
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright dieses eBooks © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
© 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG
Originalausgabe
Band 1 (1) 2008 „Verbotenes Glück“
Alle Rechte vorbehalten
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: Andrea Lorenz-Beier, Köln
Redaktion: Claudia Wuttke
Titelabbildung: istockphoto.com
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
ISBN epub 978-3-95576-289-6
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
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1. KAPITEL
Die 23-jährige Luisa Vogt stand vor dem Schaufenster des Juweliers in der Hamburger Innenstadt, den sie so mochte. Sie war unfähig, sich zu rühren. Ihre geschockte Miene spiegelte sich in der Fensterscheibe, hinter der all die schönen und eleganten Verlobungs- und Eheringe ausgestellt waren. Sie wollte weg von diesem Ort, so weit weg wie möglich, aber ihre Füße gehorchten nicht. Luisa schloss die Augen. Dort drinnen stand der Mann ihrer Träume und wählte gerade Ringe aus. Nicht für sie und ihn, nein, für sich und eine freudestrahlende Brünette, die ihm soeben um den Hals gefallen war. Das konnte kein Missverständnis sein. Die Situation war eindeutig. Konstantin von Heidenthal mochte sie geküsst haben, als gehöre ihr sein Herz, aber er war liiert. Oder anders gesagt: Er hatte sich soeben verlobt. Mit einer anderen. Luisa merkte, wie sie am ganzen Leib zitterte.
„Oh, schau mal, sind die nicht einfach unglaublich?“, hörte sie eine kieksende Frauenstimme neben sich. „Wie für uns gemacht!“ Luisa öffnete die Augen und sah nach links. Dort stand ein junges Pärchen eng umschlungen und begutachtete die Ausstellungsstücke.
„Soll ich das Auto verkaufen?“ Der junge Mann grinste seine Freundin übermütig an. Die stieß ihm spielerisch in die Rippen und drehte sich zu ihm um.
„Nee, lass mal, ich weiß auch so, dass wir zusammengehören.“ Sie schlang die Arme um ihren Freund und küsste ihn leidenschaftlich.
Luisa blinzelte die Tränen weg, warf einen letzten Blick in den Laden, wo Konstantin und seine Freundin nun vor einer anderen Vitrine standen, und wandte sich zum Gehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie ein älterer Herr dem knutschenden Paar ein wehmütiges Lächeln zuwarf, bevor er seinen Weg fortsetzte. Noch jemand, der sich offenbar allein fühlte. Wenn auch bestimmt nicht so einsam und am Boden zerstört wie Luisa.
Konstantin und sie – das war einfach magisch gewesen. Magisch mit – zugegeben – kleinen, peinlichen Momenten. Wenn sie nur an ihre erste Begegnung dachte! Sie waren am Flughafen ineinandergerannt, und Luisa hatte Konstantin ordentlich zusammengestaucht, ohne zu wissen, dass er der neue Marketingchef von Hansen Kaffee war. Doch er war in keiner Weise sauer auf sie gewesen. Der Blick aus seinen unglaublichen grauen Augen war derart intensiv gewesen, dass ihr Herz wie wild zu klopfen angefangen hatte. Warum nur hatte er sie zum Essen eingeladen, war mit ihr auf der Alster rudern gegangen, hatte ihr zugehört und ihr das Gefühl gegeben, sie könnte ihm voll und ganz vertrauen? Warum hatte er sie geküsst?
Und wieso nur hatte sie nicht auf ihre beste Freundin Molly gehört? Die war es schließlich gewesen, die den Verdacht aussprach, er könne in einer Beziehung stecken. Doch alle Bedenken waren von Luisa hinweggewischt worden, und sie hatte sich von Begegnung zu Begegnung immer mehr in ihn verliebt. Sie hatte ihm vertraut und von einer gemeinsamen Zukunft mit ihm geträumt. Sonst hätte sie ihn doch nie und nimmer geküsst, nicht so! Bei dieser Erinnerung musste Luisa stehen bleiben, so weh tat ihr das Herz.
