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Verliebt bis in die Fingerspitzen

hier erhältlich:

Eines hat Hundesitterin Fliss schon als Kind gelernt: Zeig niemandem, wie verletzbar du bist. Zeig niemandem deine Gefühle. Als sie erfährt, dass ihr Ex Seth als Arzt in der örtlichen Tierklinik anfängt, brennen Erinnerungen wie die Sonne auf ihrer Haut: die zärtlichen Stunden am Strand, der Geruch des Meeres. Prompt flüchtet sie aus New York in die Hamptons. Doch dort trifft sie ausgerechnet auf Seth. Verwirrt schlüpft sie in die Rolle ihrer Zwillingsschwester, um der schmerzlichen Begegnung aus dem Weg zu gehen: der Begegnung mit dem größten Fehler ihres Lebens ...


  • Erscheinungstag: 04.06.2018
  • Aus der Serie: From Manhattan With Love
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767778
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leserinnen und Leser,

ich liebe es, über Freundschaften zu schreiben, vor allem über die zwischen Schwestern. Fliss, die Heldin dieses Romans, ist ein Zwilling, aber sie und ihre Schwester Harriet sind grundlegend verschieden. Doch was könnte interessanter sein als zwei Menschen, die äußerlich identisch, aber innerlich vollkommen unterschiedlich sind? Fliss ist eine Kämpferin und die Beschützerin ihrer Schwester, aber tief in ihrem Inneren ist sie selbst sehr verletzlich. Als ihr Ex-Mann auftaucht, ist sie gezwungen, sich Themen zu stellen, die sie glaubte, schon lange hinter sich gelassen zu haben. Aber Fliss ist nicht mehr die, die sie mit achtzehn war (ist das irgendjemand von uns?), und sie wird lernen, wie sehr Zeit und das Leben die Dinge ändern können.

Dieses Buch erkundet, wie sich Beziehungen verändern – nicht nur romantische Beziehungen, sondern auch die zwischen Großmutter und Enkelin, zwischen Schwester und Schwester (und zwischen Frau und Hund!). Das alles vor dem Hintergrund des Meeres und der Dünen.

Die Hamptons fielen mir zum ersten Mal bei einem Blick aus einem Flugzeugfenster auf, und ich war sofort gebannt von den langen Sandstränden, den Dünen und den Segelbooten, die wie kleine weiße Wolken auf dem glitzernden Meer schwebten. Die Hamptons sind ein beliebter Ort für New Yorker, um dem Wahnsinn der Stadt zu entkommen, und mir erschienen sie wie der perfekte Schauplatz für einen Sommerroman.

Wo auch immer ihr diesen Sommer seid, ich hoffe, dieses Buch bietet euch die perfekte Unterhaltung.

Alles Liebe,
Sarah
xxx

Für Flo mit Liebe und Dank für all die Einsichten in das Leben eines Zwillings.
Du bist die Beste.

Das menschliche Herz hütet verborgene Schätze,

Geheim gehalten, mit Schweigen versiegelt;

Die Gedanken, die Hoffnungen, die Träume, die Vergnügungen,

Deren Charme gebrochen wäre, würden sie enthüllt.

– Charlotte Brontë

Prolog

Von allen achtzehnten Geburtstagen musste das hier der schlimmste sein.

Fliss rannte durch den überwucherten Garten, der sich an drei Seiten um das Strandhaus zog. Sie spürte weder den scharfen Stich der Brennnesseln noch die peitschenden Schläge der langen Grashalme gegen ihre nackten Waden, denn sie fühlte bereits zu viele andere Dinge. Größere Dinge.

Das alte, rostige Tor kratzte sie an der Hüfte, als sie sich hindurchzwängte und von Kummer getrieben über den grasbewachsenen Weg durch die Dünen zum Strand lief. Niemand konnte sie jetzt mehr einholen. Sie würde einen Ort fort von allen finden. Fort von ihm. Und sie würde erst wieder nach Hause zurückkehren, wenn er gegangen war. Die Geburtstagstorte würde ungegessen bleiben, die Kerzen unangezündet, die Teller unberührt. Es würde kein Lied, keine Glückwünsche, keine Feier geben. Was gab es auch schon zu feiern?

Flammen der Wut begannen ihre Traurigkeit zu entzünden, und unter der Wut und der Traurigkeit wartete der Schmerz. Ein Schmerz, den sie sich bemühte, niemals zu zeigen. Lass einen Tyrannen niemals sehen, dass du Angst hast. Zeige nie deine Verletzlichkeit. Hatte ihr Bruder ihr nicht genau das beigebracht? Und ihr Vater, das hatte sie schon vor langer Zeit erkannt, war ein Tyrann.

Wenn sie ihn in einem Wort beschreiben müsste, würde sie zornig sagen.

Und sie hatte es nie verstanden.

Fliss wurde auch ab und zu wütend, genau wie ihr Bruder, aber hierfür gab es immer einen konkreten Auslöser. Bei ihrem Vater gab es den nicht. Es war, als wachte er am Morgen auf, um sich darin zu baden.

Worte hallten im Rhythmus ihrer Schritte durch ihren Kopf.

Ich hasse ihn, hasse ihn, hasse ihn …

Ihre Füße trafen auf Sand. Der Wind fegte durch ihre Haare. Sie nahm einen tiefen Atemzug und schmeckte Meer und Salz in der Luft. Während sie die Tränen zurückzuhalten versuchte, probierte sie, den Klang der Stimme ihres Vaters durch die vertraute Musik der Möwen und der Wellen zu ersetzen.

Es hätte ein perfekter Sommertag sein sollen, aber ihr Vater hatte diese Art, den Sonnenschein aus dem sonnigsten Tag zu ziehen und heute bildete da keine Ausnahme. Nicht einmal an dem Tag, an dem sie achtzehn wurde. Er hatte immer gewusst, wie er dafür sorgen konnte, dass sie sich schlecht fühlte.

Sie versuchte, ihre Gefühle abzuhängen, indem sie noch schneller lief, bis ihr Atem an ihrer Brust zerrte und ihr Herz hämmerte wie Fäuste auf einen Sandsack.

Du machst nichts als Ärger. Du bist nutzlos, zu nichts gut, wertlos, dumm …

Wenn sie so wertlos war, wie er glaubte, dann sollte sie vermutlich ins Meer rennen, aber er wäre erfreut, sie los zu sein, und sie sollte verdammt sein, wenn sie auch nur irgendetwas täte, das ihm gefiel.

In letzter Zeit hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, der schlechten Meinung, die er von ihr hatte, zu entsprechen. Nicht, weil sie Ärger machen wollte, sondern weil seine Regeln einfach keinen Sinn ergaben und es unmöglich war, ihn zufriedenzustellen.

Das Gemeinste war, dass er nicht einmal hier sein sollte.

Die Sommermonate waren ihre Oase, ihre Zeit ohne ihn. Zeit, die sie mit ihren Geschwistern verbrachte, mit ihrer Mutter und Großmutter, während ihr Vater in der Stadt blieb und seinen Zorn jeden Tag mit zur Arbeit nahm.

Sie hatte im Laufe der Jahre gelernt, diese kostbaren Wochen zu lieben, in denen das Sonnenlicht durch die Dunkelheit brach und sie mit Sand an den Füßen und einem fröhlichen Lachen ins Haus zurückkehrte. Sie blieben lange auf und erwachten morgens leichter und glücklicher. An einigen Tagen nahmen sie ihr Frühstück mit an den Strand und aßen es direkt am Meer. Für den heutigen Morgen, für ihr Geburtstagsfrühstück, hatte sie sich einen Korb reifer Pfirsiche ausgesucht. Sie hatte sich gerade den Saft vom Kinn gewischt, als sie das Knirschen der Reifen des Wagens ihres Vaters auf dem Kies vor dem Strandhaus hörte.

Ihre Zwillingsschwester war erblasst. Ihr selbst war der Pfirsich aus den Fingern geglitten und auf dem Sand aufgeprallt, wo die samtene Haut von einer rauen Sandschicht benetzt wurde. Wie das Leben, hatte Fliss gedacht und ihren Unmut zu verbergen versucht.

Ihre Mutter hatte sich hektisch die Schuhe angezogen und sich bemüht, mit einer wie Espenlaub zitternden Hand ihr windzerzaustes Haar zu bändigen. Den Sommer über war sie eine andere Frau. Ein Außenseiter hätte vermutlich gedacht, diese Veränderung wäre dem entspannten Gang des Strandlebens zu verdanken, aber Fliss wusste, es lag daran, dass ihr Vater nicht da war.

Und jetzt war er hier und brach einfach in ihr friedvolles Strandidyll ein.

Ihr Bruder hatte, ruhig wie immer, die Kontrolle übernommen. Vermutlich ist es nur eine Lieferung, hatte er gesagt. Oder ein Nachbar.

Doch alle hatten gewusst, dass es weder eine Lieferung noch ein Nachbar war. Ihr Vater fuhr so, wie er alles tat: zornig, wobei er den Motor aufheulen ließ, sodass kleine Steine aufstoben. Zornig war seine Visitenkarte.

Fliss wusste, dass er es war, und der süße Pfirsichgeschmack wurde in ihrem Mund bitter. Sie war es gewohnt, dass ihr Vater jeden Teil ihres Lebens ruinierte, aber jetzt auch noch ihren Sommer?

Der wolkenlose, blaue Himmel schien sich mit einem Mal zuzuziehen, und sie wusste, bis ihr Vater nicht wieder abgefahren war, würde sie ihre schlechte Laune wie eine Fußfessel mit sich herumschleppen.

