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Verratenes Land

Ich hatte nie vor, meinen Bruder zu töten.

Ich hatte nie die Absicht, meinen Vater zu hassen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich meinen eigenen Sohn beerdigen würde. Und ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass ich den Kindheitsfreund betrügen würde, der mir das Leben rettete, oder dass ich für eine Lüge den Pulitzerpreis bekommen würde.
All diese Dinge habe ich getan, und doch würden mich die meisten Leute, die mich kennen, als ehrenwerten Mann bezeichnen. So weit würde ich nicht gehen. Aber ich versuche, ein guter Mensch zu sein, und ich glaube, dass es mir meistens gelingt. Wie ist das nur möglich? Wir leben in komplizierten Zeiten.
Und es ist nicht einfach, ein guter Mensch zu sein.

»Ein großartiges Werk von herausragender Bedeutung, voller Kraft und von großer Ernsthaftigkeit.«
Washington Post über die Natchez-Trilogie


  • Erscheinungstag: 19.08.2019
  • Seitenanzahl: 896
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678834
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für all die Erwachsenen,

die nach Hause zurückkehren,

um eine Schuld aus der Kindheit zu begleichen,

und die feststellen,

dass sie nie wirklich fortgegangen sind.

Hört zu, solange ihr noch könnt.

Ein Geheimnis ist nicht etwas, das nicht erzählt wird.

Es ist etwas, das nicht erzählt werden kann.

Terence McKenna

KAPITEL 1

Ich hatte nie vor, meinen Bruder zu töten. Ich hatte nie die Absicht, meinen Vater zu hassen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich meinen eigenen Sohn beerdigen würde. Und ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass ich den Kindheitsfreund betrügen würde, der mir das Leben rettete, oder dass ich für eine Lüge den Pulitzerpreis bekommen würde.

All diese Dinge habe ich getan, und doch würden mich die meisten Leute, die mich kennen, als ehrenwerten Mann bezeichnen. So weit würde ich nicht gehen. Aber ich versuche, ein guter Mensch zu sein, und ich glaube, dass es mir meistens gelingt. Wie ist das nur möglich? Wir leben in komplizierten Zeiten.

Und es ist nicht einfach, ein guter Mensch zu sein.

KAPITEL 2

Buck Ferris war auf die Knie gesunken und zog eine Kugel aus gebranntem Ton aus dem sandigen Boden neben dem Mississippi, erhob sich stöhnend auf die Füße und kletterte aus der Grube neben dem Grundpfeiler. Im Mondlicht war es schwierig, das Alter des Fundes sicher zu bestimmen, und Buck konnte es nicht riskieren, Licht anzumachen – nicht hier. Und trotzdem … war er sich sicher. Die Kugel in seiner Hand hatte man ein paar Jahrhunderte vor der Zeit gebrannt, als Moses mit den Kindern Israels in die Wüste aufbrach. Ferris war seit sechsundvierzig Jahren Archäologe, aber noch nie hatte er etwas dergleichen entdeckt. Er hatte das Gefühl, als vibrierte die kleine Kugel in seiner Hand. Der letzte Mensch, der diesen Ton berührt hatte, hatte vor beinahe viertausend Jahren gelebt – zwei Jahrtausende bevor Jesus von Nazareth durch den Sand Palästinas schritt. Sein Leben lang hatte Buck darauf gewartet, dieses Artefakt zu finden; dieser Fund stellte alles in den Schatten, was er je getan hatte. Wenn er recht hatte, war der Boden, auf dem er stand, die wichtigste bisher unentdeckte archäologische Stätte in ganz Nordamerika.

»Was hast du denn da, Buck?«, ertönte eine Männerstimme.

Bläulich-weißes Licht stach Ferris in die Augen. Fast hätte er sich vor Schreck bepisst. Er hatte geglaubt, auf dem riesigen, niedrig gelegenen Gelände des Industrieparks allein zu sein. Eine Viertelmeile weiter westlich floss der ewige Mississippi vorüber, nichtsahnend.

»Wer sind Sie?«, fragte Ferris und hob die Linke, um seine Augen abzuschirmen. »Wer ist da?«

»Man hat dich gewarnt, diesen Boden nicht anzurühren«, sagte der Mann hinter dem Licht. »Das ist Privateigentum.«

Der Sprecher hatte einen gebildeten Südstaatenakzent, der Buck irgendwie bekannt vorkam. Doch er konnte ihn niemandem zuordnen. Zu seiner Verteidigung konnte Buck auch nicht viel vorbringen. Im Lauf der letzten vierzig Jahre hatte er sieben Mal die Erlaubnis beantragt, auf diesem Gelände zu graben, und war jedes Mal abgewiesen worden. Aber vor fünf Tagen hatte die Bezirksverwaltung die Trümmer der Galvanisierfabrik forträumen lassen, die hier seit dem Zweiten Weltkrieg gestanden hatte. Und in zwei Tagen würde ein chinesisches Unternehmen anfangen, an ihrer Stelle eine neue Papierfabrik zu bauen. Wenn jemand herausfinden sollte, was unter dieser Erde lag, dann jetzt – und zum Teufel mit den Konsequenzen.

»Wo kommst du denn her?«, fragte Buck. »Ich habe niemand gesehen, als ich eingetroffen bin.«

»O Buck … Du warst immer so ein braver Junge. Wieso konntest du die Sache nicht auf sich beruhen lassen?«

»Kenn ich dich?«, fragte Ferris, der sich sicher war, dass er die Stimme schon einmal gehört hatte.

»Anscheinend nicht.«

»Ich glaube nicht, dass du verstehst, welchen Wert das hier hat«, sagte Ferris mit vor Aufregung schriller Stimme.

»Du hast da gar nichts«, erwiderte die Stimme. »Du bist nicht einmal hier.«

Da begriff Buck in groben Zügen, und in seinem Magen begann etwas zu surren wie ein straff gespannter Draht, der fest gezupft wird. »Warte, hör zu«, brachte er vor, »dieser Boden, auf dem du stehst … das ist eine viertausend Jahre alte Indianersiedlung. Vielleicht fünf- oder sechstausend Jahre alt, je nachdem, was wir finden, wenn wir tiefer graben.«

»Du hoffst wohl auf eine Fernsehserie im PBS?«

»Großer Gott, nein. Verstehst du nicht, was ich dir erkläre?«

»Klar doch. Du hast irgendwelche Indianerknochen gefunden. Die Sache ist die: Das ist eine schlechte Nachricht für alle.«

»Nein, hör doch zu. Fünfzig Meilen von hier entfernt in Louisiana gibt es eine Stätte genau wie diese hier. Die heißt Poverty Point. Das ist eine Welterbestätte der UNESCO. Da kommen jedes Jahr Tausende von Touristen hin.«

»Da war ich schon. Ein paar Dreckhügel, und das Gras müsste mal wieder gemäht werden.«

Schließlich begriff Buck, dass er genauso hätte versuchen können, einem Hillbilly was von Bach zu erzählen. »Das ist doch lächerlich. Du …«

»Eine Milliarde Dollar«, fuhr der Mann dazwischen.

»Wie bitte?«

»Eine Milliarde Dollar. So viel könntest du diese Stadt kosten.«

Buck versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, aber die Kugel in seiner Hand schien immer noch zu vibrieren. Sie war unter dem Namen »Poverty-Point-Artefakt« bekannt, und die Indianer hatten sie benutzt, um im Schlamm Fleisch zu garen. Gott allein wusste, was sonst noch im Lössboden unter ihren Füßen lag. Keramik, Speerspitzen, Schmuck, religiöse Gegenstände, Knochen. Wie konnte jemand nicht verstehen, was es bedeutete, auf diesem Boden zu stehen und zu wissen, was er wusste? Wie konnte das jemandem egal sein?

»Das muss doch eure Abmachung nicht zunichtemachen«, sagte er. »Situationen wie diese werden doch ständig zur Zufriedenheit aller beteiligten Parteien irgendwie geregelt. Der Denkmalschutz kommt dazu, bewertet die Stätte, und sie entfernen Artefakte, falls das überhaupt nötig ist. Um sie zu schützen. Das ist alles.«

»Hätten die den ganzen Poverty Point fortgeschafft, um eine Papierfabrik zu bauen, Buck?«

Nein, dachte er. Das hätten sie nicht.

»Eine Milliarde Dollar«, wiederholte der Mann. »In Mississippi. Das entspräche in der großen weiten Welt eher zehn Milliarden. Und da reden wir noch nicht mal davon, was es mich persönlich kosten könnte, wenn wir die Papierfabrik verlieren.«

»Könntest du das Licht aus meinen Augen nehmen?«, fragte Buck. »Können wir uns nicht wie zivilisierte Menschen unterhalten?«

»Mach’s«, sagte die Stimme.

»Was?«, fragte Buck. »Was soll ich machen?«

»Ich habe dein Gitarrenspiel immer sehr gemocht«, sagte der Mann. »Du hättest dabeibleiben sollen.«

Buck hörte, wie sich hinter ihm etwas bewegte, konnte sich jedoch nicht schnell genug umdrehen, um zu sehen, wer da war, oder um sich zu schützen. Auf seiner Netzhaut brannte noch ein weißes Nachbild, und aus diesem Weiß tauchte ein dichtes schwarzes Rechteck auf.

Ziegelstein.

Er riss die Hände in die Höhe, aber es war zu spät. Der Ziegelstein krachte auf seinen Schädel und verzerrte seine Wahrnehmung. Er spürte nur Schmerz und torkelnde Übelkeit, als er in die Dunkelheit stürzte. Das Gesicht seiner Frau flackerte vor seinem Auge, bleich vor Sorgen, als er sie am Abend verlassen hatte. Während er auf die Erde prallte, dachte er an Hernando de Soto, der 1542 nicht weit von hier in der Nähe des Mississippi gestorben war. Er fragte sich, ob diese Männer ihn neben dem Fluss begraben würden, den er so lange schon liebte.

»Schlag ihn noch mal«, sagte die Stimme. »Schlag ihm das Hirn zu Brei.«

Buck versuchte, seinen Kopf zu schützen, aber seine Arme wollten sich nicht bewegen.

KAPITEL 3

Ich heiße Marshall McEwan.

