×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Vergiss mein nicht«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Vergiss mein nicht« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Vergiss mein nicht

Es sollte ein unbeschwertes Date auf der gut besuchten Rollschuhbahn werden. Doch für Sara Linton und Polizeichef Jeffrey Tolliver überschlagen sich die Ereignisse, als plötzlich die 13-jährige Jenny mit einer Waffe in der Menge auftaucht. Sie droht damit, den Teenager Mark zu erschießen. Obwohl Jeffrey alles tut, um die Situation zu entschärfen, kommt es zur Eskalation: Jeffrey muss Jenny töten, um Mark zu retten. Und der Albtraum hat noch kein Ende gefunden. Als Sara kurz darauf die Leiche obduziert, stößt sie auf ein schockierendes Verbrechen, das selbst die abgebrühtesten Ermittler fassungslos zurücklässt.


  • Erscheinungstag: 16.02.2021
  • Aus der Serie: Grant County Serie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950249
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

EINS

»Dancing Queen«, sang Sara Linton leise mit, während sie ihre Runde auf der Rollerskates-Bahn drehte. »Young and sweet, only seventeen.«

Links neben sich hörte sie das ungestüme Rattern von Skates und konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite drehen, um ein Kind aufzufangen, bevor es mit ihr zusammenprallte.

»Justin?«, sagte sie, als sie den Siebenjährigen erkannte. Sie hielt ihn am Jackenkragen fest, denn seine Beine wackelten auf den Inlineskates.

»Hallo, Dr. Linton«, bekam Justin japsend heraus. Der Helm war ihm zu groß, und er schob ihn mehrmals nach hinten, um sie ansehen zu können.

Sara erwiderte sein Lächeln und musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. »Hallo, Justin.«

»Sie stehen auf diese Musik, was? Meine Mom auch.« Er starrte sie unverhohlen und mit offenem Mund an. Wie die meisten von Saras Patienten wirkte auch Justin ein wenig verschreckt, als könnte er sich nicht vorstellen, ihr außerhalb der Kinderklinik zu begegnen. Manchmal fragte sie sich, ob man glaubte, dass sie dort im Keller wohnte und darauf lauerte, dass die Leute von Erkältungen oder Fieber heimgesucht in ihre Sprechstunde kamen.

»Egal.« Justin schob wieder seinen Helm nach hinten und versetzte sich dabei mit dem Ellbogenschoner einen Nasenstüber. »Aber ich hab gemerkt, dass Sie mitgesungen haben.«

»Lass mich mal«, erbot sich Sara. Sie beugte sich hinunter, um seinen Kinnriemen fester zu ziehen. Die Musik auf der Bahn war so laut, dass Sara die Vibrationen der Bässe in der Plastikschnalle spüren konnte, die sie unter seinem Kinn enger stellte.

»Danke«, brüllte Justin und legte aus unerfindlichem Grund beide Hände oben auf den Helm. Diese Bewegung raubte ihm das Gleichgewicht, und er geriet ins Stolpern, konnte sich aber gerade noch an Saras Bein festklammern.

Sara hielt ihn wieder an der Jacke fest und führte ihn hinüber zum Geländer am Außenrand der Bahn. Sie selbst hatte auch ein Paar Inlineskates anprobiert, sich dann aber für die altmodischen Rollschuhe entschieden, denn sie wollte sich nicht vor den Augen der halben Stadt auf den Hintern setzen.

»Wow«, kicherte Justin und hängte sich haltsuchend an das Geländer. Er sah auf ihre Skates hinunter. »Mann, haben Sie große Füße!«

Sara blickte ebenfalls hinab und wurde vor Verlegenheit rot. Seit sie sieben Jahre alt war, hatte man sie wegen ihrer großen Füße gehänselt. Obwohl sie sich nun fast dreißig Jahre lang diesen Spott hatte anhören müssen, wäre Sara immer noch am liebsten mit einer Schüssel Schokoladeneis unters Bett gekrochen, wenn sie auf ihre Füße angesprochen wurde.

»Sie haben ja Skates für Jungs an!«, kreischte Justin und ließ das Geländer los, um auf ihre Skates zeigen zu können. Sara konnte ihn gerade noch stützen, bevor er ausglitt und stürzte.

»Mein Lieber«, flüsterte Sara ihm zuckersüß ins Ohr. »Das wirst du spätestens dann bereuen, wenn deine Nachimpfungen fällig werden.«

Justin lächelte seine Kinderärztin unsicher an. »Ich glaube, meine Mom will was von mir«, murmelte er und hangelte sich am Geländer entlang, wobei er argwöhnisch über die Schulter blickte, um sich davon zu überzeugen, dass Sara ihm nicht folgte.

Sie verschränkte die Arme und lehnte sich an die Balustrade, während sie ihm nachschaute. Wie die meisten Kinderärzte liebte Sara ihre Patienten, aber es sprach einiges dafür, am Samstagabend von ihnen unbehelligt zu bleiben.

»Ein Verehrer?«, fragte Tessa, die neben ihr bremste.

Sara warf ihrer Schwester einen strengen Blick zu. »Erklär mir doch bitte mal, wie ich hierhergeraten bin.«

Tessa versuchte ein Schmunzeln. »Aus purer Liebe zu mir?«

»Genau«, erwiderte Sara sarkastisch. Auf der anderen Seite der Bahn erspähte Sara Devon Lockwood, Tessas derzeitigen Freund, der auch im Klempnerbetrieb der Familie Linton arbeitete. Devon führte seinen Neffen auf der Bahn für die Kleinen im Kreis herum, während sein Bruder zuschaute.

»Seine Mutter hasst mich«, murmelte Tessa. »Sobald ich in seine Nähe komme, sieht sie mich giftig an.«

»Daddy ist bei unseren Freunden doch auch nicht besser«, erwiderte Sara.

Devon merkte, dass sie zu ihm hinschauten, und winkte.

»Er kann gut mit Kindern umgehen«, sagte Sara und winkte zurück.

»Er kann auch noch mit was anderem gut umgehen«, sagte Tessa leise. Sie wandte sich wieder Sara zu. »Dabei fällt mir ein – wo ist denn Jeffrey?«

Sara blickte wieder zum Haupteingang und stellte sich dieselbe Frage. Und auch, warum es ihr eigentlich nicht egal war, ob ihr Ex-Mann auftauchte oder nicht. »Weiß ich nicht«, antwortete sie. »Seit wann ist es denn in dem Laden hier so voll?«

»Es ist Samstagabend, und die Football-Saison hat noch nicht angefangen. Was sollen die Leute denn sonst machen?«, sagte Tessa, ließ Sara aber nicht das Thema wechseln. »Also, wo bleibt Jeffrey?«

»Vielleicht kommt er ja gar nicht.«

Die Art, wie Tessa grinste, verriet, dass sie sich einen boshaften Kommentar verbiss.

»Mach schon, sprich es aus.«

»Ich wollte gar nichts sagen«, antwortete Tessa, und Sara war nicht ganz klar, ob sie log.

»Wir sehen uns nur ab und zu.« Sara hielt inne und fragte sich, wem sie eigentlich etwas beweisen wollte: Tessa oder sich? Dann fügte sie hinzu: »Es ist ganz und gar nichts Ernstes.«

»Ich weiß.«

»Wir haben uns noch nicht mal richtig geküsst.«

Tessa hob resigniert die Hände. »Ich weiß«, wiederholte sie, ein spöttisches Grinsen um die Mundwinkel.

»Wir sehen uns manchmal. Das ist alles.«

»Mich brauchst du nicht zu überzeugen.«

Sara lehnte sich seufzend ans Geländer. Sie kam sich dämlich vor, eher wie ein Teenager als wie eine erwachsene Frau. Sie hatte sich vor zwei Jahren von Jeffrey scheiden lassen, nachdem sie ihn mit der Inhaberin des Schilderladens im Bett erwischt hatte. Warum sie sich neuerdings wieder mit ihm traf, war sowohl Sara als auch ihrer Familie ein Rätsel.

Ein Schmusesong erklang, und das Licht wurde schwächer. Eine rotierende Spiegelkugel sank von der Decke herab und verteilte blitzende kleine Lichtquadrate im gesamten Raum.

»Ich muss mal«, sagte Sara zu ihrer Schwester. »Pass bitte auf, ob Jeff kommt.«

Tessa schaute über Saras Schulter. »Geht aber gerade jemand rein.«

»Es gibt jetzt zwei Kabinen.« Sara steuerte auf die Damentoilette zu und sah, dass gerade ein dicker Teenager hineinging. Sie erkannte Jenny Weaver, eine ihrer Patientinnen, und winkte ihr zu, aber das Mädchen hatte sie nicht gesehen.

Tessa kommentierte: »Hoffentlich hältst du es noch aus.«

Sara runzelte die Stirn, als sie beobachtete, wie ein weiteres Mädchen, das sie nicht kannte, Jenny auf die Toilette folgte. Wenn das so weiterging, würde Sara noch die Blase platzen.

Tessa deutete mit dem Kopf zur Eingangstür. »Wie war das noch mal? Hochgewachsen, dunkelhaarig und gut aussehend?«

Sara fand es irgendwie albern, dass sie unwillkürlich lächeln musste, als sie Jeffrey auf die Bahn zusteuern sah. Er kam wohl direkt von der Arbeit, denn er trug immer noch seinen anthrazitfarbenen Anzug mit einer burgunderroten Krawatte. Als Polizeichef von Grant County kannte er die meisten Anwesenden. Er sah sich um, und sie hoffte, dass sie es war, nach der er Ausschau hielt. Er lavierte sich durch die Menschenmenge, blieb dabei hier und dort stehen, um Hände zu schütteln. Sie verzichtete darauf, ihn irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. In dieser Phase ihrer Beziehung überließ sie Jeffrey die Initiative.

Sara hatte Jeffrey bei einem ihrer ersten Fälle als Coroner der Stadt kennengelernt. Sie hatte die Stellung als leitende Amtsärztin angenommen, um ihren Partner an der Kinderklinik von Heartsdale auszahlen zu können, der in den Ruhestand gehen wollte. Und Sara hatte diesen Posten behalten, obwohl es inzwischen Jahre her war, dass sie Dr. Barney abgefunden hatte. Ihr gefielen die Herausforderungen der Pathologie: Vor zwölf Jahren, als Sara ihre Zeit als Assistenzärztin in der Notaufnahme des Grady Hospital in Atlanta abgeschlossen hatte, war es eine gewaltige Umstellung von der hektischen Arbeit dort, bei der es oft um Leben und Tod ging, auf Bauchschmerzen und Schnupfen in der hiesigen Kinderklinik gewesen. Und der Job als Coroner stellte Anforderungen, die ihren Verstand hellwach hielten.

Schließlich wurde sie von Jeffrey entdeckt. Abrupt hörte er auf, Betty Reynolds die Hand zu schütteln, und seine Mundwinkel wanderten aufwärts, bevor sie gleich darauf wieder nach unten sanken, als die Besitzerin des Kramladens weiter auf ihn einredete.