Sie war entschlossen, ihn so wenig wie möglich zu sehen, weshalb sie sich für den Strand anstelle ihres Zimmers entschieden hatte.

Ihre Flip-Flops bremsten ihr Tempo, also wurde sie langsamer und zog sie aus. Mit beinahe geräuschlosen Schritten rannte sie weiter, und der Sand fühlte sich unter ihren Fußsohlen kühl und glatt an. In der Ferne sah sie die weißen Kämme der Wellen, die sich an den Felsen brachen, hörte das Krachen und Zischen der Brandung, die sich an den Strand warf und wieder zurückzog.

Irgendwo noch weiter in der Ferne rief jemand ihren Namen, und sie beschleunigte ihre Schritte.

Sie wollte niemanden sehen. Nicht jetzt, wo sie labil und verletzlich war. Sie behielt ihre Gefühle immer für sich, doch im Moment fehlte ihr der Platz, um sie alle unterzubringen. Sie füllten den gesamten Raum um ihr Herz, ließen ihren Kopf schmerzen und ihre Augen brennen. Sie würde nicht weinen. Sie weinte nie. Diese Befriedigung würde sie ihnen nicht geben. Wenn ihre Augen feucht waren, lag das am Wind.

»Fliss!«

Sie hörte erneut ihren Namen und wäre beinahe gestolpert, denn dieses Mal erkannte sie die Stimme. Seth Carlyle. Der älteste Sohn von Matthew und Catherine Carlyle. Alter Geldadel. Wohlhabend, erfolgreich, klug und anständig. Stilvoll. In dieser Familie gab es keine Leichen im Keller. Keine lauten Stimmen oder Kinder, die vor Angst zitterten. Sie hätte wetten können, dass Catherine Carlyle nicht an den Wänden entlang durchs Haus schlich, um ja nicht die Aufmerksamkeit ihres Ehemannes zu erregen. Und in einer Million Jahren könnte sie sich nicht vorstellen, dass Matthew Carlyle seine Stimme erhob. Im Haus der Carlyles waren Teller für das Servieren von Speisen da, nicht als Wurfgeschosse. Und sie war sicher, dass Seth nie etwas getan hatte, weshalb sein Vater sich für ihn schämen oder von ihm angewidert sein sollte. Er war ein echter Goldjunge.

Er war außerdem der Freund ihres Bruders. Wenn er wüsste, dass sie traurig war, würde er es ihm erzählen, worauf Daniel sich wieder einmal zwischen sie und ihren Vater stellen würde. Sein Beschützerinstinkt hatte ihn schon häufiger, als sie es aufzählen konnte, in die Schusslinie gebracht. Es machte ihr nichts aus, wenn er das für ihre Zwillingsschwester tat, denn wenn Harriet gestresst war, stotterte sie oft so sehr, dass sie nicht immer für sich sprechen konnte. Aber Fliss wollte nicht, dass er es für sie tat. Sie konnte ihre eigenen Schlachten schlagen, und im Moment hatte sie den Drang, bis aufs Blut zu kämpfen.

Sie ignorierte Seths Stimme und rannte weiter. Er würde ihr nicht folgen. Er würde zu dem Beach-Volleyballspiel mit seinen Freunden zurückkehren oder vielleicht surfen oder schwimmen gehen. Er würde all die Dinge tun, die sie für heute auch vorgehabt hatte, bevor ihr Vater unerwartet über das Wochenende aufgetaucht war und alles kaputt gemacht hatte.

Sie rannte, bis sie die Felsen erreichte. Ohne Pause kletterte sie über die spitzen Kanten, ignorierte das Stechen in ihrer Handfläche und landete auf dem weichen Sand auf der anderen Seite.

Diesen Teil der Hamptons besuchte sie seit ihrer Geburt, denn die Sommer, die sie hier mit ihrer Zwillingsschwester und ihrem Bruder bei ihrer Großmutter verbrachte, bedeuteten ihr die einzigen glücklichen Erinnerungen ihrer Kindheit.

»Fliss?« Wieder war es Seth. Dieses Mal klang seine Stimme tiefer, leiser, näher.

Verdammt. »Lass mich in Ruhe, Seth.«

Doch das tat er nicht, sondern er sprang behände und sportlich von den Felsen. Seine Schultern verdeckten die Sonne. Er trug nur seine Surfershorts.

Auf seiner nackten Brust glitzerten Wassertropfen. Er war im Schwimmteam seines Colleges, und die letzten vier Sommer als Rettungsschwimmer am Strand hatten ihm Muskeln an den richtigen Stellen beschert. Alle auf der Insel wussten von dem Vorfall, bei dem Seth Carlyle sein eigenes Leben riskiert hatte, um zwei Kinder zu retten, die alle Warnungen ignoriert hatten und mit ihrem Schlauchboot aufs Meer hinaus gerudert waren. So ein Junge war Seth. Er tat immer das Richtige.

Sie hingegen tat immer das Falsche.

Den ganzen Sommer über hatte Fliss gehört, wie die anderen Mädchen von Seth schwärmten, und es war nicht schwer zu verstehen, was sie in ihm sahen. Er war klug und hatte einen wunderbaren Humor, er war selbstbewusst, ohne arrogant zu sein. Und er war sexy. Unglaublich sexy mit einem schlanken, kraftvollen Körper und einer Haut, die sich beim ersten Kontakt mit den Sonnenstrahlen golden färbte. Seine Augen und Haare waren pechschwarz, das Erbe der großväterlichen Seite der Familie, die aus Italien stammte. Er war genauso alt wie ihr Bruder, womit er zu alt für sie war. Ihr Vater würde wegen des fünfjährigen Altersunterschieds ausflippen. Mädchen in deinem Alter sollten mit Jungs ausgehen, nicht mit Männern.

Während sie beobachtete, wie Seth auf sie zu schlenderte, spürte sie, dass ihre Muskeln sich verkrampften. Ganz eindeutig hatte ihre Libido die Situation nicht verstanden. Oder aber sexuelle Anziehung kannte keine Altersunterschiede.

Vielleicht wollte sie ihn aber auch eben, weil sie wusste, dass ihr Vater ausrasten würde.

Er baute sich vor ihr auf. »Was ist los?«

Woher wusste er, dass etwas los war? Sie hatte jahrelange Übung darin, ihre Gefühle zu verbergen, aber Seth schien immer durch ihre Schutzschichten hindurchschauen zu können, die alle anderen von der Wahrheit ablenkten.

Sie hatte Harriet gegenüber gewitzelt, dass er einem Röntgenapparat oder einem Computertomografen glich, aber in Wahrheit war er einfach nur beängstigend feinfühlig. Oder vielleicht sollte sie lieber sagen, er war feinfühlig und sie verängstigt.

Wenn sie wollen würde, dass die Leute wussten, wie schlecht sie sich meistens fühlte, würde sie es ihnen sagen.

»Nichts ist los.« Sie erwähnte den Streit mit ihrem Vater nicht. Denn sie sprach mit niemandem je über ihn. Sie wollte nicht, dass die Leute davon erfuhren. Sie wollte kein Mitleid. Und sie wollte vor allem nicht, dass irgendjemand mitbekam, wie schlecht es ihr nach einem Streit mit ihrem Vater jedes Mal ging. Nicht nur, weil sie gelernt hatte, ihre Gefühle zu verbergen, sondern weil ein Teil von ihr fürchtete, wenn sie die Worte laut ausspräche, könnten sie wahr werden. Sie wollte dem nagenden Gefühl, ihr Vater könnte recht haben und sie tatsächlich wertlos und nutzlos sein, wie er es behauptete, keine Stimme verleihen.

Aber Seth ließ sich nicht so einfach ablenken. »Bist du sicher? Denn du siehst nicht aus wie eine Frau, die ihren achtzehnten Geburtstag feiert.«

Eine Frau.

Er hatte sie eine Frau genannt.

Das machte sie ganz kribbelig. Hier und jetzt spürte sie, wie der Altersunterschied verschwand. Gelassenheit und Stärke ersetzten Zweifel und Unsicherheit. »Ich wollte einfach ein wenig Zeit für mich.«

»An deinem Geburtstag? Das klingt nicht richtig. Niemand sollte seinen Geburtstag allein verbringen, vor allem nicht den achtzehnten.«

Sie kannte Seth seit Jahren, aber in diesem Sommer waren sie einander nähergekommen. Anders als ihr Vater schienen ihre Eskapaden Seth nicht aufzuregen. Als sie eines Nachts nackt im Meer baden gegangen war, hatte ihre Zwillingsschwester Harriet sie angefleht, es nicht zu tun, aber Seth hatte nur gelacht. Er hatte nicht mitgemacht, aber er hatte an den Felsen gewartet, bis sie sicher wieder an Land gewesen war. Denn Seth Carlyle tut immer das Richtige.

Er hatte ihr keine Vorhaltungen gemacht oder sie verurteilt, sondern ihr nur ein Handtuch gereicht, und dann war er auf den Sand gesprungen, als wäre sein Job erledigt. Er hatte sie nicht berührt, und sie hatte sich eine Million Mal gewünscht, er hätte es getan, auch wenn sie wusste, dass er nur auf sie aufpasste, weil er mit Daniel befreundet und ein verantwortungsvoller Mensch war.

In diesem Moment wünschte sie es sich wieder. Was nur bewies, dass sie alles andere als verantwortungsvoll war.

Um sicherzugehen, dass sie sich nicht der Versuchung ergab und sich ihm an den Hals warf, schlang sie die Arme um ihren Oberkörper.