Mit achtzehn bin ich zu Hause weggelaufen. Ich bin nicht vor dem Staat Mississippi weggelaufen – sondern vor meinem Vater. Ich habe mir damals geschworen, dass ich niemals zurückgehen würde, und habe mein Versprechen sechsundzwanzig Jahre lang gehalten, mit Ausnahme einiger kurzer Besuche bei meiner Mutter. Es war kein leichter Weg, aber schließlich war ich einer der erfolgreichsten Journalisten von Washington, D. C. Die Leute meinten, ich hätte die Druckerschwärze im Blut; mein Vater war in den 1960er Jahren ein legendärer Chefredakteur und Zeitungsherausgeber – die New York Times hat ihn einmal als »das Gewissen von Mississippi« bezeichnet –, aber ich habe mein Geschäft nicht von Duncan McEwan gelernt. Mein Vater war eine Legende, die zum Säufer wurde und wie die meisten Säufer auch einer blieb. Trotzdem verfolgte er mich wie ein zweiter Schatten an meiner Seite. Also war es wohl unvermeidlich, dass sein Tod mich nach Hause zurückbringen würde.

Oh, er ist noch nicht tot. Sein Tod rückt näher wie ein einsames schwarzes Schiff, das sich durch die Wellen ankündigt, die es vor sich herschiebt, dunkle Wellen, die einen einst so scharfen Verstand stören und die über die schützenden Grenzen einer Familie hinwegrollen. Angetrieben wird dieses schwarze Schiff von komorbiden Störungen, wie die Ärzte es nennen: Parkinson, Herzversagen, Bluthochdruck, Säuferleber. So lange ich konnte, habe ich die Situation ausgeblendet. Ich habe schon gesehen, wie brillante Kollegen – die meisten zehn oder fünfzehn Jahre älter als ich – zu kämpfen haben, um in den kleinen Städten der Republik ihre kränklichen Eltern zu pflegen, und in allen Fällen hat ihre Laufbahn darunter gelitten. Durch Zufall oder Karma erlebte meine Karriere 2016 nach der Wahl von Trump einen kometenhaften Aufstieg. Und ich hatte nicht die geringste Lust, von meinem Kometen herunterzuspringen und wieder in Mississippi zu landen, um dort bei einem Vierundachtzigjährigen den Babysitter zu spielen, zumal der seit meinem vierzehnten Lebensjahr so getan hatte, als existierte ich nicht.

Schließlich gab ich mich geschlagen, weil mein Vater so krank war, dass ich meine Mutter nicht mehr aus tausend Meilen Entfernung bei der Pflege unterstützen konnte. Dad war in den letzten drei Jahrzehnten immer tiefer in Wut und Depression versunken, machte dabei alle in seiner Umgebung unglücklich und ruinierte seine Gesundheit. Doch da ich im Herzen ein braver Südstaatenjunge bin, war es nicht mehr relevant, dass seit über dreißig Jahren ein unüberbrückbarer Graben zwischen ihm und mir klaffte. Hier unten ist es ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn dein Vater im Sterben liegt, gehst du nach Hause und hältst mit deiner Mutter die Totenwache. Außerdem verfiel unser Familienunternehmen – der Bienville Watchman (gegründet 1865) – unter Dads zunehmend unberechenbarer Leitung zusehends, und da er sich die letzten beiden Jahrzehnte starrköpfig geweigert hatte, diesen Dinosaurier von einer Zeitung zu verkaufen, musste ich den Laden am Laufen halten, bis wir das, was davon übrig war, nach seinem Tod an jemanden zum Ausschlachten verkaufen konnten.

Das redete ich mir jedenfalls ein.

In Wirklichkeit war mein Motiv komplizierter. Wir handeln kaum je logisch, wenn wir in unserem Leben vor wichtigen Entscheidungen stehen. Damals konnte ich meinen Selbstbetrug nicht erkennen. Ich befand mich immer noch in dem lang anhaltenden Schockzustand nach einer Ehe, die eine Tragödie überstanden – oder vielmehr nicht überstanden – hatte und dann, als meine berufliche Laufbahn in die Stratosphäre abhob, in eine Scheidung trudelte. Doch jetzt begreife ich es.

Ich bin wegen einer Frau nach Hause gekommen.

Sie war noch ein Mädchen, als ich von zu Hause wegging, und ich war ein verwirrter Junge. Aber ganz gleich, wie unerbittlich das Leben versuchte, die Weichheit aus mir herauszuprügeln und mich in den harten, spröden Panzer des Zynismus zu hüllen, so blieb in mir doch etwas Reines erhalten, lebendig und wahr: Das Mädchen, halb aus Jordanien, halb aus Mississippi, das mir die geheimen Freuden des Lebens enthüllte, hatte sich so tief in meine Seele eingegraben, dass keine andere Frau je an sie heranreichte. Achtundzwanzig Jahre Trennung hatten nicht ausgereicht, um meine Sehnsucht nach ihr abzutöten. Manchmal fürchte ich, dass meine Mutter mein geheimes Motiv von Anfang an kannte (oder vielleicht nur spürte und betete, dass sie sich irrte). Ganz gleich, ob sie es weiß oder ob sie so unwissend geblieben ist wie ich an dem Tag, als ich endlich klein beigab, jedenfalls ließ ich mich von meinen Jobs in Presse und Fernsehen beurlauben, packte das Nötigste ein und fuhr mit vor Anspannung weißen Knöcheln in den Süden, um den berühmtesten Ausspruch von Thomas Wolfe zu testen.

Natürlich kannst du wieder nach Hause gehen, antwortete mein Stolz. Zumindest für kurze Zeit. Du kannst deine Sohnespflicht tun. Denn welcher Mann, der sich für einen Gentleman hält, würde das nicht tun? Und sobald die Pflicht erfüllt ist und er tot ist, kannst du vielleicht deine Mutter dazu überreden, mit dir nach Washington zu kommen. Ehrlich gesagt, wahrscheinlich wusste ich, dass es eine müßige Hoffnung war. Doch sie gab mir etwas, das ich mir einreden konnte, damit ich nicht zu sehr über das unlösbare Problem nachdenken musste. Nein, nicht die Lage meines Vaters. Das Mädchen. Sie ist natürlich jetzt eine Frau, eine Frau mit einem Ehemann, der vielleicht mein bester Kindheitsfreund ist. Sie hat auch einen zwölfjährigen Sohn. Und während dieser Knoten in unserem Zeitalter der allgegenwärtigen Scheidungen vielleicht nicht viel von einem gordischen Knoten hat, sorgen doch andere Faktoren dafür, dass es wirklich einer ist. Die Misere meines Vaters hingegen … wird sich zwangsläufig irgendwann erledigen.

Das klingt vielleicht eiskalt.

Ich sage nicht, dass Dad die Schuld an seiner Situation selbst trägt. Er hat, Gott weiß, seinen Teil Leiden erduldet – genug, um ihn lebenslang von der Religion zu heilen. Zwei Jahre ehe er meine Mutter heiratete, verlor er bei einem Autounfall seine erste Frau und die gemeinsame kleine Tochter. Und als wäre das nicht genug, kam mein achtzehnjähriger Bruder, als ich in der neunten Klasse war, auch bei einem Unfall ums Leben, bei einer Tragödie, die wie eine Bombe aus unsichtbarer Höhe auf unsere Stadt herabstürzte. Vielleicht hat es meinen Vater gebrochen, zwei Kinder nacheinander zu verlieren. Ich könnte das verstehen. Als mein Bruder Adam starb, war es für mich, als hätte Gott den Arm ausgestreckt und das Licht der Welt ausgeknipst, und ich stolperte wie ein Erblindeter, der sich nicht mit seinem neuen Leiden zurechtfindet, durch die nächsten zwei Jahre.

Aber »Gott« war mit mir noch nicht fertig. Zwanzig Jahre nach Adams Tod verlor ich meinen zweijährigen Sohn – mein einziges Kind – bei einem stinknormalen Haushaltsunfall. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn einen das Schicksal bricht.

Aber ich funktioniere noch.

Ich melke meine Informanten, ich schreibe Artikel, ich kommentiere auf CNN und MSNBC die Themen des Tages. Ich kann sogar Reden zu 35.000 Dollar das Stück halten (vielmehr konnte ich das, ehe ich wieder in meinen Drittweltstaat gezogen bin und damit meinen journalistischen Marktwert in einen irreversiblen Sturzflug katapultierte). Ich habe gelitten, aber ich habe weitergemacht. Das wurde mir so beigebracht – natürlich von meiner Mutter, nicht von meinem Vater. Und von Buck Ferris, dem Archäologen und Pfadfinderführer, der, nachdem mein Vater seine väterlichen Pflichten aufgegeben hatte, an seine Stelle trat und sein Möglichstes tat, um einen Mann aus mir zu machen. Nach all meinen Erfolgen meinte Buck, er hätte das wohl geschafft. Ich war mir nie so ganz sicher. Wenn ich es mir eines Tages doch beweisen könnte, würde er es nie erfahren. Denn irgendwann letzte Nacht wurde Buck Ferris ermordet.

Bucks Tod scheint der natürliche Anfang für diese Geschichte zu sein, denn so fangen diese Dinge gewöhnlich an. Ein Tod stellt eine praktische Demarkationslinie dar, triggert den vertrauten Dreiklang von Ermittlung, Schuldzuweisung, Bestrafung. Aber Anfänge sind kompliziert. Es kann Jahrzehnte dauern, bis die genaue Kette von Ursache und Wirkung feststeht, die zu einem einzigen Ergebnis geführt hat. Das habe ich bei meinem Uniabschluss in Geschichte gelernt, wenn auch sonst nicht viel. Aber ich kann keine zwanzig Jahre warten, bis ich diese Ereignisse anspreche. Denn im Augenblick bin ich zwar gesund – und habe getan, was ich konnte, um mich zu schützen –, doch es gibt Menschen, denen es lieber wäre, wenn ich nicht so gesund wäre. Am besten bringe ich alles jetzt gleich zu Papier.

Doch während wir diese vertrauten Schritte miteinander tanzen, vergessen Sie bitte nicht, dass nichts so ist, wie es scheint. Der Mord an Buck ist zwar ein natürlicher Anfangspunkt, aber diese Geschichte begann eigentlich, als ich vierzehn Jahre alt war. Die Leute, deren Lebenswege sich mit fatalen Folgen ineinander verschlingen sollten, lebten damals noch, und einige liebten sich bereits. Um diese Geschichte zu verstehen, müssen Sie zwischen zwei Zeiten schwimmen wie jemand, der sich zwischen Wachen und Schlaf hin und zurück bewegt. Die Natur unseres Geistes ist so angelegt, dass wir die Träume im Schlaf für die Vergangenheit halten, nie ganz präzise in der Erinnerung, immer so geschaffen, dass sie unseren Begierden dienen (außer wenn sie uns wegen unserer Sünden heimsuchen). Und die wache Gegenwart … nun, auch die birgt ihre Gefahren.

