgefühle. Es gab immer etwas, was sie erledigen musste. Irgendjemand oder irgendetwas blieb immer auf der Strecke: die Kinder, ihre Beziehung mit Anton, die Arbeit, das Haus, der Sport oder der Freundeskreis. Ehrlich gesagt war es ihr schleierhaft, wie andere ihr tägliches Pensum meisterten. All die perfekten Mütter, die tagaus, tagein auf Instagram oder Facebook von ihren fantastischen Jobs, Kindern, Männern, Haustieren, ihren durchtrainierten Traumfiguren und großartigen Backkünsten schwärmten. Wie schafften sie das alles?

„Meine Mutter hat sich um die Kinder gekümmert, sie sind gerne mit ihr zusammen“, sagte sie schließlich und nestelte an ihrer Halskette herum.

„Das ist nicht der Punkt. Julia und Trevor haben gedacht, dass du sie heute abholen kommst. Ingela musste sie zwanzig Minuten lang trösten. Ich bin der Meinung, dass dich deine Arbeit viel zu sehr in Anspruch nimmt.“ Anton setzte sich auf.

Zwanzig Minuten. Ganz sicher nicht. Wahrscheinlich hat Mama die Kinder mit irgendetwas bestochen und sie im Handumdrehen nach Hause bekommen, dachte Rebecka und wollte zu einer entsprechenden Entgegnung ansetzen, aber Anton kam ihr zuvor.

„Außerdem siehst du müde und erschöpft aus, und ich möchte, dass es dir gut geht.“

„Wenn man rund um die Uhr arbeitet, ist es ganz normal, dass man müde ist. Gerade du solltest das wissen“, erwiderte Rebecka und biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte.

„Ich tue so, als hätte ich das nicht gehört.“

„Weil für dich andere Bedingungen gelten als für mich, oder warum?“

„Hör auf. Ich versuche, fair zu sein und dir zu zeigen, dass ich mir Sorgen um dich mache, und du hast nichts Besseres zu tun, als mir meine Arbeitsbelastung vorzuhalten. Findest du das etwa gerecht?“

„Du versuchst nicht, fair zu sein. Du willst mir Schuldgefühle einreden“, entgegnete Rebecka und sah wieder aus dem Fenster. Sie spürte, wie Ärger in ihr hochstieg. In ihrem Innern hatte sich eine Wut angestaut, die unter der Oberfläche lauerte und sich immer häufiger ein Ventil suchte, indem sie Anton und den Kindern gegenüber barsch und ungeduldig wurde. Und hatte sie etwa kein Recht, wütend zu sein? Vor ein paar Jahren war Anton in derselben Situation gewesen. Als die Kinder klein waren, hatte er bis zum Umfallen gearbeitet. Wer hatte damals die volle Elternzeit genommen? Wer war mit den Kindern zu Hause geblieben und hatte seine Karriere auf Eis gelegt? Obwohl das gänzlich gegen ihre Prinzipien gewesen war und gegen alles verstoßen hatte, woran sie glaubte. Aber sie hatte dieser Lösung zugestimmt. Ihm zuliebe.

„Ich will dir keine Schuldgefühle einreden“, sagte Anton nach einer Weile, und als er fortfuhr, klang seine Stimme deutlich weicher: „Müssen wir uns deswegen streiten? Ich habe nur gesagt, dass die Kinder dich vermissen, dass ich dich vermisse.“

„Weißt du, wie hart ich kämpfe, damit unser Alltag funktioniert? Ich bin ständig unter Druck, und ich mache es, so gut ich kann“, erwiderte Rebecka, aber sie spürte, wie sich ihre Wut langsam legte. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Sie hatte weder die nötige Kraft noch die Nerven, und es würde sowieso zu keinem Ergebnis führen. Ihre ewigen Diskussionen hatten noch nie zu irgendetwas geführt.

Sie hörte, wie die Bodendielen unter Antons Gewicht knarrten, bevor sie seine Wärme an ihrem Rücken und seine Arme um ihren Körper spürte.