Sara konnte sich vorstellen, worüber Betty sprach. Im Laufe der letzten drei Monate war zweimal bei ihr eingebrochen worden. Ihr war anzusehen, dass sie sich beschwerte, und sie merkte gar nicht, dass Jeffreys Aufmerksamkeit nicht mehr ihr galt.

Schließlich nickte Jeffrey, tätschelte Betty die Schulter und gab ihr noch einmal die Hand. Wahrscheinlich hatte er versprochen, sich in den nächsten Tagen mit ihr zu unterhalten. Nachdem er sich befreit hatte, kam er auf Sara zu, ein verschmitztes Lächeln im Gesicht.

»Na, du«, sagte er und gab ihr die Hand. Ehe sie sichs versah, schüttelte Sara sie ihm, so wie fast alle anderen Besucher der Inline-Bahn zuvor.

»Hallo, Jeffrey«, unterbrach Tessa in ungewohnt scharfem Tonfall. Normalerweise erledigte ihr Vater es, Jeffrey anzuraunzen.

Jeffrey lächelte verdutzt. »Hi, Tessie.«

Tessie nuschelte irgendetwas und stieß sich vom Geländer ab. Sie rollte davon, warf aber Sara über die Schulter noch einen vieldeutigen Blick zu.

Jeffrey fragte: »Was war das denn?«

Sara zog die Hand zurück, aber Jeffrey hielt ihre Finger noch lange genug fest, um sie spüren zu lassen, dass er bestimmte, wann er losließ. Er war sich seiner so verdammt sicher. Und mehr als alles andere war es diese Eigenschaft, die Sara so anzog.

Sie verschränkte die Arme und sagte: »Du kommst zu spät.«

»Es war nicht leicht wegzukommen.«

»Ist ihr Ehemann auf Reisen?«

Er sah sie an wie eine Zeugin, von der er wusste, dass sie log. »Ich musste Frank noch sprechen.« So hieß der dienstälteste Detective im Dezernat von Grant County. »Ich habe ihm gesagt, dass er heute Abend das Kommando hat. Ich möchte nämlich nicht, dass jemand uns beide stört.«

»Wobei stört?«

Das Lächeln zupfte wieder an seinen Mundwinkeln. »Na ja, ich dachte, ich verführe dich heute Abend.«

Sie lachte und wich zurück, als er sie zu küssen versuchte.

»Das Küssen hat eigentlich nur dann Sinn, wenn sich die Lippen berühren«, meinte er.

»Nicht vor den Augen meiner halben Patientenschar«, konterte sie.

»Dann komm mit.«

Wider alle Vernunft bückte sich Sara unter dem Geländer hindurch und nahm seine Hand. Er schob sie auf ihren Rollschuhen in den Bereich der Bahn nahe den Toiletten und drückte sich mit ihr in eine Ecke, wo man sie nicht sehen konnte.

»So besser?«, fragte er.

»Oh, ja«, antwortete Sara. Sie sah auf ihn hinab, denn auf den Skates war sie ein paar Zentimeter größer als er. »Viel besser, ich muss nämlich ganz dringend aufs Klo.«

Sie wollte wegrollen, aber er hielt sie zurück, indem er ihre Taille umfasste.

»Jeff«, sagte sie und wusste nur zu genau, dass das nicht sonderlich abweisend klang.

»Du bist so schön, Sara.«

Sie verdrehte die Augen wie ein Teenager.

Er lachte und wagte es dann: »Gestern habe ich den ganzen Abend nur daran gedacht, dich zu küssen.«

»So?«

»Ich habe Sehnsucht danach, wie du schmeckst.«

Sie versuchte gelangweilt zu klingen. »Immer noch nach Colgate.«

»Von dem Geschmack rede ich nicht.«

Sara war sprachlos, und Jeffrey grinste vergnügt. Sara merkte, wie sich tief in ihr etwas regte, und wollte ihm schnell irgendetwas entgegnen. Aber in diesem Moment ging sein Pieper. Er sah sie weiterhin wie gebannt an, als habe er den Alarmton gar nicht gehört.

Sara räusperte sich und fragte: »Willst du nicht darauf reagieren?«

Jetzt warf er doch einen Blick auf den Pieper, der an seinem Gürtel klemmte, und murmelte nur »Scheiße«, als er die Nachricht sah.

»Was?«

»Einbruch«, antwortete er schroff.

»Ich dachte, Frank soll dich vertreten.«

»Nur bei den Lappalien. Ich muss an ein Münztelefon.«

»Wo ist denn dein Handy?«

»Akku leer.« Jeffrey schien seinen Unmut so weit unter Kontrolle zu bekommen, dass er sie aufmunternd anlächeln konnte. »Nichts kann mir diese Nacht verderben, Sara.« Er legte die Hand auf ihre Wange. »Das ist mir das Allerwichtigste.«

»Hast du etwa noch ein heißes Date nach unserem Abendessen?«, neckte sie ihn. »Wir können es auch verschieben, wenn es sein muss.«

Er kniff die Augen zusammen, bevor er sich umdrehte und losging.

Sara schaute ihm nach und flüsterte ein leises »Gütiger Himmel«, als sie sich haltsuchend an die Wand lehnte. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass er es schaffte, sie innerhalb von drei Minuten völlig willenlos zu machen.

Sie schreckte auf, als die Toilettentür laut zugeschlagen wurde. Dort stand Jenny Weaver und sah wie in Trance hinaus auf die Rollschuhbahn. Im Kontrast zu ihrem langärmeligen schwarzen T-Shirt wirkte die Haut des Mädchens fahl. Jenny trug einen dunkelroten Rucksack in der Hand, den sie über die Schulter schwang, als Sara ihr entgegenfuhr. Der Rucksack beschrieb einen hohen Bogen und streifte Saras Brust.

»Langsam«, sagte Sara und wich zurück.

Jenny blinzelte und erkannte ihre Kinderärztin. Sie flüsterte »’tschuldigung« und wandte den Blick ab.

»Schon gut«, erwiderte Sara und wollte ein Gespräch anfangen. Das Mädchen wirkte verängstigt. »Was hast du denn?«, fragte Sara. »Alles in Ordnung?«

»Ja, Ma’am«, nuschelte Jenny und presste ihren Rucksack an sich.

Bevor Sara noch etwas sagen konnte, verdrückte Jenny sich. Sara beobachtete, wie sie in der Menge verschwand und in der Nähe des Raums mit den Videospielen Zuflucht suchte. Im Widerschein der Bildschirme nahm Jennys Gestalt eine grünliche Färbung an, bevor sie in einer Ecke verschwand. Sara spürte, dass etwas nicht stimmte, aber sie konnte ja schlecht hinter dem Mädchen herrennen, um es streng zu fragen, was denn los sei. In diesem Alter wuchs sich alles zu einem Drama aus. Bestimmt ging es um einen Jungen.

Es wurde wieder heller, als der Schmusesong endete. Dann lärmte ein alter Rocksong aus den Lautsprechern, dessen Bässe Saras Brustkorb vibrieren ließen. Sie sah zu, wie die Skater auf der Bahn immer schneller wurden, und fragte sich, ob sie selbst jemals so behände und geschmeidig gelaufen war. Skatie’s hatte zwar seit Saras Jugendzeit mehrmals den Besitzer gewechselt, war aber immer noch der beliebteste Treffpunkt für die Teens in Grant County. Sara hatte damals an den Wochenenden so manchen Abend im hinteren Teil dieses Gebäudes verbracht und dort mit Steve Mann, ihrem ersten richtigen Freund, rumgeknutscht. Ihre Beziehung basierte weniger auf Leidenschaft als auf dem gemeinsamen Ziel, Grant County hinter sich zu lassen. Steves Vater war jedoch während ihres letzten Schuljahrs an einem Herzschlag gestorben, und seither führte Steve den Haushaltswarenladen der Familie. Inzwischen war er längst verheiratet und hatte Kinder. Sara war nach Atlanta entkommen, aber ein paar Jahre später zurückgekehrt.

Schon ein merkwürdiges Gefühl, wieder bei Skatie’s zu sein, um mit Jeffrey Tolliver zu knutschen. Oder es zumindest zu versuchen.

Sara schüttelte den Gedanken ab und steuerte auf die Toilette zu. Sie fasste nach dem Türknauf, ließ ihn aber sofort wieder los, weil sie etwas Klebriges spürte. In diesem Bereich der Bahn war es noch immer recht dunkel, und Sara musste die Hand dicht vors Gesicht halten, um erkennen zu können, was daran klebte. Sie erkannte den Geruch zuerst. Dann sah sie an ihrem Hemd hinunter, wo Jenny Weavers Rucksack es gestreift hatte.

Ein schmaler Blutstreifen zog sich über ihre Brust.

ZWEI

Jeffrey gab sich alle Mühe, den Münzfernsprecher nicht von der Wand zu reißen. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, wählte die Nummer der Polizeiwache und wartete geduldig ab, während es dort läutete.

Marla Simms, seine Sekretärin und manchmal auch Aushilfstelefonistin der Dienststelle, antwortete: »Guten Abend, Grant County Police Department, einen Moment bitte«, und legte ihn wieder in die Warteschleife, ohne seine Antwort abzuwarten.

Jeffrey atmete nochmals tief durch, um nicht in die Luft zu gehen. Sara war auf der Rollerskates-Bahn wahrscheinlich gerade dabei, das heutige Rendezvous abzuhaken. Für jeden Schritt, den er auf sie zumachte, wich Sara zwei Schritte zurück. Er verstand zwar, warum, aber das hieß noch lang nicht, dass er damit einverstanden war.

Jeffrey lehnte sich an die Wand und spürte, dass ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief. Der August hatte mit voller Kraft eingesetzt und ließ die Rekordtemperaturen, die Georgia im Juni und Juli erlebt hatte, wie Winterwetter erscheinen. Manchmal hatte er im Freien das Gefühl, durch einen feuchten Waschlappen atmen zu müssen. Er lockerte seine Krawatte und öffnete den obersten Knopf seines Hemds.

Kurz erscholl lautes Gelächter von der Vorderseite des Gebäudes, und Jeffrey spähte um die Ecke, um den Parkplatz besser im Blick zu haben. Einige Jungs hatten sich an einem zerbeulten alten Camaro zusammengerottet und zogen abwechselnd an einer Zigarette. Der Münzfernsprecher befand sich seitlich am Gebäude, und Jeffrey stand im Schatten eines hellgrünen Baldachins. Er meinte, Marihuana zu riechen, war aber nicht sicher. Die Jungs schienen etwas im Schilde zu führen. Das fiel Jeffrey weniger deswegen auf, weil er ein Cop war, sondern eher, weil er in dem Alter mit ähnlichen Cliquen herumgehangen hatte.

Er überlegte, ob er die Horde ansprechen sollte, als Marla sich wieder meldete.