War das denn alles nicht echt gewesen? Für sie war es wahr und schön und unglaublich, jede einzelne Sekunde. Sie war niemand, der sich leichtfertig in Affären stürzte. Sie nicht. Sie war vorsichtig, mit sich und mit den Menschen, die ihr wichtig waren. Ob sie Konstantin jemals etwas bedeutet hatte? Oder küsste er jede, die ihn ließ? War sie nur eine von vielen? Das konnte doch nicht sein, oder? So ein Typ war er nicht. Also was bedeutete das alles? Luisa wusste einfach keine Antwort. Deswegen brauchte sie jetzt auch ganz dringend jemanden, bei dem sie sich ausheulen konnte und der ihr am besten die ganze Sache erklärte. Jemand, der ihr entweder ein paar Dutzend guter Gründe nennen konnte, warum sich Konstantin mit dieser dunkelhaarigen Schönheit über ein schwarzsamtenes Ringkissen gebeugt hatte. Oder aber mit ihr gemeinsam über ihn schimpfte. Auch wenn sie gerade gar nicht wirklich wütend war. Vielmehr war ihr nach stundenlangem Heulen. Sie zückte ihr Handy und rief ihre Mutter an. Anna wüsste sicher, das Richtige zu sagen. Und außerdem könnte sich Luisa bei ihr auf das Sofa legen, den mühsam unterdrückten Tränen freien Lauf lassen und sicher sein, dass ihre Mutter sie trösten würde. Denn Anna war schließlich nicht nur ihre Mama, sondern auch ihre Freundin. Als der Anrufbeantworter ansprang, legte Luisa auf. Sie wusste nicht, was sie hätte sagen sollen. „Mama, ich bin’s, ich habe Liebeskummer, ruf mich zurück“? Nein! Das klang einfach nicht … richtig. Nicht so ernst, wie es sich anfühlte. Außerdem brauchte sie jetzt sofort Beistand oder Ablenkung! Nicht irgendwann später. Sie würde ihrer Mutter zu Weihnachten ein Handy schenken, so viel war sicher.
Auch Molly war nicht zu erreichen. Ach, richtig! Molly hatte erzählt, dass sie ein paar Tage auf einer Weiterbildung wäre: Hochzeits- und Festtagsfrisuren. Luisa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Wie passend! Nun gut, dann würde sie jetzt also nach Hause gehen und backen! Das war schließlich für sie die beste Methode, sich zu beruhigen. Beim Backen konnte sie super nachdenken und den Kopf freibekommen! Das Erfinden und Ausprobieren süßer Kaffeeleckereien war von klein auf Luisas erklärte Leidenschaft. Die Begeisterung für Kaffee und Schokolade war auch der Grund dafür gewesen, dass Luisa Kaffeerösterin geworden war. Sie liebte ihren Job bei Hansen Kaffee, auch wenn sie davon träumte, später einmal ein eigenes kleines Café zu eröffnen, in dem zu ausgewählten Kaffeesorten ihre eigenen Kreationen gereicht würden. Die Rezepte der interessantesten süßen Spezialitäten fielen Luisa fast immer im Traum ein. Während Molly stets darüber scherzte, dass Luisas schleckermäulige Muse eben nur nachts die Chance hatte, sie zu besuchen, da Luisas Tage meist schwer verplant waren, vertraute Luisa ganz und gar auf sich selbst. Sie hatte eben eine Gabe. So wie Schriftsteller und Filmemacher Diktiergeräte neben ihren Betten deponierten, falls ihnen im Schlaf die eine geniale Idee kam, lagen auch auf Luisas Nachtschrank immer Stift und Papier bereit.
Aber nachdem sie Katze, ihren braunen Labrador, bei ihrer Nachbarin abgeholt hatte, verspürte sie überhaupt keine Lust mehr auf Kekse, Kuchen oder sonstige Süßspeisen. Oder gar darauf, sich die Tarotkarten zu legen. Was sollten die ihr auch schon sagen, was sie nicht schon längst wusste und woran sie eigentlich gar nicht denken wollte. Stattdessen spazierte sie lieber mit Katze eine große Runde durch das Viertel, in dem sie wohnte. Luisas heiß geliebter Vierbeiner hieß deshalb Katze, weil Luisa ursprünglich lieber einen Stubentiger gehabt hätte, aber sie eine Allergie gegen Katzenhaare hatte. Nach dem Spaziergang kuschelte sich Luisa mit Katze gemeinsam vor den Fernseher und zappte durch sämtliche Kanäle. Erst als sie sich dabei ertappte, wie sie bereits seit einer halben Stunde einer Verkaufsshow zusah, in der eine völlig neuartige Saftpresse angepriesen wurde, gab sie auf. Sie schaltete den Fernseher aus und blieb, wo sie war. Der Weg ins Schlafzimmer war einfach zu weit.