Als ich dreizehn war, sah ich einmal im Wald eine Virginiawachtel auf einem Baumstamm hocken. Eine zweite Wachtel lag zu ihren Füßen. Sie schien tot zu sein, aber ich kniete mich sehr nahe hin und beobachtete beide eine halbe Minute lang. Eine blieb reglos, die andere machte fragende Bewegungen, als wartete sie ungeduldig darauf, dass ihr Partner aufstünde. Erst nachdem meine Augen, vielleicht weil sie überanstrengt waren, nicht mehr scharf sahen, bemerkte ich die Klapperschlange, die zwei Fuß entfernt aufgerollt lag und sich zum Angriff anspannte. Die schwere Diamant-Klapperschlange war vier Fuß lang und konzentrierte sich auf mich, nicht auf den Vogel.

Ich überlebte an diesem Tag und lernte eines: Wenn man nah genug ist, um zu sehen, ist man nah genug, um zu töten.

KAPITEL 4

Als ich erfuhr, dass eine Leiche im Mississippi trieb, hatte der Sheriff bereits das Rettungsboot des Bezirks ausgesandt, um sie zu bergen. Normalerweise würde ich einen Reporter losschicken, um darüber zu berichten, aber weil mein Informant sich ziemlich sicher war, dass der Tote Buck Ferris war, weiß ich, dass ich selbst hinmuss. Was Probleme verursacht. Für mich sind Wasser und Tod unauflösbar miteinander verbunden. Ich gehe nie zum Fluss hinunter – fahre nicht einmal auf der hohen Brücke darüber –, es sei denn, ich habe keine andere Wahl. Das kann das Leben in einer Stadt am Fluss ziemlich beschwerlich machen.

Heute habe ich keine andere Wahl.

Ehe ich das Büro des Watchman verlasse, rufe ich bei Quinn Ferris, Bucks Ehefrau, an. Quinn hat mich wie einen Sohn behandelt, wenn ich bei ihnen zu Hause war, was früher oft und lange war. Obwohl ich nun achtundzwanzig Jahre von Bienville fort war (außer den letzten fünf Monaten), sind wir uns doch so nah, dass ich weiß, sie würde die tragische Nachricht lieber von mir als von der Polizei oder dem amtlichen Leichenbeschauer hören. Wie ich befürchtet hatte, war die Neuigkeit schon zu ihr vorgedrungen – der Fluch der Kleinstadt. Sie rennt in ihrem Haus herum und versucht, die Schlüssel zu finden, damit sie zum Fluss hinunter kann. Weil sie fünfzehn Meilen auf dem Land draußen lebt, will Quinn unbedingt in Richtung Stadt aufbrechen, aber irgendwie überrede ich sie dazu, zu Hause zu warten, bis ich anrufe, um das zu bestätigen, was bisher nur ein Gerücht ist.

Mein SUV habe ich auf dem Mitarbeiterparkplatz hinter dem Zeitungsgebäude abgestellt. Wir sind nur vier Häuserblocks von der Klippe entfernt, wo die Front Street den zweihundert Fuß hohen Hang in einem Vierzig-Grad-Winkel durchschneidet. Ich biege in die Buchanan Street ein und gehe noch einmal durch, was mir mein Informant am Telefon mitgeteilt hat. Etwa um 8:40 Uhr hat ein pensionierter Kajakfahrer einen Mann entdeckt, den er für Buck Ferris hielt. Er war in der Astgabel eines Pappelstumpfs im Mississippi eingeklemmt, vierhundert Yard südlich des Landestegs von Bienville. Der Kajakfahrer kannte Buck nicht gut, hatte aber ein paar seiner archäologischen Vorträge im Indianerdorf besucht. Jeder, der den Mississippi kennt, weiß, dass diese Geschichte einem Wunder gleichkommt. Wäre Buck nicht zufällig in die Astgabel dieses Baumes geraten, er wäre die ganze Strecke bis Baton Rouge oder New Orleans getrieben, ehe man ihn entdeckte, wenn er überhaupt gefunden worden wäre. Viele Menschen ertrinken im Mississippi, und die meisten werden zwar irgendwann wiedergefunden. Manchmal jedoch weigert sich der Flussgott, seine Toten wieder herzugeben.

Furcht macht sich in meinem Magen breit, als ich die abschüssige Front Street nach Lower’ville herunterfahre – wie die Einwohner kurz für Lower Bienville sagen, das die Handelskammer allerdings als Riverfront bezeichnet. Selbst für den Frühling führt der Mississippi schon viel Wasser, und eine steife Brise peitscht weiße Schaumkronen auf seiner breiten schlammigen Oberfläche auf. Ich wende mühsam die Augen vom Wasser und konzentriere mich auf die Autos, die entlang des Holzgeländers geparkt sind, das den jähen Hang zum Fluss abblockt. Aber das hilft mir kaum, meine Furcht zu dämpfen. Ich versuche nun schon über dreißig Jahre, diese sicherlich krankhafte Angst vor diesem Fluss loszuwerden, aber es ist mir nicht gelungen.

Ich werde mich wohl durchbeißen müssen.

Zwei schmale Straßen sind alles, was noch von Lower’ville übrig geblieben ist, dem Sündenpfuhl der Halbwelt, die hier im 19. Jahrhundert im Schatten der Klippe von Bienville lebte. Vor zweihundert Jahren bot diese berühmt-berüchtigte Landestelle den Besatzungen der Plattbodenschiffe und Dampfer alles Mögliche an, vom Glücksspiel und leichten Mädchen bis zum besten Whiskey und ausleihbaren Duellpistolen. In Lower’ville wurde auch alles Mögliche rasch umgeschlagen, von langstapeliger Baumwolle bis zu afrikanischen Sklaven, und dieser Handel bereicherte die Nabobs, die in den glitzernden Palästen oben an der Klippe wohnten und deren Geld wieder als Bezahlung für exquisite Laster in den Bezirk zurückfloss.

Heute hat sich all das geändert. Der erbarmungslose Fluss hat Lower’ville auf zwei parallele Straßen und die sie verbindenden fünf kurzen Gassen zusammenschmelzen lassen, von denen die meisten von Touristenbars und Restaurants gesäumt sind. Die Sun King Gaming Company unterhält hier ein kleines Büro und eine Haltestelle für den Shuttlebus, der ihr eine Meile flussaufwärts gelegenes schrilles Kasino im Stil Ludwig des Vierzehnten anfährt. Ein ortsansässiger Unternehmer bietet von hier aus Fahrten in offenen Bussen an, und ein Whiskey-Brenner übt sein Handwerk in einem alten Lagerhaus aus, das sich an den Fuß der Klippe schmiegt. Sonst gibt es hier nur noch überteuerte Geschäfte. Keine Huren mehr, keine Dampferkapitäne, keine messerschwingenden Plattbodenbootfahrer, keine Duelle mit Pistolen. Heutzutage finden Duelle in Bucktown statt, und die Waffen der Wahl sind Glock und AR-15. Für Glücksspiele muss man mit dem Shuttlebus flussaufwärts zum Sun King fahren. Ich besuche diesen Stadtteil beinahe nie, und wenn sich die seltene Gelegenheit ergibt, dass ich gezwungen bin, mich mit jemandem in einem der Restaurants zu treffen, die auf den Fluss hinausgehen, setze ich mich mit dem Rücken zum Panoramafenster, damit ich nicht auf das große Wasser schauen muss.

Heute werde ich es mir nicht leisten können, meinem Stressfaktor aus dem Weg zu gehen. Ich parke meinen Ford Flex ein paar Fuß vom Flussufer entfernt und entdecke das Rettungsboot des Bezirks, das eine Viertelmeile südlich des Landestegs hundert Yard vom Ufer entfernt in der Strömung vor Anker liegt. Einige Menschen stehen in lockerer Reihe da und beobachten die halbherzigen Aktivitäten auf dem Wasser. Eine Dreiviertelmeile jenseits des im Wasser tanzenden Boots schwebt das niedrige Ufer von Louisiana über dem Fluss. Bei dem Anblick aus dieser Perspektive überkommt mich eine Welle der Übelkeit, teils wegen des Flusses, aber auch weil ich langsam die Wirklichkeit verarbeite, dass Buck Ferris gestern Nacht unseren Planeten verlassen haben könnte, während ich im Bett lag und schlief. Ich wusste, dass er vielleicht in Gefahr sein könnte, aber wo immer er gestern Abend hingegangen ist, ist er allein hingegangen.

Ich zwinge mich, die Augen vom gegenüberliegenden Ufer abzuwenden, gehe von den Gaffern ein Stück flussabwärts, um einen freien Blick auf das Boot zu bekommen. Ohne Feldstecher kann ich nicht viel sehen, aber die beiden Deputys an Bord scheinen zu versuchen, auf der anderen Seite des Bootes etwas aus dem Wasser zu zerren.

Im Fluss gibt es drei Arten von Fallen, die alle in den Zeiten von Mark Twain so manchen Dampfer kentern lassen konnten und auch kentern ließen. Die schlimmste ist der »Planter«: wenn ein ganzer vom Fluss entwurzelter Baum sich im Flussbett verkantet und von dem angespülten Treibsand stabilisiert wird. Diese riesigen Bäume sind oft nur als ein, zwei Fuß Holz über der Wasseroberfläche zu sehen, treiben sanft in der Strömung auf und ab und warten darauf, tödliche Scharten in die Schiffsrümpfe von Booten zu reißen, die von unvorsichtigen Lotsen gesteuert werden. Angesichts der eindeutigen Schwierigkeiten der Deputys denke ich mir, dass sie sich damit abmühen, die Leiche aus einer halb versenkten Astgabel in einem Planter zu befreien. Selbst nachdem sie das geschafft haben, müssen sie immer noch seine Leiche über das Dollbord des Rettungsbootes hieven, was keine leichte Sache ist. Während ich über ihre Probleme nachdenke, schießt mir die offensichtliche Frage durch den Kopf: Wie stehen die Chancen, dass ein Mann, der in einen meilenbreiten Fluss fällt, ausgerechnet auf eines der wenigen Hindernisse zutreibt, die ihn daran hindern könnten, in Richtung Golf von Mexiko gespült zu werden?

