PROLOG
Die Tarnung war gut. Aber anscheinend für Frau Wucherpfennig nicht gut genug. Zumal sie den übergroßen Kapuzenpulli, in dem Mirka sich jetzt verkroch, schon in der Schule getragen hatte, bei den Bundesjugendspielen, und prompt von ihr auf das unförmige Teil angesprochen worden war. Damals hatte Mirka die Spitzfindigkeit ihrer Schulleiterin einfach weggelächelt, denn damals war sie noch fest davon überzeugt, ihr Leben wäre nahezu perfekt und sie rundum glücklich. Meine Güte, wie man sich doch täuschen konnte.
„Frau Kramer? Hallo, Frau Kramer! Jetzt bleiben Sie gefälligst stehen! Ich habe Sie ohnehin längst erkannt“, rief Frau Wucherpfennig ihr quer über die Straße zu. „Und außerdem ist das wirklich albern … lächerlich, hören Sie, total lächerlich. So kenne ich Sie gar nicht …“
Doch Mirka dachte überhaupt nicht daran stehenzubleiben. Mit gesenktem Kopf eilte sie davon. Der Hund wie seit Tagen so nah an ihrer Seite, als wäre er an ihrem labbrigen Hosenbein festgetackert.
Keuchend erreichte sie den nächsten Hauseingang und wollte sich darin außer Sichtweite bringen, als sie im letzten Moment die kleine Stufe bemerkte. Allerdings war „im letzten Moment“ relativ, denn in dem Moment, in dem sie die Stufe sah, war sie auch schon darüber gestolpert und regelrecht in den Hauseingang gesegelt.
Keine drei Sekunden später wurde schwungvoll die verschnörkelte Holztür aufgezogen, und ein dunkelhaariger Mann in brauner Lederjacke und Jeanshose erschien im Türrahmen.
„Ach du meine Güte, ist Ihnen etwas passiert? Haben Sie sich wehgetan?“
Hektisch rappelte sich Mirka vom Boden auf und versicherte dem ihr leider nicht ganz unbekannten Mann verschämt, dass alles okay sei.
„Zum Glück.“ Er atmete erleichtert durch. „Aber bei dieser Gelegenheit kann ich Sie gleich fragen, was ich Sie neulich im Park schon fragen wollte. Ist es möglich, dass Sie mich verfolgen? An Zufall glaube ich nämlich inzwischen nicht mehr.“
„Nein, ganz bestimmt nicht, warum sollte ich auch, ich bin keine Stalkerin, und außerdem kenne ich Sie nicht einmal, und deshalb habe ich auch keinen Grund, Sie zu verfolgen, denn einen völlig Unbekannten verfolgt man nun mal nicht – also ich jedenfalls nicht“, versicherte Mirka ihm. „Und bestehlen will ich Sie ebenfalls nicht, denn ich leide auch nicht unter Kleptomanie. Da können Sie ganz beruhigt sein, das wäre mir bestimmt aufgefallen!“
Er sah sie einen Moment nachdenklich an, bevor er wissen wollte: „Reden Sie immer so wirr und ohne Punkt und Komma?“
Sie konterte: „Und? Geht Sie das etwas an?“
Statt etwas zu erwidern, ging er vor dem Hund in die Hocke, der ihn mit freudig wedelnder Rute wie einen guten Freund begrüßte.
„Hey du Kleiner, pass mal ein bisschen besser auf dein Frauchen auf. Auch wenn das bestimmt keine leichte Aufgabe ist.“ Er tätschelte ihm den Kopf, richtete sich wieder auf und marschierte ohne ein weiteres Wort davon.
1. KAPITEL
„Ich habe gute Nachrichten, Frau Kramer, die zukünftige 1a gehört Ihnen!“ Mirkas Chefin strahlte sie an, als ob sie ihr gerade das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen hätte.
Leider konnte Mirka ihre Begeisterung nicht teilen. Ganz im Gegenteil, vor Schreck verkrampfte sich ihr Magen.
„Aber ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich diesmal keine erste Klasse übernehmen möchte.“
Mit einer hektischen Bewegung wischte sich ihre Schulleiterin die Haare aus dem Gesicht zurück.
„Ich weiß, ich weiß. Und ich habe mir auch wirklich Gedanken gemacht, das können Sie mir glauben, meine Liebe. Doch wenn mir am Ende des Tages einfach die Lehrkräfte fehlen, dann bleibt mir eben keine andere Wahl.“ Damit stand sie von ihrem Schreibtisch auf und gab Mirka mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen, dass dieses Gespräch nun beendet war.
Doch so schnell wollte sie nicht aufgeben. Nein, diesmal würde Mirka kämpfen, auch wenn sie aus bitterer Erfahrung wusste, dass ihre Schulleiterin alles andere als ein einfacher Gegner war, die es schaffte wie niemand sonst, anderen das Wort im Mund umzudrehen. Und auch wenn Mirka sonst nicht auf den Mund gefallen war, im Dialog mit der resoluten Frau Wucherpfennig gingen ihr fast jedes Mal sehr schnell die guten Argumente aus.
„Was ist denn mit Tanja Bettke? Die wünscht sich doch unbedingt eine eigene Klasse.“
Ihre Chefin winkte mit einem tiefen Seufzer ab. „Hören Sie mir bloß mit der auf.“
„Aber warum denn? Soweit ich das beurteilen kann, macht sie doch einen guten Job und ist bei den Kindern total beliebt.“
„Und bekommt selbst eins!“, entgegnete Frau Wucherpfennig knapp.
„Was bekommt sie?“
„Sie ist schwanger, Frau Kramer. Die Gute bekommt ein Kind.“
„Aber … aber“, begann Mirka fassungslos zu stammeln, „sie ist doch noch so … so jung. Ich meine, sie hat doch gerade erst das Referendariat hinter sich gebracht. Wie kann sie da schon schwanger sein? Ich wusste nicht mal, dass sie überhaupt verheiratet ist.“
Mirkas sichtbare Verwirrung ausnutzend, schob Frau Wucherpfennig sie mit sanfter Gewalt aus ihrem Büro. „Tja, so ist das Leben. Bei den einen schnackelt es sofort, bei den anderen dauert es halt etwas länger, manchmal sogar ewig. Und dass man zum Kindermachen und – kriegen verheiratet sein muss, das ist doch schon längst aus der Mode gekommen, meine Liebe.“
Nachdem sie Mirka an dieser brillanten Weisheit hatte teilhaben lassen, zog sie die Tür entschlossen hinter sich zu.
Mirka stand noch einen Moment davor, dachte ernsthaft darüber nach, erneut anzuklopfen, um ihrer Chefin klipp und klar zu sagen, dass sie dennoch keine erste Klasse haben wollte.