„Ich mache mir nur Sorgen um dich. Das ist alles“, murmelte er in ihr Haar. „Wie ist es eigentlich heute bei dem Notartermin gelaufen?“

„Ich bin immer noch genauso schlau wie vorher“, antwortete Rebecka und machte einen Schritt zur Seite, um sich aus Antons Umarmung zu lösen. Sie konnte seine Nähe gerade nicht ertragen. Sie musste Distanz zu ihrem Gespräch bekommen.

Sie drehte sich um. „Es ist eine anonyme Erbschaft. Wenn man jemandem etwas hinterlässt, sollte man doch wenigstens den Grund dafür angeben und sagen, wer man ist.“ Sie kniff die Augen zusammen und blickte in Antons amüsiertes Gesicht. „Findest du das etwa lustig?“

„Nein, auf keinen Fall! Wie kommst du denn darauf?“, erwiderte er mit ernster Stimme, obwohl es in seinen Mundwinkeln zuckte.

„Und was amüsiert dich dann so sehr?“

Anton lächelte sie an. „Dass meine blitzgescheite und kluge Frau zur Abwechslung einmal keine Antworten hat“, antwortete er und zog sie an sich.

„Haha, sehr witzig“, schnaubte Rebecka, aber anstatt sich ein zweites Mal aus seiner Umarmung zu befreien, lehnte sie ihren Kopf an Antons Brust und ließ die letzte Wut verdampfen. Diese ständigen Streitereien waren unnötig und zehrten an ihren Kräften. Bestimmt würde alles einfacher werden, sobald die Kinder älter und selbstständiger waren.

„Was hast du geerbt?“, fragte Anton und fuhr mit den Fingern durch ihre Haare.

„Hunderttausend Kronen und eine Halskette“, antwortete Rebecka und versuchte sich zu entspannen, als Anton anfing, ihre Kopfhaut zu massieren.

„Hunderttausend, das ist nicht gerade wenig! Und was ist das für eine Kette?“, fragte Anton gedämpft und küsste sie auf die Stirn.

„Ich habe sie mir noch nicht so genau angesehen. Sie ist aus Gold und hat ein paar Anhänger. Ann-Katrin war gestresst und hat so eine Hektik verbreitet, dass ich nur einen kurzen Blick in die Schatulle werfen konnte.“

„Kannst du sie nicht holen? Dann können wir sie uns gemeinsam anschauen.“

Rebecka wand sich aus seiner Umarmung. „Ich verstehe gar nicht, warum alle so einen Wirbel um diese Erbschaft machen. Erst Elise und jetzt du“, entgegnete sie, lächelte aber, um ihm zu zeigen, dass sie nicht mehr sauer war, und ging dann aus dem Zimmer, um die Schatulle zu holen.

Glaube, Liebe und Hoffnung. Dafür stehen also die Anhänger, dachte Rebecka und betrachtete die Halskette genauer, die Anton in den Händen hielt. Die Anhänger waren erlesen, und man musste kein ausgewiesener Schmuckkenner sein, um zu sehen, dass sie mit großem handwerklichen Können und Liebe zum Detail angefertigt worden waren. Kleine eingearbeitete Diamanten verliehen der Kette noch mehr Lebendigkeit.

„Ein sehr schönes Stück. Und teuer. Deine Mutter weiß wirklich nichts über die Hintergründe der Erbschaft?“, fragte Anton und gab Rebecka die Kette zurück.

„Sagt sie“, antwortete Rebecka. „Eigentlich weiß sie eine ganze Menge, will aber nicht darüber sprechen. Zumindest nicht jetzt. Und ehrlich gesagt habe ich keine Zeit für komplizierte Ratespiele. Sie wird sich schon melden. Ich habe wichtigere Dinge zu tun.“

Sie gähnte laut. „Ich muss jetzt wirklich ins Bett. Wir können ja morgen weiter darüber reden“, fügte sie hinzu und sah Lollo an, die unruhig hin und her lief. Ein typisches Zeichen, dass sie vor die Tür musste. „Schnick-Schnack-Schnuck?“

„Ich gehe mit ihr raus“, erwiderte Anton und küsste Rebecka zärtlich auf den Mund.