Sein Blick fiel auf ihre Hand. »Du hast dich geschnitten. Du solltest auf diesen Felsen vorsichtiger sein. Tut es weh?«

»Nein.« Sie versteckte die Hände hinter dem Rücken. Eine Hälfte von ihr hoffte, er würde sie in Ruhe lassen, während die andere Hälfte hoffte, er würde bleiben.

»Wenn es nicht wehtut, warum weinst du dann?«

Weinte sie? Sie wischte sich mit dem Handballen über die Wange und spürte, dass diese feucht war. »Mir ist beim Laufen Sand in die Augen gekommen.«

Er glaubte, sie wäre traurig wegen der Wunden, die er sehen konnte.

Er hatte keine Ahnung von den Wunden, die sie verborgen hielt.

»Warum bist du gelaufen?« Er umfasste ihre Unterarme und zog sie sanft nach vorne. Dann drehte er ihre Hände herum, sodass er sie untersuchen konnte. Seine Finger waren breit und kräftig, und ihre Hand sah in seiner so klein aus, so zart.

Sie hatte nie zart sein wollen. Ihre Mutter war zart. Zu beobachten, wie sie durch ihre stürmische Ehe navigierte, war, wie zuzusehen, wie ein einziges Gänseblümchen sich abmühte, einem Hurrikan standzuhalten. Fliss wollte hart sein wie ein Dornenbusch. Die Art Pflanze, die Leute mit Respekt und Vorsicht behandelten. Und sie war fest entschlossen, gutes Geld zu verdienen, damit sie sich niemals in der gleichen Situation gefangen sehen würde, in der ihre Mutter sich befand.

Wenn ich deinen Vater verlasse, verliere ich dich. Er würde sicherstellen, dass ich das Sorgerecht nicht bekomme, und ich habe weder das Geld noch den Einfluss, um dagegen anzukämpfen.

Seth beugte den Kopf, und sie beobachtete, wie ihm ein paar dunkle Strähnen in die Stirn fielen. Es juckte sie in den Fingern, hindurch zu streichen, die Weichheit unter ihren Händen zu fühlen. Und sie wollte die Muskeln an seinen Schultern berühren, auch wenn sie schon wusste, dass die nicht weich wären. Sie waren hart und kraftvoll. Das wusste sie, weil jemand sie letzten Sommer ins Wasser geworfen und Seth sie wieder herausgezogen hatte. Von ihm gehalten zu werden war etwas, das eine Frau niemals vergessen würde.

Verunsichert richtete sie ihren Blick auf sein Gesicht. Seine Nase hatte dank eines Footballunfalls im Vorjahressommer einen kleinen Hubbel, und am Kinn hatte er eine Narbe von dem Tag, als er mit dem Gesicht aufs Surfbrett geknallt war und mit vierzehn Stichen hatte genäht werden müssen.

Fliss war das egal. In ihren Augen war Seth Carlyle so ziemlich das Perfekteste, was sie jemals gesehen hatte.

Er hatte etwas an sich, das ihn von anderen unterschied. Es lag nicht nur daran, dass er älter war, sondern vor allem daran, dass er so sicher wirkte. Er wusste, was er wollte. Er war fokussiert. Er ließ das Richtige zu tun sexy wirken. Er studierte Veterinärmedizin, und sie wusste, dass er darin gut wäre. Er würde seinen Vater stolz machen.

Im Gegensatz zu ihr.

Sie ließ ihren Vater die Nase rümpfen, machte ihn verzweifelt und wütend, aber niemals stolz.

Und sie wollte Seth nicht mit sich hinunterziehen.

Also entriss sie ihm ihre Hand und ballte sie zur Faust, um sich davon abzuhalten, ihn zu berühren. »Du solltest wieder zu den anderen gehen. Du vergeudest einen perfekten Strandtag.«

»Ich vergeude gar nichts. Ich bin genau da, wo ich sein will.« Sein Blick war einzig auf sie gerichtet. Und dann schenkte er ihr dieses breite, lässige Lächeln, das ihr das Gefühl gab, die einzige Frau auf dem Planeten zu sein. Sie wusste nicht, was sie am meisten berührte – die Art, wie er seine Lippen verzog, oder die kleinen Fältchen neben seinen schläfrigen dunklen Augen.

Ihr Magen schlug einen Purzelbaum. Nachdem ihr gerade erst das Gefühl gegeben worden war, unerwünscht zu sein, war es eine nette Abwechslung, genau das Gegenteil zu empfinden.

Was würde passieren, wenn sie ihre Arme um seinen Nacken legte und ihn küsste? Würde er sich davontragen lassen und zum ersten Mal in seinem Leben das Falsche tun? Vielleicht würde er ihr hier auf dem Sand die Jungfräulichkeit rauben. Das würde ihrem Vater wirklich mal etwas geben, worüber er sich aufregen konnte.

Bei dem Gedanken runzelte sie die Stirn. Nicht einmal in Gedanken wollte sie, dass ihr Vater ihre Beziehung mit Seth trübte.

»Du solltest wirklich nicht hier sein. Bei mir.« Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Felsen und warf Seth einen finsteren Blick zu, der ihn abstoßen sollte, aber es funktionierte nicht.

»Ich habe vor eurem Haus einen Wagen gesehen. War das dein Vater? Normalerweise ist er im Sommer doch nicht hier, oder?«

Sie fühlte sich, als wäre sie nackt in den Atlantik gesprungen. »Er ist heute Morgen angekommen. Er hat beschlossen, uns zu überraschen.«

Seth zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Um euren Geburtstag zu feiern oder um ihn zu ruinieren?«

Er weiß es.

In ihrer Panik und Demütigung zuckte sie innerlich zusammen. Warum konnte sie keine normale Familie haben wie alle anderen? »Ich bin nicht lang genug geblieben, um es herauszufinden.«

»Vielleicht wollte er seine Geschenke persönlich abgeben.«

»Das macht dein Vater, nicht meiner.« Die Worte platzten aus ihr heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte. »Meiner hat keine Geschenke gebracht.«

»Nein? Dann ist es ja gut, dass ich eines habe.« Er stützte sich mit einem Arm an dem Felsen hinter ihr ab und griff mit der anderen Hand in die Tasche seiner Shorts. »Ich hoffe, es gefällt dir.«

Unter Mühen löste sie den Blick von seinem prallen Bizeps und starrte das cremefarbene Samtbeutelchen in seiner Hand an. »Du hast ein Geschenk für mich?«

»Es passiert schließlich nicht jeden Tag, dass eine Frau achtzehn wird.«

Da war es wieder. Dieses Wort. Frau. Und er hatte ihr ein Geschenk gekauft. Er hatte persönlich etwas für sie ausgewählt. Das hätte er doch nicht getan, wenn ihm nicht etwas an ihr liegen würde, oder?

Ihre verdorrte Selbstachtung saugte die dringend benötigte Bestätigung gierig auf. Fliss war noch schwindeliger als damals, als sie die Flasche Wodka mit an den Strand geschmuggelt hatte.

»Was ist das?«

»Mach es auf.«

Sie nahm ihm das Beutelchen ab und erkannte das silberne Muschellogo darauf. Sie wusste, dass was immer darin war, nicht billig gewesen sein konnte. Sie und Harriet waren an dem exklusiven Juweliergeschäft in der Stadt vorbeigekommen, aber die Preise hatten sie davon abgehalten, auch nur ins Schaufenster zu schauen. Doch der Preis war natürlich kein Thema, wenn man mit Nachnamen Carlyle hieß.

Sie schüttete den Inhalt des Säckchens in ihre Hand und vergaß für einen Moment zu atmen, weil sie noch nie etwas so Schönes gesehen hatte. Es war eine Kette – eine silberne Muschel an einer silbernen Kette. Es war das glänzendste, perfekteste Geschenk, das sie je bekommen hatte.

Sie vergaß alle Gedanken daran, auf Distanz zu bleiben, und warf sich ihm an den Hals. Er roch nach Sonnenschein, salziger Meeresluft und Mann. Nach heißem, attraktiven Mann. Zu spät fiel ihr ein, dass sie nur ihre winzigen Shorts und ein Tanktop trug. So wenig, wie das eine Barriere bildete, hätte sie auch genauso gut nackt sein können. Ihre Haut glitt über seine und ihre Finger schlossen sich wie von selbst um seine Schultern. Unter der seidigen, sonnengoldenen Haut spürte sie die Erhebung von harten Muskeln und den gefährlich köstlichen Druck seines Körpers.

Sie wusste, sie sollte ihn loslassen. Ihr Vater würde ausflippen, wenn er sie so sähe. Er hasste es, wenn sie mit Jungs zusammen war.

Aber Seth war kein Junge, oder? Seth war ein Mann. Ein Mann, der sah, dass sie eine Frau war. Der erste Mensch, der sie je so gesehen hatte, und sie beschloss, dass das vermutlich das größte Geburtstagsgeschenk aller Zeiten war.

Ihr Vater gab ihr das Gefühl, nichts zu sein, aber Seth … Seth gab ihr das Gefühl, jemand zu sein. Alles zu sein.

»Fliss …« Seine Stimme war rau, und er ließ seine Hände zu ihren Hüften gleiten und hielt sie fest. »Wir sollten nicht … Du bist traurig …«

»Nicht mehr.« Bevor er noch etwas sagen konnte, presste sie ihren Mund auf seinen. Sie spürte die Kühle seiner Lippen und wie er kurz erstarrte, dann dachte sie, wenn er sich jetzt zurückzöge, würde sie direkt hier am Strand vor Verlegenheit sterben.