Sie, Mirka Kramer, würde nämlich auch bald Mutter sein. Zumindest wünschte sie sich das von ganzem Herzen und fand auch, dass es mit Anfang dreißig nun allmählich auch mal Zeit wurde. Und deshalb wollte sie keine erste Klasse übernehmen, denn das bedeutete, dass sie sich für die nächsten vier Jahre verpflichtete. Für die jungen Schulanfänger war die Klassenlehrerin als beständige Bezugsperson von großer Bedeutung, wusste Mirka. Wenn sie sich mitten im Schuljahr in den Mutterschutz verabschiedete, dann war das alles andere als leicht für die Kinder. Das wollte sie ihnen unbedingt ersparen.
„Alles klar bei dir?“
Erschrocken zuckte Mirka zusammen, während ihr ein spitzer Schrei entwich, über den sich wiederum Rieke erschreckte, ebenfalls zusammenfuhr und aufschrie.
„Meine Güte, Rieke.“ Mirka presste sich die Hand aufs Herz. „Schleich dich doch nicht so an.“ Mirka hatte völlig in Gedanken versunken nicht bemerkt, dass ihre beste Freundin den Gang entlang auf sie zu gekommen war.
Rieke lachte auf. „Hallo?! Eigentlich bin ich gerade ganz normal gegangen. Nicht geschlichen, nicht gerobbt, nicht gehuscht, nicht ge…“
„Ja, ja, schon gut“, fiel Mirka ihr genervt ins Wort. „Ich hab’s kapiert.“
Rieke sah sie mit großen Augen an. So ein zickiger Tonfall passte überhaupt nicht zu Mirka. „Ups, was für ’ne Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“
„Die Wucherpfennig!“
Rieke erkannte den Zusammenhang und nickte. „Oh ja, die kann lästig sein. Um was ging es denn diesmal? Um das AG-Angebot, das ihrer Meinung nach noch nicht vielseitig genug ist? Sollst du irgendetwas Musikalisches anbieten?“
Statt zu antworten, erklärte Mirka: „Ich überlege, ob ich einfach noch mal in ihr Büro zurückgehen sollte.“
„Um was zu machen?“
Sie atmete tief durch. „Um ihr zu sagen, dass ich als Klassenlehrerin nicht zur Verfügung stehe. Das kann sie sich abschminken. Definitiv! Außerdem nervt es mich, dass sie einem ständig über den Mund fährt und man sich selbst wie eine Grundschülerin vorkommt, wenn sie mit einem fertig ist.“
Einen Moment lang sah Rieke sie nachdenklich an, bevor sie sich bei ihrer Freundin unterhakte. „Ich denke, wir beiden Hübschen gehen jetzt rüber zu Angelo und trinken ’nen Milchkaffee zusammen.“
„Aber …“
„Nichts aber. Du bist gerade so geladen, dass du der Wucherpfennig womöglich sonst was an den Kopf wirfst, was du später bitter bereust. Davor möchte ich dich bewahren“, erklärte Rieke mit einem besorgten Lächeln und zog Mirka wie eine willenlose Marionette mit sich.
Als die beiden jungen Frauen kurz darauf zusammen die kleine italienische Eisdiele „Angelo“ betraten, wurden sie von dem Inhaber, einem älteren, aber sehr lebhaften Italiener, mit ausgebreiteten Armen begrüßt.
„Oh Bella, was für eine Freude, euch endlich wiederzusehen. Aber sind denn die Ferien schon zu Ende?“
Rieke schüttelte den Kopf. „Nein, ein paar Tage haben die Kids noch. Nur wir armen, armen Lehrer müssen schon wieder ran. Schließlich muss das neue Schuljahr akribisch geplant und vorbereitet werden.“ Sie verdrehte die Augen, und Angelo begann schallend zu lachen.
„Mamma mia, das klingt nach Stress. Dann bringe ich euch am besten zwei große Milchkaffee und zwei Stückchen von meiner Torta al Limone.“
Bevor Mirka sagen konnte: „Für mich bitte keinen Kuchen!“, war er schon wieder hinter den Tresen geeilt und in seiner Küche verschwunden.
Na ja, was soll’s. Das kleine Stückchen Zitronentorte machte den Kohl auch nicht fett, dachte Mirka. Außerdem waren Zitronen ja gesund. So ließ sie sich kommentarlos an dem kleinen Zweiertisch Rieke gegenüber auf den Stuhl sinken.
„Ich finde, du solltest das nicht tun“, fing Rieke so unvermittelt zu reden an, dass Mirka kurz auf der Leitung stand.
„Ähm … den Kuchen essen?“
Lächelnd schüttelte Rieke ihren knallroten Kurzhaarschopf. „Natürlich die Sache mit der neuen Klasse. Von Angelos Torta al Limone würde ich dir nie abraten.“
Angelo trat an den Tisch und ersparte Mirka somit eine sofortige Antwort.
„Bitte schön, zweimal Milchkaffee und zweimal Torta al Limone. Lasst es euch schmecken.“
Sie bedankten sich artig bei Angelo und versicherten ihm überschwänglich, wie lecker seine Torte doch aussehen würde.
Nachdem er sich wieder entfernt hatte, aßen sie zunächst schweigend von ihrem Kuchen und nippten abwechselnd vorsichtig an ihrem heißen Milchkaffee.
Bis Rieke plötzlich ihre Kuchengabel klirrend auf den Teller zurückfallen ließ. „Manchmal könnte ich dich schütteln, Mirka.“ In ihrer Stimme schwang jede Menge Vorwurf mit. „Nur weil du hoffst, dass Ruben jetzt endlich mal aus dem Quark kommt, willst du keine erste Klasse übernehmen? Sorry, dass ich dir das so in aller Deutlichkeit sagen muss, aber das ist doch echt total bescheuert. Du kannst doch nicht ganz und gar auf Ruben bauen und davon jede andere Entscheidung abhängig machen. Denk bitte daran, wie oft er dich in den letzten Jahren schon enttäuscht hat.“
Mirka holte tief Luft. Was war denn heute bloß los? Warum meinte eigentlich jeder zu wissen, was für sie das Beste war? Und Riekes ewiges Herumgehacke auf Ruben, das musste endlich mal ein Ende haben. Auch wenn sie ihre beste Freundin war, hatte sie nicht automatisch die Berechtigung, sich ständig in Mirkas Leben einzumischen. Außerdem war es ja nicht nur ihr eigener Kinderwunsch, weshalb sie momentan keine langfristige Verpflichtung als Grundschullehrerin mehr eingehen wollte. Da war noch etwas anderes, das schon lange in ihr rumorte. Doch so, wie Rieke sie nun wieder anstarrte, hatte sie absolut keine Lust, ihr davon zu erzählen.
„Auch wenn du mich deshalb für naiv hältst“, sagte sie zu ihrer Freundin und bemühte sich um eine entschlossene Haltung. „Aber ja, ich gehe tatsächlich fest davon aus, dass Ruben mich nach London eingeladen hat, um mich endlich zu fragen, ob ich ihn heiraten und eine Familie mit ihm gründen möchte.“
Rieke verdrehte die Augen. „Ich hoffe für dich, dass du dich da nicht mal wieder täuschst. Schließlich hat er schon oft Andeutungen in diese Richtung gemacht und am Ende dann aus irgendwelchen Gründen den Mund nicht aufbekommen.“
Ihre Stimme klang ernsthaft besorgt, und die goldenen Armbänder an ihrem rechten Handgelenk klimperten, als sie sich jetzt nach vorn lehnte und Mirkas Hand umfasste.