Als ich noch die schweißgetränkten Rücken der Deputys betrachte, bewegt sich ein Surren wie von einem Hornissenschwarm über meinen Kopf und lenkt meine Aufmerksamkeit vom Boot ab. Doch als ich aufschaue, erblicke ich eine kleine Vier-Rotoren-Drohne – vom Typ DJI, glaube ich –, die etwa in hundert Fuß Höhe auf das Wasser hinausfliegt und Kurs auf das Boot des Sheriff’s Department nimmt. Die Drohne steigt rasch auf, als sie sich dem Schiff nähert; wer immer sie steuert, hofft offensichtlich, die Deputys nicht zu verärgern. So wie ich das Sheriff’s Department von Tenisaw County kenne, wird der Pilot wohl kaum so viel Glück haben.

Ein Deputy hat die Drohne bereits bemerkt. Er fuchtelt wütend in den Himmel, hebt den Feldstecher an die Augen und beginnt, das Flussufer nach dem Piloten abzusuchen. Ich folge seiner Blickrichtung, sehe aber nur ein paar Stadtpolizisten, die dasselbe wie ich machen: Sie suchen in der Reihe der Gaffer nach jemandem, der eine Steuereinheit in der Hand hält.

Nach dreißig erfolglosen Sekunden komme ich zu dem Ergebnis, dass der Pilot die Drohne von oben auf der Klippe hinter uns steuern muss. Wenn er sie von der Klippe aus lenkt, die zweihundert Fuß über dem Fluss aufragt, war es sehr schlau, so niedrig auf das Rettungsboot zuzufliegen. Das vermittelt den Deputys das Gefühl, dass er oder sie vom Ufer aus arbeitet. Ohne den Kopf in den Nacken zu legen, mustere ich den Eisenzaun oben an der Klippe. Ich brauche nicht lange, um hundertfünfzig Yard südlich vom Landesteg eine schmale Gestalt zu entdecken, die in gespannter Aufmerksamkeit am Zaun steht und etwas in den Händen hält.

Aus dieser Entfernung kann ich zwar weder Gesichtszüge noch Geschlecht ausmachen, doch der Anblick triggert eine Erinnerung. Ich kenne einen Jungen, der Talent dafür hat, mit seiner Luftbildkamera nachrichtenwerte Ereignisse einzufangen: der Sohn einer meiner Mitschülerinnen aus der Highschool. Obwohl Denny Allman erst vierzehn ist, ist er ein Genie im Umgang mit Drohnen. Ich habe bereits einige seiner Filme auf der Webseite unserer Zeitung gepostet. Die meisten Kids hätten gar keine Möglichkeit, während der Schulzeit an einem Dienstagmorgen auf die Klippe zu gelangen, aber Denny wird zu Hause unterrichtet, was bedeutet, dass er aus dem Haus kann, wenn er auf dem Polizeiscanner, den er sich von seiner Mutter zum letzten Weihnachtsfest erbettelt hat, etwas von, sagen wir mal, einer Leiche im Fluss hört.

Während ich noch die Gestalt auf der Klippe beobachte, kommt der Wagen des amtlichen Leichenbeschauers die Front Street heruntergerumpelt. Es ist ein uralter Chevy-Kastenwagen aus den sechziger Jahren. Der Fahrer hält nicht wie ich an der Wendestelle an, sondern fährt auf den harten Schlamm und weiter flussabwärts am Ufer entlang, bis er schließlich etwa dreißig Yard von mir entfernt stehenbleibt. Byron Ellis, der amtliche Leichenbeschauer des Bezirks, steigt aus und kommt zu mir herüber, um den Gaffern zu entgehen, die ihn mit Fragen bestürmen.

Man muss nicht Arzt sein, um in Bienville für den Posten des amtlichen Leichenbeschauers ausgewählt zu werden. Byron Ellis ist ehemaliger Krankenwagenfahrer und Sanitäter, der sich, als sein sechzigster Geburtstag näher rückte, entschlossen hat, der erste Afroamerikaner zu werden, der sich diesen Posten sichert. Byron und ich haben einander in den letzten fünf Monaten gut kennengelernt, und zwar aus einem tragischen Grund. Bienville erlebt eine Welle von Gewaltverbrechen, die sich zu hundert Prozent auf die schwarze Gemeinde beschränkt. Etwa sechs Monate vor meiner Rückkehr haben schwarze Teenager angefangen, sich gegenseitig aus Hinterhalten und bei Schießereien umzubringen, was die Bürger der Stadt, ob schwarz oder weiß, in Angst und Schrecken versetzt hat. Trotz der besten Bemühungen der Gesetzeshüter und des engagierten Einschreitens von führenden Persönlichkeiten in Kirche, Schule und Stadtbezirk hat sich der Teufelskreis der Vergeltung nur noch gesteigert. Byron und ich haben schon gemeinsam neben zu vielen Kids gestanden, die von Kugeln durchlöchert waren, und der unbestreitbaren Tatsache ins Auge geblickt, dass unsere Gesellschaft verrückt geworden ist.

»Wer ist das da draußen, Marshall?«, fragt Byron, als er näher kommt.

»Ich habe gehört, es soll Buck Ferris sein. Weiß es noch nicht sicher. Ich hoffe verdammt noch mal, dass er’s nicht ist.«

»Geht mir wie dir.« Byron klatscht meine Hand ab, die ich ihm hingestreckt habe. »Der Mann hat nie auch nur ’ner Fliege was zuleid getan.«

Ich schaue wieder zu den Deputys, die sich auf dem Boot abmühen. »Ich hätte gedacht, dass du vor mir hier ankommst.«

»Hab’ wieder einen Jungen im Wagen. Hab’ mir heute schon den Arsch abgearbeitet.«

Ich drehe mich überrascht zu ihm hin. »Ich hab’ gar nichts von einer Schießerei letzte Nacht gehört.«

Er zuckt mit den Achseln. »Niemand hat den Jungen vermisst gemeldet, bis seine Mama zu ihm reingegangen ist und ihm seine Frühstücksflocken bringen wollte und merkte, dass er nicht im Bett lag. Ein Sträflingsteam im Straßenbau hat ihn draußen, wo die Cemetery Road den Highway 61 kreuzt, in einem Graben gefunden. Hat achtzehn Schuss abgekriegt, was ich so zählen konnte. Ich habe eine .223-Kugel aus einer Wunde auf seinem Rücken gezogen, die beinahe eine Austrittswunde war.«

»Verdammt noch mal, Byron. Das läuft ja völlig aus dem Ruder.«

»Oh, das ist es schon lange, Bruder. Wir sind jetzt ein Kriegsgebiet. Da ist ein ertrunkener Archäologe vergleichsweise harmlos, oder?«

Ich brauche all meine Willensanstrengung, um das Gesicht nicht zu verziehen. Byron hat keine Ahnung, dass Buck Ferris für mich wie ein Vater war, und es bringt auch nichts, ihm jetzt ein schlechtes Gewissen zu machen, indem ich es ihm sage. »Vielleicht«, murmele ich. »Es würde mich allerdings überraschen, wenn das ein Unfall war. Ich habe das Gefühl, dass etwas sehr Ernstes dahintersteckt. Und ein paar mächtige Leute.«

»Ach ja? Na, das klingt ganz so, als wäre es was für deine Abteilung.« Byron lacht leise, ein tiefes Rumpeln in seinem üppigen Bauch. »Schau dir doch die Chaostruppe da draußen an. Deputy Dawg, Mannomann. Die Drohne da macht die ja schon fast verrückt.«

»Ich ruf dich später an«, sage ich zu ihm. »Ich hab’ jetzt zu tun.«

»Klar, Mann. Lass mich ruhig hier draußen in der Sonne stehen. Mach dir um mich keine Sorgen.«

Byron zwinkert, als ich spöttisch salutiere.

Sobald ich wieder in meinem Flex sitze, drücke ich den Anlasserknopf und fahre die Foundry Road hoch, die spiegelverkehrt zur Front Road die Klippe hinaufführt. Während mein Motor sich auf der Steigung abmüht, kracht ein Pistolenschuss über den Fluss und hallt von der Klippe wider. Ich fahre auf meinem Sitz zusammen, völlig verdattert von der idiotischen Unverantwortlichkeit eines Deputys, der in einem Gebiet, in dem sich Menschen befinden, einfach in die Luft schießt, um eine Drohne herunterzuholen. Unterhalb von mir knallt ein weiterer Schuss. Ich kann nur hoffen, dass sie kein Gewehr an Bord des Rettungsbootes haben. Wenn doch, dann können sie das kleine Fluggerät vielleicht wirklich abschießen, das laut Gesetz eine Registriernummer tragen muss. Und da der Sheriff von Bienville ein echtes Arschloch ist, wird der Pilot jede Menge Ärger bekommen. Wenn der Pilot der ist, den ich vermute, möchte ich über diese Geschichte nicht in der Zeitung berichten müssen.

Ich bete nicht, aber den ganzen Weg bergauf bettele ich das Universum an, mir inmitten all seiner täglichen Schöpfung und Zerstörung eines zu gewähren: Mach, dass diese Leiche jemand anderer ist. Mach, dass es nicht der Mann ist, der mich, als ich vierzehn war, davon abgehalten hat, mich umzubringen.

Mach, dass es nicht Buck ist.

KAPITEL 5

Oben auf der Klippe von Bienville kann man nicht näher als dreißig Yard von der Kante entfernt parken. Im Stadtgebiet hat man eine Pufferzone aus Grünflächen zwischen Battery Row und dem Eisenzaun angelegt, die Kinder, Jugendliche und Betrunkene daran hindert, sich im Tagesrhythmus hier umzubringen. Wie ich gehofft hatte, stellt sich heraus, dass die schmale Gestalt beim Zaun der vierzehnjährige Denny Allman, der Sohn meiner Schulfreundin, ist. Denny hat sicher meinen Flex erkannt, als ich dort geparkt habe – sonst wäre er abgehauen.