Auch Claus von Heidenthal, Konstantins Vater, fühlte sich unruhig und einsam an diesem Abend. Sein Sohn hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit einen Überraschungsbesuch abgestattet und ihn gedrängt, Position zu beziehen. Etwas, das Claus schon seit vielen Jahren nicht mehr tat. Schon viel zu lange hatte er die Augen vor den üblen Geschäftspraktiken seiner Frau verschlossen und die Dinge bei Comtess Coffee – der Kaffeerösterei, die von seinem Vater gegründet worden war – einfach hingenommen. Aber seit Konstantin bei Hansen Kaffee angefangen hatte, weil er sich nicht mit dem elterlichen Unternehmen identifizieren konnte, war Claus aufgewacht.
Als Konstantin bei ihm gewesen war, um ihn um ein paar Tipps zu bitten, hatte Claus aus dem Nähkästchen geplaudert. Inzwischen war er sich sicher, dass seine Frau in einer der oberen Etagen von Hansen Kaffee einen Spion sitzen hatte, der ihr die Übernahme des angeschlagenen Konkurrenten ermöglichen sollte. Darüber wundern konnte er sich nicht, immerhin hatte er in den letzten Jahren zahlreiche Möglichkeiten gehabt, Valerie und ihren Machenschaften aus nächster Nähe zu beobachten. Konstantin hatte kein Blatt vor den Mund genommen. Und Claus musste seinem Sohn recht geben. Schweigen und Wegsehen bedeutete Mittäterschaft. Tief in seinem Inneren war Claus es leid, Valeries Komplize zu sein.
Er wünschte, er hätte jemanden, mit dem er darüber reden könnte. Doch mit wem? Konstantins Meinung war ihm klar. Seine Tochter Katharina interessierte sich seit jeher nur für Partys und ihre jeweiligen aktuellen Eroberungen – momentan ein geheimnisvoller Russe. Und die einzige Person, von der er wusste, dass er ehrlich und offen alles mit ihr besprechen konnte, befand sich in Australien. Claus hatte es nicht gewundert, dass Christine Hansen nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, des Chefs von Hansen Kaffee, zu ihrer Schwester Beatrix ans andere Ende der Welt gereist war. Christine war schon immer ein sehr sensibler Mensch gewesen. Deswegen konnte man ja auch über alles mit ihr reden. Sie verurteilte niemanden. Sie hatte die Gabe, sich in fast jeden hineinversetzen zu können. Kein Wunder, dass Valerie sie so hasste. Denn diese Eigenschaft war es, die andere Menschen für Christine einnahm. Wer einmal das Glück hatte, in Christines Freundeskreis aufgenommen zu werden, der war ihr treu ergeben. Egal, wie häufig man sich begegnete. Claus öffnete seinen Laptop und rief eine Suchmaschine auf. Ob er wohl die Adresse von Beatrix Lewylln herausfände?
Völlig übermüdet schlich sich Luisa am nächsten Morgen in die Firma. Sie war gegen fünf Uhr aufgewacht und hatte nicht mehr einschlafen können. Also war sie mit Katze Gassi gegangen und hatte ihn gegen sieben bei dem Kolonialwarenladen ihrer Mutter abgegeben. Da sie ihren Lieblingsvierbeiner schlecht mit zur Arbeit nehmen konnte, hatte sich seine Unterbringung bei Luisas Nachbarin Frau Sander, Molly oder eben Luisas Mutter Anna inzwischen eingespielt. Am allerliebsten verbrachte der neugierige Labrador seine Tage bei Anna im Laden, denn hier war immer etwas los, und er bekam so viel Aufmerksamkeit, wie er sich nur wünschen konnte.
Anna selbst war noch gar nicht da – sie öffnete erst gegen acht. Dafür war jedoch bereits Stefan anwesend, Annas Assistent, der gerade die Kasse vorbereitete. Stefan hatte auf Anraten seiner Eltern Einzelhandelskaufmann gelernt, obwohl er immer Schauspieler werden wollte. In seiner Freizeit spielte er auch bei diversen Amateurtheatergruppen Hamburgs und hatte es sogar einmal zu einer kleinen Rolle in einer Fernsehserie gebracht. Doch weil diese Engagements nicht besonders einträglich waren, arbeitete er seit nun fast fünf Jahren bei Anna als Verkäufer. Anna vertraute ihm voll und ganz. Ebenso wie Luisa. Niemals hätte sie einem Fremden Katze anvertraut. Aber ihr Hund und der ruhige, nette Stefan mochten sich.