Aber er zog sich nicht zurück, sondern presste sie energisch an sich und hielt sie an seinem Körper gefangen. Hinter sich hörte sie das Rauschen des Ozeans, doch hier in der Abgeschiedenheit der Dünen gab es nur Seth und die unbeschreibliche Magie dieses ersten Kusses.

Als er seinen Kopf neigte und die Liebkosung erwiderte, wusste sie, dass ihr achtzehnter Geburtstag sich gerade von dem schlimmsten Tag ihres Lebens in den besten verwandelt hatte. Unter dem erotischen Tanz seiner Zunge und den intimen Berührungen seiner Hände schmolz sie dahin und hörte ganz auf, an ihren Vater zu denken. Einzig der Gedanke, welche Empfindungen sein Mund in ihr auslöste, hatte Platz in ihrem Kopf. Wer hätte das gedacht? Wer hätte gedacht, dass der gute Junge Seth so eine wilde Seite an sich hatte? Wo hatte er gelernt, so zu küssen?

Sie sagte sich, dass sie an ihrem achtzehnten Geburtstag etwas Romantik verdient hatte. Dass sie das hier verdient hatte.

Noch nie zuvor hatte irgendetwas oder irgendjemand solche Gefühle in ihr geweckt.

Und noch nie zuvor hatte das Falsche zu tun sich so unglaublich richtig angefühlt.

1. Kapitel

Zehn Jahre später …

»Ich habe beschlossen, dass wir unser Geschäft ausweiten.« Fliss ließ ihre Schuhe mitten auf dem Fußboden liegen und ging barfuß in die Küche. »Hast du dir unseren Kalender für den nächsten Monat angeguckt? Wir haben keinen einzigen freien Termin mehr. Unsere Empfehlungen haben sich verdoppelt und unsere Buchungen gehen durchs Dach. Es ist an der Zeit, unseren Erfolg zu nutzen und zu expandieren.« Immer nach vorne sehen, dachte sie. Es fühlte sich gut an.

Ihre Schwester, die gerade einen Welpen fütterte, den sie zur Pflege aufgenommen hatte, war weit weniger enthusiastisch. »Wir decken doch bereits das gesamte östliche Manhattan ab.«

»Ich weiß, und ich sage auch nicht, dass wir den Gassiservice ausweiten sollen.« Sie hatte darüber nachgedacht, die Konkurrenz studiert und die Zahlen durchgerechnet. »Ich denke, wir sollten in einen Bereich expandieren, der eine größere Gewinnspanne hat. Wir sollten zusätzliche Dienstleistungen anbieten.«

»Was zum Beispiel?« Harriet zog den Hund näher an sich heran. »Wir sind ein Gassiservice. Die Bark Rangers. Denkst du daran, das auf Katzen auszuweiten? Die Meow Movers?«

»Wir kümmern uns bereits um Katzen, wenn die Besitzer das wünschen. Ich rede von Haustiersitting. Ein Übernachtungsservice für einzelne Tage oder auch den Urlaub.« Das erregte die Aufmerksamkeit ihrer Schwester.

»Du willst, dass ich über Nacht im Haus eines Fremden bleibe? Vergiss es.«

»Natürlich wäre der Fremde ja eben nicht da. Denn wenn er da wäre, würde er keinen Haustiersitter brauchen.«

»Trotzdem, das gefällt mir nicht.« Harriet zog die Nase kraus. »Ich mag mein Zuhause. Und außerdem, wenn ich so etwas tun würde, wie sollte ich mich dann um meine Pflegehunde kümmern?«

»Den Teil habe ich noch nicht ganz durchdacht.« Und sie wusste, sie bräuchte ihrer Schwester gar nicht erst vorzuschlagen, ihre Pflegeaktivitäten etwas zu reduzieren. Auf keinen Fall würde Harriet jemals einem Tier in Not den Rücken zuwenden.

Und sie wollte nicht, dass ihre Schwester unglücklich war.

Seitdem sie denken konnte, beschützte sie Harriet. Anfangs vor ihrem Vater und dann vor allem und jedem, das oder der ihre Zwillingsschwester bedrohte.

Harriet zu beschützen hatte sie überhaupt erst auf die Idee gebracht, diese Firma aufzubauen, und wenn sie expandieren wollte, dann musste sie die Idee vorsichtig und in kleinen Schritten umsetzen.

Sie schaute auf ihr Handy, um zu sehen, ob neue Buchungen eingegangen waren. »Ich meine ja nur, dass ich unser Geschäft etwas größer betrachten möchte. Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Ich verstehe nur nicht, wo das auf einmal herkommt. Hat es eine Beschwerde wegen einem der Hundesitter gegeben?«

»Nein. Unser Gassipersonal ist das beste der Welt. Vor allem, weil du einen unfehlbaren Instinkt dafür hast, wenn jemand Tiere nicht wirklich mag. Unser Auswahlprozess ist tadellos und unsere Fluktuation nahe null.«

»Also warum dann plötzlich dieser Wunsch nach Veränderung?«

»Das ist nicht plötzlich. Wenn man seine eigene Firma führt, ist es wichtig, sich ständig zu entwickeln. Es gibt da draußen eine Menge Konkurrenz.« Sie hatte gerade erst gesehen, wie viel Konkurrenz es gab. Aber das erzählte sie Harriet nicht. Kein Grund, ihrer Schwester Sorgen zu bereiten.

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass viele der Leute, die sich mit einem Gassiservice selbstständig machen, unzuverlässig sind. Menschen vertrauen ihre geliebten Haustiere keinen unzuverlässigen Personen an. Wir haben noch nie einen Kunden verloren. Niemals. Unsere Kunden vertrauen uns.«

»Und sie werden uns auch vertrauen, in ihr Haus zu kommen, weshalb ich denke, wir sollten unseren Service ausweiten. Ich überlege auch, ein Gehorsamkeitstraining anzubieten. Mir fallen ein paar Hunde ein, die davon profitieren würden.«

Harriet grinste. »Wer war es dieses Mal? Hund oder Herrchen?«

»Hund. Mit dem Namen Angel.«

»Der Pudel, der dieser Zeitschriftenredakteurin gehört?«

»Ganz genau.« Bei dem Gedanken daran verdrehte Fliss die Augen. Sie teilte Harriets Toleranz gegenüber unerzogenen Hunden nicht. »Wenn je ein Hund den falschen Namen hatte, dann der. Äußerlich mag er vielleicht ein Engel sein, aber innen drin ist er der reinste Teufel.«

»Das stimmt, aber ich verstehe nicht, warum ein unerzogener Hund dich unser gesamtes Firmenkonzept infrage stellen lässt. Unserer Firma geht es gut, Fliss. Das hast du gut gemacht.«

»Wir haben das gut gemacht.« Fliss betonte das wir und sah, dass Harriet errötete.

»Das warst hauptsächlich du.«

»So ein Unsinn. Glaubst du wirklich, ohne dich wäre ich so weit gekommen?«

»Du bringst die ganzen Kunden herein. Du kümmerst dich um die Finanzen und um die unangenehmen Telefonate.«

»Und du machst die Tiere und ihre Besitzer so glücklich, dass unsere Mundpropaganda durch die Decke geht. Es ist unsere Firma, Harry. Wir sind ein Team. Wir haben es bisher gut gemacht, aber nun habe ich vor, es noch besser zu machen.«

Harriet seufzte. »Warum? Was willst du dir denn damit beweisen?«

»Ich will gar nichts beweisen. Ist es denn falsch, die Firma wachsen zu lassen?«

»Nein, wenn es wirklich das ist, was du willst. Aber ich nehme mir gerne Zeit, um meinen Job zu genießen. Ich will nicht immer gleich zur nächsten Aufgabe hetzen. Und wenn wir expandieren, müssen wir neue Räumlichkeiten finden.«

»Da bin ich dir schon weit voraus. Ich dachte, wir könnten nach etwas Ausschau halten, das auch Platz für ein Büro hat. Dann wäre unsere Wohnung nicht mit Papieren überflutet, und ich hätte abends tatsächlich die Chance, mein Bett zu finden. Und morgens die Kaffeemaschine.« Sie schaute von ihrem Handy zu dem Stapel Papiere auf dem Küchentresen. Der Berg schien jeden Tag zu wachsen. »Irgendwo da war mal eine Kaffeemaschine versteckt. Mit etwas Glück finde ich sie, bevor ich an Koffeinentzug gestorben bin.«

»Ich habe sie woanders hingestellt. Ich musste sie aus Sunnys Reichweite bringen. Er zerkaut alles, was er finden kann.« Den Welpen unter den Arm geklemmt, stand Harriet auf. Sie schob Fliss’ Schuhe auf die Seite und ging in die Küche, um die Papiere aufzunehmen. »Da ist eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ich bin nicht rechtzeitig rangegangen. Ein neuer Kunde.«

»Ich rufe zurück. Ich weiß, du hasst es, mit Fremden zu telefonieren.« Fliss schnappte sich einen Energieriegel aus dem Küchenschrank und sah, dass ihre Zwillingsschwester die Stirn runzelte. »Sieh mich nicht so an. Zumindest esse ich etwas.«

»Du könntest aber auch etwas Gesundes essen.«

»Das hier ist gesund.« Sie drückte den Knopf der Kaffeemaschine. »Also, zurück zu meinem Plan …«

»Ich will nicht die Nacht in der Wohnung eines Fremden verbringen. Ich mag mein eigenes Bett. Wir würden jemanden dafür einstellen müssen, aber das wäre teuer. Könnten wir uns das überhaupt leisten?«

»Wenn du auf unserer letzten Firmensitzung aufgepasst hättest, würdest du diese Frage nicht stellen müssen.«

»Meinst du die Sitzung, bei der wir Pizza bestellt haben und ich die Katzenbabys mit der Flasche füttern musste?«

»Genau die.«

»Dann glaube ich nicht, dass ich dir meine volle Aufmerksamkeit gewidmet habe. Gib mir einfach nur die groben Einzelheiten.«

»Es sind aber die Details, die dich interessieren sollten. Und die sehen gut aus.« Fliss schenkte Kaffee in zwei Tassen ein. In ihrem Kopf summte es. Und mit jedem neuen Erfolg schien das Summen anzuwachsen. »Sie sehen sogar besser aus als in unseren wildesten Träumen.« Sie beäugte ihre Schwester. »Nicht, dass du der Typ für wilde Träume bist.«

»Hey, ich habe sehr wohl wilde Träume!«

»Bist du in denen nackt und windest dich mit einem heißen Kerl auf seidenen Laken?«

Harriet lief rot an. »Nein.«

»Dann vertrau mir, deine Träume sind nicht wild.« Fliss nahm einen großen Schluck Kaffee und spürte, wie das Koffein durch ihre Adern sauste.