Wie Rieke sie musterte, so fürsorglich, nein, das war eindeutig Mitleid in ihrem Blick. Mirka Kramer, wann kapierst du es endlich, dass dieser Ruben dich nur ausnutzt? Dass er dich niemals heiraten wird und dass es völlig idiotisch ist, deine Lebensplanung von ihm abhängig zu machen. Der will dich mit diesem London-Trip doch nur bei der Stange halten.
All das las Mirka in Riekes Blick und verteidigte sich reflexartig: „Ruben hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er mich nach London eingeladen hat, weil er etwas sehr Wichtiges mit mir besprechen möchte.“
„Und hat er auch nur mit einem Wort erwähnt, dass er dir einen Antrag machen möchte? Ich meine, warum gehst du davon aus?“ Rieke stockte. Man sah ihr regelrecht an, dass ihr die Worte nicht leichtfielen, dass sie ihre Freundin nicht verletzen wollte. Doch schließlich atmete sie tief durch und fuhr fort. „Bitte versteh mich nicht falsch, Mirka, ich wünsche es dir von Herzen. Aber nur weil ich weiß, dass du es dir wünschst. Wenn du allerdings meine ehrliche Meinung dazu hören möchtest, dann kann ich mich nur wiederholen: Du hast einen besseren Mann als Ruben verdient. Einen viel, viel, viel besseren!“
Mirka schluckte schwer. Es reichte. Eindeutig. Rieke behandelte sie wie ein Kind an Weihnachten, das so sehr auf ein bestimmtes Geschenk gehofft hatte und dann am Ende mal wieder enttäuscht worden war. Und das ärgerte Mirka. Aber noch mehr machte sie dieses Du-hast-einen-Besseren-verdient-Gerede fuchsig.
Und Rieke war mit ihrer düsteren Prophezeiung noch längst nicht fertig. „Und selbst wenn er dir tatsächlich einen Antrag macht, was dann? Meinst du, du musst sofort aufhören zu arbeiten, weil ihr Kinder bekommt und in eine schicke Doppelhaushälfte in eine verkehrsberuhigte Vorstadtsiedlung umzieht? Tickt Ruben so? Sind das seine Pläne? So wie ich ihn kenne, habe ich leider berechtigte Zweifel.“ Rieke verzog das Gesicht. Ihre Abneigung gegen Ruben war ihr selten so deutlich anzusehen wie in diesem Moment.
Einen kurzen Augenblick lang geriet Mirka in die Versuchung, ihrer Freundin von ihren tatsächlichen Plänen zu erzählen, von der Sache, die nun schon so lange in ihr brodelte. Doch dann entschied sie sich, das Ganze aufzuschieben.
Sie blickte Rieke fest in die Augen. „Ob du es glaubst oder nicht, so ist es geplant.“ Und weil ihr gleich darauf bewusst wurde, dass sie sich mit dieser Behauptung etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, schob sie zögerlich hinterher: „Zumindest haben Ruben und ich schon häufiger darüber gesprochen, dass es schön wäre, eine Familie zu gründen und dann raus aus der Stadt aufs Land oder in irgendeinen Vorort zu ziehen, der nicht allzu weit draußen liegt.“
Schon wieder dieser mitleidige Blick. Langsam, aber sicher wurde Mirka die Sache zu doof. Warum saß sie hier wie eine Idiotin und versuchte verbissen, sich vor Rieke zu rechtfertigen? Was machte sie eigentlich hier?
Zitronentorte essen, die kein bisschen in ihren momentanen Ernährungsplan passte, und sich dabei von Rieke bemitleiden lassen.
Entschlossen drückte Mirka die Schultern durch. „Du wirst schon sehen, wenn ich aus London wiederkomme, dann trage ich einen Verlobungsring.“
Rieke machte den Mund auf, um etwas zu erwidern. Mirka ahnte, was, und kam ihr zuvor. „Nein, lass es jetzt gut sein. Wenn dir unsere Freundschaft wichtig ist, dann belässt du es jetzt dabei und freust dich für mich.“
„Worüber?“, murmelte Rieke.
„Darüber, dass ich mich auf London freue.“
Einen Moment lang musterte Rieke sie unentschlossen. Mirka konnte ihr ansehen, wie sich hinter ihrer Stirn ein Kampf abspielte. Doch schließlich deutete sie ein Nicken an und erklärte mit belegter Stimme: „Ich wünsche dir wirklich nur das Allerbeste, Mirka. Ich hoffe, das weißt du? Und auch, dass ich mir einfach nur Sorgen mache.“
„Ja, das weiß ich“, entgegnete Mirka und schaffte es sogar, ihre Freundin dankbar anzulächeln. „Aber das brauchst du nicht. Glaub mir, deine Sorgen sind völlig unbegründet. Alles wird gut.“ Zumindest hoffe ich das, fügte sie in Gedanken hinzu.
Bis zu ihrer Reise nach London bekam Mirka Ruben kaum zu Gesicht. Ein wichtiger Termin folgte dem nächsten. Wenn er dann spätabends aus der Kanzlei kam, war er zu ausgebrannt und erschöpft, um sich noch großartig mit Mirka zu unterhalten. Und er sah wirklich abgespannt und erschöpft aus, also gönnte sie ihm seine Ruhe. Sie wollte ihn nicht auch noch mit den Dämonen belasten, die Rieke mal wieder herbeigeredet hatte und die seitdem in Mirkas Kopf herumschwirrten, wenn sie nachts keinen Schlaf fand. Schönen Dank auch, beste Freundin, hätte sie dann am liebsten in die Dunkelheit gerufen.
Nur ein einziges Mal versuchte Mirka Ruben aus der Reserve zu locken, als er beiläufig von einem Kollegen sprach, der Sonderurlaub beantragt und bekommen hatte. Bei seiner hochschwangeren Frau war es unerwartet zu Komplikationen gekommen, und nun war Ruben derjenige, der kurzerhand auch noch seine Fälle übernehmen musste. Als er sich darüber bei Mirka beschwerte, platzte es regelrecht aus ihr heraus. „Wer weiß, vielleicht wird er sich dafür mal bei dir revanchieren können, wenn du demnächst in eine ähnliche Situation gerätst.“
Ruben fiel beinahe die Kaffeetasse aus der Hand, die er sich gerade aus dem Hängeschrank genommen hatte, dann entglitten ihm sämtliche Gesichtszüge. „Wie … wie meinst du das?“, keuchte er.
„Nun werd mal nicht gleich panisch.“ Mirka lachte unsicher auf. „Noch ist es ja nicht so weit. Ich meinte ja nur, falls …“
„Dann hast du gerade von dir gesprochen?“, fiel er ihr ins Wort.