Ich hebe zum Gruß die Hand, als ich mich ihm nähere. Denny quittiert das mit einer Kopfbewegung, ehe er sich wieder zum Fluss wendet, die Hände stets an der Steuereinheit der Drohne. Selbst wenn er mit dem Rücken zu mir steht, kann ich an seiner Körperhaltung seine Mutter erkennen. Dixie Allman war in der Highschool sportlich und attraktiv. Sie war eine ziemlich schlechte Schülerin, hauptsächlich, weil sie so faul war, hatte jedoch einen flinken Verstand. Ihr Problem war, dass sie sich seit ihrem zehnten Lebensjahr nur darauf konzentriert hat, männliche Aufmerksamkeit zu erregen. Mit achtzehn heiratete sie – schwanger – und wurde mit fünfundzwanzig geschieden. Dennys Vater war ihr dritter Ehemann, der sie verließ, als Denny fünf oder sechs Jahre alt war. Dixie hat sich alle Mühe gegeben, den Jungen gut zu erziehen, und das ist einer der Gründe, warum ich ihn ermutigt habe, indem ich sein Material auf unserer Webseite veröffentlicht habe.

»Haben die auf deine Drohne geschossen?«, rufe ich ihm zu.

»Scheiße, ja! Vollidioten!«

Ich ringe mir ein Lachen ab und gehe zum Zaun hinauf. Für einen Achtklässler hat Denny ein gepfeffertes Vokabular, aber das hatten meine Freunde und ich in dem Alter auch. »Die haben vielleicht einen Streifenwagen herbeordert, der dich suchen soll.«

»Haben sie, aber der ist zum Fluss runtergefahren. Ich habe ein bisschen mehr Höhe gewonnen und bin weiter südlich hinter ein paar Bäumen gelandet. Die versuchen gerade, da hinzukommen. Die schaffen es nie im Leben durch das Kopoubohnen-Gestrüpp.«

Die Drohnensteuerung in seinen Händen verbindet ein iPad Mini mit einem Joystick-Element. Denny hat einen Sonnenschutz auf sein iPad montiert, ich kann also bei einem flüchtigen Blick den Bildschirm gar nicht sehen. Als ich über den Zaun schaue, erblicke ich das Rettungsboot des Bezirks unten auf dem Fluss. Es ist jetzt unterwegs zum Dock. Die Deputys haben wohl endlich ihre Ladung an Bord gehievt.

»Konntest du die Leiche gut sehen?«, frage ich.

»Live nicht«, antwortet Denny und konzentriert sich auf seinen Bildschirm. »Ich musste die Deputys im Auge behalten, während ich gefilmt habe.«

»Können wir jetzt mal gucken?«

Er zuckt mit den Achseln. »Klar. Wieso die Eile?«

»Hast du je Dr. Ferris draußen bei den Indianerhügeln getroffen?«

»Ja. Der ist ein paarmal in meine Schule gekommen. Ich …« Denny wird blass. »Das ist er da draußen im Wasser? Der alte Dr. Buck?«

»Könnte sein.«

»O Mann! Was ist dem passiert?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er Pfeilspitzen oder so was gesucht und ist auf einer Sandbank zu weit rausgelaufen. Die sacken manchmal unter Leuten zusammen.«

Der Junge schüttelt heftig den Kopf. »So was würde Dr. Buck nicht machen. Er ist immer an Flüssen und Bächen langgelaufen, um Zeug zu suchen, fast immer nach Gewittern und Stürmen. Der hat jede Menge Indianerzeug gefunden, sogar Mastodonknochen. Du solltest die Sachen im Museum in Jackson sehen, die er gefunden hat.«

»Das habe ich.«

»Dann weißt du auch, dass er nie im Leben einfach in den Mississippi gefallen ist. Es sei denn, er hatte einen Herzanfall oder so was.«

»Vielleicht ist es so passiert«, sage ich, obwohl ich es nicht glaube. »Oder er hatte einen Hirnschlag. Buck war über siebzig. Mit ein bisschen Glück kriegen wir raus, wo er reingefallen ist. Und vielleicht auch, was er da gemacht hat.«

Ich sehe, dass Denny in Gedanken rechnet. »Ich muss die DJI da unten lassen, bis die Polente weg ist«, sagt er. »Aber ich kann von hier auf die Datei zugreifen. Das braucht allerdings den größten Teil von meinem monatlichen Datenvolumen auf.«

»Das zahle ich dir.«

Seine Miene hellt sich auf. »Super!«

Er tippt auf den Bildschirm des iPads und winkt mich näher. Dank des Sonnenschutzes habe ich nun einen blendfreien Blick auf die Aufnahmen, die Denny vor wenigen Minuten gemacht hat. Auf dem Bildschirm versuchen zwei Deputys, die keinerlei Erfahrung mit der Bergung von Leichen aus dem Fluss haben, genau das. Von dem Toten sehe ich nur eine Seite seines Gesichts mit dem grauen Fleisch und einen dünnen Arm, der in der schlammigen Strömung treibt. Dann dreht sich der Kopf in der Strömung, und eine Welle der Übelkeit schwappt über mich hinweg. Mein Mund wird trocken.

Es ist Buck.

Ich kann nicht seinen ganzen Kopf sehen, aber es sieht aus, als wäre die andere Seite seines Schädels irgendwie aufgeplatzt. Als ich mich anstrenge, mehr zu sehen, sinkt der Kopf wieder ins Wasser. »Schnellvorlauf«, dränge ich Denny.

Der ist schon dabei. Mit dreifacher Geschwindigkeit flitzen die Deputys auf dem Deck des Rettungsboots hin und her wie in einem Trickfilm, lehnen sich gelegentlich über das Dollbord und versuchen, Bucks Leiche aus der Astgabelung zu befreien, die ihn im Wasser festhält. Plötzlich blickt einer von ihnen zum Himmel und fängt an, mit den Armen zu fuchteln. Dann fängt er an zu schreien, zieht die Pistole und feuert auf die Kamera, die unter der Drohne hängt.

»Was für ein beschissener Idiot«, murmelt Denny, als der Deputy noch einmal schießt.

»Begreift der nicht, dass diese Kugeln irgendwo runterkommen müssen?«, frage ich.

»Ist wohl in Physik durchgefallen.«

»Unterrichten die in der Grundschule keine Schwerkraft mehr?«

Nachdem der Deputy seine Pistole wieder ins Halfter gesteckt hat, stapft er zu einer Luke im Heck und zieht etwas hervor, das wie ein Wasserskiseil aussieht. Er knüpft eine Schlinge mit dem Seil, lehnt sich über das Dollbord und fängt an, das Lasso, das er gemacht hat, über Bucks Leichnam zu werfen.

»Nein, verdammt noch mal!«, brülle ich. »Hab’ doch ein bisschen Respekt, Scheiße!«

Denny schnaubt bei dieser Vorstellung.

»Der soll sich selbst das Seil um den Bauch binden«, murmele ich, »und ins Wasser gehen, um die Leiche loszumachen.«

»Davon kannst du nur träumen«, sagt Denny mit der Stimme eines Chorknaben vor dem Stimmbruch. »Der wird die Leiche mit dem Lasso einfangen, den Motor auf volle Touren bringen und bis zum Dock eine breite Heckwelle hinter sich herziehen.«

»Und dabei Bucks Leiche in zwei Stücke reißen.«

»War das bestimmt Buck?«, fragt er. »Ich konnte das nicht erkennen.«

»Ja. Er ist es.«

Denny beugt den Kopf über den Bildschirm.

Es dauert eine Weile, aber schließlich bekommt der Deputy das Seil um Buck, und er benutzt tatsächlich die Kraft seines Motors, um Buck aus der Umklammerung durch den Baum zu befreien. Zum Glück scheint die Leiche ganz zu bleiben, und als das Boot wieder angehalten hat, zerren die Deputys sie langsam über den Heckbalken.

»O Mann!«, murmelt Denny.

»Was?«

»Schau dir seinen Kopf an! Die Seite. Ganz zermatscht.«

Man muss kein Analyst der CIA sein, um zu sehen, dass irgendetwas die linke Seite von Buck Ferris’ Schädel eingeschlagen hat. Das Gewölbe seiner Schädeldecke hat ein Loch von der Größe einer Orange. Jetzt, da er aus dem Wasser ist, wirkt sein Gesicht seltsam zusammengesunken. »Ich hab’s gesehen.«

»Was war das?«, fragt Denny. »Ein Baseballschläger?«

»Vielleicht. Könnte auch ein Gewehrschuss gewesen sein. Schusswunden sehen nicht so aus wie im Fernsehen, nicht mal wie in den Filmen. Aber vielleicht war es doch ein stumpfer Gegenstand. Ein großer Stein hätte es auch sein können. Vielleicht ist er irgendwo hingefallen, ehe er in den Fluss gestürzt ist.«

»Wo?«, fragt Denny ungläubig. »Hier sind doch kaum Steine. Und selbst wenn man von der Klippe fällt, trifft man nicht auf Felsbrocken. Kein Vulkangestein. Da müsste man schon auf Beton oder so was stürzen.«

»Vielleicht ist er auf Schüttsteine geprallt«, vermute ich und meine damit die großen grauen Felsbrocken, mit denen das Pionierkorps die Flussufer bedeckt hat, um die Erosion zu verlangsamen.

»Vielleicht. Aber die sind ganz unten beim Wasser und nicht unterhalb der Klippe.«

»Und auf die müsste er aus großer Höhe fallen, um sich so den Schädel einzuschlagen.« Trotz meines emotionalen Schockzustands überlege ich mir plötzlich, welche juristischen Folgen Dennys Drohnenausflug haben könnte. »Du weißt, dass du eigentlich dieses Filmmaterial dem Sheriff übergeben musst?«

»Es ist kein Filmmaterial, Mann. Es ist eine Datei. Und die gehört mir.«

»Der Bezirksstaatsanwalt würde das wahrscheinlich anzweifeln. Hast du überhaupt eine Lizenz, dass du diese Drohne aufsteigen lassen darfst?«

»Ich brauche keine Lizenz.«

»Doch, für kommerzielle Arbeit schon. Und wenn ich das auf unsere Webseite hochlade oder die Rechnung für dein Datenvolumen zahle, hast du mir die Drohne vermietet.«

Denny schaut finster in meine Richtung. »Dann bezahl mich eben nicht.«

»Darum geht es nicht, Denny.«

»Doch. Ich kann den Sheriff nicht leiden. Und den Polizeichef noch weniger. Die machen mir die ganze Zeit Ärger. Bis sie mich brauchen, natürlich. Damals als sie nach einem Unfall ein Autowrack in einer Schlucht beim Highway 61 hatten, da haben sie mich gebeten, ich sollte da hinfliegen und nachsehen, ob noch jemand lebte. Da haben sie sich gefreut, mich zu sehen. Und bei dem Aufstand im Gefängnis auch. Obwohl sie da meine Mikro-SD-Karten geklaut und kopiert haben. Aber zu allen anderen Zeiten sind sie nur Riesenarschlöcher.«

»Ich habe gehört, dass die jetzt eine eigene Drohne haben.«

Wieder schnaubt Denny verächtlich.