So kam es, dass Luisa gegen halb acht am Pförtnerhäuschen von Johann Rieger vorbeikam, der bereits vor Ort war und sie zu sich winkte.
„Frau Vogt, ich habe etwas für Sie“, rief er ihr entgegen. Luisa rieb sich die müden Augen. „Guten Morgen, Herr Rieger, worum geht es denn?“
Lächelnd hielt ihr der Portier einen Briefumschlag entgegen. „Ihre Großmutter hat Sie gestern Abend vergeblich versucht zu erreichen“, erklärte er. Luisa hatte ihr Telefon ausgestöpselt, um mit ihrem Kummer allein zu sein. Jetzt ärgerte sie sich darüber. In dem Umschlag steckte ein handbeschriebenes Blatt Papier und ein Schlüssel.
„Ich war zufällig gestern Abend noch bei Frau Hansen“, erklärte Johann Rieger achselzuckend, als wäre das nichts Besonderes. Luisa lächelte in sich hinein. Seit Eleonore mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag, verging kein Tag, an dem Johann Rieger ihr nicht „ganz zufällig“ Gesellschaft leistete.
„Liebe Luisa“, stand in dem Brief, „auch wenn ich momentan nicht in der Firma sein kann, möchte ich doch, dass du inzwischen ein eigenes Büro beziehst. Dort kannst du in Ruhe arbeiten – und ich denke dabei vor allem an die Ausarbeitung deiner Ideen für das Kaffeehaus, die ich von dir erwarte. Herr Larsson wird mir sein Konzept in den nächsten Tagen vorbeibringen. Sicher greift er dir bei Fachfragen unter die Arme. Ebenso wie Herr von Heidenthal und Frau Mühlbauer, an die du dich mit sonstigen Fragen wenden kannst.“
Luisa betrachtete den Schlüssel in ihrer Hand. Ein eigenes Büro. Für sie alleine. Damit sie ein Konzept anfertigte, mit dem sie das Kaffeehaus, das zu Hansen gehörte, vor dem Verkauf bewahren wollte. Ihr Halbbruder Daniel und der neue Geschäftsführer Piet Larsson plädierten allerdings dafür, das alte Café, das zurzeit nur rote Zahlen schrieb, so schnell wie möglich abzustoßen. Und Luisa glaubte fest daran, dass man es retten konnte. Sie seufzte. Gerade würde sie nichts lieber tun, als einfach zu ihrer Röstmaschine zu eilen und nicht nachdenken zu müssen. Doch die Zeiten waren vorbei.
Seitdem sie bei der Testamentseröffnung ihres verstorbenen Chefs Maximilian Hansen erfahren hatte, dass sie dessen uneheliche Tochter ist, saß sie zwischen allen Stühlen. Sie war kein vollwertiges Mitglied der Familie Hansen, eine Tatsache, die Daniel sie nie vergessen lassen würde. Aber eine einfache Angestellte des Unternehmens war sie inzwischen auch nicht mehr. Nicht mit 25 % der Firmenanteile, die ihr Vater ihr vererbt hatte. Luisa lief ein Schauer über den Rücken – so wie immer, wenn sie an den Termin beim Notar denken musste. Binnen eines einzigen Tages war ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt worden. Plötzlich gehörte sie zu den Hansens, die im Großen und Ganzen nicht gerade begeistert auf diese Neuigkeit reagiert hatten. Aber noch schlimmer für Luisa war etwas ganz anderes. Sie hatte immer geglaubt, einen Vater zu haben. Robert Vogt, der vor sechs Jahren gestorben war, war ihr immer ein toller Vater gewesen. Und auf einmal hatte sie erfahren, dass Robert nicht ihr leiblicher Vater gewesen war, sondern Maximilian Hansen. Ihr Chef, den sie bewundert und verehrt hatte.