„Ja, natürlich. Von wem denn sonst?“
Ruben fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes blondes Haar, bevor er einen Schritt auf sie zumachte und sie ohne ein weiteres Wort in seine Arme zog.
„Niemandem, Süße“, raunte er ihr ins Ohr. „Vergiss es einfach. Ich bin überarbeitet. Stehe zurzeit irgendwie total neben mir. Sehe Gespenster …“
Sein Mund fand ihren und erstickte damit jede weitere Frage.
2. KAPITEL
Mirka litt unter schrecklicher Flugangst. Doch als sie neben Ruben auf ihren Sitz sank, den Sicherheitsgurt anlegte und prompt spürte, wie die erste Panikwelle sie zu überkommen drohte, da beschloss sie, es diesmal nicht zuzulassen.
Sie wollte die vier Tage mit Ruben genießen. Und zwar vom ersten Augenblick an. Das verlängerte Wochenende in London sollte auf ewige Zeiten in ihrer Erinnerung als einfach nur fantastisch abgespeichert werden. Da war absolut kein Platz für Herzrasen, Luftnot und das Gefühl, auf der Stelle weglaufen zu müssen.
„Alles klar bei dir, Schatz?“, fragte Ruben und lächelte ihr aufmunternd zu.
Sie nickte entschlossen. „Ja, alles ist ganz wunderbar.“
Ruben nahm ihre Hand und küsste sanft ihre Finger. Eine so zärtliche Geste, dass Mirka augenblicklich ein warmer Schauer über den Rücken lief.
Seitdem er ihr neulich von der Sache mit der schwangeren Frau seines Arbeitskollegen erzählt hatte, war er wie ausgewechselt. Aufmerksam, zuvorkommend und so zärtlich wie seit Ewigkeiten nicht mehr – Mirka konnte ihr Glück kaum fassen.
Umso mehr ärgerte sie sich über Rieke, die standhaft an ihrer schlechten Meinung über Ruben festhielt. Aber egal, Rieke würde schon sehen, dass Ruben am Ende doch nicht der rücksichtslose Kerl war, für den sie ihn hielt. Und außerdem war das jetzt auch völlig egal. Was zählte, war die wunderschöne Zeit, die sie mit Ruben in London verbringen würde. Und natürlich der Antrag, den er ihr machen wollte. Rieke konnte sich den Mund fusselig reden, für Mirka bestand daran nicht der geringste Zweifel.
„Für morgen Abend habe ich einen Tisch in einem wunderbaren Restaurant reserviert. Du wirst es lieben“, versprach Ruben ihr.
Mirka seufzte glücklich. „Das klingt traumhaft.“
Ruben beugt sich zu ihr rüber und küsste ihre Nasenspitze. „Für meinen Schatz nur das Beste.“
Als die Maschine auf die Startbahn rollte und langsam an Geschwindigkeit zunahm, verkrampfte sich Mirkas Magen. Sie wurde in den Sitz zurückgedrückt, und ihr Herz fing nun doch zu rasen an. Dies war der Moment, vor dem sie sich immer am meisten fürchtete. Jeden Augenblick würde die Maschine abheben, und dann gab es kein Zurück mehr, sie war hier drinnen gefangen. Eingepfercht! Ausgeliefert! Kein Entkommen mehr möglich!
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, befahl sie sich im Stillen. Ganz ruhig bleiben. Alles ist gut. Ruben sitzt neben dir und ist dir so nah wie seit einer Ewigkeit nicht mehr, und das, meine Liebe, wirst du jetzt bestimmt nicht mit einem hysterischen Anfall kaputtmachen.
Als sie ihre Flughöhe erreicht hatten, schnallte Ruben sich ab. „Ich verschwinde mal kurz auf die Toilette. Ist das okay? Ich meine, kann ich dich alleine lassen?“
Mirka lachte leise auf. „Natürlich. Ich hab dir doch gesagt, ich bin total entspannt. Alles ist gut. Du musst dir keine Sorgen machen. Jedenfalls nicht meinetwegen.“
Rubens Augenbrauen wanderten skeptisch in die Höhe. „Keine Flugangst?“
Mirka schüttelte den Kopf, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach, ihr Pulsschlag hatte noch immer eine viel zu hohe Frequenz.
Ruben blieb nicht lange weg. Doch irgendwie kam er Mirka verändert vor, als er zurückkam. Sein Gesicht war blass, die Züge regelrecht verkniffen. Der Mund nur noch zwei schmale Striche.
„Ist etwas passiert?“, fragte sie ihn.
„Unsinn!“, winkte er ab. „Was soll mir denn auf der Toilette schon passiert sein?“
Nichts, schoss es Mirka durch den Kopf, und dennoch wirkte er komisch. Von der entspannten Lockerheit, die er kurz zuvor noch ausgestrahlt hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben.
Der Flug verlief ohne jegliche Turbulenzen. Außer vielleicht, dass Ruben noch zwei weitere Male auf die Toilette verschwand und einen zunehmend geknickten Eindruck auf Mirka machte, wenn er sich anschließend wieder neben sie auf seinen Platz sinken ließ.
Sie erklärte es sich letztendlich mit gemeinen Verdauungsproblemen, unter denen Ruben anscheinend litt.
Die Landung gelang ebenso mühelos wie die Fahrt mit dem Stansted Express. Doch als Mirka und Ruben am Londoner Bahnhof Liverpool Street aus dem Zug stiegen, wurden sie von dem hektischen Treiben und den dichten Menschenmassen fast erschlagen.
Eigentlich hatten sie geplant, wie vor sechs Jahren, als sie das letzte Mal zusammen in London gewesen waren, wieder die Tube zu nehmen. Zumal es bis zu ihrem Hotel nur vier Stationen waren, hatte Ruben gemeint.
Doch Ruben hielt es dann doch für besser, in eine der typischen schwarzen Taxen zu steigen, die vor dem Bahnhof standen und auf Fahrgäste warteten.
Erschöpft, aber glücklich ließ sich Mirka in das weiche Leder der Rückbank sinken. Ruben folgte ihrem Beispiel.
„61 Russell Square, please“, sagte er zu dem Fahrer. Der nickte, startete den Motor und fuhr los.
Die Fahrt durch London nahm Mirka nur im Halbschlaf wahr. Nachdem die Anspannung des Fluges nun gänzlich von ihr abgefallen war, wurde sie von einer erschöpften Müdigkeit überwältigt.
Als der Taxifahrer plötzlich in eine Einfahrt steuerte und vor der imposanten Eingangstür eines Hotels hielt, war sie völlig perplex. „Sind wir etwa schon da?“ Sie musste tatsächlich eingeschlafen sein.
Ruben nickte, während er den Taxifahrer bezahlte. Sie stiegen aus dem Wagen und nahmen vom Fahrer ihre Koffer in Empfang.
„Das ist ja dasselbe Hotel, in dem wir das letzte Mal gewohnt haben“, stellte Mirka fest und strahlte Ruben glücklich an. Sie hatte sich damals im Imperial sehr wohl gefühlt und zu Ruben gesagt, dass sie, wann auch immer sie mal wieder in London sein würde, unbedingt wieder hier wohnen wollte. Dass Ruben sich daran erinnerte, rührte Mirka sehr.