»Meine Träume sind nicht weniger wert als deine, nur weil sie einen anderen Inhalt haben.« Harriet legte den Welpen in seinen Korb. »Träume haben etwas mit Wünschen und Bedürfnissen zu tun.«

»Wie gesagt – nackt, heißer Kerl, Seidenlaken.«

»Es gibt auch andere Wünsche und Bedürfnisse. Ich bin nicht an Sex für eine Nacht interessiert.«

»Hey, wenn er heiß genug wäre, könnte ich mir auch vorstellen, es auf einige Tage auszudehnen – zumindest, bis wir beide vor Hunger oder Durst sterben.«

»Wie kannst du überhaupt mein Zwilling sein?«

»Das frage ich mich auch ständig.« Ungefähr so oft, wie sie dafür dankbar war. Wie konnten Menschen ohne einen Zwilling überleben? Wenn ihre Kindheit sich angefühlt hatte, wie in einem fensterlosen Raum gefangen zu sein, dann war Harriet ihr Sauerstoff gewesen. Gemeinsam hatten sie entdeckt, dass ein Problem wirklich kleiner wirkte, wenn man es teilte; als könnten sie beide jeweils die Hälfte tragen, und es würde damit weniger wiegen. Und falls Fliss tief in ihrem Inneren wusste, dass ihre Schwester mehr teilte als sie, tröstete sie sich mit dem Wissen, dass sie Harriet beschützte. Das hatte sie schon ihr ganzes Leben lang getan. »Nur weil ich dein Zwilling bin, kenne ich deine Träume genauso gut wie meine eigenen. Deiner wäre ein weißes Holzhaus am Strand, ein Lattenzaun darum herum, ein sexy Arzt, der dich anbetet und eine ganze Menagerie an Tieren. Vergiss es. Wenn du so eine Beziehung willst, wirst du in einem Buch darüber lesen müssen. Und nun zurück zum Geschäft. Ich denke, die Bark Rangers könnten ernsthaft Haustiersitting und vielleicht sogar einen Hundefriseur und ein Gehorsamkeitstraining anbieten. Betrachte es als Erweiterung dessen, was wir schon tun. Wir können Pakete zusammenstellen …«

»Warte mal.« Harriet runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, Romantik existiert nur in Büchern?«

»Die Art von Romantik, die du willst, existiert nur in Büchern.«

»Du musst nur unseren Bruder ansehen, um zu wissen, dass das nicht stimmt.«

»Daniel hat sich in Molly verliebt. Molly gibt es nur einmal auf der Welt. Und sie sind quasi nur zusammen, weil ihre Hunde die besten Freunde sind.« Sie fing den Blick ihrer Schwester auf und zuckte mit den Schultern. »Na gut, sie wirken glücklich, aber das ist die Ausnahme und liegt vermutlich daran, dass Molly Beziehungsexpertin ist. Das verschafft ihr einen unfairen Wettbewerbsvorteil gegenüber uns anderen.«

»Vielleicht solltest du dir, anstatt zu expandieren, mehr Zeit für dich nehmen. Seitdem wir mit unserer Firma angefangen haben, arbeitest du auf Hochtouren. Das ist jetzt fünf Jahre her, und du hast kaum mal innegehalten, um Luft zu holen.«

»Sechs Jahre.« Fliss nahm sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. »Und warum sollte ich Zeit mit mir haben wollen? Ich liebe es, beschäftigt zu sein. Arbeit ist meine Droge. Und ich liebe unsere Firma. Wir haben Freiheiten. Wahlmöglichkeiten.« Sie stieß die Kühlschranktür mit dem nackten Fuß zu und sah Harriet zusammenzucken.

»Ich liebe unsere Firma auch, aber ich mag auch die Teile meines Lebens, die nichts mit ihr zu tun haben. Du hast sie zu einem großen Erfolg gemacht, Fliss.« Sie zögerte. »Du musst nichts mehr beweisen.«

»Ich will auch nichts beweisen.« Die Lüge glitt ihr von der Zunge, während die Stimme in ihrem Kopf lauter als üblich schrie. Nutzlos, wertlos, du wirst es nie zu etwas bringen …

»Willst du denn nicht mehr vom Leben?«

»Mehr?« Fliss stieß den Löffel in den Joghurt und beschloss, dass es an der Zeit war, das Thema zu wechseln. Das hier fühlte sich langsam unangenehm an. »Ich bin jung, frei, Single und lebe in New York City. Was mehr könnte es geben? Mir liegt die Welt zu Füßen. Mein Leben ist perfekt. Ich meine, ehrlich, könnte das Leben noch perfekter sein?«

Harriet sah sie ruhig an. »Du hast es nicht getan, oder?«

Fliss’ Herz setzte einen Schlag aus, und ihr Appetit verschwand.

Das hier, dachte sie, ist einer der Nachteile davon, einen Zwilling zu haben. Vor allen anderen auf der Welt konnte sie verbergen, wie sie sich fühlte, aber nicht vor ihrer Schwester.

Sie stellte den Joghurt ab und versprach sich, noch härter daran zu arbeiten. Sie wollte nicht, dass Harriet von ihrer Angst wusste. Denn das würde sie nur auch ängstlich machen. »Ich hatte es vor. Wirklich. Das Gebäude war schon in Sichtweite, und ich hatte auswendig gelernt, was ich sagen würde …«

»Aber?«

»Meine Füße haben sich geweigert weiterzugehen. Sie waren wie festgewachsen. Dann habe ich mich umgedreht und bin in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Ich habe versucht, mit ihnen zu reden. Ich sagte: Füße, was glaubt ihr eigentlich, was ihr da tut? Aber haben sie auf mich gehört? Nein.« Seit wann war sie so feige? Sie zuckte lässig mit den Schultern – zumindest hoffte sie, dass es lässig wirkte. »Bitte sag nicht, was du jetzt sagen willst.«

»Was will ich denn sagen?«

»Du wolltest mich darauf aufmerksam machen, dass es drei Wochen her ist, seit Daniel ihm über den Weg gelaufen ist …«

»Seth«, sagte Harriet. »Sprich wenigstens seinen Namen aus. Das wäre schon mal ein Anfang.«

Der Anfang von was? Sie wollte nichts anfangen und hatte hart daran gearbeitet, das alles hinter sich zu lassen.

Aber sie konnte ihrer Schwester nicht vorwerfen, sie zu bedrängen, denn sie war nicht ehrlich gewesen, oder? Sie hatte Harriet nicht verraten, was sie fühlte.

»Seth …« Sein Name blieb ihr in der Kehle stecken. »Es ist drei Wochen her, dass Daniel ihn – Seth – beim Tierarzt getroffen hat. Der Plan war, dass ich die Kontrolle über die Situation übernehme, zu ihm hingehe und mich mit ihm treffe, um einer möglichen peinlichen Begegnung auf der Straße aus dem Weg zu gehen.«

»Und jetzt hast du den Plan geändert?«

»Offiziell nicht. Es ist eher so, dass der Plan nicht funktioniert. Er ist peinlich.« Es war doch in Ordnung, so viel zuzugeben, oder? Etwas peinlich zu finden war nicht so schlimm, wie es Furcht einflößend zu finden. »Und ich glaube nicht, dass eine zufällige Begegnung auf der Straße unangenehmer sein kann als ein persönliches Gespräch in der Klinik.«

»Ich kann mir vorstellen, dass es sich ein wenig unangenehm anfühlt, aber …«

»Ein wenig unangenehm? Das ist, als würde man einen Hurrikan eine leichte Brise nennen. Es ist nicht ein wenig unangenehm, es ist höllisch unangenehm, es ist …« Ihr fiel keine passende Beschreibung ein, und sie gab auf. »Vergiss es. Das Wort, das diese Situation widerspiegelt, ist noch nicht erfunden worden.« Und selbst wenn, würde sie es nicht benutzen. Sie wollte Harriet nicht zeigen, wie schlecht sie sich fühlte.