Doch Maximilian Hansen war tot, ebenso wie Robert. Beide Väter hatten sie verlassen. Luisa war besonders traurig darüber, dass sie nie die Chance bekommen hatte, Maximilian Hansen näher kennenzulernen. Und sie war wütend gewesen auf ihre Mutter und auf Robert, dass die beiden entschieden hatten, dass es besser für Luisa sei, die Wahrheit nicht zu kennen. Und sie ärgerte sich darüber, dass sie Robert nie sagen konnte, wie wichtig er für sie gewesen war, wie unersetzlich, egal, ob er nun ihr Erzeuger war oder nicht. Aber auch auf Maximilian Hansen hatte sich ihre Wut gerichtet. Warum nur glaubten alle, besser zu wissen, was gut für sie wäre, als sie selbst? Schließlich war sie erwachsen, und sie hätte mit der Wahrheit umgehen können.
Nachdenklich nickte sie dem Pförtner zu, der ihr einen fragenden Blick zuwarf, und machte sich auf den Weg in ihr neues Büro. Die Vergangenheit konnte man nicht ändern, die Gegenwart oft genug auch nicht, wie ihr die Szene mit Konstantin und seiner Zukünftigen gestern deutlich vor Augen geführt hatte. Aber die Zukunft – nun, die sollte ihr gehören! Luisa lief an der Kaffeeküche vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Gerade hatte sie keine Kraft, sich ihren Kollegen gegenüber zu rechtfertigen, warum sie jetzt also doch ein eigenes Büro beziehen durfte und damit ganz offiziell eine andere Position bekleidete als gestern noch. Obwohl eine schöne Tasse Café Luna ihr gerade jetzt bestimmt gutgetan hätte. Die Rezeptur für diese ganz besondere Mischung, die Hansen Kaffee in der ganzen Welt berühmt gemacht hatte, war geheim. Eleonore Hansen würde sie um keinen Preis der Welt verkaufen, denn die Rezeptur war ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes Wilhelm gewesen, der seine Frau zärtlich Luna genannt hatte.
Tatsächlich fand Luisa ihren Namen an der Tür gegenüber dem ehemaligen Büro von Maximilian Hansen. Als sie zögernd den Raum betrat, überraschte sie Gisela Mühlbauer, die dabei war, das Büro einzurichten.
„Guten Morgen“, lächelte Luisa schüchtern. Gisi und sie kannten sich bislang eigentlich nur aus der Kaffeeküche. Alle, die dort Pause machten, befanden sich auf einer Augenhöhe. Doch Luisas Unwohlsein verschwand sofort, als die Sekretärin sie herzlich anlächelte.
„Luisa!“, strahlte Gisi und fügte sofort hinzu: „Ich meine natürlich, Frau Vogt. Schön, dass Sie da sind! Ich habe bereits ein paar Akten in Ihr Büro gelegt, die von Interesse sein könnten. Eleonore Hansen hat mich gestern noch angerufen …“
Luisa nickte und nahm die Kaffeetasse entgegen, die Gisi ihr hinhielt. „Das ist toll, vielen Dank, sicher werde ich noch mehr Informationen brauchen, ich muss schließlich noch eine Menge lernen. Und … Frau Mühlbauer?“
Gisi blickte sie fragend an.
„Können wir vielleicht wieder zum Du übergehen, sonst komme ich mir irgendwie … unecht vor.“ Luisa warf der Sekretärin einen bittenden Blick zu. Gisi strahlte sie an. „Gerne!“, antwortete sie und nickte heftig. „Ich freu mich, dass du … na ja, dass du nun ganz offiziell zur Familie gehörst! Was“, fügte sie flüsternd hinzu, „Daniel Hansen bestimmt regelmäßig zu Wutanfällen treiben wird. Und das gefällt mir umso mehr!“
Verschwörerisch lächelten Luisa und Gisi sich an, dann nahm Luisa ihr neues Büro in Augenschein. Die Sonne strahlte durch die Fenster, die zwar nach hinten auf den Parkplatz hinausgingen, dafür aber riesengroß waren. Auf dem alten Mahagonischreibtisch lagen einige Ordner, ein Computer samt Drucker war eingerichtet, und gegenüber an der Wand hing ein schönes Ölbild von der Rickmer Rickmers. Alles in allem ein Raum, in dem man sich wohlfühlen konnte. Angenehm überrascht ließ sich Luisa auf dem Schreibtischstuhl nieder und war gerade dabei, den ersten Ordner aufzuschlagen, als plötzlich Konstantin im Zimmer stand.