Von wegen unsensibler Egoist, Rieke!, schoss es ihr trotzig durch den Kopf.
Vor der Rezeption stand eine ältere Dame, die sich in gebrochenem Englisch und wild gestikulierend mit dem jungen Mann hinter dem Empfangstresen unterhielt.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Ruben und Mirka endlich einchecken konnten und schließlich Seite an Seite den Fahrstuhl betraten.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, zog Ruben sie mit einem Ruck in seine Arme und küsste sie leidenschaftlich. Er schob seine Hände unter ihren dünnen Pullover, umfasste ihre Brüste und begann sie leicht zu massieren.
Mirka war so überrascht von Rubens leidenschaftlicher Aktion, dass sie zunächst einfach nur alles über sich ergehen ließ. Stocksteif stand sie da, mit dem Rücken an die Wand gepresst.
Doch das Streicheln seiner Zunge, die Geschmeidigkeit seiner Lippen, selbst der Druck seiner Hände, die sich nun langsam auf ihre Hüfte senkten und sie noch enger an ihn zogen, verwandelten den Kuss in etwas unbeschreiblich Sinnliches und schienen Flammen der Begierde in ihrem Unterleib aufzüngeln zu lassen.
„Ruben“, versuchte sie ihn halbherzig in der Realität zu halten. Schließlich befanden sie sich noch immer in einem Fahrstuhl. Doch er erstickte ihren Einwand damit, dass er seinen Unterleib noch fordernder gegen ihren drückte, sodass sie schließlich ihre Hände in seinem blonden Haar vergrub.
Triumphierend lachte er auf, als ihr ein sehnsüchtiges Seufzen entwich, dann hakte er ihren BH auf, ließ seine Hände unter ihren dünnen Pullover gleiten und streichelte ihre Brüste. Ein weiteres Seufzen entfuhr ihr, als seine Finger an den Spitzen zupften. Ruben flüsterte voller Begierde ihren Namen, bevor er ihren Pullover ganz hochschob, sich leicht hinunterbeugte und seine Lippen um Mirkas linke Brustwarze schloss.
„Oh mein Gott“, keuchte Mirka. Da erklang ein helles Pling. Der Aufzug war im fünften Stock angekommen, hielt an, und die Türen öffneten sich.
„Ruben, Schatz …“ Mit sanfter Gewalt versuchte sie sich von ihm zu lösen. „Wir … wir sind da. Der Fahrstuhl … die Tür …“
Rubens Augen loderten vor Lust. „Lass es uns hier machen“, raunte er ihr ins Ohr und versuchte erneut unter ihren Pullover zu kommen.
Irritiert lachte Mirka auf. „Unsinn. Spinnst du? Wenn uns jemand sieht?!“
„Das ist mir egal“, entgegnete er wie ein trotziges Kind.
In diesem Moment bog ein älteres Ehepaar um die Ecke und steuerte direkt auf den Fahrstuhl zu, in dem Ruben gerade versuchte, Mirkas Hose zu öffnen.
„Oh, sorry“, sagte die Frau und schenkte ihnen ein verschämtes Lächeln.
Mirka stieß Ruben von sich, schnappte sich ihren Koffer und eilte aus dem Fahrstuhl. Lachend folgte Ruben ihr.
„Du bist völlig verrückt geworden“, kicherte Mirka, als sie ihr Zimmer am Ende des Ganges erreicht hatten.
„Verrückt nach dir“, erklärte Ruben und schob sie in den Raum.
Mirka nahm nur flüchtig den gigantischen Ausblick wahr, den sie von hier oben über die Dächer Londons hatten. Sie erkannte sogar The Gherkin, dessen Glasfassade in der Sonne funkelte. Doch schon zog Ruben sie erneut in seine Arme und riss ihre Aufmerksamkeit an sich.
Er sah sie an, seine hellen Augen bohrten sich in ihre, und flüsterte mit rauer Stimme: „Du willst es doch auch, nicht wahr, Babe?“
Babe? Ruben hatte noch niemals Babe zu ihr gesagt.
Nicht nur deshalb versteifte sie sich. „Ich weiß nicht, Ruben. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich total erschlagen von der Reise bin, und am liebsten würde ich jetzt erst mal unter die Dusche …“
„Gleich, Babe, gleich gehen wir zusammen unter die Dusche“, versprach er ihr.
Babe?
Sacht zog er mit dem Finger eine Linie von Mirkas Kinn über den Hals hinunter bis zum V-Ausschnitt ihres Pullovers. Mirka konnte sich nicht dagegen wehren, trotz des ungewohnten Kosenamens und des komischen Gefühls, das dieses Wort in ihr verursachte. Seine Berührung sorgte für eine elektrische Spannung, die sich auf ihrer Haut ausbreitete, durch ihre Venen peitschte, ihren ganzen Körper zum Pulsieren brachte, sodass ihr ein lustvolles Stöhnen entwich.
„Sag, dass du es auch willst!“, befahl er ihr leise.
„Ja“, erwiderte Mirka ebenso leise. „Ich will es!“
Ruben lachte rau auf. Küsste dann ihre Haare und raunte ihr ins Ohr: „Es wird unvergesslich, Babe, das verspreche ich dir.“
***
Als sich ihre Körper nach einer wilden Ewigkeit atemlos voneinander trennten, war Mirka so befriedigt wie seit Langem nicht mehr und ebenso verwirrt. Ruben hatte sie geliebt, als ob es das Letzte wäre, was er in diesem Leben tat.
Er hatte sie nach allen Regeln der Kunst verführt und dabei eine Ausdauer und Leidenschaft an den Tag gelegt, die Mirka in all den Jahren nicht an ihm entdeckt hatte. Oder einfach nicht in der Lage gewesen war, in ihm zu entfachen?
Natürlich hatten sie Sex gehabt. Zu Beginn ihrer Beziehung auch bestimmt überdurchschnittlich viel und garantiert nicht den schlechtesten. Doch in den letzten Jahren war es deutlich weniger geworden. Manchmal hatten sie bis auf einen flüchtigen Kuss wochenlang keine Zärtlichkeiten miteinander ausgetauscht.
Doch seit einiger Zeit hatte sich daran etwas geändert, sie hatten wieder regelmäßiger miteinander geschlafen, was eindeutig von Ruben ausgegangen war. Doch was sich gerade eben zwischen ihnen abgespielt hatte, das war neu für Mirka. Diesen Ruben kannte sie noch nicht.
„Mirka.“ Rubens Hand legte sich schwer auf ihre linke Brust und begann sie erneut zu kneten. „Ich muss dir was sagen.“
Oh nein, schoss es Mirka durch den Kopf. Jetzt kommt bestimmt der Heiratsantrag. Aber so habe ich mir das wirklich nicht vorgestellt. Ich bin total verschwitzt und erschöpft, meine Haare sind das reinste Chaos, und außerdem habe ich mir doch extra diese sündhaft teure Bluse gekauft …
„Ich kann dich echt gut leiden“, hörte sie Ruben sagen. „Sogar verdammt gut. Das darfst du nie vergessen, ja?!“
„Ähm … okay“, entgegnete Mirka leicht verunsichert.