»Guten Abend, Grant County Police Department, danke für Ihre Geduld. Was kann ich für Sie tun?«

»Marla, Jeffrey hier.«

»Oh, hallo, Chief«, sagte sie. »Tut mir leid, Sie gestört zu haben. Es gab einen blinden Alarm bei einem der Geschäfte im Zentrum.«

»In welchem?«, fragte er. Er musste an die Klagen denken, die er gerade erst von Betty Reynolds gehört hatte, der Besitzerin des Kramladens.

»Die Reinigung«, sagte sie. »Der alte Burgess hat den Alarm aus Versehen selbst ausgelöst.«

Jeffrey wunderte sich über Marla, die weit über siebzig war und dennoch Bill Burgess einen alten Mann nannte, ging aber nicht weiter darauf ein. Er fragte: »Sonst noch etwas?«

»Da soll was im Diner gewesen sein, das Brad gemeldet hat, aber keiner hat etwas gefunden.«

»Was hat er denn gemeldet?«

»Hat nur gesagt, dass er dachte, etwas gesehen zu haben, mehr nicht. Sie wissen doch, wie Brad ist. Der meldet doch seinen eigenen Schatten.« Sie lachte glucksend. Brad war der Benjamin des Reviers, ein einundzwanzigjähriger Mann, dessen rundes Gesicht und dünnes, stets zu Berge stehendes Haar ihn eher wie einen kleinen Jungen aussehen ließen. Die älteren Kollegen machten sich regelmäßig einen Spaß daraus, Brads Dienstmütze zu stehlen und sie an diversen markanten Orten in der Stadt zu drapieren. Gerade in der letzten Woche hatte Jeffrey sie auf dem Kopf der General-Lee-Statue vor der Highschool gesehen.

Jeffrey dachte an Sara. »Frank hat heute Abend Dienst. Piepen Sie mich höchstens an, wenn es eine Leiche gibt.«

»Zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagte Marla und gluckste wieder. »Coroner und Chief mit einem Anruf.«

Er rief sich ins Gedächtnis zurück, dass er von Birmingham nach Grant County gezogen war, weil er in einer Kleinstadt leben wollte, in der jeder seinen Nachbarn kannte. Dass dadurch auch jeder über sein Privatleben Bescheid wusste, war die Konsequenz. Jeffrey wollte Marla gerade eine strenge Antwort geben, als er hörte, dass jemand auf dem Parkplatz laut kreischte.

Er blickte um die Ecke, und im selben Moment schrie ein Mädchen: »Leck mich doch, du elender Wichser!«

Marla sagte: »Chief?«

»Moment«, flüsterte er. Bei dem zornigen Klang der Mädchenstimme verkrampfte sich sein Solarplexus. Er wusste aus Erfahrung, dass ein völlig durchgeknalltes, wütendes Mädchen an einem Samstagabend ein echtes Problem sein konnte. Die Jungs kriegte er in den Griff, bei denen ging es letztlich um Imponiergehabe, und fast alle jungen Männer wollten eigentlich davon abgehalten werden, sich zu prügeln. Junge Mädchen hingegen mussten schon äußerst gereizt worden sein, um in derart blinde Wut zu geraten, und dann war es höllisch schwer, sie wieder zu beruhigen. Eine ausgerastete Dreizehnjährige machte ihm Angst, vor allem, wenn sie eine Pistole in der Hand hielt.

»Ich knall dich ab, du perverses Arschloch«, schrie sie einen der Jungen an. Dessen Freunde gingen schnell auf Distanz und bildeten einen Halbkreis. Der Junge stand allein da, und die Waffe war auf seine Brust gerichtet. Kaum anderthalb Meter trennten das Mädchen von ihrem Ziel, und Jeffrey sah, dass sie noch einen Schritt vortrat und den Abstand weiter verringerte.

»Mist«, zischte Jeffrey. Als ihm wieder bewusst wurde, dass er ein Telefon in der Hand hatte, befahl er: »Schicken Sie Frank und Matt sofort hierher zu Skatie’s

»Die sind drüben in Madison.«

»Dann Lena und Brad«, sagte er. »Leise Anfahrt. Auf dem vorderen Parkplatz befindet sich ein bewaffnetes Mädchen.«

Jeffrey legte den Hörer wieder auf die Gabel und spürte, wie angespannt er war. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und seine Halsschlagader trat hervor wie eine pulsierende Schlange. Tausend Dinge gingen ihm rasend schnell durch den Kopf, aber er verscheuchte seine Gedanken, zog sein Jackett aus, schob das Clipholster nach hinten und atmete tief durch. Jeffrey hielt die Arme seitlich ausgestreckt, als er auf den Parkplatz hinausging. Das junge Mädchen sah zu ihm hinüber, als er in ihr Blickfeld geriet, zielte aber weiterhin auf den Jungen. Die Mündung war leicht abwärts auf dessen Unterleib gerichtet, und als Jeffrey näher kam, sah er, dass ihre Hand zitterte. Glücklicherweise hatte sie noch keinen Finger am Abzug.

Jeffrey näherte sich parallel zum Gebäude. Das Mädchen hatte der Rollschuhbahn den Rücken zugekehrt, Parkplatz und Highway lagen vor ihr. Er hoffte, dass Lena so viel Voraussicht walten ließ, Brad von der Seite des Gebäudes auftauchen zu lassen. Man konnte nicht wissen, wie sich die Kleine verhalten würde, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte. Ein dummer Fehler könnte vielen Menschen den Tod bringen.

Als Jeffrey etwa fünf Meter vom Schauplatz entfernt war, sagte er so laut, dass er die Aufmerksamkeit aller auf sich zog: »He!«

Obwohl sie bereits bemerkt hatte, dass er im Anmarsch war, zuckte das Mädchen zusammen. Sie krümmte den Finger um den Abzug. Die Waffe war eine 32er Beretta, eine kleine Pistole, die aber aus so geringer Entfernung viel Schaden anrichten konnte. Acht Schuss. Wenn das Mädchen gut schoss – und aus so geringer Entfernung würde selbst ein Affe treffen –, hielt sie acht Menschenleben in der Hand.

»Zurück mit euch allen«, befahl Jeffrey den Umstehenden. Nach anfänglichem Zögern schienen sie zu kapieren und zogen sich in den vorderen Bereich des Parkplatzes zurück. Selbst auf diese Entfernung roch es aufdringlich nach Marihuana, und so wie der bedrohte Junge schwankte, musste er eine Menge geraucht haben, bevor ihn das Mädchen überrascht hatte.

»Hauen Sie ab«, forderte das Mädchen Jeffrey auf. Sie war schwarz gekleidet und hatte die Ärmel ihres T-Shirts wegen der Hitze bis über die Ellbogen nach oben geschoben. Sie war knapp dreizehn. Ihre Stimme war leise, aber doch deutlich hörbar.

Sie wiederholte ihre Aufforderung. »Ich habe gesagt, Sie sollen abhauen.«

Jeffrey blieb stehen, und sie wandte den Blick wieder dem Jungen zu und sagte: »Ich bringe ihn um.«

Jeffrey streckte die Hände aus und fragte: »Warum denn?«

Die Frage schien sie zu überraschen. Die Mündung der Pistole neigte sich leicht abwärts, als das Mädchen Jeffrey antwortete.

»Damit er aufhört«, sagte sie.

»Womit aufhört?«

Sie schien zu überlegen. »Das geht niemanden was an.«

»Nein?«, fragte Jeffrey und kam einen Schritt näher, und dann noch einen. Ungefähr fünf Meter vor dem Mädchen blieb er stehen, nahe genug, um zu sehen, was passierte, aber nicht so dicht, dass sie sich bedroht fühlte.

»Nein, Sir«, antwortete das Mädchen, und diese höfliche Anrede beruhigte ihn ein wenig. Mädchen, die »Sir« sagten, erschossen niemanden.

»Hör mal«, fing Jeffrey an und überlegte, was er sagen sollte. »Weißt du, wer ich bin?«

»Ja, Sir«, antwortete sie. »Sie sind Chief Tolliver.«

»Stimmt«, sagte er. »Wie soll ich dich nennen? Wie heißt du?«

Sie ignorierte die Frage, aber der Junge regte sich, als hätte sein von Marihuana umnebeltes Hirn plötzlich geschnallt, was los war. Er sagte: »Jenny. Sie heißt Jenny.«

»Jenny?«, fragte Jeffrey sie. »Was für ein hübscher Name.«

»Ja, al-also«, stammelte Jenny, ganz offensichtlich verblüfft. Doch sehr schnell hatte sie sich wieder gefasst und sagte: »Bitte seien Sie still. Ich möchte nicht mit Ihnen reden.«

»Vielleicht doch«, sagte Jeffrey. »Ich habe nämlich den Eindruck, dass du eine ganze Menge auf dem Herzen hast.«

Sie schien das in Erwägung zu ziehen, richtete aber ihre Beretta wieder auf die Brust des Jungen. Ihre Hand zitterte noch immer. »Gehen Sie weg, oder ich knall ihn ab.«

»Mit der Waffe da?«, fragte Jeffrey. »Weißt du, wie es ist, jemanden zu erschießen? Kannst du dir vorstellen, was für ein Gefühl das ist?« Er beobachtete, wie sie daran zu schlucken hatte, und war sicher, dass sie keinen Mord fertigbringen würde.

Jenny war dick, sie hatte wahrscheinlich fünfundzwanzig Kilo Übergewicht. In ihren schwarzen Klamotten wirkte sie wie eines jener Mädchen, die sich für ein Leben als graue Maus entschieden haben. Der Junge, auf den sie die Waffe richtete, war hingegen ein gut aussehendes Bürschchen und wahrscheinlich das Objekt einer unerwiderten Schwärmerei. Zu Jeffreys Zeiten hätte sie ihm einen fiesen Brief in den Spind gelegt. Heutzutage fuchtelte sie mit einer Pistole herum.

»Jenny«, fing Jeffrey an, während er sich fragte, ob die Waffe überhaupt geladen war. »Jenny, was ist denn eigentlich los? Der Typ da ist es doch gar nicht wert, dass du dir seinetwegen Ärger einhandelst.«

»Hauen Sie ab«, wiederholte Jenny, etwas weniger bestimmt als zuvor. Mit der freien Hand fuhr sie sich übers Gesicht. Jetzt fiel ihm auf, dass sie weinte.

»Jenny, ich glaube nicht …« Er hielt inne, als sie die Waffe entsicherte. Das metallische Klicken tat ihm beinahe körperlich weh. Er griff hinter sich, legte die Hand auf seine Waffe, zog sie aber noch nicht.

Jeffrey bemühte sich, ruhig und vernünftig zu klingen.