»Weißt du, was ich glaube?«, frage ich.

»Nö.«

»Als Nächstes müssen wir rausfinden, wo Bucks Wagen ist. Er fährt einen alten GMC-Pick-up. Der muss irgendwo flussaufwärts von der Stelle stehen, wo man Buck gefunden hat – es sei denn, hier ist etwas nicht so, wie es scheint.«

Denny nickt. »Soll ich die Ufer abfliegen und nach seinem Pick-up suchen?«

»Scheint sinnvoll, oder? Hast du noch genug Akku?«

»Zwei sind einer, einer ist keiner.«

»Wie bitte?«

»Motto der Navy SEALs. Das soll heißen, ich habe Ersatz dabei.« Denny lehnt sich über den Zaun und schaut den steilen Abhang der Front Street hinunter. »Sieht so aus, als würden sie ihn in den Wagen des Leichenbeschauers laden. Wenn die Deputys weg sind, fliege ich mit der Drohne wieder hier hoch, wechsele die Akkus und fange an, die Ufer abzusuchen.«

»Klingt gut. Lass es uns zuerst auf der Mississippi-Seite versuchen.«

»Jawohl.«

Wir stehen zusammen am Zaun, blicken auf Lower’ville hinunter, das an beinahe jedem Morgen praktisch menschenleer ist (außer im März, der touristischen Hochsaison in unserer Stadt). Doch an diesem Maimorgen hat der Tod eine Menschenmenge angelockt. Obwohl sie aus unserer Perspektive fast wie Strichmännchen aussehen, erkenne ich doch Byron Ellis, der den Deputys hilft, den mit einer Plane abgedeckten Leichnam von der Trage in seinen alten Chevy zu schieben. Während ich zuschaue, wie sie mit Bucks Totgewicht kämpfen, höre ich einen Musikfetzen: Robert Johnson spielt »Preachin’ Blues«. Ich drehe mich zur Straße um und suche nach einem vorüberfahrenden Auto, sehe aber keines. Da begreife ich, dass die Musik in meinem Kopf erklungen ist. »Preachin’ Blues« war einer der ersten Songs, den mir Buck auf der Gitarre beigebracht hat. Der harmlose Mann, der da mit eingeschlagenem Schädel unter der Plane des Leichenbeschauers liegt, hat mein junges Leben gerettet. Die Erkenntnis, dass man ihn umgebracht hat – vielleicht auf dem Fluss –, ist so unwirklich, dass ich sie mit Gewalt in einen unzugänglichen Teil meiner Gedanken verbannen muss.

»Hey, alles gut bei dir?«, fragt Denny zögerlich.

Ich wische mir die Augen und drehe mich wieder zu ihm hin. »Ja. Buck und ich, wir waren uns damals nah, als ich noch hier wohnte. Als ich ein Junge war.«

»Oh. Darf ich dich was fragen?«

Er wird mich nach dem Tod meines Bruders fragen, denke ich und überlege mir verzweifelt, wie ich das Thema umgehen kann. Dass ich gesehen habe, wie Buck aus dem Fluss gezogen wurde, hat mich schon völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich will nicht auch noch über den Albtraum nachdenken müssen, der mir den Fluss vergiftet hat.

»Sicher«, antworte ich, alles andere als sicher.

»Ich hab’ gewusst, dass du einen Pulitzerpreis und so gekriegt hast, als du in Washington warst. Aber ich habe nicht gewusst, wofür der war. Letzte Woche hab’ ich im Internet gesehen, dass es für was war, was du darüber geschrieben hast, als du als eingebetteter Journalist im Irak warst. Warst du da bei den SEALs oder so was? Delta Force?«

Die Frage eines Vierzehnjährigen. »Manchmal«, antworte ich ihm, während mich Erleichterung überkommt. »Ich war vor dem Irak auch in Afghanistan, da war ich bei den Marines. Im Irak war ich aber bei privaten Sicherheitsfirmen. Weißt du, was das ist?«

»Wie Blackwater und so?«

»Genau. Die meisten, die solche Arbeit in Afghanistan machen, sind ehemalige Soldaten: Rangers, Delta, SEALs. Aber im Irak waren viele im bürgerlichen Leben einfach Polizisten gewesen, ob du’s glaubst oder nicht. Und viele kamen aus den Südstaaten. Die gehen des Geldes wegen da hin. Es ist die einzige Möglichkeit, wie sie je solche Gehaltsschecks kriegen können. Sie verdienen viermal so viel wie die normalen Soldaten. Mehr als Generäle.«

»Das ist aber nicht fair.«

»Nein, das ist es nicht.«

Denny denkt darüber nach. »Und wie ist das so? In echt. Ist das wie Call of Duty

»Nicht mal annähernd. Aber ehe du selbst mal da gewesen bist, kannst du das nicht wirklich verstehen. Und ich hoffe, du kommst nie in die Lage. Nur ein paar Sachen im Leben sind so.«

»Zum Beispiel?«

»Das ist ein anderes Gespräch. Eines für dich und deine Mom.«

»Ach, komm schon. Erzähl mir was Cooles darüber.«

Ich versuche, eine Minute lang wieder wie ein Vierzehnjähriger zu denken. »Man kann erkennen, aus welchen Einheiten die Sicherheitsleute kommen, wenn man sich ihre Sonnenbrillen anschaut. Oakleys für die Delta Force. Die SEALs tragen Maui Jims. Die Special Forces Wiley X.«

»Ach was! Und keine Ray-Bans?«

»Da drüben? Nur Punks und Angeber. So eine trage ich da drüben.« Ich schaue auf meine Armbanduhr. »Ich muss jetzt Bucks Frau anrufen, Denny.«

»Klar, okay. Aber sag mal, wie hast du dir so einen Job geangelt? Ich meine, so als eingebetteter Journalist?«

»Ein Typ, der mit mir auf der Highschool war, hat mir geholfen. Der war vor langer Zeit bei den Army Rangers, während des Zweiten Golfkriegs. Er hat mir da drüben auch das Leben gerettet. Damit habe ich den Pulitzerpreis gewonnen, mit diesem Auftrag. Mit dem, was ich da drüben gesehen habe.«

Denny nickt, als verstände er all das, aber ich habe das Gefühl, dass er heute Nachmittag online mein Buch kaufen wird.

»Spar dir das Geld«, rate ich ihm. »Ich schenk dir ein Exemplar.«

»Cool. Wer war der Typ? Dein Freund?«

»Paul Matheson.«

Er macht große Augen. »Kevin Mathesons Dad?«

»Genau.«

»Der Typ ist reich. Echt reich.«

»Ich denke schon, ja. Paul ist aber nicht des Geldes wegen rübergegangen. Es hat für ihn als eine Art Hemingway-Trip angefangen. Weißt du, was ich damit meine?«

»Eigentlich nicht.«

»So eine Macho-Sache. Er hatte Probleme mit seinem Vater. Er hatte das Gefühl, er müsste was beweisen.«

»Das verstehe ich.«

Jede Wette.

»Hey«, sagt Denny, und seine Stimme ist auf einmal ganz hell. »Wir sollten zum Suchen in den Friedhof rauf. Der liegt so ungefähr vierzig Fuß höher als das hier, wenn man die Hügel mitzählt. Da haben wir eine viel bessere Sicht, und ich habe es leichter mit dem Steuern.«

Der Gedanke an den Friedhof von Bienville weckt die Furcht von vorhin wieder in mir auf. »Wir machen es einfach von hier aus, okay? Mein Terminkalender ist heute Morgen echt voll.«

Der Junge wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Was musst du denn machen?«

»Um elf ist der erste Spatenstich bei der neuen Papierfabrik. Da muss ich hin.«

Er lacht. »Das Wunder von Mississippi? Das glaube ich erst, wenn die Fabrik fertig dasteht.«

Es klingt so, als zitierte Denny jemand. »Wo hast du denn den Spruch her?«

Er schaut verlegen. »Von meinem Onkel Buddy.«

Dennys Onkel ist ein größtenteils arbeitsloser Bauarbeiter, der seine Tage damit verbringt, sich vor dem Fernseher zu bekiffen. »Diese Papierfabrik, die ist das einzig Wahre. Die Chinesen haben das Geld. Mit einer Investition von einer Milliarde könnte die Stadt die nächsten fünfzig Jahre lang wieder schwarze Zahlen schreiben.«

Denny sieht schon weniger skeptisch aus. »Meine Mom hofft irgendwie auch, dass sie da Arbeit kriegt.«

»Das glaube ich gern. Das Durchschnittsgehalt wird um die sechzigtausend Dollar im Jahr sein. Und deswegen«, denke ich laut, »fürchte ich, dass die neue Papierfabrik vielleicht was mit Bucks Tod zu tun hat.«

Dennys Kopf fährt zu mir herum. Selbst ein Vierzehnjähriger kann sich das zusammenreimen. »Ich habe deinen Artikel über den Gegenstand gelesen, den Buck gefunden hat. Würde das irgendwie der Papierfabrik Steine in den Weg legen?«

»Möglich. Die meisten Leute in der Stadt hat es jedenfalls zu Tode erschreckt. Eigentlich im ganzen Bezirk.«

»Meinst du, jemand würde Buck deswegen umbringen

»Im Augenblick fallen mir etwa sechsunddreißigtausend Tatverdächtige ein.«

»Echt?«

»In dieser Stadt bringen sich die Kids gegenseitig wegen Handys um, Denny. Was glaubst du, was die Leute wohl für eine Milliarde Dollar tun würden?«

»Eine Milliarde Dollar?«

»So viel investieren die Chinesen hier, mal abgesehen von all den Millionen, die mit der neuen Brücke und der Fernstraße in den Ort kommen.«

»Wow. Jetzt begreife ich, was du meinst. Na ja …« Er blickt erneut über den Zaun. »Der Leichenbeschauer haut grade ab. Ich hole die Drohne wieder hoch und fange mal an, die Flussufer abzusuchen.«

Ich recke den Daumen nach oben. »Ich gehe eben ein Stück den Zaun entlang und erledige ein paar Anrufe. Ruf mich, wenn du was siehst.«

»Mach ich.«

Eine Sekunde lang überlege ich, ob ich ihn in Gefahr bringe, wenn ich ihn nach Bucks Pick-up suchen lasse, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie. Ich wende mich ab, gehe ein Stück nach Norden am Zaun entlang und schaue auf das Dach des Wagens, in dem Bucks sterbliche Überreste zum letzten Mal vom Fluss hochgefahren werden. Eigentlich habe ich nur ein Telefonat zu tätigen, denn den einzigen Anruf, den ich machen möchte, kann ich nicht machen. Erst in ein paar Stunden. Den Anruf, den ich tätigen muss, würde ich um alles in der Welt lieber vermeiden.