Luisa starrte ihn an. Sie wusste schlicht und einfach nicht, was sie sagen sollte. Doch er merkte gar nicht, dass Luisa sich anders benahm als sonst. Sein Gesicht war hinter einer großen Pflanze versteckt, durch deren Blätter er hindurchsprach: „Herzlichen Glückwunsch zum eigenen Büro! Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Er stellte das Grünzeug auf ihren Schreibtisch und blickte sich zufrieden um. „Ja, ich glaube, hier können wir gut arbeiten.“
Luisa schwieg ungläubig. Gestern hatte er all ihre Träume zerstört, und heute besaß dieser Betrüger tatsächlich die Frechheit, hier hereinzuspazieren, als wäre nichts geschehen? Das war ja wohl die Höhe! Wenn er wenigstens einen Zwillingsbruder hätte, würde das ja vielleicht alles erklären. Hatte er aber nicht, nur eine jüngere Schwester.
„Was ist mit dir?“ Konstantin sah sie an, beugte sich über den Schreibtisch und strich ihr liebevoll über die Wange. Luisa zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt. Plötzlich fand sie ihre Stimme wieder.
„Danke für die Pflanze“, sagte sie und räusperte sich ärgerlich. Sie wollte nicht traurig klingen, und schon gar nicht wollte sie, dass er sie noch einmal fragte, was mit ihr los sei! „Wenn du mich jetzt bitte alleine ließest.“ Dass Konstantin sie derart verletzt und überrascht anblicken würde, nun, damit hatte sie nicht gerechnet. Für einen Moment zögerte sie. Ob sie ihn doch nach der Frau fragen sollte, vielleicht gab es ja doch irgendeine einleuchtende Erklärung?
Aber nein! Sie riss sich zusammen und deutete auf die Tür. Die Situation gestern war eindeutig gewesen. Darüber konnten auch seine warmen grauen Augen nicht hinwegtäuschen und auch nicht die Tatsache, dass Luisa trotz aller Verletzung nichts lieber getan hätte, als sich in seine Arme zu werfen. Sie hatte Stolz, jawohl. Sie mochte streng genommen nur eine kleine Kaffeerösterin sein, aber sie war nicht so einfach einzuwickeln. Sie nicht. Sie sah ihn so streng wie möglich an und blickte dann wieder in die Unterlagen.
„Ich habe zu tun“, erklärte sie eisig und versuchte sich auf den Ordner zu konzentrieren, der vor ihr lag. Auch wenn all die Buchstaben und Zahlen vor ihren Augen zu tanzen schienen.
Womöglich wäre Konstantin dort vor ihrem Schreibtisch einfach stehen geblieben. Vielleicht hätte er darauf bestanden, dass sie ihm sagte, warum sie so eisig war, und dann hätte sie mit der Wahrheit herausrücken müssen, aber in diesem Moment kam der nächste unangemeldete Gast zur Tür hinein: Daniel. Gisi Mühlbauer musste irgendwo anders unterwegs sein. Sicher hätte sie Hansen junior nicht ohne Anmeldung vorgelassen!
„Sieh an, das Kuckucksei hat schon eine Grünpflanze für den Schreibtisch, den es nicht gebrauchen wird“, stichelte er, während er Konstantin geflissentlich übersah. Konstantin wollte schon zu einer ärgerlichen Erwiderung ansetzen, als Luisa ihn mit unbewegter Miene ansah. „Würdest du uns bitte alleine lassen?“, bat sie. Verwundert wandte Konstantin sich schließlich zur Tür, nicht ohne Daniel einen abschätzenden Blick zuzuwerfen, den dieser überheblich erwiderte.
„Das, Frau Vogt, war ausnahmsweise eine weise Entscheidung“, lächelte Daniel zynisch, kaum alleine mit Luisa. Doch sie schwieg wohlweislich. Dass Daniel nach der Ankündigung, seine Anteile ausgezahlt haben zu wollen, überhaupt noch in der Firma auftauchte, war merkwürdig. Irgendetwas wollte er. Und Luisa hatte nicht vor, es ihm leicht zu machen. Fragend sah sie ihn an.