„Gut“, murmelte Ruben. „Dann ist ja wirklich alles gut.“ Im nächsten Moment begann er zu schnarchen, und Mirka begriff, dass er eingeschlafen war.
Doch auch wenn sie sich ebenso erschlagen fühlte, sie bekam kein Auge zu. Mirka lag da, hörte Rubens regelmäßiges Schnarchen, starrte an die weißgetünchte Decke und versuchte dabei irgendwie in sich hineinzuhorchen. Was hatte diese Leidenschaft, die Ruben plötzlich an den Tag gelegt hatte, mit ihr gemacht? War sie glücklich? Oder am Ende beunruhigt, weil sich eben genau dieses Gefühl nicht einstellen wollte?
Es war verrückt, absolut, aber obwohl sie eigentlich auf Wolke sieben schweben sollte, weil das gerade der bestimmt beste Sex gewesen war, den Ruben und sie je miteinander gehabt hatten, schwirrten ihr Riekes Dämonen durch den Kopf.
3. KAPITEL
Hand in Hand liefen sie die Themse entlang. Die Sonne schien mit ganzer Kraft vom Himmel, und London zeigte sich von seiner allerbesten Seite. Überall wimmelte es von Menschen, die meisten davon waren Touristen, aber es kamen ihnen auch immer wieder Jogger entgegen. Alles war in Bewegung. London war genauso schillernd, bunt und aufregend, wie Mirka es in Erinnerung hatte und weshalb sie es so sehr liebte.
Geliebt hatten sie sich heute Morgen auch schon wieder. Ruben war zu ihr unter die Dusche gekommen, hatte von hinten seine Arme um sie geschlungen und sie im Stehen genommen.
Danach hatte er ihr nasses Haar geküsst und ihr ins Ohr geraunt: „Ich hatte völlig vergessen, wie heiß du bist.“
Als sie jetzt die London Bridge von Norden in Richtung Southwark überquerten, musste Mirka wieder an seine Worte denken.
Er hatte vergessen, wie heiß sie war? Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er sie je so gesehen hatte. Warum hatte er ihr das nie gesagt? Doch die größte aller Fragen, die Mirka beschäftigte, war, warum war es ihm jetzt mit einem Mal wieder aufgefallen?
Was hatte sich zwischen ihnen verändert, dass Ruben so anders war?
Dieses plötzliche Begehren war toll. Es fühlte sich unglaublich gut an. Ohne Zweifel. Aber wo kam es auf einmal her?
Heute Morgen unter der Dusche war er wieder so leidenschaftlich gewesen, hatte sie so fordernd und erregend berührt und sich gleichzeitig beinahe wie ein Ertrinkender unter Wasser an sie geklammert, war mit ihr verschmolzen. Als er schließlich mit einem langgezogenen Aufschrei zum Höhepunkt gekommen war, da hatte es sich für einen Moment in Mirkas Ohren wie ein Schluchzen angehört. Ein verzweifeltes Schluchzen.
Nein, so kannte sie Ruben nicht. Absolut nicht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Das wurde ihr immer deutlicher bewusst.
Es war schon fast sieben Uhr abends, als sie ihren aufregenden Tag durch London beendeten und vom Hyde Park aus in Richtung Hotel schlenderten.
„Der Tisch im Restaurant ist für acht Uhr reserviert“, erklärte Ruben und lächelte Mirka zärtlich an. „Schaffst du das? Ich meine, mit umziehen und ein bisschen frisch machen?“
Mirka lag es schon auf der Zunge zu sagen: „Wenn du nicht im Hotelzimmer gleich wieder über mich herfällst, bestimmt!“ Aber sie verkniff sich den Kommentar dann doch lieber, um Ruben erst gar nicht auf den Gedanken zu bringen.
Sie wollte sich ganz in Ruhe fertig machen. Sich richtig schön schminken und ihre schicke neue Bluse anziehen. Für den Abend der Abende wollte Mirka einfach perfekt aussehen.
Sie fuhren schließlich mit dem Taxi zum Restaurant, das sich direkt am St. James’s Park befand.
Ruben hielt ihr die Tür auf, und nachdem der Oberkellner sie zu ihrem Tisch geführt hatte, rückte er ihr auch noch den Stuhl zurecht.
Mirka kam aus dem Staunen kaum noch heraus.
„Du siehst wunderschön aus, Schatz. Ist die Bluse neu?“
Mirka lächelte geschmeichelt. „Danke, und ja, ich habe sie letzte Woche erst gekauft.“
Anerkennend nickte Ruben. „Ein guter Kauf. Das Veilchenblau der Bluse lässt deine wunderschönen Augen noch stärker strahlen.“
Ups! Was für ein Kompliment, und das, wo Ruben doch in dieser Hinsicht eher auf den Mund gefallen schien.
Komplimente hatte er ihr höchstens mal für ein besonders leckeres Essen gemacht, aber für ihr Aussehen … nein, daran konnte Mirka sich wahrhaftig nicht erinnern.
„Überhaupt bist du eine richtig tolle Frau“, sagte er nun und kam ihr plötzlich ein wenig wehmütig vor. „Der Kerl, der dich mal bekommt, ist echt zu beneiden.“
Verunsichert lachte Mirka auf. „Na ja, bisher bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass du der Kerl bist.“
Ruben sah sie nur irgendwie traurig an, sagte aber nichts. Dennoch spürte Mirka ganz genau, dass irgendetwas zwischen ihnen stand. Ruben wollte ihr etwas mitteilen, und es fiel ihm alles andere als leicht.
Natürlich, du Dummkopf! Mirka konnte in Gedanken nur den Kopf über sich selbst schütteln. Er plant, um deine Hand anzuhalten, ist sich aber nicht sicher, ob du Ja sagen wirst. Schließlich hatte er eine halbe Ewigkeit dafür gebraucht, und vielleicht ging er ja jetzt davon aus, dass sie inzwischen nicht mehr wollte.
Dass Ruben sich die letzte Zeit fast schon liebestoll aufgeführt hatte, lag daran, dass er sie für sich gewinnen wollte. Ihr langjähriger Lebensgefährte tat zwar immer supercool und meinte, die Welt läge ihm zu Füßen, aber tief in ihm, da sah es in Wirklichkeit ganz anders aus. Da war er unsicher, ob Mirka ihn auch tatsächlich zum Mann nehmen wollte. Deshalb hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um quasi noch einmal um sie zu werben. Genauso musste es sein.
Meine Güte, dabei wäre das überhaupt nicht nötig gewesen. Mirka hätte ihn auch ohne seine neuerlichen Sexgottqualitäten geheiratet.