Rebecka überlegte, ob sie schon jetzt die Organisation der kommenden Woche ansprechen sollte. Auch wenn ihr nicht nach einer weiteren Auseinandersetzung mit Anton war, konnte sie die Karten ebenso gut gleich auf den Tisch legen. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend holte sie Luft:

„Du, so wie es aussieht, wird die nächste Woche bei mir auch ziemlich hektisch. Kannst du die Kinder abholen, oder soll ich meine Mutter oder Anna fragen?“ Rebecka hielt den Atem an und wartete auf Antons Reaktion.

„Schon wieder! Ich dachte, nach dieser Woche sollte es ruhiger werden?“

Rebecka sah, wie sich Antons Kiefermuskeln anspannten. „Es wird auch ruhiger werden, nur nicht gerade jetzt, weil Ann-Katrin Panik hat, dass die Auflagenzahlen nicht so stark steigen wie erwartet. Ich werde es am Wochenende wiedergutmachen, versprochen“, antwortete sie mit so viel Überzeugungskraft in der Stimme, wie sie aufbringen konnte.

Anton seufzte resigniert. „Okay, ich schaue, was ich tun kann.“ Er hantierte mit Lollos Leine herum.

„Ich könnte mich an eine Babysitter-Agentur wenden. Ich meine … dann müssten wir nicht mehr so viel organisieren“, schlug Rebecka mit gespielter Unbekümmertheit vor. Sie wusste nur zu gut, dass Anton strikt dagegen war, dass sich eine fremde Person um die Kinder kümmerte, auch wenn das ihren Alltag erheblich erleichtern würde.

„Kein Babysitter. Darüber waren wir uns einig. Schließlich springen deine Mutter und Anna schon oft genug ein. Außerdem ist deine Arbeitsbelastung ja nur vorübergehend, oder etwa nicht?“

Rebecka gab keine Antwort. Wenn er erfuhr, wie häufig Anna und ihre Mutter tatsächlich aushalfen, würde er an die Decke gehen. Darüber hinaus war sie sich ganz und gar nicht sicher, wann und ob es bei der Arbeit ruhiger werden würde.

Während Anton Lollo die Leine anlegte, ging Rebecka mit der Schatulle hoch in ihr Arbeitszimmer, das ganz oben im Dachgiebel lag. Auf dem Weg ins oberste Stockwerk warf sie durch den Türspalt einen Blick in Trevors Kinderzimmer. Er lag mit einer Hand unterm Kinn im Bett und hatte die Decke von sich gestrampelt. Seine Haare waren verschwitzt. Mit einem tiefen Atemzug drehte er sich um und wandte Rebecka den Rücken zu. Rebecka betrachtete ihn eine ganze Weile. Ihr kleiner Sohn, im Herbst würde er schon in die Schule gehen. Sie widerstand dem Impuls, an sein Bett zu treten. Sie wollte nicht riskieren, dass er aufwachte. Stattdessen schloss sie behutsam die Tür und ging weiter die Treppe hoch. In ihrem Arbeitszimmer stellte sie die Schatulle auf den Schreibtisch, ließ sich in einen der roten Samtsessel fallen – die einzigen Möbelstücke, die sie aus ihrem Elternhaus mitgenommen hatte, weil sie sie so sehr an ihren Vater erinnerten – und genoss die Aussicht über die Dächer von Bromma. Sie lehnte ihren Kopf an den weichen Bezug und versuchte, sich zu entspannen. Obwohl sie müde war und zu Anton gesagt hatte, dass sie ins Bett gehen wollte, wusste sie, dass sie jetzt nicht einschlafen könnte. Meistens wälzte sie sich im Bett stundenlang von der einen Seite auf die andere, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem sie viel zu früh wieder erwachte.

Rebecka betrachtete das gelbe Nachbarhaus auf der anderen Straßenseite. Dort brannte kein einziges Licht. Wahrscheinlich schlafen Anna und David schon seit Stunden, dachte sie. Bei ihnen schien alles so perfekt zu sein. Nie ein Zeichen von Stress oder Hektik. Aber sie hatten auch keine zwei Kinder und keinen Hund, die sie versorgen mussten, und Annas Job als Kunstlehrerin konnte man wohl kaum als anstrengend bezeichnen. Als sie noch keine Kinder hatten und Rebecka noch nicht beim Telegrafen arbeitete, waren Anton und sie regelmäßig essen gegangen, übers Wochenende weggefahren oder hatten anderweitig Zeit miteinander verbracht, nur sie beide. So wie die Dinge jetzt lagen, mussten sie schon froh sein, wenn sie ein paar Worte miteinander wechseln konnten, sobald die Kinder im Bett waren. Vorausgesetzt, sie waren zur selben Zeit zu Hause. Rebecka sank tiefer in den Sessel und machte die Augen zu. Bald würde sie wieder genug Zeit für die Kinder und die Familie haben. Nur nicht gerade jetzt.