»Mit ›die Situation‹ meinst du, deinem Ex über den Weg zu laufen.«

»Du schaffst es, eine hochkomplexe und heikle Angelegenheit sehr einfach klingen zu lassen.«

»Das ist vermutlich der beste Weg, es zu betrachten. Denk nicht zu viel darüber nach.« Harriet streichelte den Welpen noch einmal und stand auf. »Es ist zehn Jahre her, Fliss. Ich weiß, es war eine traumatische Zeit.«

»Kein Grund, es zu dramatisieren.« Warum war ihr Mund so trocken? Sie nahm sich ein Glas aus dem Küchenschrank und goss sich etwas Wasser ein. »Alles war gut.«

»Das war es nicht. Aber das liegt in der Vergangenheit. Du hast jetzt ein ganz neues Leben und er auch.«

»Ich denke überhaupt nicht mehr darüber nach.« Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen, obwohl nur selten ein Tag verging, an dem sie nicht daran dachte. Außerdem dachte sie darüber nach, wie sein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn Seth sie nicht getroffen hätte. Und ab und zu gönnte sie sich den Gedanken, wie anders ihr Leben mit Seth Carlyle ausgesehen hätte, wären die Umstände anders gewesen.

Harriet musterte sie mit einer Mischung aus Sorge und Verzweiflung. »Bist du sicher? Denn damals war es eine große Sache.«

»Wie du gesagt hast, es ist zehn Jahre her.«

»Und du hast seitdem keine ernsthafte Beziehung mehr zu einem Mann gehabt.«

»Ich habe einfach niemanden getroffen, der mich interessiert.« Jemanden, der mit ihm mithalten konnte. Jemanden, der in ihr die Gefühle weckte, die Seth in ihr geweckt hatte. Es gab Tage, an denen fragte sie sich, ob ihre Gefühle real gewesen waren oder ob ihr Teenagergehirn sie übertrieben hatte.

»Es macht mich traurig, wenn du deine Gefühle nicht mit mir teilst. Ich verstehe, warum du alles vor Dad verheimlicht hast und sogar vor Daniel, aber hey, ich bin es.«

»Ich verheimliche gar nichts.«

»Fliss …«

»Okay, vielleicht ein paar Dinge, aber dafür kann ich nichts. So bin ich nun mal.«

»Nein. Du hast gelernt, so zu sein. Und wir wissen beide, warum.« Vorsichtig versuchte Harriet, Fliss’ Schuh aus dem Maul des Welpen zu lösen.

Fliss schaute ihre Schwester an. Der Drang, sich ihr anzuvertrauen, war für einen Moment stärker als der Wunsch nach Privatsphäre. »Ich … ich denke manchmal daran. An ihn.« Warum hatte sie das gesagt? Wenn sie die Tür nur einen Spalt öffnete, würden höchstwahrscheinlich ihre gesamten Emotionen hervorquellen und alles um sie herum ertränken.

Harriet richtete sich langsam auf. »An welchen Teil denkst du am meisten?«

An diesen schicksalhaften Geburtstag. Den Kuss am Strand. Seinen Mund und seine Hände. Das Lachen, den Sonnenschein, den Geruch des Meeres. An Leidenschaft und Versprechen.

Sie konnte sich immer noch lebhaft an alles erinnern. Beinahe so lebhaft wie an das, was gefolgt war.

»Vergiss es. Ich denke nicht wirklich darüber nach.«

»Fliss!«

»Okay! Ich denke daran. An alles. Aber ich bin ganz gut damit klargekommen, bis Daniel mir erzählt hat, dass er Seth hier in New York gesehen hat.« Man sollte in der Lage sein, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber was tat man, wenn sie einem folgte? »Glaubst du, er wusste, dass ich hier lebe?«

New York war eine Stadt mit acht Millionen Einwohnern. Acht Millionen beschäftigte Menschen, die herumliefen und sich um ihre Sachen kümmerten. Es war eine Stadt der Möglichkeiten, und eine der Möglichkeiten war, anonym zu leben, mit dem Hintergrund zu verschwimmen. Es war perfekt gewesen – bis zu dem Tag, an dem Seth Carlyle einen Job in der Tierklinik angenommen hatte, die sie regelmäßig aufsuchten.

»In New York? Ich weiß nicht. Ich bezweifle, dass er wusste, wie nahe er dir sein würde. Ich meine, ihr seid ja schließlich nicht in Kontakt geblieben.«

»Nein. Wir haben nie Kontakt gehalten.« Nur so war sie damit klargekommen. Hatte es hinter sich lassen können. Weitermachen. Nicht zurückschauen.

Er hatte sich auch nicht bei ihr gemeldet, also hatte er vermutlich den gleichen Ansatz gewählt wie sie.

Harriet setzte den Welpen, der auf Wanderschaft gegangen war, wieder in sein Körbchen zurück. »Ich weiß, es fühlt sich schwer an, aber du hast dir ein ganz neues Leben aufgebaut und er auch.«

»Ich weiß, aber ich wünschte, er hätte sich nicht entschieden, sein Leben ab jetzt in meinem Viertel zu führen. Ich sollte zumindest die paar Straßenzüge um unsere Wohnung herum unbeschwert zurücklegen können, ohne ständig wie eine Flüchtige um die Häuserecken zu linsen.«

»So etwas machst du?« Der Schock in den Augen ihrer Zwillingsschwester ließ sie wünschen, diese Information für sich behalten zu haben.

»Ich habe nur hypothetisch gesprochen.«

»Wenn du deinen Plan durchgezogen hättest und einfach in die Klinik marschiert wärst und gesagt hättest: ›Hi, schön, dich wiederzusehen‹, hätte das die dicke Luft geklärt und du würdest dir nicht ständig ängstlich über die Schulter schauen müssen. Alles wird sich leichter anfühlen, wenn du ihn erst mal wiedergesehen hast.«

»Ich habe ihn gesehen«, murmelte Fliss. »Er stand am Empfang, als ich meinen ersten Versuch gestartet habe, mich dem Gebäude zu nähern.« Es waren seine Haare, die ihr zuerst ins Auge gefallen waren. Und dann die Art, wie er seinen Kopf neigte, um der Frau am Empfang zuzuhören. Er war immer ein guter Zuhörer gewesen. Es war zehn Jahre her, dass sie ihn berührt oder in seiner Nähe gestanden hatte, aber alles an ihm war immer noch schmerzhaft vertraut.

Harriet starrte sie mit großen Augen an. »Du hast ihn gesehen? Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Weil es da nichts zu erzählen gab. Und keine Sorge, er hat mich nicht gesehen.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich mich wie ein Navy SEAL auf geheimer Mission auf den Boden geworfen habe. Ich habe mich nicht gerührt, bis ich sicher sein konnte, dass er fort war. Ich musste einen Passanten davon abhalten, den Notruf zu wählen, was sowohl nervig als auch tröstend war, denn normalerweise sind New Yorker viel zu sehr mit ihren eigenen Dingen beschäftigt, um auf einen auf dem Boden liegenden Menschen zu achten. Warum guckst du mich so an?«

»Du hast dich auf den Boden geworfen. Und jetzt tust du so, als wäre das alles kein Problem für dich?«

»Da muss ich nicht nur so tun.« Sie biss die Zähne zusammen. Musste ihre Schwester nicht irgendeinen Hund ausführen oder so? »Du hast recht. Ich muss es machen. Ich muss mich mit ihm treffen und es hinter mich bringen.« Allein der Gedanke daran ließ ihr Herz und ihren Puls protestierend pochen. Es war ein Kampf-oder-Flucht-Reflex, und ihr Körper hatte sich eindeutig für Flucht entschieden.

»Willst du, dass ich dich begleite?«

»Was ich will, ist, dass du dich für mich ausgibst, damit ich das überhaupt nicht tun muss.« Sie sah, dass Harriets Augen sich vor Sorge verdunkelten, und verfluchte sich dafür, zu viel gesagt zu haben. »Das war nur ein Witz!«

»Wirklich?«

»Natürlich. Wenn ich dich das übernehmen lassen würde, würde ich den letzten Funken Selbstrespekt verlieren. Ich muss das alleine tun.«

»Denk an das, was Molly gesagt hat. Du solltest das Treffen kontrollieren. Mach einen Termin für eines der Tiere aus. So hast du einen Grund, dort zu sein, und außerdem ein Thema, über das ihr sprechen könnt. Falls es unangenehm wird, kannst du es dann ganz leicht auf der professionellen Ebene halten.«

»Falls?«

»Merk dir den Satz: ›Hi Seth. Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?‹ Ich kann nicht fassen, dass ich dir das sage. Du bist doch diejenige, die gut mit Menschen umgehen kann. Ich bin die Ungelenke mit dem Knoten in der Zunge.«

»Stimmt, es sollte ganz leicht sein. Aber warum ist es das dann nicht?«

»Vermutlich, weil so viel zwischen euch steht, das ihr nicht gelöst habt.«

»Wir sind geschieden. Wie viel mehr kann man denn lösen?«

»Du warst in ihn verliebt, Fliss.«

»Was? Sei nicht albern. Das war eine Teenagerschwärmerei, mehr nicht. Sex am Strand, der ein wenig heißer und ernster geworden ist, als wir vorgehabt hatten …« Ihre Stimme verebbte, als sie Harriets steten Blick sah.

»Du machst es schon wieder. Du verbirgst deine Gefühle vor mir.«

»Glaub mir, du willst meinen Gefühlen nicht ausgesetzt sein.« Sie versteifte sich, als Harriet vortrat und sie umarmte. »Oh. Wofür ist das?« Sie spürte, wie die Arme ihrer Schwester sich fester um sie schlossen.