»Was geht hier vor, Jenny? Warum reden wir nicht darüber? So schlimm kann es doch nicht sein.«

Sie fuhr sich wieder über das Gesicht. »Doch, Sir«, sagte sie. »Ist es aber.«

Ihre Stimme klang so kalt, dass Jeffrey eine Gänsehaut bekam. Er unterdrückte das Frösteln, als er seine Pistole aus dem Halfter gleiten ließ. Jeffrey hasste Waffen, denn als Cop bekam er einfach zu oft zu sehen, was für einen Schaden sie anrichteten. Er trug eine Waffe, weil er musste, nicht weil er wollte. In den zwanzig Jahren, die er bei der Polizei war, hatte Jeffrey sie höchstens ein halbes Dutzend Mal gezogen und auf einen Verdächtigen gerichtet. Und zweimal hatte er dabei auch gefeuert, doch niemals direkt auf jemanden gezielt.

»Jenny«, versuchte er es nochmals mit autoritärer Stimme. »Sieh mich an.«

Unverwandt starrte sie eine kleine Ewigkeit lang den Jungen an. Jeffrey blieb stumm, damit sie das Gefühl hatte, Herrin der Lage zu sein. Dann ließ sie langsam den Blick zu Jeffrey wandern und senkte ihn, bis sie die Neunmillimeter entdeckt hatte, die er seitlich am Körper hielt.

Nervös fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen und versuchte offensichtlich, den Ernst der Bedrohung einzuschätzen. Es klang todernst, als sie sagte: »Erschießen Sie mich.«

Er meinte, sich verhört zu haben. Er hatte etwas völlig anderes erwartet.

Sie wiederholte: »Erschießen Sie mich jetzt, oder ich werde den da abknallen.« Jeffrey sah zu, wie sie die Füße bewegte, bis sie schulterbreit auseinanderstanden, und dann die freie Hand auch über den Pistolengriff legte. Ihre Haltung war die einer Person, die genau wusste, wie man eine Waffe hielt. Ihre Hände waren inzwischen ganz ruhig, und mit festem Blick sah sie dem Jungen in die Augen.

Er wimmerte »Oh, Scheiße!«, und dann plätscherte es auf den Asphalt, weil er sich in die Hose pinkelte.

Jeffrey hob seine Waffe, als das Mädchen feuerte, aber der Schuss ging hoch über den Kopf des Jungen hinaus und ließ kleine Stücke von der Überdachung und dem Plastikschild des Gebäudes absplittern.

»Was soll das?«, zischte Jeffrey, der genau wusste, dass Jenny nur deswegen unverletzt am Boden lag, weil der Instinkt seinen Finger davon abgehalten hatte abzudrücken. Sie hatte genau die Mitte des i-Punkts von Skatie’s getroffen. Die wenigsten von Jeffreys Cops hätten in einer so angespannten Situation so präzise schießen können.

»Das war eine Warnung«, sagte Jenny. Jeffrey hatte eigentlich gar nicht mit einer Antwort gerechnet. »Erschießen Sie mich«, wiederholte das Mädchen. »Erschießen Sie mich. Oder ich blase dem da das Hirn raus. Das schwöre ich bei Gott.« Sie leckte sich wieder die Lippen. »Kein Problem für mich. Ich kann nämlich mit dem Ding hier umgehen.« Sie machte eine ruckartige Bewegung mit der Pistole, um zu verdeutlichen, was sie meinte. »Sie wissen, dass ich’s tun werde.« Nochmals stellte sie sich breitbeinig hin, um den Rückstoß der Beretta abzufangen. Sie verschob die Mündung der Waffe ein wenig und zerschoss den Apostroph auf dem Schild. Wenn die Leute auf dem Parkplatz auseinanderstoben oder Schreckensschreie ausstießen, bekam Jeffrey davon nichts mit. Er sah nur den Rauch aus der Mündung ihrer Pistole.

Als er wieder durchatmen konnte, sagte Jeffrey: »Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen einem Schild und einem Menschen.«

Sie flüsterte nur, und er musste sich sehr anstrengen, um sie zu verstehen. »Er ist kein Mensch.«

Aus dem Augenwinkel meinte Jeffrey eine Bewegung wahrzunehmen. Im selben Moment erkannte er Sara. Sie hatte ihre Rollschuhe ausgezogen, und ihre weißen Socken stachen gegen den schwarzen Asphalt ab.

»Kleines?«, rief Sara mit vor Angst schriller Stimme. »Jenny?«, fügte sie hinzu.

»Hauen Sie ab«, fuhr Jenny sie an, aber ihre Stimme klang jetzt bockig, eher wie die des Kindes, das sie noch war, und ganz und gar nicht wie die des Ungeheuers, als das sie sich noch ein paar Sekunden zuvor aufgeführt hatte. »Bitte.«

»Es geht ihr gut«, sagte Sara. »Ich habe sie drinnen gefunden, es ist alles in Ordnung.«

Die Waffe sank nach unten, aber dann gewann Jennys Entschlossenheit wieder die Oberhand, und sie hob die Beretta, bis sie damit direkt zwischen die Augen des Jungen zielte. Mit ihrer Entschlossenheit kehrte auch die Grabesstimme zurück, und sie sagte: »Sie lügen.«

Mit einem Blick auf Sara stellte Jeffrey fest, dass Jenny recht hatte. Sara war eine miserable Lügnerin. Aber abgesehen davon konnte Jeffrey sogar auf die Entfernung Blutflecken auf Saras Hemd und Jeans erkennen. Augenscheinlich war jemand drinnen auf der Bahn verletzt und möglicherweise, ja, sogar wahrscheinlich, tot. Er sah wieder zu Jenny hinüber und vermochte jetzt das runde Mädchengesicht mit der Bedrohung in Einklang zu bringen, die von dem Teenager ausging.

Erschreckt registrierte er, dass seine Waffe noch gesichert war. Er entsicherte sie und gab Sara mit einem warnenden Blick zu verstehen, sich im Hintergrund zu halten.

»Jenny?« Man sah an Saras Hals, wie sie schlucken musste. So pseudomelodiös hatte Jeffrey Sara noch nie sprechen hören. Sie behandelte Kinder sonst auch nicht wie Idioten. Was auch immer Jenny Furchtbares auf der Bahn angerichtet haben mochte, es hatte Sara verändert. Jeffrey konnte sich keinen Reim darauf machen. Es waren keine Schüsse zu hören gewesen, und Buell Parker, der Sicherheitsmann der Rollerbahn, hatte gesagt, alles sei bestens, als Jeffrey sich bei ihm erkundigt hatte. Jeffrey fragte sich, wo Buell wohl stecken mochte. War er da drinnen, sicherte einen Tatort und ließ deswegen niemanden hinaus? Was konnte Jenny dort nur getan haben? In diesem Moment hätte Jeffrey alles dafür gegeben, um die Szene, die sich vor ihm abspielte, anhalten zu können, um erst einmal genau herauszufinden, was eigentlich los war.

Jeffrey lud seine Waffe durch. Sara riss bei dem Geräusch den Kopf herum und streckte ihm eine Hand entgegen, als wolle sie sagen: Nein, beruhige dich. Tu das nicht. Er sah über ihre Schulter hinweg zum Eingang der Bahn. Er hatte erwartet, dort eine Traube von Neugierigen zu sehen, die ihre Nasen an die Scheibe pressten. Aber da war niemand. Was war drinnen nur passiert, das interessanter sein konnte als das, was sich hier vor ihm abspielte?

Sara versuchte es noch mal. Sie sagte: »Es geht ihr gut, Jenny. Komm mit und überzeuge dich.«

»Dr. Linton«, sagte Jenny mit bebender Stimme. »Bitte reden Sie nicht mehr mit mir.«

»Kleines«, erwiderte Sara ebenso zittrig wie Jenny. »Sieh mich an. Bitte, sieh mich an.« Als das Mädchen nicht reagierte, sagte Sara: »Es geht ihr gut. Ich verspreche dir, es geht ihr gut.«

»Sie lügen«, antwortete Jenny. »Ihr seid alle Lügner.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zu. »Und du bist der schlimmste Lügner von allen«, sagte sie zu ihm. »Für das, was du getan hast, wirst du in der Hölle schmoren, du Scheißkerl.«

Der Junge wurde plötzlich wütend und schleuderte ihr ein speichelsprühendes »Da seh ich dich dann wieder, Miststück« entgegen.

Jennys Stimme klang auf einmal gefasst. Etwas schien zwischen ihr und dem Jungen geklärt zu sein, und als sie antwortete, klang ihre Stimme kindlich. »Das weiß ich.«

Aus dem Augenwinkel sah Jeffrey, dass Sara weiter nach vorn ging. Er beobachtete auch, dass Jenny über den kurzen Lauf ihrer Beretta hinweg den Kopf des Jungen ins Visier nahm. Das Mädchen stand wie versteinert da und wartete. Ihre Hände zitterten nicht, ihre Lippen bebten nicht.

»Jenny …«, fing Jeffrey an. Er suchte nach einem Ausweg. Er konnte doch nicht auf ein kleines Mädchen schießen. Er würde niemals seine Waffe auf dieses Kind abfeuern können.

Jenny sah über die Schulter, und Jeffrey folgte ihrem Blick. Endlich war ein Polizeiwagen vorgefahren, und mit gezogenen Waffen stiegen Lena Adams und Brad aus. Mit Jeffrey an der Spitze bildeten sie zu dritt eine Formation wie aus dem Lehrbuch.

»Erschießt mich«, sagte Jenny. Immer noch hatte sie ihre Beretta auf den Jungen gerichtet.

»Waffe runter«, befahl Jeffrey den beiden Polizisten. Brad gehorchte sofort, aber Jeffrey sah, dass Lena zögerte. Er warf ihr einen strengen Blick zu und wollte seinen Befehl wiederholen, da senkte auch sie ihre Pistole.

»Ich tue es«, flüsterte Jenny. Sie verharrte unglaublich still, sodass Jeffrey sich fragte, was wohl in diesem Kind vorging, dass es sich so bedingungslos dieser Situation ergab.

Jenny räusperte sich und sprach gefasst und deutlich: »Ich werde es tun. Ich hab es schon mal gemacht.«

Jeffrey sah Sara an, als suche er ihre Bestätigung, aber ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem jungen Mädchen mit der Pistole.

»Ich habe es schon mal gemacht«, wiederholte Jenny. »Erschießt mich, oder ich werde erst ihn abknallen und dann mich.«

Zum ersten Mal an diesem Abend erwog Jeffrey ernsthaft abzudrücken. Er versuchte sich mit aller Kraft davon zu überzeugen, dass sie für den Jungen, der vor ihr stand, trotz ihres Alters eine unzweifelhafte Gefahr bedeutete. Wenn er sie nur am Bein oder an der Schulter traf, könnte sie immer noch feuern. Auch wenn er auf ihren Rumpf zielte, bestand die Möglichkeit, dass sie mit letzter Kraft einen Schuss abgab, bevor sie zusammensackte. So wie Jenny ihre Beretta hielt, wäre der Junge tot, bevor sie am Boden lag.