Ich ziehe mein iPhone aus der Tasche und wähle Bucks Nummer zu Hause. Es klingelt nicht einmal richtig, ehe seine Frau ans Telefon gestürzt kommt.

»Marshall?«, fragt Quinn Ferris atemlos.

»Er war es«, teile ich ihr mit, denn ich weiß, dass jede Verzögerung die Sache nur schlimmer machen würde. »Buck ist tot.«

Zwei Sekunden lang herrscht die Stille des tiefsten Weltraums, ehe Quinn mit winzigem Stimmchen fragt: »Bist du sicher?«

»Ich habe sein Gesicht gesehen, Quinn.«

»O Gott, Marshall … was mach ich jetzt? Geht es ihm gut? Liegt er bequem? Ich meine …«

»Ich weiß, was du meinst. Sie behandeln ihn respektvoll. Byron Ellis hat ihn abgeholt. Ich denke, sie bringen Buck für kurze Zeit ins Krankenhaus. Es wird wohl eine Autopsie in Jackson gemacht werden müssen.«

»Oh … nein. Sie schneiden ihn auf?«

»Daran führt leider kein Weg vorbei.«

»Es war also kein Unfall?«

Hier kann ein bisschen Beschönigung nicht schaden. Jedenfalls kurzfristig nicht. »Sie wissen es noch nicht. Aber bei jedem Toten, der nicht in ärztlicher Behandlung war, muss eine Autopsie gemacht werden.«

»Du lieber Gott. Ich versuche immer noch, das alles zu begreifen.«

»Ich glaube, du solltest noch eine Weile zu Hause bleiben, Quinn.«

»Das kann ich nicht. Ich muss ihn sehen. Marshall, sieht er gut aus?«

»Er war im Fluss. Das macht niemanden hübscher. Ich glaube wirklich, du solltest noch ein bisschen zu Hause bleiben. Ich komme in ein paar Stunden.«

»Nein. Nein, ich fahre in die Stadt. Ich halte das schon aus. Er war mein Mann.«

»Quinn, hör zu. Jetzt frage ich dich etwas, nicht die Polizei. Weißt du, wo Buck gestern Abend war?«

»Natürlich. Er wollte noch mal zum Industriepark raus und versuchen, Knochen zu finden.«

Ich unterdrücke ein Stöhnen. Der Industriepark ist der Standort der neuen Papierfabrik, wo in zwei Stunden der erste Spatenstich gemacht werden soll. Buck war schon einmal fünf Stunden im Gefängnis, nachdem er zum ersten Mal dort gebuddelt und man ihn wegen unbefugten Betretens des Geländes angeklagt hatte. Es war ihm klar, dass er nur weitere Schwierigkeiten bekommen würde, wenn er dorthin zurückging. Wichtiger noch: Dieses Gelände liegt flussabwärts von der Stelle, wo Buck gefunden wurde.

»Haben die ihn umgebracht?«, fragt Quinn. »Haben ein paar von diesen raffgierigen Schweinehunden wegen ihrer dämlichen Papierfabrik meinen Mann ermordet?«

»Ich weiß es noch nicht, Quinn. Aber ich krieg’s raus.«

»Wenn du es nicht schaffst, werden wir es nie erfahren. Ich traue keinem von diesen Scheißkerlen im Sheriff’s Department. Die großen Bonzen hier haben die doch alle in der Tasche. Du weißt schon, wen ich meine.«

Ich knurre, sage aber nichts.

»Ich meine den gottverdammten Bienville Poker Club.«

»Da könntest du recht haben. Aber wir wissen es nicht.«

»Ich weiß es. Denen ist doch alles außer Geld völlig egal. Geld und ihre Herrenhäuser und ihre verzogenen Scheißblagen und – oh, ich weiß nicht, was ich sage. Es ist einfach nicht richtig. Buck war so … ein guter Mensch.«

»Das war er«, stimme ich ihr zu.

»Und niemand kümmert sich einen Scheiß drum«, sagt sie mit trostloser Stimme. »All das Gute, was er getan hat, all die Jahre lang, und am Schluss geht es ihnen nur ums Geld.«

»Sie glauben, dass die Fabrik der Stadt das Überleben sichert. Dass es dann wieder aufwärts geht.«

»Diese Stadt soll verdammt sein!«, ruft sie wild. »Wenn sie meinen Mann umbringen mussten, damit sie ihre Papierfabrik kriegen, hat Bienville das Überleben nicht verdient!«

So ist es.

»Du musst bei Jet Matheson anrufen«, sagt sie. »Die ist die Einzige, die den Mumm hat, dem Poker Club entgegenzutreten. Nicht dass du nicht auch ein paar Sachen gemacht hättest. Ich meine, du hast Artikel veröffentlicht und überhaupt. Aber Jets eigener Schwiegervater ist in dem Club, und trotzdem hat sie sich wie ein Pitbull auf ein paar von denen gestürzt. Sie hat Dr. Warren Lacey vor Gericht gezerrt und ihn um ein Haar für immer seine Zulassung gekostet.«

Quinn hat Jet während unserer Abschlussklasse in der Highschool kennengelernt, viel besser dann wohl während der Jahre, in denen ich nicht hier war. »Jet ist heute Morgen nicht in der Stadt«, erkläre ich ihr. »Sie nimmt für einen Fall eine Aussage auf. Ich rede mit ihr, wenn sie wieder zurück ist.«

»Gut.«

Quinn schweigt, aber ich kann beinahe hören, wie ihre Gedanken wirbeln, wie sie verzweifelt nach etwas sucht, das sie von der unmittelbaren, furchtbaren Wirklichkeit ablenken kann. Ich warte, aber die frisch verwitwete Frau sagt nichts mehr, hat wahrscheinlich begriffen, dass ihr Mann tot ist und bleibt, ganz gleich was ich, Jet Matheson oder sonst wer tut.

»Quinn, ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Ich schau bald bei dir vorbei, versprochen. Ruf mich an, wenn du heute mit irgendjemand oder irgendwas Probleme bekommst.«

»Ich komme schon klar, Marshall. Ich bin ein zähes altes Mädel. Komm später hier raus, wenn du kannst. Das Haus wird mir ziemlich leer vorkommen. Du erinnerst mich an bessere Zeiten. Als all meine alten Eagle-Pfadfinder rund um meinen Tisch saßen. Na ja, eigentlich waren es die von Buck.«

Quinn und Buck haben Anfang der vierziger Jahre geheiratet, und sie konnte nie selbst Kinder bekommen. Bucks Pfadfinder bekamen von Quinn immer eine Extraportion mütterlicher Zuwendung, die einige bitter nötig hatten.

»Auch deine, Quinn!«

»Ja, das waren sie. Und die viele Musik! Herrgott, du und Buck, ihr habt so manche Nacht bis zum Morgengrauen durchgespielt. Ich bin immer wütend geworden, weil ich wusste, dass wir am nächsten Tag aufstehen mussten, aber ich hab’ nie was gesagt. Das war alles so unschuldig. Mir war damals schon klar, was für ein Glück wir haben.«

Da kommen mir die ersten Tränen. »Ich erinnere mich aber dran, dass du dich ein, zwei Mal doch beschwert hast«, sage ich zu ihr.

»Na, irgendjemand musste doch vernünftig sein.« Sie lacht leise, senkt die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Ich weiß, dass du verstehst, was ich durchmache, Marshall. Wegen Adam.«

Ich schließe die Augen, und die Tränen rollen mir über die Wangen. »Ich muss los, Quinn.«

»Ich wollte nicht, dass … O, Teufel noch eins. Der Tod ist einfach scheiße

»Ich ruf dich heute Nachmittag an.«

Ich beende das Gespräch und gehe mit schnellen Schritten die Klippe entlang, weg von Denny Allman, der mich nicht weinen sehen soll. Dennys Vater hat die beiden vor langer Zeit verlassen, und es ist zwar vielleicht gut, wenn er sieht, wie erwachsene Männer auf den Tod reagieren, aber ich will jetzt nicht erklären müssen, dass der Verlust, der mich aus der Fassung gebracht hat, nicht der von gestern Nacht war, sondern einer vor einunddreißig Jahren.

Ein Vierzehnjähriger braucht nicht zu wissen, dass Trauer so lange anhalten kann.

KAPITEL 6

Während Denny Allman seine Drohne zur Klippe hinaufsteuert, damit er den Akku auswechseln und mit der Suche nach Bucks Pick-up beginnen kann, gehe ich in nördlicher Richtung am Zaun entlang und versuche, mich wieder in den Griff zu bekommen. Das ist schwierig, solange der Mississippi mein Gesichtsfeld beherrscht. Als ich beobachtet habe, wie Buck tot aus dem Wasser gefischt wurde, hat das eine Tür aufgestoßen: zwischen dem Mann, der ich jetzt bin, und dem Jungen, der ich mit vierzehn war, in dem Jahr, als das Schicksal mein Leben gewaltsam umgekrempelt hat. Diese Tür ist mehr Jahre, als ich zu denken bereit bin, fest zugesperrt gewesen. Anstatt sich dieser dunklen Öffnung zu stellen, suchen meine Gedanken jetzt nach etwas, das sie von diesem Blick in die Vergangenheit ablenken könnte.

Es juckt mich in den Fingern, den unmöglichen Anruf zu machen, doch die Person, mit der ich reden möchte, kann ihn im Augenblick nicht entgegennehmen. Zweimal in meinem Leben habe ich mit verheirateten Frauen geschlafen. Das erste Mal war in meinen Zwanzigern, und die Frau war Französin – meine Professorin in Georgetown. Ich wusste am Anfang nicht einmal, dass sie verheiratet war. Ihr Mann lebte den größten Teil des Jahres in Frankreich. Während dieser Affäre gab es nie ein höheres Risiko als die Möglichkeit einer peinlichen Begegnung in einem Restaurant, die anschließend zu ein paar heftigen Worten geführt hätte, allerdings an sie, nicht an mich gerichtet. Die Frau, mit der ich jetzt schlafe, hat einen Mann, der durchaus fähig wäre, mich umzubringen, wenn er von unserer Affäre erführe. Würde ich sie jetzt anrufen, so könnte sie versuchen, das als geschäftliches Telefonat auszugeben, doch selbst Leute von eher geringer Intelligenz können vertraute Töne in einer Stimme heraushören. Ich habe nicht die Absicht, mein Leben auf den Kopf stellen – oder gar beenden – zu lassen, nur weil ein neugieriger Assistent eine unvorsichtig geäußerte Silbe richtig deutet. Natürlich könnte ich ihr eine SMS schicken, aber die hinterlassen digitale Spuren.