***

Anna und Rebecka machten einen Spaziergang um den Judarn, den See im Naturreservat Judarskogen in Bromma, was sich nach dem Regen der letzten Tage als schlammige Angelegenheit entpuppte. Sie wichen den größten Pfützen aus und versuchten, auf den trockensten Stellen zu gehen. Lollo lief fröhlich vor ihnen her, der Hündin schien der morastige Untergrund nicht das Geringste auszumachen. Obwohl sich die Sonne am Himmel zeigte, waren ihre Strahlen noch nicht warm genug. Es würde bestimmt noch mindestens einen Monat dauern, bis man im T-Shirt draußen herumlaufen konnte. Sowohl Anna als auch Rebecka trugen Jogginghosen und Kapuzenjacken. Rebecka war direkt nach dem Aufstehen in ihre Sportsachen geschlüpft, hatte die Füße in ihre quietschrosa Joggingschuhe gesteckt, ein Glas Wasser getrunken und Anna vor dem Haus getroffen. Es war ein schönes Gefühl, so früh am Morgen draußen in der Natur zu sein, bevor alle anderen aufwachten. Es war schön, die kalte Luft in den Lungen zu spüren und zu atmen. Einfach nur zu sein, im Hier und Jetzt. In einer Stunde würde sie auf dem Weg zur Arbeit sein, verschwitzt und kurzatmig, nachdem sie die Kinder mit den üblichen Quengeleien bei der Vorschule abgeliefert hatte.

„Ihr wohnt jetzt fast ein halbes Jahr in Bromma. Wie fühlt sich das an?“, wollte Anna wissen, als sie über eine kleine Holzbrücke gingen.

„Gut. Anders. Nicht so wie in unserer Kindheit“, antwortete Rebecka, während sie versuchte, eine riesige Schlammpfütze zu umgehen.

„Ja, die Zeiten haben sich geändert. Ein bisschen mehr Volvo XC90, Ferienhäuser in den nördlichen Schären und Designerlampen“, sagte Anna und kicherte.

„Und die Hälfte der Nachbarn ist schon in Bromma aufgewachsen und bringt im Herbst ihre Apfelernte aus dem heimischen Garten zur Mosterei. Ganz zu schweigen von der Kinderzahl. Mindestens drei. Da kann ich nicht ganz mithalten“, lachte Rebecka. Dann stockte sie und warf Anna einen fragenden Blick zu. Sie hatte nicht nachgedacht. „Wie ist es gestern gelaufen?“, erkundigte sie sich schnell. Sie war unsicher, wie sie das Thema ansprechen sollte: Anna und David hatten keine Kinder. Seit vier Jahren sah sie dabei zu, wie sich ihre Freundin mit Fruchtbarkeitsuntersuchungen und In-vitro-Behandlungen abplagte. Und immer häufiger fragte sie sich, wie Anna das aushielt.

„Wir sind zuversichtlich. Es fühlt sich wirklich gut an. Als ob es diesmal klappen könnte“, erzählte Anna.

„Wie schön.“ Rebecka gab sich Mühe, aufmunternd zu klingen, und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. Dasselbe Lächeln wie bei den vorigen In-vitro-Fertilisationen.

„Dieses Mal fühlt es sich wirklich anders an. Das ist mein Ernst“, redete Anna fröhlich weiter und ging schneller.