„Du musst gar nicht so gucken“, begann Daniel auch schon. „Ich bin sicherlich nicht hier, um dir zu gratulieren oder dir Präsente zu überreichen!“ Luisa folgte mit den Augen seiner herablassenden Geste in Richtung der Pflanze, die noch immer in Zellophan gewickelt auf ihrem Schreibtisch stand. Dann sah sie ihn kühl an. Langsam hatte sie wirklich genug davon, herumgeschubst zu werden!
„Ich begreife wirklich nicht“, erklärte sie rundheraus und siezte Daniel mit Absicht, „warum Sie die Firma Ihres Vaters ruinieren wollen.“
„Das musst du auch gar nicht, Küken“, grinste ihr Halbbruder, ließ sich in einem der Besucherstühle nieder und schlug die langen Beine übereinander. „Das Einzige, das du wissen musst, ist: Ich werde mich von meinem Plan nicht abbringen lassen.“
„Und um mir das zu sagen, sind Sie vorbeigekommen?“ Luisa konnte einfach nicht begreifen, was ihn umtrieb.
„Nicht nur, ich wollte dir einen Deal vorschlagen.“ Daniel ließ seinen teuer beschuhten Fuß auf und nieder wippen. „Du bist es schließlich, die hier einen auf Hansen macht“, erklärte er und beobachtete sie genau.
„Was?“ Jetzt war Luisa wirklich überrascht. Immerhin hatte sie ganz stark das Gefühl, nicht richtig zur Familie dazuzugehören. Natürlich machte sie sich Gedanken um die Firma. Aber das lag nicht daran, dass Maximilian Hansen ihr Vater war. Vielmehr lag ihr die Rösterei am Herzen wegen des Fair Trade, mit dem hier gearbeitet wurde, und wegen ihrer Kollegen.
„Mach mir doch nichts vor.“ Daniel grinste sie hinterhältig an. „Die Familie und die Firma interessieren dich doch nur deshalb, weil du dich wichtig machen willst.“
„Um was für einen Deal handelt es sich denn?“ Luisa versuchte so cool wie möglich zu klingen. Sie hatte noch immer keine Ahnung, was Daniel von ihr erwartete. Und auch wenn sie froh war, dass Konstantin seinetwegen das Büro verlassen hatte, wollte sie dieses Gespräch so kurz wie möglich halten. Daniel nickte zustimmend.
„Du bist geradeaus, das mag ich. Wärst du nicht ausgerechnet meine Halbschwester, vielleicht kämen wir gut miteinander aus. Aber egal, es geht um meine Anteile.“
„Die, die Sie meistbietend verhökern wollen, egal an wen?“ Luisa biss die Zähne zusammen. Daniel hatte die besseren Karten, das wusste sie. Er war im Gegensatz zu ihr das eheliche Kind. Beruflich besaß er wesentlich mehr Erfahrung als sie. Eleonore Hansen war seine Großmutter. Mehr als ihre. Immerhin hatte Eleonore erst vor wenigen Wochen von ihrer Verwandtschaft mit Luisa erfahren. Trotzdem wollte Luisa sich nicht alles von Daniel gefallen lassen. Dazu war sie zu wütend. Nicht zuletzt spielte da sicher auch Konstantins Verlobung mit hinein!
„Genau“, stimmte Daniel ihr zu. „Und da du offensichtlich so wahnsinnig viel Wert auf diese Familie, die nicht mal deine ist, und deren Finanzen legst, gäbe es eine Möglichkeit, wie wir beide zusammenkommen.“ Daniel machte eine Kunstpause, die Luisa nur noch mehr aufbrachte, dann fuhr er lässig fort: „Du überschreibst mir deine Anteile, und ich garantiere, alle Anteile in der Firma zu lassen. Damit wäre uns beiden gedient.“
Luisa konnte ihren Halbbruder nur anstarren. „Bitte?“
Genervt verdrehte Daniel die Augen und erklärte: „Tu nicht so, als ob du das nicht verstündest! Deine Anteile, die sowieso moralisch nicht rechtskräftig sind, gehen an mich. Wenn du möchtest, kannst du fünf Prozent behalten. Wir einigen uns auf ein Monatsgehalt für dich, aber du hältst dich aus den geschäftlichen Entscheidungen heraus. Im Gegenzug verpflichte ich mich, sämtliche Gelder in der Firma zu lassen. Ich dachte, darum ginge es dir …“