»Männer sind so schwach«, zischte Jenny und visierte ihr Ziel an. »Ihr macht nie das Richtige. Ihr sagt, ihr werdet es tun, aber tut es dann doch nie.«

»Jenny …«, bat Sara inständig.

»Ich zähle bis fünf«, warnte Jenny. »Eins.«

Jeffrey schluckte schwer. Sein Herz schlug so laut, dass er das Mädchen nur noch sah und fast gar nicht mehr hörte.

»Zwei.«

»Jenny, bitte.« Sara faltete die Hände wie zum Gebet. Sie waren dunkel, beinahe schwarz vor Blut.

»Drei.«

Jeffrey zielte. Sie würde es nicht tun. Es konnte einfach nicht sein, dass sie es tat. Sie war kaum älter als dreizehn! Dreizehnjährige Mädchen erschießen doch keinen Menschen! Das hier war Selbstmord!

»Vier.«

Jeffrey sah, wie sich ihr Finger um den Abzug schloss, sah, wie sich die Muskeln ihres Unterarms in Zeitlupe bewegten, als sie den Finger krümmte.

»Fünf!«, schrie sie, und ihre Halsvenen traten hervor. Sie befahl: »Erschießt mich, verdammt!«, und wappnete sich gleichzeitig für den Rückstoß der Beretta. Er sah, wie sich ihr Arm anspannte und ihr Handgelenk versteifte. So schleppend verstrich die Zeit, dass er genau erkannte, wie die Muskeln ihres Unterarms arbeiteten, damit ihr Finger auf den Abzug drücken konnte.

Sie bot ihm noch eine letzte Chance, indem sie schrie: »Erschieß mich!«

Und er schoss.

DREI

Mit seinen achtundzwanzig Wochen wäre Jenny Weavers Kind auch außerhalb der Gebärmutter lebensfähig gewesen, wenn seine Mutter nicht versucht hätte, es die Toilette hinunterzuspülen. Der Fötus war gut entwickelt und wohl genährt. Der Hirnstamm war intakt, und mit ärztlicher Unterstützung hätten sich wohl auch die Lungen im Laufe der Zeit ausgebildet. Die Hände hätten zu greifen gelernt, die Füße sich abzurollen, die Augen zu blinzeln. Und schließlich hätte auch der Mund gelernt, von etwas anderem zu sprechen als von den Schrecken, die er Sara jetzt stumm mitteilte. Die Lungen hatten den ersten Atem empfangen, der Mund hatte nach Leben gelechzt. Und dann war es getötet worden.

Während der vergangenen dreieinhalb Stunden hatte Sara versucht, das Baby aus den Teilen wieder zusammenzufügen, die Jenny Weaver in dem roten Rucksack zurückgelassen hatte, der im Mülleimer der Videospielhalle gefunden worden war. Ihre Hände zitterten dabei, und Sara hatte oft ein zweites Mal ansetzen müssen, weil ihr die Finger beim ersten Versuch nicht gehorcht hatten.

Aber es ging nicht. Das Trauma, das dieser werdende Mensch erlitten hatte, ließ sich einfach nicht verbergen. Schließlich gestand sich Sara ein, dass die selbst gewählte Aufgabe ein vergebliches Unterfangen bleiben würde. Sara atmete tief durch und ging noch einmal ihren Bericht durch, bevor sie die Ergebnisse mit einer Unterschrift bestätigte. Sie hatte mit der Obduktion weder auf Jeffrey noch auf Frank gewartet. Niemand war Zeuge geworden, wie Sara geschnitten und seziert und wieder zusammengefügt hatte. Sie hatte die anderen absichtlich ausgeschlossen, weil sie sicher war, diese Arbeit nicht tun zu können, wenn jemand dabei zuschaute.

Ein großes Fenster trennte Saras Schreibtisch vom eigentlichen Leichenschauhaus. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und schaute auf den kleinen schwarzen Leichensack, der dort auf dem Seziertisch ruhte. Ihre Gedanken schweiften ab, und sie sah eine Alternative zu dem von ihr gerade untersuchten Tod. Sara sah ein Leben, in dem gelacht wurde und geweint, in dem Liebe gegeben und empfangen wurde, aber eigentlich wusste sie es besser: Jennys Baby wären diese Dinge niemals zuteilgeworden. Jenny selbst hatte davon ja kaum etwas erfahren.

Nach einer Bauchhöhlenschwangerschaft vor mehreren Jahren konnte Sara keine Kinder mehr bekommen. Das war damals schlimm für sie gewesen, aber im Laufe der Jahre war die Trauer durch andere Dinge in den Hintergrund gedrängt worden, und Sara hatte gelernt, nicht das haben zu wollen, was sie nicht haben konnte. Aber angesichts des unerwünschten Kindes, das hier vor ihr auf dem Tisch lag, dieses von seiner Mutter getöteten Kindes, kamen die alten Gefühle wieder in Sara hoch.

Saras Beruf war es, sich um Kinder zu kümmern. Sie hielt sie im Arm, sie wiegte sie und gab ihnen Kosenamen, wie sie es niemals mit einem eigenen Kind würde tun können. Und als sie nun im Leichenschauhaus saß und auf den schwarzen Leichensack starrte, kehrte der sehnsüchtige Wunsch, ein eigenes Kind auszutragen, mit erschreckender Intensität zurück, und mit ihm stellte sich ein überwältigendes Gefühl der Leere ein.

Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Sara setzte sich auf, trocknete ihre Augen und versuchte sich zu sammeln. Mit den Handflächen stemmte sie sich von ihrem Schreibtisch in die Höhe und zwang sich, aufrecht zu stehen, als Jeffrey das Leichenschauhaus betrat. Sie rang noch um Fassung und suchte ihre Brille, als sie merkte, dass Jeffrey gar nicht wie gewohnt direkt in ihr Büro kam. Durch die Scheibe sah sie, dass er vor dem schwarzen Leichensack stehen geblieben war. Wenn er sie gesehen hatte, gab er ihr das jedenfalls nicht zu erkennen. Stattdessen beugte er sich über den Tisch, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Was in seinem Kopf wohl vorging? Fragte er sich auch, was für ein Leben das Baby hätte haben können? Und ob er auch über die Tatsache nachdachte, dass Sara ihm nie würde Kinder schenken können?

Sara räusperte sich, als sie den Raum betrat. Den Obduktionsbericht hielt sie an die Brust gepresst. Sie ließ ihn auf den Tisch gleiten und stand Jeffrey gegenüber, zwischen ihnen das Baby. Der Sack war viel zu groß für das Baby und stand klaffend offen, weil Sara nicht die Kraft gehabt hatte, den Reißverschluss zu schließen und dadurch das Kind endgültig der Dunkelheit zu überantworten, um es schließlich auf einem Regal des Gefrierschranks abzulegen.

Sara fiel nichts ein, was sie hätte sagen wollen, also schwieg sie. Sie schob eine Hand in die Tasche ihres Laborkittels und fand darin zu ihrer Überraschung die vermisste Brille. Sie setzte sie auf, als Jeffrey schließlich sein Schweigen brach.

»Also«, sagte er schwerfällig und leise, als habe er seine Stimme in letzter Zeit nicht oft gebraucht. »So sieht es also aus, wenn man versucht, ein Baby die Toilette hinunterzuspülen.«

Sie hatte das Gefühl, das Herz bliebe ihr stehen bei so viel scheinbarer Abgebrühtheit, und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit ihrem Hemdzipfel, um wenigstens irgendetwas zu tun.

Jeffrey atmete tief ein und ganz langsam wieder aus. Sie beugte sich ein wenig vor, weil sie Alkohol zu riechen meinte. Eigentlich konnte das nicht sein, denn bis auf ein gelegentliches Bier, wenn er sich samstags College Football im Fernsehen ansah, trank Jeffrey so gut wie nicht.

»Winzige Füßchen«, murmelte er, ohne den Blick von der Leiche zu lösen. »Sind die immer so klein?«

Auch jetzt antwortete Sara nicht. Sie sah auf die Füßchen, die zehn Zehen, die Fältchen der Fußsohlen. Kleine Füße wie diese würde jede Mutter küssen wollen. Zehen wie diese würde eine Mutter jeden Tag zählen, wie ein Gärtner die Blüten an einem Rosenstrauch zählen würde.

Sara biss sich auf die Lippe. Wollte keinesfalls die Beherrschung verlieren. Die Leere in ihrer Brust war überwältigend, und unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihr Herz.

Als sie endlich in der Lage war, den Blick zu heben, starrte Jeffrey sie an. Seine Augen waren blutunterlaufen, und winzige rote Äderchen zeichneten sich auf den Augäpfeln ab. Er schien Schwierigkeiten zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Sie fragte sich, ob das am Alkohol lag oder von der Trauer verursacht wurde.

»Ich dachte, du trinkst nicht«, sagte sie und hörte ihren vorwurfsvollen Unterton.

»Ich dachte auch, ich erschieße keine Kinder«, erwiderte er und fixierte über ihre Schulter hinweg irgendeinen Punkt.

Sara wollte ihm helfen, war aber vom eigenen Kummer wie gelähmt.

»Frank«, sagte Jeffrey. »Er hat mir einen Whiskey eingeflößt.«

»Hat’s genützt?«

Tränen schossen ihm in die Augen, und es blieb ihr nicht verborgen, wie sehr er dagegen ankämpfen musste. Seine Kiefer mahlten, und er versuchte zu lächeln.

»Jeffrey …«

Er wehrte sich gegen ihr Mitgefühl und fragte: »Hast du etwas gefunden?«

»Nein.«

»Ich weiß nicht.« Er hielt inne und senkte den Blick, schaute aber nicht auf das tote Kind, sondern konzentriert auf den gekachelten Fußboden. »Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Etwas in seinem Tonfall traf Sara tief in ihrem Innern. Ihn so gebrochen zu sehen tat ihr noch mehr weh als ihr eigener Schmerz. Sie ging um den Tisch herum und legte ihm eine Hand auf die Schulter, aber er drehte sich nicht zu ihr um.

Er fragte: »Hattest du den Eindruck, dass sie ihn erschießen würde?«

Sara spürte einen Kloß im Hals, denn sie hatte sich diese Frage bis jetzt noch nicht gestellt. Jenny hatte mit dem Rücken zu ihr gestanden. Nur Jeffrey, Lena und Brad hatten einen ungehinderten Blick auf den Schauplatz gehabt.

»Sara?«

So wie Jeffrey sie nun ansah, wusste Sara, dass dies nicht die Zeit für Ausflüchte war.

»Ja«, antwortete sie mit angestrengt fester Stimme. »Du musstest schießen, Jeffrey.«

Jeffrey entfernte sich ein paar Schritte von ihr. Er drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und fragte: »Wahrscheinlich ist dieser Mark der Vater, oder?« Auch den Kopf ließ er gegen die Wand sinken. »Der Junge, den sie erschießen wollte?«

Sara steckte die Hände in die Kitteltaschen und kämpfte gegen den Drang, zu ihm hinüberzugehen. Sie sagte: »Das wäre einleuchtend.«

»Seine Eltern lassen uns nicht vor morgen mit ihm sprechen. Wusstest du das schon?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. Mark stand nicht unter Verdacht. Und Jeffrey konnte ja wohl schlecht einen Jungen verhaften, weil eine Waffe auf seine Brust gerichtet worden war.