Eine junge Kellnerin in weißer Bluse und schlichtem schwarzem Rock trat an den Tisch und lächelte sie erwartungsvoll an.
„Haben Sie schon gewählt?“
Ruben nickte. Zunächst bestellte er einen Aperitif für Mirka und sich. Danach entschied er sich für das Roastbeef mit bunter Pfefferkruste und Gemüseplatte. Mirka hatte Lust, den traditionellen englischen Auflauf mit Fisch und Garnelen zu probieren.
Als das Essen kam, hing Mirka der Magen schon fast in den Kniekehlen. Den ganzen Tag hatte sie kaum Hunger verspürt. Sie war viel zu aufgeregt gewesen, um an irgendetwas anderes als den heutigen Abend zu denken. Doch jetzt war sie schon ganz zittrig.
Hastig probierte sie von dem Fisch und verbrannte sich prompt die Zunge. Na toll, das musste ja passieren. Sie versuchte, das viel zu heiße Essen aus dem Mund zu bekommen, in dem sie es, ohne zu kauen, hinunterschluckte. Keine gute Idee, stellte Mirka fest, als sie das Kratzen einer Gräte im Hals spürte. Jetzt machte sie sich auch noch lächerlich, indem sie hier herumhustete.
Ruben reagierte sofort. Er sprang von seinem Stuhl auf, klopfte Mirka ein paar Mal hintereinander kräftig auf den Rücken, bis sie ihn abwehrte und ihm hektische Zeichen gab, damit er sich endlich wieder hinsetzte.
„Meine Güte“, keuchte Ruben neben ihr. „Hast du mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.“
Mirka konnte noch nicht wieder antworten. Sie saß einfach nur regungslos da, während sich ihre Atmung langsam wieder beruhigte.
„Trink mal einen Schluck Wasser“, forderte Ruben sie auf und reichte ihr über den Tisch hinweg das Wasserglas.
Jetzt erst bemerkte Mirka die neugierigen Blicke der anderen Gäste und kam sich plötzlich total lächerlich vor. Das war mal wieder typisch für sie. Drohte in einem piekfeinen Restaurant an einer banalen Fischgräte zu ersticken.
Der Oberkellner kam angerauscht und erkundigte sich bei Mirka, ob alles in Ordnung sei. Mit hochrotem Kopf versicherte sie ihm, dass es ihr gut ginge, und war heilfroh, als er sich damit zufriedengab und wieder abzog.
„Können wir jetzt bitte einfach weiteressen?!“, flehte sie Ruben an.
Ruben nickte zögerlich. „Wenn du sagst, dass wirklich wieder alles okay ist?“
„Ist es!“, beeilte Mirka sich ihm zu versichern und begann demonstrativ mit der Gabel in ihrem Auflauf herumzustochern.
Doch der Appetit war ihr etwas vergangen. Der Grätenschreck hatte Mirka aufmerksam werden lassen. Jetzt betrachtete sie jeden Bissen erst ausführlich von allen Seiten, bevor sie ihn misstrauisch in den Mund steckte und darauf herumkaute.
Ihre Auflaufform war noch fast dreiviertel voll, da legte sie Messer und Gabel zur Seite.
„Bist du schon satt?“, erkundigte Ruben sich.
Mirka nickte. „Ich hatte eh keinen richtigen Hunger“, log sie.
„Magst du vielleicht eine Nachspeise? Natürlich garantiert grätenfrei.“ Ruben grinste sie aufmunternd an.
Aber Mirka war nicht nach seinen Scherzen zumute. Sie wollte jetzt einfach nur endlich diesen Antrag von Ruben bekommen und dann mit ihm zurück ins Hotel gehen. Diese Anspannung war schrecklich.
Doch Ruben aß erst in aller Ruhe sein Roastbeef auf, bestellte dann noch eine Nachspeise und schließlich ein Glas Bier vom Fass.
„Und du möchtest wirklich nichts trinken?“
„Nein.“ Mirka schüttelte den Kopf. „Ich habe noch Wasser. Das reicht mir.“
Natürlich war Wasser nicht gerade das Getränk, mit dem man auf eine baldige Eheschließung anstoßen sollte. Aber Ruben trank schließlich auch Bier, und das war bestimmt nicht großartig feierlicher.
Als Ruben schließlich mit gesenkter Stimme erklärte: „Ich muss dir etwas sagen, Mirka“, war das Erste, was ihr durch den Kopf schoss: Ähm … wohl eher fragen!
Aber egal, bestimmt war Ruben ebenso aufgeregt wie sie und deshalb nicht ganz Herr seiner Worte.
„Also, es ist so …“
Ja, ich will! hätte Mirka am liebsten lauthals ausgerufen. Diese Anspannung war kaum noch auszuhalten. Sie hatte das Gefühl, wenn sie noch eine Sekunde länger warten musste, würde sie glatt auf ihrem Stuhl explodieren. Zumal Ruben einfach nicht mit der Sprache herauswollte. Nachdem er einmal angefangen hatte, schwieg er nun wieder beharrlich und zeichnete stattdessen mit dem Zeigefinger imaginäre Kreise auf die schneeweiße Tischdecke.
Okay, dann muss ich wohl den ersten Schritt machen, schoss es ihr durch den Kopf. Andersherum wäre es natürlich romantischer gewesen. Aber Ruben bekam sie ja allem Anschein nach einfach nicht über die Lippen, die Frage aller Fragen.
Noch einmal atmete sie tief durch, dann sagte sie mit sanfter Stimme: „Ja, Ruben, ich will deine Frau werden. Unbedingt!“
Ruben entglitten die Gesichtszüge. „Mirka … ähm, ich glaube, das ist jetzt irgendwie ein Missverständnis“, druckste er betroffen herum. „Ich wollte dir keinen Heiratsantrag machen. Ich wollte dir etwas sagen, ich meine, gestehen.“
Mirkas Herz verkrampfte sich. „Oh, kein Antrag …?“
Ruben schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“
„Ach so“, sagte Mirka leise.
Ruben schnipste nun einen imaginären Fussel vom Tisch. „Unangenehme Situation“, murmelte er dabei.
„Ja“, hauchte Mirka und wünschte sich nichts sehnlicher als ein zehn Meter tiefes Loch, in das sie auf der Stelle versinken könnte.
„Es tut mir leid“, erklärte Ruben noch einmal.
Mirka nickte. „Ja, mir auch …“
Aber was genau tat Ruben eigentlich leid? Dass er sie gerade in die bestimmt peinlichste Situation ihres Lebens gebracht hatte? Oder dass er noch immer nicht vorhatte, ihr einen Antrag zu machen? Womöglich sogar niemals?
„Ruben“, Mirka spürte, wie ihre Wangen glühten, aber sie musste diese Frage jetzt einfach stellen. Sie wollte das jetzt ein für alle Mal mit ihm klären. „Warum willst du mich nicht heiraten?“
Ruben sah sie gequält an.
„Von wollen kann keine Rede sein“, erklärte er unglücklich. Er beugte sich etwas vor, nahm ihre Hand und drückte sie sanft. „Ich kann dich nicht heiraten.“
Mirka zuckte innerlich zusammen und entzog ihm mit einem Ruck ihre Hand.