Rebecka gab keine Antwort. Anna hatte jedes Mal beteuert, wie optimistisch sie sei. Um dann einige Wochen später in Tränen aufgelöst und am Boden zerstört zu sein, wenn der Schwangerschaftstest negativ ausfiel. Rebecka wusste nie, was sie sagen sollte, wenn das passierte. Sie ließ ihren Blick über den See schweifen. Dachte an Trevor und Julia, die hoffentlich mittlerweile am Frühstückstisch saßen. Falls Anton sie nicht vor dem Fernseher geparkt hatte, damit er sich selbst in Ruhe fertigmachen konnte.

„Anton und ich haben Freitag wieder gestritten“, sagte sie, um das Gesprächsthema zu wechseln. Eigentlich hatte sie den Streit nicht erwähnen wollen, aber die Worte flogen ihr förmlich aus dem Mund.

„Über die Kinder?“

„Nein, weil ich seiner Meinung nach zu viel arbeite.“ Rebecka spielte an ihren Haaren herum, sodass sich ein paar dunkelbraune Strähnen aus ihrem Haarknoten lösten. „Er scheint mich wirklich nicht zu verstehen. Ich meine, Anton hat sich komplett seiner Arbeit widmen können, seit die Kinder auf der Welt sind. Da ist es doch nur gerecht, wenn ich das jetzt auch tue.“

„Ich dachte, ihr teilt euch die Verantwortung“, sagte Anna, als sie aus dem Waldgebiet kamen und in Richtung Wohnsiedlung gingen.

„Das tun wir eben nicht. Das meiste lastet auf mir, und ich versuche gleichzeitig, in meinem Job weiterzukommen. Jetzt habe ich zu allem Überfluss auch noch gehört, dass ein neuer Mitarbeiter in der Redaktion anfängt.“

Rebecka lief automatisch schneller. Anna hatte sichtlich Mühe, mit ihr Schritt zu halten, und keuchte angestrengt. Lollo verfiel in einen leichten Trab.

„Aber das muss doch keine Auswirkungen auf deinen Job haben?“

„Laut meiner Kollegin Elise ist dieser Typ ein absoluter Starreporter. Er soll mit uns in der Feature-Redaktion arbeiten. Jetzt muss ich mich noch mehr ins Zeug legen.“

„Aber warum denn?“ Anna sah so verständnislos aus, dass Rebecka nur mit Mühe ein Schnauben unterdrücken konnte. Sie hätte Anna nichts davon erzählen sollen. Sie konnte es nicht verstehen. Wie sollte sie auch, wenn ihr sehnlichster Wunsch war, endlich schwanger zu werden. Für Anna war die Arbeit ein notwendiges Übel, das man auf sich nahm, um seine Rechnungen bezahlen zu können, nicht, um Karriere zu machen. Auch Anton schien sie nicht zu verstehen. Für ihn zählten einzig und allein seine Arbeit und sein beruflicher Erfolg. An die Zeit, bevor sie die Stelle beim Telegrafen angenommen hatte, dachte er vermutlich mit Wehmut zurück. Für ihn war die Rollenverteilung damals perfekt gewesen. Sie hatte den Alltag der Familie gemanagt, und er hatte sein Architekturbüro zum Laufen gebracht.

„Wenn ich mich nicht anstrenge und Einsatz zeige, werde ich ausgetauscht. So läuft das in meiner Branche, und ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass Anton jetzt an der Reihe ist, mehr Verantwortung zu übernehmen. Wenn er nur verstehen würde, wie meine Lage momentan aussieht. Dass ich tatsächlich die Möglichkeit habe, bald befördert zu werden“, sagte sie und nahm Lollo an die Leine. „Und dann behaupten alle, dass wir in einer gleichberechtigten Welt leben. Schafft euch ein paar Kinder an, dann seht ihr, wie es um die Gleichberechtigung in Wahrheit bestellt ist“, redete sie sich in Rage, als sie in ihre Straße einbogen.

„Aber ganz so ist es doch wohl auch nicht“, protestierte Anna.

Rebecka biss sich auf die Lippen. Es war sinnlos, darüber zu diskutieren.