»Sie sagen, er habe schon genug durchgemacht.« Jeffrey senkte das Kinn auf die Brust. »Was kann sie nur dazu gebracht haben, so was zu tun? Was hat sie bloß erleben müssen, dass sie dachte …?« Er unterbrach sich und sah wieder Sara an. »Sie war deine Patientin, nicht wahr?«

»Vor ungefähr drei Jahren sind sie hergezogen.« Sara versuchte, einen Gang runterzuschalten. Es würde Jeffrey eher helfen, diesen Fall wie jeden anderen durchzusprechen, als bei seiner entsetzlichen Beteiligung an dieser Tragödie zu verweilen. In diesem Augenblick zählten ihre eigenen Bedürfnisse nicht.

Er fragte: »Von woher?«

»Ich glaube, irgendwo aus dem Norden. Ihre Mutter hatte wohl eine ziemlich üble Scheidung hinter sich.«

»Woher weißt du das?«

»Eltern erzählen mir so einiges.« Sie hielt inne. »Ich wusste nicht, dass Jenny schwanger war. Ich glaube nicht, dass sie mich während des letzten halben Jahres überhaupt aufgesucht hat. Vielleicht auch schon länger nicht mehr.« Sara legte eine Hand auf die Brust. »Sie war so ein liebes Kind. Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass sie so etwas tun könnte.«

Er rieb sich die Augen und nickte. »Tessa weiß nicht, ob sie irgendwen identifizieren kann, der gleichzeitig mit Jenny auf der Toilette war. Brad wird ihr ein Jahrbuch der Schule vorbeibringen, um zu sehen, ob ihr jemand bekannt vorkommt. Ich möchte, dass du dir das auch anschaust.«

»Selbstverständlich.«

»Es war so brechend voll«, sagte er und sprach ganz offensichtlich von der Rollschuhbahn. »Die Leute sind einfach verschwunden, ohne Aussagen zu machen. Ich weiß nicht, ob wir die alle wieder aufspüren können.«

»Hast du irgendwas herausbekommen?«

Er schüttelte den Kopf. »Bist du sicher, dass nur zwei Personen auf die Toilette gegangen sind? Jenny und noch jemand?«

»Mehr habe ich nicht gesehen«, antwortete Sara, die sich fragte, ob sie sich nach diesem Abend je wieder irgendeiner Sache sicher sein könnte. »Ich habe die andere nicht genau gesehen. Ich nehme an, wenn sie bei mir in Behandlung gewesen wäre, hätte ich sie erkannt.« Sara hielt inne und versuchte sich zu erinnern. Aber ihr fiel nichts ein. »Sie war groß, und es kann sein, dass sie eine Baseballkappe aufhatte.«

Er merkte auf. »Weißt du die Farbe noch?«

»Es war dunkel, Jeffrey«, antwortete Sara. Sie wusste genau, dass sie ihn enttäuschte. Sie verstand plötzlich, warum so viele Zeugen eifrig falsche Erklärungen abgaben: Sie kam sich dumm und nutzlos vor, weil sie nicht wusste, wer das andere Mädchen gewesen war. Wie zum Ausgleich kamen ihr spontan Bilder in den Sinn, bei denen es sich um echte Erinnerungen handeln konnte oder auch nicht.

Sara sagte: »Wenn ich es mir recht überlege, bin ich nicht einmal sicher, ob es wirklich eine Baseballkappe war. Ich habe gar nicht richtig hingesehen.« Sie versuchte ein Lächeln. »Weil ich nach dir Ausschau hielt.«

Das Lächeln erwiderte er nicht, sondern sagte stattdessen: »Ich habe mit ihrer Mutter gesprochen.«

»Was hast du ihr gesagt?«

Sein Sarkasmus kehrte zurück. »Hab Ihre Tochter erschossen, Mrs. Weaver. Tut mir echt leid.«

Sara biss sich auf die Unterlippe. In einem größeren Verwaltungsbezirk wäre Jeffrey nicht die Aufgabe zugefallen, die Angehörigen zu informieren; er wäre sogar für den Zeitraum der Untersuchung suspendiert worden. Aber Grant County war dafür bei Weitem nicht groß genug. Alle Verantwortung lastete auf seinen Schultern.

»Sie wollte keine Obduktion«, sagte er. »Ich musste ihr erklären, dass sie in diesem Fall gar keine Wahl hat. Sie sagte, es sei …« Er hielt inne. »Sie sagte, es sei, als würden wir sie ein zweites Mal töten.«

Sara spürte ihr Schuldgefühl in der Magengrube. »Sie nannte mich einen Kindsmörder«, sagte er. »Ich bin jetzt also ein Kindsmörder.«

Sara schüttelte den Kopf. »Du konntest nicht anders handeln«, sagte sie und wollte das einfach glauben. Sie hatte diesen Mann geliebt und ihr Leben mit ihm geteilt. Es war unmöglich, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte. »Du hast alles versucht.«

Er lachte abfällig.

»Jeff …«

»Du meinst, sie hätte es getan?«, fragte er nochmals. »Ich glaube nicht, dass sie es getan hätte, Sara. Wenn ich mir die Situation ins Gedächtnis rufe, könnte ich mir vorstellen, dass sie einfach weggegangen wäre. Vielleicht hätte sie auch ...«

»Überleg doch mal«, unterbrach Sara und deutete auf den Tisch. »Sie hat ihr Kind getötet, Jeffrey. Glaubst du, sie hätte nicht auch den Vater umgebracht?«

»Wir werden es nie erfahren, oder?«

Wie eine dunkle Wolke lastete das Schweigen auf ihnen. Das Leichenschauhaus befand sich im Untergeschoss des Krankenhauses, ein gekachelter Raum mit rein funktioneller Atmosphäre. Der Kompressor für die Kühlanlage machte das einzige Geräusch und schaltete sich mit einem lauten Klicken ab, das von den Wänden widerhallte.

»War das Baby am Leben?«, fragte Jeffrey. »Als es geboren wurde, lebte es da noch?«

»Ohne medizinische Hilfe hätte es nicht lange überlebt«, sagte Sara, ohne seine Frage direkt zu beantworten. Irgendwie wollte sie Jenny schützen.

»War das Baby am Leben?«, wiederholte er.

»Es war sehr klein«, sagte Sara. »Ich glaube eigentlich nicht, dass es ...«

Jeffrey kam zurück an den Seziertisch. Er vergrub die Hände in den Taschen, während er wie hypnotisiert auf das Baby starrte. »Ich möchte …«, fing er an. »Ich möchte nach Hause fahren. Ich möchte, dass du mit mir kommst.«

»Okay«, antwortete sie. Natürlich hatte sie seine Worte gehört, wusste aber nicht, ob sie ihn verstanden hatte.

Er sagte: »Ich möchte mit dir schlafen.«

In Saras Augen stand der Schock.

»Ich möchte …« Er brach mitten im Satz ab.

Sara starrte ihn an. »Du möchtest ein Baby machen.«

In seinem Blick konnte Sara lesen, dass er nicht im Entferntesten an so etwas gedacht hatte. Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Sie bekam keinen Ton heraus, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Er schüttelte den Kopf. »Das wollte ich nicht sagen.«

Sara wandte sich ab. Ihr Gesicht glühte. Nichts konnte diese Worte ungesagt machen.

Er sagte: »Ich weiß, dass du keine …«

»Vergiss es einfach.«

»Es ist nur so, dass ich …«

Sie war auf sich wütend und nicht auf Jeffrey, aber trotzdem klang ihre Antwort barsch: »Ich sagte, vergiss es.«

Offenbar auf der Suche nach den richtigen Worten ließ Jeffrey ein paar Sekunden verstreichen. Als er dann sprach, klang er traurig. »Ich würde die Uhr einfach gerne um fünf Stunden zurückdrehen, verstehst du?« Er wartete ab, bis sie sich umgedreht hatte. »Ich möchte wieder mit dir auf dieser dämlichen Rollschuhbahn sein und diesmal meinen Pieper, wenn er losgeht, auf den Müll werfen.«

Sara schaute ihn mit großen Augen an, denn sie wagte nicht zu reden.

»Das möchte ich, Sara«, wiederholte er. »An das andere habe ich nicht gedacht. Was du gesagt hast …«

Sie unterbrach ihn, indem sie die Hand hob. Draußen auf der Treppe waren die Schritte von zwei Personen zu hören. Sara ging in ihr Büro und trocknete sich auf dem Weg die Augen. Sie zupfte ein Kleenex aus der Schachtel auf ihrem Schreibtisch und putzte sich die Nase. Dann schluckte sie die selbst verschuldete Demütigung hinunter, zählte ganz langsam bis fünf und riss sich mit aller Kraft zusammen.

Die Detectives Lena Adams und Brad Stephens hatten das Leichenschauhaus betreten und standen neben Jeffrey, dem es allem Anschein nach auch irgendwie gelungen war, seine Gefühle hinter seiner Fassade zu verbergen. Alle drei hatten die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie Cops es zu tun pflegen, wenn sie sich an einem Tatort befinden und nicht fahrlässig Spuren hinterlassen wollen. In diesem Augenblick hasste Sara sie alle, sogar den armen Brad Stephens, der absolut harmlos war.

»He, Dr. Linton«, sagte Brad und nahm seine Mütze ab, als sie den Raum betrat. Sein Gesicht war noch blasser als sonst, und ihm standen Tränen in den Augen.

»Würden Sie …?«, fing Sara an und brach gleich wieder ab. Sie räusperte sich. »Würden Sie bitte nach oben gehen und mir ein paar Laken holen?«, fragte sie. »Bettlaken, vier ungefähr.« Sara brauchte die Laken nicht, aber Brad war früher Patient von ihr gewesen, und sie hatte immer noch das Bedürfnis, ihn zu schützen.

Brad schenkte ihr ein Lächeln, weil er zweifellos froh war, eine Aufgabe zu haben, bei deren Ausführung er den Raum verlassen konnte. »Ja, Ma’am.«

Nachdem er gegangen war, fragte Lena nüchtern: »Ist mit dem Baby schon alles gemacht worden?«

Jeffrey bejahte das, obwohl er gar nicht dabei gewesen war. Er nahm den Bericht vom Ende des Tisches. Sara schwieg, als er einen Stift aus der Brusttasche zog und den Obduktionsbefund abzeichnete. Sie hatte mehrere Gesetze verletzt, indem sie die Obduktion ohne einen Zeugen vorgenommen hatte.