Oh mein Gott, ist er etwa krank? schoss es ihr im nächsten Moment besorgt durch den Kopf. Hatte er womöglich nicht mehr lange zu leben? War dieses Wochenende sozusagen sein Abschiedsgeschenk, damit sie ihn so in Erinnerung behielt, wie sie ihn einst kennengelernt hatte, und nicht als schwerkranken Mann, der immer weniger wurde, bis am Ende gar nichts mehr von ihm übrig war?
Voller Mitleid streckte sie die Hand über den Tisch nach seiner aus und drückte sie. Ich stehe zu dir, versicherte sie ihm stumm. Egal was passiert, du kannst dich auf mich verlassen. Ich bleibe an deiner Seite.
Doch diesmal war es Ruben, der ihr seine Hand entzog, dann lehnte er sich tief durchatmend auf seinem Stuhl zurück. Erstaunt wanderten Mirkas Augenbrauen nach oben. „Ruben, ich …“
Weiter kam sie nicht. Ebenso schwer atmend, wie er sich zuvor von ihr entfernt hatte, beugte er sich nun weit über den Tisch vor und blickte ihr fest in die Augen. „Mirka, Schatz, du musst jetzt stark sein. Versprichst du mir das?“
Ganz weit unten in ihrer Kehle spürte Mirka den ängstlichen Schrei, der ihr entweichen wollte. Doch sie schaffte es, ihn zu unterdrücken und sogar zu nicken, während sie sich eine dunkle Haarsträhne, die sich aus ihrem kunstvollen Knoten am Hinterkopf gelöst hatte, hinters Ohr klemmte.
Noch einmal holte Ruben tief Luft. Das Sprechen schien ihm schwerzufallen. Sind das etwa schon die ersten Auswirkungen seiner schlimmen und unheilbaren Krankheit? schoss es Mirka besorgt durch den Kopf.
„Du musst mir glauben, Mirka, wenn ich die freie Wahl hätte, dann würde ich nichts lieber tun, als dich zu heiraten.“
Okay, jetzt bestand für Mirka kein Zweifel mehr daran. Ruben war krank. Womöglich schwerkrank. Unheilbar krank? Deshalb hatte er die letzte Zeit auch immer so abgespannt und blass ausgesehen. Und die ewigen Termine. Womöglich befand er sich längst in ärztlicher Behandlung. Verdammt, und Mirka hatte tatsächlich an ihm gezweifelt, hatte sogar heimlich den Verdacht gehegt, Ruben würde sich mit einer anderen treffen, weil er ein paar Mal nicht in der Kanzlei gewesen war, als sie versucht hatte, ihn dort zu erreichen.
Und nun saßen sie hier, Rubens Augen waren blutunterlaufen, das Gesichts fahl, die Wangen etwas eingefallen, und Mirka dachte nur daran, endlich diesen bekloppten Antrag von ihm zu bekommen. Von einem Mann, der gerade ganz bestimmt andere, wesentlich wichtigere Dinge im Kopf hatte.
„Ruben, es tut mir so leid. Wenn ich geahnt hätte, dass es dir nicht gut geht, deine Gesundheit …“
Erneut bekam sie ihren Satz nicht zu Ende.
Kopfschüttelnd fiel ihr Ruben ins Wort. „Wovon redest du eigentlich? Und warum starrst du mich an, als hättest du einen Todkranken vor dir? Was sollen die mitleidigen Blicke?“
„Geht es dir gut?“, fragte sie vorsichtig. „Ich meine, bist du etwa nicht krank?“
Ruben schüttelte perplex den Kopf. „Nicht dass ich es wüsste.“
Die Erleichterung fiel wie eine zentnerschwere Last von Mirka ab. „Zum Glück. Ich dachte wirklich …“ Was Mirka genau gedacht hatte, ließ sie unausgesprochen.
Aber Ruben war wohl zu dem Entschluss gekommen, endlich die Karten auf den Tisch zu legen – bevor das Ganze noch abstruser wurde.
„Ich sag es jetzt am besten einfach so, wie es ist, Mirka. Ich kann dich nicht heiraten, weil ich mich vor zwei Wochen mit einer anderen verlobt habe.“
RUMMMS! In Mirka schien etwas zu zerbrechen.
Was für ein Spinner, schoss es ihr gleich darauf durch den Kopf. Manchmal übertrieb er es echt mit seinen mehr als schrägen Scherzen. Andererseits war sie unendlich erleichtert, dass er offenbar unter keiner unheilbaren Krankheit litt, die ihm demnächst das Sprachvermögen rauben und kurz darauf komplett das Lebenslicht aushauchen würde.
„Deine Scherze waren wirklich schon mal besser“, versuchte sie die Situation mit einem etwas gequälten Grinsen zu retten.
Doch Ruben schien das Spiel noch etwas weitertreiben zu wollen. „Kein Scherz, Mirka. Ich bin verlobt. Mit Isabell. Seit vorletztem Wochenende.“
Nun lachte Mirka laut auf. Was für ein kompletter Blödsinn. Erstens kannte sie keine Isabell, und zweitens waren sie vorletztes Wochenende fast rund um die Uhr zusammen gewesen, soweit sie sich erinnerte. Wo und wann wollte er sich da bitte schön verlobt haben? Und außerdem war das Ganze sowieso völlig absurd. Ruben war ihr langjähriger Freund und Fast-Ehemann. Warum sollte er sich um alles in der Welt mit irgendeiner wildfremden Isabell verloben?
Aber Rubens Gesichtsausdruck war so bitterernst, und seine sonst strahlenden blauen Augen fast schwarz vor Kummer.
„Ich verstehe das nicht“, wisperte sie.
Ruben rieb sich übers Gesicht. „Ich auch nicht, Mirka. Das musst du mir bitte glauben. Ich verstehe das Ganze auch nicht. Aber mit der Pistole auf der Brust hat man nun mal keine andere Wahl.“
Pistole auf der Brust? Was hatte das denn bitte schön nun wieder zu bedeuten? Wurde er etwa erpresst? Okay, Ruben war Anwalt und hatte berufsbedingt natürlich auch hin und wieder mit Kriminellen zu tun. Allerdings handelte es sich dabei in erster Linie um Wirtschaftsdelikte. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, dass irgendeiner seiner Klienten ein Interesse daran hatte, dass er diese wildfremde Isabell heiratete.
Das Ganze war völlig absurd, dennoch fragte sie ihn mit dünner Stimme: „Wirst du erpresst?“
Erst schüttelte er vehement den Kopf und erklärte entschlossen: „Unsinn! Wie kommst du denn darauf?“ Doch dann schob er wesentlich kleinlauter hinterher: „Wobei, gewissermaßen ist das schon der Fall.“
Mirka schnappte nach Luft. „Warum? Ich meine, Ruben, was redest du da bloß? Ich verstehe das alles nicht. Das ist doch total verrückt.“