„Vergiss es. Am Ende löst sich immer alles irgendwie. Für dich und für mich“, sagte Rebecka und blieb an ihrem Gartentor stehen. „Danke für den Spaziergang. Und mach dir keine allzu großen Gedanken wegen des Babys, das wird schon werden.“

Als Rebecka durch den Vorgarten zum Haus ging, dachte sie über ihre Unterhaltung nach. Sie hatte nicht erzählt, dass die derzeitige Chefredakteurin Margareta bald in Rente gehen und Ann-Katrin mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ihre Nachfolgerin werden würde. Das bedeutete, dass die Position des Reportage-Leiters neu besetzt werden musste. Eine Position, auf der mein Name steht, dachte sie und schloss die Haustür auf.

„Hast du Nina Stemme erreicht?“, fragte Ann-Katrin und stellte sich neben Rebeckas Schreibtisch.

Rebecka blätterte in ihren Aufzeichnungen und Notizen. Sie war gerade aus der Mittagspause zurückgekommen und hatte noch hunderttausend Dinge zu erledigen, bevor sie die Kinder von der Vorschule abholen musste. Eine Diskussion darüber, warum sie Nina Stemme auf keinen Fall im Stockholmer Opernhaus interviewen wollte, passte definitiv nicht in ihren Zeitplan für diesen Nachmittag. Außerdem hatten sie schon darüber gesprochen.

„Hallo?!“, rief Ann-Katrin ungeduldig und sah aus, als wollte sie mit ihren schwarzen Wildlederpumps jeden Augenblick auf den Boden stampfen.

„Ich schaffe es zeitlich nicht, ein Interview mit Stemme zu führen. Du musst jemand anderen finden“, antwortete Rebecka nach einem kurzen Zögern. Sie blickte starr auf ihren Schreibtisch, um Ann-Katrin nicht ansehen zu müssen.

„Ich möchte, dass du das Interview machst. Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt. Wenn ich sage, dass du das Interview führen sollst, dann musst du einfach nur zum Telefon greifen und einen Termin vereinbaren.“

„Ich möchte sie auf keinen Fall in der Oper interviewen. Das habe ich dir schon gesagt. Und ich habe dir auch den Grund dafür genannt.“ Obwohl Rebecka sich Mühe gab, gefasst und unbekümmert zu klingen, zitterte ihre Stimme.

Ann-Katrin seufzte laut. „Ich glaube, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich will, dass du Nina Stemme interviewst. Das Interview soll in der Oper stattfinden, weil ich Bilder und eine atmosphärische Beschreibung des Opernhauses möchte. Am liebsten wäre es mir, wenn du in ihrer Loge mit ihr sprichst. Das verleiht dem Ganzen eine persönliche Note. Ich will, dass du sie interviewst, weil ich weiß, dass du deine Arbeit gründlich und gut machst. Das ist keine Bitte! Habe ich mich klar ausgedrückt?“, zischte Ann-Katrin so scharf, dass sich die Kollegen, die in Rebeckas unmittelbarer Nähe saßen, noch tiefer über ihre Schreibtische beugten.

Als Rebecka noch neu in der Zeitungsredaktion war, hatte man sie vor Ann-Katrin gewarnt. Sie duldete keinen Widerspruch, und es konnte passieren, dass sie aus heiterem Himmel einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin anschrie, wenn sie der Meinung war, dass die betreffende Person keine gute Arbeit leistete. Bei den morgendlichen Redaktionsbesprechungen machte sie sich nicht selten über Kollegen und Kolleginnen lustig, die sich nicht gründlich genug vorbereitet hatten. Bislang war Rebecka von Ann-Katrins Attacken verschont geblieben. Aber das Interview mit Nina Stemme wollte sie auf keinen Fall machen. Sie weigerte sich, auch nur einen Fuß in die Oper zu setzen. Die Erinnerungen waren zu schmerzhaft. Die Schuldgefühle zu stark. Sie hatte die Tür zu ihrer Vergangenheit zugeschlagen, und sie hatte nicht vor, sie wieder zu öffnen. Egal, was Ann-Katrin sagte.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„Ja, ich habe dich gehört. Klar und deutlich“, fauchte Rebecka. Gleich darauf bereute sie ihren Tonfall. „Ich habe einfach zu viel zu tun. Kann Elise nicht das Interview machen?“, fragte sie freundlicher, als sie sah, dass Elise auf sie zukam.

„Was? Was soll ich machen?“, wollte Elise wissen und blieb an Rebeckas Platz stehen.