»Ist das Mädchen in der Kühlung?«, fragte Lena und ging auf die Tür der Kühlkammer zu. Es war etwas unbekümmert Forsches in Lenas Gang, als sei das für sie eine alltägliche Situation. Sara wusste, dass Lena viel hatte durchmachen müssen, aber sie ärgerte sich über ihre Gefühlskälte.

»Hier?« Lenas Hand lag bereits auf der Tür der Kühlkammer.

Sara nickte nur. Jeffrey ging zu Lena, um ihr zu helfen, und widerwillig schloss Sara den Reißverschluss vom Leichensack des Babys. Ihr Herz schlug heftig, als Lena und Jeffrey die fahrbare Trage mit der Leiche von Jenny Weaver in den Raum schoben. Am Seziertisch arretierten sie die Räder und warteten darauf, dass Sara den kleinen schwarzen Leichensack mit dem Baby herunternahm. Schließlich hob Jeffrey ihn mit beiden Armen auf. Sara wandte den Blick ab, als er das, was nur der Kopf sein konnte, in der Hand barg. Das leere Ende des Leichensacks schleifte lose über den Boden, als er damit zur Kühlkammer ging.

Lena sah demonstrativ auf die Uhr, und Sara hätte sie am liebsten geohrfeigt. Sara ging zu dem Materialschrank neben dem Waschbecken. Sie öffnete die Folienverpackung, nahm den sterilen Kittel heraus und zog ihn an. Dabei warf sie einen Blick zur Kühlung, weil sie sich fragte, warum Jeffrey so lange brauchte. Sie hob gerade zusammen mit Lena die Leiche auf den Tisch, als er auftauchte.

»Hier«, sagte er und nahm Lenas Stelle ein, um die tote Jenny Weaver auf den weißen Porzellantisch zu legen. Das Mädchen war fast zu groß und breit für den Tisch, und Jeffrey und Sara hatten Mühe, sie in die richtige Position zu bringen.

Sara legte der Leiche einen schwarzen Block unter den Kopf und versuchte, die Gerichtsmedizinerin zu sein und nicht die Ärztin des Mädchens. In ihren zehn Jahren als Amtsärztin war es nur viermal vorgekommen, dass Sara die Toten gekannt hatte. Jenny Weaver war das erste Opfer, das sie als Patientin aus der Kinderklinik kannte.

Sara rollte einen Wagen mit frischen Instrumenten heran und prüfte, ob sie alles hatte, was sie brauchte. Die beiden Schläuche am Kopf des Tisches dienten dazu, während der Untersuchung Flüssigkeiten abzusaugen. Über ihnen hing eine große Waage für die Organe. Am Fuß des Tisches befand sich eine Schale fürs Sezieren. Der Tisch selbst war konkav mit erhöhten Seitenrändern, damit nichts auf den Fußboden fiel oder tropfte, und war zum Fußende hin deutlich zu einem großen Messingabfluss hin geneigt.

Carlos, Saras Assistent hier im Leichenschauhaus, hatte ein weißes Tuch über Jenny Weavers Leiche gebreitet. Ein mittelgroßer roter Fleck hatte sich auf Höhe ihrer Kehle gebildet. Sara hatte Jenny Carlos anvertraut, solange sie selbst mit dem Baby beschäftigt gewesen war. Er hatte die Röntgenaufnahmen gemacht und Jenny für die Obduktion vorbereitet, während Sara vergeblich versucht hatte, noch etwas für das Baby zu tun. Wenn Carlos überrascht gewesen war, als Sara ihm mitteilte, er könne nach Hause gehen, sobald er seine Arbeit an Jenny beendet hatte, hatte er nichts dergleichen gesagt.

Sara faltete das Tuch bis kurz oberhalb der Brust zurück. Die Wunde war ganz und gar nicht sauber, der größte Teil der rechten Halsseite war zerschossen und hing in Fetzen herunter. Im geronnenen schwarzen Blut um die Wunde waren deutlich Knorpel und Knochen zu erkennen.

Sara ging zum Lichtkasten an der Wand und schaltete ihn ein. Das Licht flackerte und erleuchtete dann die Röntgenaufnahmen, die Carlos von Jenny Weaver gemacht hatte.

Konzentriert studierte Sara die Bilder und verstand anfangs nicht, was sie sah. Sie überprüfte noch einmal den Namen auf dem Obduktionsformular, bevor sie ihre Befunde laut aussprach. »Man sieht hier die verblassten Anzeichen eines Bruchs des linken Oberarms, der meiner Ansicht nach kein Jahr alt ist. Es handelt sich um keine typische Fraktur, besonders für jemanden, der unsportlich war, und ich nehme an, dass sie von einer Misshandlung herrührt.«

»Hast du sie wegen dieser Sache behandelt?«, fragte Jeffrey.

»Natürlich nicht«, antwortete Sara. »Das hätte ich doch gemeldet. Jeder Arzt hätte das gemeldet.«

»Schon gut«, sagte Jeffrey mit abwehrend erhobenen Händen. Ihr Ton musste schärfer geraten sein, als Sara bewusst war, denn Lena schien ein intensives Interesse am Fußboden entwickelt zu haben.

Sara wandte sich wieder den Röntgenbildern zu. »Da gibt es zudem Spuren eines Traumas am Knorpelansatz der unteren Rippen.« Sie deutete auf die Aufnahme des Brustbereichs. »Hier oben, in der Nähe des Brustbeins, befindet sich eine Quetschung, die auf einen harten Stoß oder Schubs nach posterior hinweist, also nach hinten.« Sie wartete die Wirkung ihrer Worte ab und fragte sich, ob Jenny wegen dieser Verletzungen bei einem anderen Arzt gewesen war. Jeder Assistenzarzt im ersten Jahr hätte erkennen müssen, dass hier etwas nicht stimmte.

Sara sagte: »Die Person, die das getan hat, muss größer gewesen sein als Jenny. Und diese Verletzungen sind erst kürzlich entstanden.«

Sara schob die nächste Aufnahme auf den Lichtkasten. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und schaute prüfend auf das Bild. »Das hier ist der Beckengürtel«, erläuterte sie. »Man beachte diese kaum wahrnehmbare Linie hier auf dem Ischium. Das dürfte auf traumatischen Druck gegen das Schambein hinweisen. Gemeinhin bezeichnet man dies als eine Stressfraktur.«

»Stress wodurch?«, fragte Jeffrey.

Zu Saras Verblüffung lieferte Lena die Antwort.

»Sie wurde vergewaltigt«, sagte Lena so, als würde sie erwähnen, dass die Augen des Mädchens blau seien. »Brutal vergewaltigt. Stimmt’s?«

Sara nickte und wollte noch etwas sagen, als sie wieder Schritte auf der Treppe hörte. Dem Schlurfen nach musste Brad zurückgekehrt sein.

»Hier sind sie«, sagte Brad und schob sich rückwärts zur Tür herein. Unterm Arm trug er die Laken, die Mütze baumelte an seiner Hand.

Sara stellte sich ihm in den Weg und fragte: »Haben Sie auch die Kissenbezüge mitgebracht?«

»Oh«, sagte Brad verdutzt. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, nein.«

»Ich glaube, die gibt es in der obersten Etage«, sagte Sara. »Könnten Sie mir mindestens vier holen?«

»Ja, Ma’am«, erwiderte er. Die Laken legte er auf den Tisch an der Tür.

Als er gegangen war, verschränkte Lena die Arme. »Er ist kein Kind mehr«, sagte sie.

Zum ersten Mal, seit sie das Leichenschauhaus betreten hatte, richtete Jeffrey das Wort an Lena, und zwar mit einem völlig untypischen »Ruhe!«.

Lena lief rot an, sagte aber nichts. Ebenfalls untypisch.

»So eine Quetschung am Brustkorb kann man eigentlich nur mit Schmerzmitteln behandeln«, fuhr Sara fort. »Auch ein Beckenbruch heilt von allein. Das würde auch erklären, warum sie in letzter Zeit so zugenommen hat. Es muss ihr schwergefallen sein, sich zu bewegen.«

Jeffrey fragte: »Glaubst du, ihr Freund hat sie missbraucht?«

»Wer auch immer«, sagte Sara und sah sich die Röntgenaufnahmen noch einmal genau an, um sicherzugehen, dass ihr nichts entgangen war. Sooft sie Jenny Weaver auch gesehen hatte, der Verdacht des Kindesmissbrauchs war Sara nie gekommen. Wie das Kind das geheim gehalten hatte und warum, wusste Sara nicht. Natürlich brauchte man bei Halsschmerzen keine Röntgenbilder, und Jenny hatte sich bei keiner der Untersuchungen ausziehen müssen. Teenager sind höchst schamhaft, und wenn es darum ging, Herz und Lunge abzuhören, hatte Sara das Stethoskop stets unter Jennys Hemd oder Pullover geschoben, damit ihr die Untersuchung nicht peinlich war.

Sara ging zurück an den Tisch, um die Voruntersuchung wieder aufzunehmen. Ihre Hände zitterten leicht, als sie das Tuch zurückschlug, und sie konzentrierte sich so sehr darauf, ihre Hände unter Kontrolle zu bekommen, dass ihr erst nicht auffiel, was sie da freigelegt hatte.

»Ach, du Scheiße«, sagte Lena und pfiff leise durch die Zähne.

Jeffrey wies sie diesmal nicht zurecht, und Sara verstand auch, warum. Der Leichnam des Mädchens war mit kleinen Schnitten übersät, hauptsächlich an Armen und Beinen. Die Wunden befanden sich in den verschiedensten Heilungsphasen, und manche sahen so aus, als seien sie höchstens ein paar Tage alt.

»Was ist denn das?«, fragte Jeffrey. »Wollte sie sich umbringen?«

Sara sah sich die Schnitte in der Haut genauer an. Keiner von ihnen verlief über die Pulsadern oder befand sich an Stellen, die normalerweise auffallen würden. Damit wäre zumindest geklärt, warum das Mädchen mitten im Hochsommer ein langärmliges Hemd trug. Ungefähr zehn Zentimeter über dem linken Handgelenk begannen schmale Reihen tiefer Schnitte, die den ganzen Unterarm überzogen. Dunklere Narben deuteten darauf hin, dass Jenny sich immer wieder so verletzt haben musste. Die Schnitte an den Beinen waren noch tiefer und verliefen kreuz und quer. An den Narben sah Sara, dass die tiefsten Schnitte vom Knie aus bis weit den Oberschenkel hinaufreichten. Auch die hatte das Mädchen sich selbst zugefügt.

»Was ist das denn?«, fragte Jeffrey, obwohl er es hätte wissen müssen.

»Ritzen«, sagte Lena.