»Ich hasse es, dich verletzt zu sehen.«

Was genau der Grund war, warum sie ihre Zwillingsschwester nie das wahre Ausmaß ihrer Verletzung sehen ließ. »Natürlich hasst du das. Du bist der gute Zwilling. Ich bin der böse Zwilling.«

»Ich kann es nicht leiden, wenn du das sagst. Ich hätte gerne deine Qualitäten.«

»Du hast keinen Platz mehr für noch mehr Qualitäten. Du bist bereits bis oben hin voll damit.«

»Oh, und ich hasse es, wenn du mich so beschreibst. Ich bin nicht gut und irgendwann werde ich etwas ganz Böses tun, um es zu beweisen.«

»Du könntest nicht mal böse sein, wenn du es versuchst, aber solltest du es jemals ausprobieren wollen, hoffe ich, dass du mich vorher anrufst. Das würde ich gerne sehen. Du erstickst mich, Harry. Bevor ich nicht mindestens zwei Tassen Kaffee getrunken habe, kann ich mit Zuneigung nicht umgehen.« Und außerdem fürchtete sie, mehr zu sagen, als sie wollte. Denn Harriets Zuneigung war wie ein Schlüssel, der einen Teil von ihr aufschloss, den sie lieber zugeschlossen lassen würde.

»Du bist nicht böse, Fliss.«

»Versuch mal, das Seth und dem Rest der Carlyle-Familie zu erklären.« Und ihrem Vater. »Er hatte eine strahlende Zukunft vor sich, bis ich des Weges kam.« Sie schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein.

»Er ist Tierarzt. Von mir aus betrachtet, sieht seine Zukunft ziemlich gut aus. Und warum übernimmst du die ganze Verantwortung für das, was passiert ist? Er hat eine Entscheidung getroffen, Fliss.«

Hatte er das? Fliss erinnerte sich an die Einzelheiten und spürte, dass ihr die Wärme in die Wangen stieg. Es gab Dinge, die hatte sie nicht einmal ihrer Zwillingsschwester erzählt. Dinge, die sie niemandem erzählt hatte. »Vielleicht. So, das ist genug Gerede für einen Tag.« Sie fühlte sich unruhig wie eine Schneekugel, die geschüttelt worden war, sodass nun alle ihre vorher beruhigten Gefühle wie wild in ihrem Inneren herumstoben. Wie konnte sie nach so langer Zeit noch so viele Gefühle haben? Würden sie denn niemals verblassen? Das war nervtötend und unfair. »Wenn Seth hier leben wird, sollte ich New York vielleicht verlassen. Das wäre eine Lösung.«

»Das ist keine Lösung, das ist Vermeidung. Deine Firma ist hier. Dein Leben ist hier. Du liebst New York. Warum solltest du gehen wollen?«

»Weil er jetzt hier ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Stadt jetzt noch liebe.«

»Wo würdest du hingehen?«

»Ich habe gehört, dass Hawaii ganz nett sein soll.«

»Du wirst nicht nach Hawaii ziehen. Du wirst deine innere Kriegerin heraufbeschwören und zu ihm gehen. Du wirst sagen: ›Hi Seth, wie geht es deiner Familie?‹ Und dann wirst du ihn reden lassen. Und wenn er damit fertig ist, wirst du auf die Uhr schauen und gehen. Fertig. Woher weißt du, dass er sich nicht freuen wird, dich zu sehen?«

»Unsere Beziehung hat nicht gerade freundschaftlich geendet.«

»Aber das ist so lange her. Er wird sich weiterentwickelt haben, genau wie du. Vermutlich ist er inzwischen verheiratet.«

Das Glas rutschte durch Fliss’ betäubte Finger und prallte auf dem Boden auf, zerbrach dabei aber zum Glück nicht. »Er ist verheiratet?«

Warum interessierte es sie überhaupt, ob er verheiratet war oder nicht? Welche Relevanz hatte das für sie? Was stimmte mit ihr nur nicht?

»Ich weiß nicht, ob er verheiratet ist. Ich habe nur die Möglichkeit in den Raum gestellt, was ich eindeutig nicht hätte tun sollen.« Harriet hob das Glas auf und fing an, das Wasser aufzuwischen.

»Siehst du? Ich kann unmöglich mit ihm reden, weil ich nicht Herrin meiner Gefühle bin. Aber du schon. Du solltest definitiv so tun, als wärst du ich. Du könntest die Unterhaltung problemlos hinter dich bringen, ohne dich danach komisch zu fühlen.«

Harriet richtete sich auf. »Ich habe mich seitdem ich zwölf war nicht mehr für dich ausgegeben.«

»Vierzehn. Du vergisst das eine Mal, als ich mich im Biologieunterricht für dich ausgeben habe.«

»Nur, weil dieser schmierige Idiot nicht aufgehört hat, mich wegen meines Stotterns aufzuziehen. Johnny Hill. Du hast ihn geschlagen. Wie konnte mir das entfallen?«

»Ich weiß nicht. Es war ein großartiger Tag.«

»Machst du Witze? Du musstest mit acht Stichen am Kopf genäht werden. Die Narbe hast du immer noch.«

»Aber er hat dich nie wieder angerührt, oder? Und sonst auch keiner.« Fliss grinste und rieb sich mit den Fingern über die unter ihren Haaren verborgene Narbe. »Du hast dir den Ruf erworben, Furcht einflößend zu sein. Also bist du mir etwas schuldig. Geh und triff dich mit Seth. Es ist ganz leicht. Tu und sag einfach alles, was du niemals tun oder sagen würdest, dann wirst du sehr überzeugend sein.«

Harriet lächelte schief. »Du bist kein so schlechtes Mädchen, Felicity Knight.«

»Aber das war ich mal. Und Seth hat den Preis dafür bezahlt.«

»Hör jetzt auf damit«, sagte Harriet mit fester Stimme. »Hör auf das zu sagen. Hör auf das zu denken.«

»Aber wie? Es ist die Wahrheit.« Sie hatte auch einen Preis dafür bezahlt, und es kam ihr vor, als würden diese Zahlungen niemals aufhören. »Wenn ich eine Möglichkeit fände, ihn nie mehr zu sehen, würde ich sie ergreifen. Ich habe keine Ahnung, was ich zu einem Mann sagen soll, dessen Leben ich zerstört habe.«

Vier Straßenzüge entfernt hatte Seth Carlyle alle Hände voll mit einem launischen Cockerspaniel zu tun.

»Wie lange ist er schon so?«

»Wie so? Aggressiv?«

»Ich meine, wie lange humpelt er bereits?«

»Oh.« Die Frau runzelte die Stirn. »Ungefähr eine Woche.«

Seth führte eine gründliche Untersuchung des Hundes durch. Der Cocker knurrte, also verringerte Seth den Druck seiner Finger. »Sorry. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich muss dich nur genau anschauen und gucken, was hier los ist.« Seine Stimme und seine Berührungen waren sanft, und er spürte, wie der Hund sich unter seinen Händen entspannte.

»Er mag Sie.« Die Frau sah ihn überrascht und mit wachsendem Respekt an. »Dr. Steve sagte, Sie helfen hier aus. Er meinte, Sie wären irgendein berühmter Tierarzt, der in einer Tierklinik in Kalifornien gearbeitet hat.«

»Was den ersten Teil des Satzes angeht, bin ich mir nicht sicher, aber der zweite Teil stimmt.«

»Warum sind Sie aus Kalifornien weggezogen? Waren Sie des Sonnenscheins und des blauen Himmels überdrüssig?«

»So in der Art.« Seth lächelte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Hund. »Ich werde ein paar Tests durchführen und sehen, ob die uns die Antworten bringen, die wir benötigen.«

»Glauben Sie, es ist etwas Ernstes?«

»Ich schätze, dass es sich um eine Weichteilverletzung handelt, aber ich muss noch ein paar andere Ursachen ausschließen.« Er gab der Arzthelferin ein paar Instruktionen, führte einige Tests durch und betrachtete die Röntgenaufnahmen. »Wir sollten seinen Auslauf einschränken.«

»Wie soll ich das denn machen?«

»Sorgen Sie dafür, dass er sich nur in einem kleinen Bereich aufhält.«

»Keine Spaziergänge im Central Park mehr?«

»Im Moment nicht. Und gönnen Sie ihm immer wieder Ruhephasen in seinem Körbchen oder seiner Box.«

Sobald er sich alle nötigen Notizen gemacht hatte, ging er zum Empfang.

»Meredith?«

»Hi, Dr. Carlyle.« Sie lief rot an und ließ die Zeitschrift fallen, die sie unter dem Tresen gelesen hatte. »Kann ich etwas für Sie tun? Kaffee? Einen Bagel? Irgendetwas? Sie müssen es nur sagen. Wir sind so dankbar, dass Sie so kurzfristig eingesprungen sind.« Der Ausdruck in ihren Augen verriet, dass irgendetwas keine Übertreibung war, aber Seth ignorierte die unausgesprochene Einladung und ihren hoffnungsvollen Blick.

»Ich habe alles, danke. Gab es irgendwelche Anrufe, während ich in der Untersuchung war?«

»Ja.« Sie schaute auf den vor ihr liegenden Notizblock. »Mrs. Cook hat angerufen, um zu sagen, dass Busters Wunde schon besser aussieht. Eine der Helferinnen hat den Anruf entgegengenommen. Und Geoff Hammond rief wegen seines Hundes an, ich habe ihn zu Steve durchgestellt.«

»Das war alles?« Er spürte einen Anflug von Enttäuschung, und Meredith schaute in ihrem Eifer, ihm zu gefallen, noch einmal nach.

»Ja, das war alles.« Sie schaute auf. »Warum? Warten Sie auf einen bestimmten Anruf?«

Ja, auf den meiner Ex-Frau.