„Nina Stemme interviewen“, sagte Rebecka und sah ihre Kollegin an. Das war die perfekte Lösung. Elise war eine ausgezeichnete Reporterin. Neu und ehrgeizig. Sie würde eine gute Reportage abliefern.

Einen Augenblick lang schien es so, als würde Ann-Katrin Rebeckas Vorschlag zustimmen. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich und sie kniff die Lippen zusammen.

„Du wirst das Interview machen“, sagte sie und fixierte Rebecka mit einem eisigen Blick, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und mit entschlossenen Schritten davonging.

Rebecka seufzte erschöpft. Wie um alles in der Welt sollte sie um dieses Interview herumkommen?

„Was für eine Giftschlange“, konstatierte Elise fröhlich.

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte Rebecka und musterte den riesigen Poststapel, den Elise in den Händen hielt. „Hat dir Fredrik auch in den Ohren gelegen, dass du das Postfach leeren sollst?“

Elise trat einen Schritt zurück. „Ja, genau“, murmelte sie, ihr Blick flatterte nervös. „Du, ich muss unbedingt noch jemanden anrufen“, sagte sie und machte sich hastig aus dem Staub.

Rebecka stand auf. Wenn sie den restlichen Tag überstehen wollte, brauchte sie jetzt eine Tasse Kaffee. Bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte, hörte sie die Stimme der Chefredakteurin, die auf dem Weg zu Rebeckas Schreibtisch war. „Hast du einen Augenblick Zeit?“

Rebecka nickte. Der Chefredakteurin konnte sie keine Bitte abschlagen, egal, wie gestresst sie war.

„Ich soll Montag den indischen Präsidenten interviewen. Er absolviert gerade einen Staatsbesuch in Schweden“, erzählte Rebecka Anton beim Abendessen. Eigentlich hatte sie mit ihrer Neuigkeit warten wollen, bis die Kinder im Bett lagen und Anton und sie allein waren, aber sie konnte sich nicht mehr länger zurückhalten.

„Das ist der Wahnsinn. Margareta hat mich heute gefragt. Manne, unser Asienreporter, ist krank, und ich soll für ihn einspringen.“

„Glückwunsch, das ist –“, setzte Anton an, wurde aber von Julias ungeduldiger Frage unterbrochen: „Wer ist das, Mama? Kennen wir den Mann, den du interviewen sollst?“

Rebecka lachte und wollte gerade antworten, als Trevor sein Milchglas umkippte. Statt wütend zu werden, stand sie auf und holte das Spültuch. Automatisch wischte sie die verschüttete Milch auf, war mit ihren Gedanken aber ganz woanders. Schon allein die Tatsache, dass Margareta bei so einem wichtigen Interview an sie dachte, zeigte, dass sie auf dem richtigen Weg war und dass ihre Vorgesetzten ihr vertrauten. Die Kinder durften sich nach dem Abendessen noch eine Kindersendung im Fernsehen angucken. Rebecka ging zum Weinregal und nahm eine Flasche Rotwein heraus. „Das müssen wir feiern!“

Als die Kinder später in ihren Betten lagen, setzten sich Rebecka und Anton wieder an den Küchentisch und öffneten eine zweite Flasche. Rebecka spürte, wie sich ihre innere Anspannung durch den Alkohol langsam löste, mit einem zufriedenen Seufzen lehnte sie sich zurück.

„Es ist lange her, dass wir das letzte Mal so zusammengesessen haben“, murmelte Anton und streichelte Rebeckas Hand mit dem Daumen.

„Viel zu lange“, erwiderte sie, zog aber ihre Hand zurück und griff nach ihrem Weinglas. Sie trank einen großen Schluck und sah Anton dabei an. Sie versuchte etwas zu fühlen, aber das Kribbeln im Bauch wollte sich nicht einstellen. Nach vierzehn Jahren ist das wahrscheinlich ganz normal, dachte sie. Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte es die große, auflodernde Leidenschaft zwischen ihnen nie gegeben. Natürlich war es Liebe, das stand außer Zweifel, aber eher eine ruhige, verlässliche Liebe ohne Überschwang, ohne Höhen und Tiefen.

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