»Autoaggressives Syndrom«, korrigierte Sara, als ob es dadurch besser würde. »Das sehe ich immer wieder in der Klinik.«

»Wieso?«, fragte Jeffrey. »Warum macht jemand so was?«

»Meistens aus Dummheit«, sagte Sara. Sie wurde plötzlich wütend. Wie oft hatte sie dieses Mädchen in der Sprechstunde gehabt? Wie viele Anzeichen waren ihr entgangen? »Manchmal wollen sie schlicht wissen, wie es sich anfühlt. Gewöhnlich wollen sie einfach nur angeben und denken nicht an die Konsequenzen. Dies hier …« Sie hielt inne und musterte die tiefen Schnitte an Jennys linkem Oberschenkel. »Dies hier ist etwas anderes. Sie hat die Schnitte versteckt, sie wollte nicht, dass jemand etwas davon mitbekam.«

»Wieso?«, wiederholte Jeffrey. »Warum tat sie das?«

»Kontrolle«, antwortete Lena ihm, und Sara gefiel der Blick nicht, mit dem sie das Kind bedachte. Darin lag nämlich ein gewisser Respekt.

»Es handelt sich um eine starke Psychose«, entgegnete Sara. »Menschen, die unter Bulimie oder Anorexie leiden, tun so etwas häufig. Es hat sehr viel mit Selbsthass zu tun.« Sie sah Lena streng an. »Gewöhnlich gibt es dafür einen Auslöser. Zum Beispiel Missbrauch oder Vergewaltigung.«

Lena hielt ihrem Blick nur kurz stand, bevor sie sich abwandte. Sara fuhr fort. »Es gibt jedoch auch andere mögliche Ursachen: Drogenmissbrauch, Geisteskrankheit, Probleme in der Schule oder im Elternhaus.«

Sara ging an den Materialschrank und nahm ein Spekulum heraus. Nachdem sie sich ein zweites Paar Handschuhe übergestreift hatte, befreite sie das Spekulum aus seiner Plastikverpackung und öffnete es mit einem Klicken. Bei dem Ton zuckte Lena leicht zusammen, und Sara registrierte dankbar, dass die Polizistin doch zu irgendeiner Gefühlsregung imstande war.

Sara ging langsam an das Fußende der Leiche und schob die Füße auseinander. Abrupt hielt sie inne, als könne sie nicht fassen, was sie sah. Das Spekulum fiel klirrend auf den Tisch.

Lena fragte: »Was ist denn?«

Sara antwortete nicht. Sie hatte gedacht, dass sie nach dem heutigen Abend nichts mehr schockieren könne. Wie sehr sie sich geirrt hatte!

»Was ist denn?«, wiederholte Lena.

»Das war nicht ihr Kind«, antwortete Sara. »Sie hat überhaupt kein Kind geboren.«

Jeffrey deutete auf das unbenutzte Spekulum. »Wie kannst du dir so sicher sein, ohne sie eingehend untersucht zu haben?«

Sara starrte die beiden an, weil sie nicht wusste, wie sie es ausdrücken sollte. »Ihre Vagina ist zugenäht«, sagte sie schließlich. »Und nach dem Heilungsprozess zu urteilen, würde ich sagen, schon seit mindestens einem halben Jahr.«

VIER

Lena sah zum Autofenster hinaus und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Das Provisorium fühlte sich immer noch künstlich an, sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. In drei Wochen würden ihr vier endgültige Stiftzähne eingesetzt, in ihre Kieferknochen geschraubt werden wie winzige Glühbirnen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war. Im Moment war das alles eine ständige Erinnerung an das, was ihr vor vier Monaten passiert war.

Sie versuchte diese Erinnerung zu verdrängen, während sie die vorüberziehende Landschaft betrachtete. Grant County war klein, wenn auch nicht so klein wie Reese, wo Lena und Sibyl, ihre Zwillingsschwester, aufgewachsen waren. Ihr Vater war »in Erfüllung seiner Pflicht« gefallen, acht Monate bevor sie geboren wurden, und ihre Mutter war bei der Geburt gestorben. Die Aufgabe, die beiden Mädchen großzuziehen, war ihrem Onkel Hank Norton zugefallen, einem speedsüchtigen Alkoholiker, der während der Kindheit seiner Nichten noch lange mit beiden Abhängigkeiten zu kämpfen hatte. Eines sonnigen Nachmittags hatte der betrunkene Hank seinen Wagen rückwärts aus der Einfahrt gesetzt und dabei die kleine Sibyl angefahren. Lena hatte es ihm nie verziehen, dass ihre Schwester daraufhin erblindet war. Sie konnte Hank diesen Unfall einfach nicht vergeben, und er reagierte auf ihren Hass seinerseits mit einem anscheinend unüberwindbaren Groll. Ihre gemeinsame Vergangenheit hinderte die beiden daran, aufeinander zuzugehen. Und auch nachdem Sibyl tot war und Lena selbst sich so gut wie tot fühlte, war Hank Norton für sie höchstens ein notwendiges Übel in ihrem Leben.

»Heiß draußen«, murmelte Hank und tupfte dabei seinen Nacken mit einem zerschlissenen Taschentuch ab. Die Klimaanlage röhrte so laut, dass Lena ihn kaum verstehen konnte. Hanks alte Mercedes-Limousine war eher ein Panzer als ein Auto. Alles im Innern dieses Autos wirkte übertrieben. Die Sitze waren zu groß. Ein Pferd hätte genug Beinfreiheit gehabt. Die Instrumente des Armaturenbretts waren überdimensioniert und ihr Design eher darauf ausgerichtet, Eindruck zu schinden als zu informieren. Doch es war auch angenehm, in einem so soliden Fahrzeug zu sitzen. Sogar auf dem Kiesweg zu Lenas Haus schien der Wagen über den Boden zu gleiten.

»Echt heiß«, wiederholte Hank. Je älter er wurde, desto öfter machte er das, als könne die Wiederholung irgendwelcher Phrasen die Tatsache ausgleichen, dass er nicht viel zu sagen hatte.

»Ja«, sagte Lena und starrte dann wieder zum Fenster hinaus. Sie spürte, dass Hank sie ansah und wahrscheinlich überlegte, worüber er mit ihr reden könnte. Aber schon bald gab er offenbar auf, denn er machte das Radio an.

Lena ließ den Kopf nach hinten sinken und schloss die Augen. Eines Sonntags, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie sich bereit erklärt, mit ihrem Onkel in die Kirche zu gehen, und im Laufe der folgenden Monate waren die Kirchgänge zur Gewohnheit geworden. Lena schloss sich ihnen eher an, weil sie Angst davor hatte, allein zu Hause zu bleiben, als dass sie es etwa auf die Absolution angelegt hätte. Ihrer Überzeugung nach würde sie nie wieder für irgendwas um Vergebung bitten müssen. Sie hatte Gott – oder wer auch immer für den Gang der Dinge verantwortlich war – vor vier Monaten ihren Tribut bezahlt, als sie vergewaltigt und dabei unter Drogen gesetzt worden war, die bewirkt hatten, dass sie sich in einer albtraumhaften Welt aus Schmerz und trügerischer Transzendenz verloren hatte.

Wieder unterbrach Hank: »Alles okay, Baby?«

Was für eine bescheuerte Frage, dachte Lena. Was für eine absolut bescheuerte Frage.

»Lee?«

»Sicher«, antwortete sie und merkte, wie das Wort zwischen ihrem Provisorium hervorzischte.

»Nan hat wieder angerufen.«

»Ich weiß«, antwortete Lena. Nan Thomas, bis zu Sibyls Tod deren Geliebte, hatte im vergangenen Monat ab und zu angerufen.

»Sie hat noch Sachen von Sibby«, sagte Hank, obwohl ihm klar sein musste, dass Lena das wusste. »Die will sie dir einfach nur geben.«

»Warum gibt sie das Zeug nicht dir?«, konterte Lena. Dazu musste sie diese Frau doch nicht sehen, sie wollte das auch gar nicht, und das wusste Hank. Trotzdem kam er ihr immer wieder damit.

Jetzt wechselte er das Thema. »Das Mädchen gestern Abend«, fing er an. Er stellte das Radio leiser. »Da warst du doch dabei, hm?«

»Sicher«, sagte sie, und wieder war da dieses Zischen.

Lena biss die Zähne zusammen, zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Würde sie jemals wieder ganz normal sprechen können? Oder würde sogar der Klang ihrer Stimme eine ständige Erinnerung an das sein, was er ihr angetan hatte?

Er, dachte Lena, die sich nicht erlaubte, seinen Namen zu benutzen. Ihre Hände ruhten im Schoß, und sie blickte hinunter auf die spiegelbildlichen Narben auf den beiden Handrücken. Hätte Hank nicht neben ihr gesessen, hätte sie bestimmt die Hände umgedreht und auch die Handflächen betrachtet. Durch sie hindurch waren die Nägel getrieben worden, um sie anschließend in den Fußboden zu hämmern. Dieselben Narben verunzierten auch ihre Füße, genau in der Mitte zwischen Zehen und Knöcheln. Nach zwei Monaten Krankengymnastik hatte sie ihre Hände wieder normal gebrauchen können, und inzwischen konnte sie auch wieder gehen, ohne vor Schmerzen zusammenzuzucken, aber die Narben würden immer bleiben.

Lena erinnerte sich nur an einige wenige Bruchstücke dessen, was ihrem Körper angetan worden war, während sie sich in der Gewalt des Entführers befunden hatte. Nur die Narben und der Bericht in ihren Krankenakten erzählten die ganze Geschichte. Gut erinnerte sie sich nur an die Augenblicke, wenn die Wirkung der Droge nachgelassen hatte und er zu ihr gekommen war, sich zu ihr auf den Fußboden gesetzt hatte, als hielten sie im Ferienlager eine Bibelstunde ab, und dann Geschichten aus seiner Kindheit und aus seinem Leben erzählt hatte, als seien sie ein verliebtes Paar, das einander langsam näher kennenlernte.

Noch immer war Lenas Kopf voller Einzelheiten aus seinem Leben: sein erster Kuss, seine erste Liebeserfahrung, seine Hoffnungen und Träume, seine kranken Zwangsvorstellungen. All das kam ihr so leicht und schnell in den Kopf wie die Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit. Hatte sie ihm etwa ähnliche Geschichten von sich erzählt? Sie konnte sich nicht entsinnen, und das hatte sie fast tiefer verletzt als die physischen Vergewaltigungen. Manchmal empfand Lena die Male an ihrem Körper als belanglos im Vergleich zu den intimen Gesprächen, die sie mit dem Mann hatte führen müssen. Er hatte sie nicht nur missbraucht, sondern so manipuliert, dass sie die Kontrolle über ihre Gedanken verlor. Er hatte nicht nur ihren Körper vergewaltigt, sondern auch ihre Seele.

Sogar jetzt vermischten sich seine Erinnerungen noch mit den ihren; manchmal, bis sie nicht mehr wusste, ob etwas ihm oder ihr passiert war oder auch gar nicht. Sibyl, der einzige Mensch, der Klarheit hätte schaffen können, der einzige Mensch, der Lena ihr Leben hätte zurückgeben können, besonders ihre Kindheit, war ihr ebenfalls von ihm genommen worden.

Autor

Entdecken Sie weitere Romane aus unseren Serien

Grant County Serie