»Nein.« Er hatte nicht vor, ihr den Grund seiner Nachfrage zu erklären.

Er hatte darauf gewartet, dass Fliss zu ihm kommen würde. Wo er jetzt so darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er sie genauso behandelte, wie er es mit einem verletzten, verängstigten Tier täte. Mit Geduld. Ohne hektische Bewegungen.

Er konnte nicht mal so tun, als wüsste sie vielleicht nicht, dass er hier war. An seinem zweiten Abend in Manhattan war er ihrem Bruder Daniel in die Arme gelaufen. Es war eine unangenehme Begegnung gewesen. Eine Spannung hatte in der Luft legen, die ihm verriet, dass Daniel Knights Feindseligkeit ihm gegenüber im Laufe der Jahre nicht abgenommen hatte. Daniel hatte Fliss mit Sicherheit erzählt, dass Seth in Manhattan war. Die Geschwister Knight standen sich so nahe, dass sie genauso gut zusammengenäht sein könnten. Er nahm an, ein Teil davon war durch ihr stürmisches Familienleben zu erklären. In ihrer Kindheit hatten sie ein spezielles Band geknüpft. Seth warf Daniel nicht vor, dass er Fliss beschützte. Jemand musste es tun, und ihr Vater war es nicht gewesen.

Er hatte sie als schlaksige Vierzehnjährige kennengelernt. Sie gehörte zu der Gruppe, die während dieser langen, glückseligen Sommer gemeinsam an den Stränden der Hamptons herumgehangen hatte. Auf den ersten Blick war sie von ihrer Zwillingsschwester nicht zu unterscheiden, aber jeder, der ein paar Minuten in ihrer Gesellschaft verbrachte, wusste sofort, mit welcher der Zwillinge er gerade sprach. Harriet war reserviert und nachdenklich. Fliss war wild und impulsiv und attackierte das Leben, als würde sie eine Armee in die Schlacht führen. Sie war die Erste im Wasser und die Letzte, die wieder herauskam; sie schwamm oder surfte, bis die letzten Sonnenstrahlen über dem Meer erloschen waren. Sie war frech, mutig und eine entschlossene Beschützerin ihrer ruhigeren Schwester. Außerdem war sie eine Draufgängerin, aber er hatte immer eine gewisse Verzweiflung in ihren Handlungen gespürt, beinahe als wollte sie, dass jemand sie herausforderte. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, dass sie das Leben ein wenig zu hart lebte, entschlossen, irgendetwas zu beweisen.

In jenem ersten Sommer hatte er nichts von ihrem Familienleben gewusst. Das Strandhaus in der Bucht gehörte ihrer Großmutter schon seit Jahrzehnten, und es war in der Gegend wohlbekannt. Ihre Tochter und deren Kinder besuchten sie jedes Jahr, aber im Gegensatz zu seiner Mutter, die sowohl am Strand als auch in ihrem Haus in Upstate New York in der Gemeinde aktiv war, war Fliss’ Mutter nahezu unsichtbar.

Und dann waren eines Tages die Gerüchte losgegangen. Sie hatten sich über die engen Straßen und in die Läden des Ortes verbreitet. Ein paar Leute hatten im Vorbeifahren aus dem Haus laute Stimmen gehört, und dann das Geräusch eines Wagens, der viel zu schnell über die engen Straßen der Insel in Richtung Highway fuhr. Die Gerüchte wurden von Einwohner zu Einwohner weitererzählt, Geflüster und Fragen, bis sie schließlich auch Seth zu Ohren gekommen waren. Eheprobleme. Familienprobleme.

Seth hatte ihren Vater nur selten gesehen. Fast alle seine Eindrücke des Mannes hatte er aufgrund von Fliss’ und Harriets Reaktionen auf ihn gewonnen.

»Dr. Carlyle?« Meredith’ Stimme brachte ihn in die Gegenwart zurück und erinnerte ihn daran, dass er hierhergekommen war, um nach vorne zu schauen und nicht zurück.

Seitdem er in New York angekommen war, hatte er Fliss zwei Mal gesehen. Das erste Mal war an seinem ersten Tag gewesen. Sie war mit zwei Hunden im Central Park spazieren gegangen – einem überschwänglichen Dalmatiner und einem ungezogenen Deutschen Schäferhund, der entschlossen schien, sie herauszufordern. Sie war zu weit weg gewesen, als dass er ein zufälliges Treffen hätte arrangieren können, also hatte er einfach nur beobachtet, wie sie von ihm fortgegangen war, wobei ihm ein paar Veränderungen aufgefallen waren.

Ihr Haar waren immer noch von dem gleichen Buttermilchblond und nachlässig auf ihrem Kopf zusammengesteckt. Sie war schlank und athletisch, ihre Schritte entschlossen und ein wenig ungeduldig. Es war ihre Haltung gewesen, die ihn überzeugt hatte, dass es sich um Fliss und nicht um Harriet handelte.

Sie war zu einer selbstbewussten Frau herangewachsen, was ihn nicht überraschte. An Kampfgeist hatte es ihr nie gemangelt.

Er hatte sich verzweifelt danach gesehnt, ihr Gesicht zu sehen, in diese Augen zu schauen und den Hauch von Wiedererkennen zu erblicken, aber sie war zu weit weg gewesen und hatte den Kopf nicht in seine Richtung gewandt.

Beim zweiten Mal hatte er sie vor der Klinik gesehen. Dass sie unentschlossen vor dem Eingang herumlungerte, überzeugte ihn erneut davon, dass es Fliss war und nicht ihre Schwester. Er schätzte, sie hatte versucht, den Mut aufzubringen, ihn anzusprechen, und für einen Moment hatte er geglaubt, dass sie vielleicht endlich auf dem Weg wären, die Unterhaltung zu führen, die sie schon vor zehn Jahren hätten führen sollen. Er war außerdem Zeuge des genauen Augenblicks gewesen, in dem sie die Nerven verloren hatte und geflohen war.

Ihn überkam eine Welle aus Verzweiflung und Frustration, gefolgt von einer gesteigerten Entschlossenheit, dieses Mal das Gespräch zu suchen.

Bei ihrem letzten Treffen war die Atmosphäre mit Emotionen erfüllt gewesen. Sie hatte die Luft eingenommen wie dichter Rauch eines Feuers, das alles erstickte. Wenn Fliss anders gewesen wäre, wenn sie gewillt gewesen wäre zu reden, hätten sie es vielleicht mit Ach und Krach noch geschafft, aber Fliss hatte sich wie immer geweigert, ihre Gefühle zu enthüllen, und auch wenn er mehr als genügend Gefühle für sie beide hatte, hatte er nicht gewusst, wie er sie erreichen sollte. Die kurze Intimität, die sie miteinander verbunden hatte, war verschwunden.

Er weigerte sich zu glauben, dass diese Verbindung rein körperlich gewesen war, aber es war definitiv das Körperliche gewesen, das ihre Aufmerksamkeit verschlungen hatte.

Wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, würde er alles anders machen, aber die Vergangenheit war vergangen, und es gab nur die Gegenwart.

Sie hatten seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr miteinander gehabt, also würde es auf alle Fälle für sie beide ein unangenehmes Treffen werden. Doch es war schon lange überfällig, und wenn sie nicht zu ihm kam, dann blieb ihm nur eine andere Option.

Er würde zu ihr gehen.

Er hatte versucht, es auf sich beruhen zu lassen. Er hatte versucht, es in die Vergangenheit zu schieben. Beides hatte nicht funktioniert, und er war zu dem Schluss gelangt, dass sich der Situation zu stellen der einzige Weg nach vorne war.

Er wollte die Unterhaltung mit ihr führen, die sie schon vor zehn Jahren hätten führen sollen. Er wollte Antworten auf die Fragen, die seitdem in seinem Kopf Winterschlaf gehalten hatten. Aber vor allem wollte er einen Abschluss.

Vielleicht könnte er dann endlich weitermachen.

2. Kapitel

Harriets Handy klingelte um kurz nach halb sechs am Morgen, und Fliss war bereits auf dem Sprung. Sie war sehr früh von einem ihrer Hundesitter geweckt worden, der sich gestern einen Magen-Darm-Virus eingefangen hatte und nicht in der Lage war, das Bett zu verlassen, geschweige denn allein mit einem energiegeladenen Hund spazieren zu gehen. Der Gedanke an Barney, die Bulldogge, die geduldig in der Wohnung ihres Besitzers in Tribeca auf jemanden wartete, der nicht kommen würde, trieb Fliss eine ganze Stunde eher aus der Behaglichkeit ihres Betts, als sie sonst aufgestanden wäre.

Wenigstens war es ein Spaziergang mit einem Hund.

Sie mochte die Einfachheit im Umgang mit Tieren. Tiere zwangen einen nie, über Sachen zu reden, über die man nicht reden wollte.

»Harry? Da versucht jemand, dich anzurufen.« Sie rief den Namen ihrer Schwester und fluchte, als sie die Dusche laufen hörte.

Da sie wusste, dass ihre Schwester über dem Geräusch des plätschernden Wassers unmöglich das Telefon hören konnte, beäugte sie das Gerät, hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, sich auf den Weg zu machen und sich der Schlacht in der U-Bahn zu stellen, und der beinahe unwiderstehlichen Anziehung eines möglichen neuen Kunden.

Sie würden noch mal anrufen.

Nur würde Harriet vielleicht auch dann nicht abheben, weil sie es hasste, mit Fremden am Telefon zu reden. Und dann würden sie womöglich einen neuen Kunden verlieren.

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