Im Augenblick muss ich wortlos leiden.

Aus der Ferne nähert sich eine Gruppe von Frauen, die einen Power-Walk an der Klippe entlang machen. Ein asphaltierter Weg – der Mark Twain Riverwalk – verläuft zwei Meilen an der Klippe entlang, und am frühen Morgen und abends ist hier ziemlich viel los. Zum Glück haben sich um halb zehn die meisten ernsthaften Power-Walker bereits in die Cafés oder ihre SUVs verzogen, um ihre morgendlichen Besorgungen zu machen. Auf den ersten hundert Yard halte ich die Augen nach rechts gerichtet, schaue auf die Gebäude, die an der Battery Row stehen. Ich komme an dem alten Uhrturm vorbei, am Planters’ Hotel, an zwei Herrenhäusern aus der Zeit vor dem Sezessionskrieg. Dahinter ragt das höchste Gebäude der Stadt auf, das Aurora Hotel. Als Nächstes kommt der Brunnen, der an die 173 gefallenen Soldaten der Konföderierten erinnert. Er liegt nur einen Steinwurf von den Stellungen entfernt, von denen die 32-Pfünder-Kanonen während des Sezessionskriegs den Mississippi abgedeckt haben. Gegenüber vom Brunnen gibt es noch ein paar Bars und Restaurants, ein weiteres Wohnhaus aus der Zeit vor dem Sezessionskrieg und das neue Amphitheater, das mit Kasinogeld gebaut wurde.

Der Dreh- und Angelpunkt auf der Klippe ist heutzutage das alte Eisenbahndepot mit seinem kleinen Café, dem Lebensmittelladen, der Touristeninformation und einer ganzen Herde blauer Leihfahrräder. Jenseits des Depots steht das einzige moderne Gebäude, die Zentrale der Holland Development Company, Hauptquartier unseres Immobilienkönigs. Nur ein Stück weiter die Straße entlang kauert sich die Twelve Bar, ein schäbiger Blues-Club, dessen Besitzer, ein Mann aus dem Ort, bisher atemberaubende Summen ausgeschlagen hat, weil er sich nicht von seinem ganzen Stolz trennen will. Gegenüber der Twelve Bar wartet ein leicht ansteigendes Gelände immer noch darauf, dass hier die Granitplatte eines seit langer Zeit versprochenen Gedenksteins für die Bürgerrechtsbewegung verlegt wird, doch irgendwie kommt das letzte benötigte Geld nie zusammen. In den letzten Monaten bin ich diesen Weg zu oft gegangen, als dass er mich lange ablenken könnte. Schließlich zieht der Fluss meinen Blick doch wieder unwiderstehlich nach Westen.

Von der Mitte der Klippe von Bienville aus kann man siebzehn Meilen des Flusses sehen. Dank dem fehlgeleiteten Pionierkorps der Army sieht der Mississippi stromaufwärts von Bienville aus wie ein Kanal. Es sind neun Meilen bis zur nächsten Flussschleife, und zwei Schleifen oberhalb befindet sich die Belagerungsstadt Vicksburg. Während des Sezessionskriegs wurde sie von den Yankees bedrängt, und heute machen ihr wirtschaftliche Sorgen zu schaffen, doch die Stadt kämpft immer zäh ums Überleben. Es ist die finstere Wahrheit, aber längs des Flusses sterben im Staat Mississippi die Städte, weil Menschen und Talente sie verlassen, sie ausbluten wie eine tödliche Krankheit. Die meisten dieser Orte haben sich im Laufe der Jahre so wenig verändert, dass man einen Bürger, der in den 1890er Jahren gelebt hat, von den Toten auferwecken könnte und er immer noch die Straßen erkennen würde, durch die er einst gegangen ist. In Natchez und Bienville könnte man das sogar mit jemandem aus den 1850er Jahren machen.

Von all den berühmten Baumwollstädten am Mississippi – von Clarksdale im Delta bis nach Natchez auf seiner Klippe – hält sich nur Bienville tapfer gegen die Gezeiten der vergehenden Zeit, der Rassen und der tödlichen Nostalgie. Der Grund ist kompliziert und zum größten Teil illegal und beschäftigt mich in Gedanken und bei der Arbeit sehr, seit ich vor fünf Monaten hierher zurückgezogen bin. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Tod von Buck Ferris letztlich zu der Liste kleinerer Verbrechen hinzukommen wird, die im Kampf um das wirtschaftliche Überleben von Bienville begangen wurden. Doch im Augenblick weigern sich meine Gedanken, in diese Richtung zu wandern.

Im Augenblick grübele ich darüber nach, wie sehr dieser Tag dem ähnelt, an dem sich meine Gefühle für Mississippi auf immer geändert haben. Damals war auch Mai. Ein herrlicher Mai. Damals liebte ich den Fluss. Als Junge hatte ich dort geangelt, an seinen Ufern gejagt, war mit dem Kanu darüber gepaddelt, hatte als Pfadfinder neben ihm gezeltet, war in Flutjahren sogar auf seinen Seitenarmen Wasserski gefahren. Der Mississippi war so sehr Teil von mir, wie er es je von Huck Finn oder Sam Clemens war. In dem Jahr, als ich Bienville verließ, um an der Universität von Virginia das College zu besuchen, fiel mir ein Brief von T.S. Eliot in die Hände, von dem ich immer vage vermutet hatte, dass er Engländer war. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass Eliot an demselben Fluss aufgewachsen war: Ich habe das Gefühl, wenn man seine Kindheit neben einem großen Strom verbracht hat, hat man etwas, das sich anderen, die das nicht erlebt haben, nicht mitteilen kann. Ich schätze mich glücklich, dass ich hier geboren bin und nicht in Boston oder New York oder London. Ich wusste genau, was Eliot meinte.

Mein Leben lang habe ich die ständige, beinahe unterirdische Anziehungskraft dieses großen Flusses verspürt, der Amerika in Ost und West teilt, dieses langsamen Wasser-Molochs, der die Grenze meiner Heimat war, eine Kraft, die an mir zerrte wie eine Art seelische Schwerkraft. Doch nach einem einzigen Tag im Jahr 1987 änderte sich das, woran er bei mir zerrte. Heute riecht es wie an diesem Tag damals: chinesischer Sternjasmin und Geißblatt, spät blühende Azaleen. Die Sonne ist heiß, aber die Luft ist kühl. Der Fluss führt viel Wasser, genau wie vor einunddreißig Jahren.

Aber im Gegensatz zum heutigen Tag, der mit dem Tod begann, fing der Tag damals mit Ruhm und Ehre an. Ruhm und Ehre für meine Familie und meine Freunde. Der Gedanke, dass der Todesengel über uns kreiste, wäre uns absurd vorgekommen.

Mein Bruder und ich hatten den Tag in Jackson, der Hauptstadt des Staates, verbracht und waren beim Leichtathletik-Wettbewerb von Mississippi für die St. Mark’s Episcopal Day School angetreten. Wenn ich hier »Episcopal Day School« schreibe, sollte man sich keinen Tempel des Wissens mit efeuüberwucherten Mauern ausmalen. Stattdessen stelle man sich drei graue Gebäude aus Alu-Wellblech vor, ohne Klimaanlage und mit einem hubbeligen Football-Feld auf einer ehemaligen Kuhweide. Korrektur: Der Aufenthaltsraum der Lehrer und die Bibliothek hatten Klimaanlagen, die in die Fenster montiert waren. Ohne die hätte das Schulamt niemanden einstellen können, der uns unterrichten würde. In St. Mark’s wurde viel auf akademische Errungenschaften gegeben, aber Football war – wie in den übrigen Staaten der Konföderation – eine Religion. Basketball und Baseball galten auch als männliche, wenn auch zweitrangige Sportarten, während Leichtathletik lediglich als Trainingsübung angesehen wurde. Golf, Tennis und Schwimmen waren Hobbys, denen Dandys nachgingen. Schwimmen war die einzige Aktivität, in der ich wirklich hervorragend war, aber St. Mark’s hatte keine Mannschaft. Ich musste für die Stadt Bienville schwimmen.

Dank meines Bruders Adam und seiner Klassenkameraden in der Abschlussklasse hatte St. Mark’s bisher sowohl die Staatsmeisterschaften in der Klasse A im Football und die Staatsmeisterschaften im Basketball gewonnen und dabei die überragende Schule für Hochbegabte, die Capital Prep in Jackson, besiegt. Dieses Wunder war bisher in der Geschichte des Bundesstaates erst zweimal geschehen. Es war wie in dem Film Freiwurf, nur umgeschrieben für den tiefsten Süden. Im Baseball hatten wir nur die regionale South-State-Meisterschaft gewonnen, aber bei dem Leichtathletikwettbewerb an diesem Tag hatten wir unsere dritte Staatsmeisterschaft eingesackt.

Obwohl es noch drei Wochen bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag waren, trat ich in den Staffeln über ein und zwei Meilen an (die wir beide gewannen), und ich wurde Dritter im Hochsprung. Doch der Star des Teams war mein älterer Bruder. Adam hatte in St. Mark’s bereits in seinem ersten Jahr an der Highschool diese Rolle übernommen, als er anfing, als Quarterback für das Football-Team zu spielen. In dem Jahr führte Adam McEwan die Crusaders zum South-State-Titel, und das war der Anfang seines kometenhaften Aufstiegs zum Status einer Sportlegende im ganzen Staat. Alle paar Jahre wird ein Junge aus irgendeiner kleinen Stadt in Mississippi als der nächste Superstar, der nächste Top-College-Anwärter hochgejubelt, der »vielleicht gut genug ist, um Profi zu werden«. Mein Bruder war zufällig dieser Junge. Und die meisten Leute, die ihn hochjubelten, hatten nicht die geringste Ahnung, wie einzigartig er wirklich war.

Adam war nicht wie die anderen Kleinstadt-Halbgötter – phänomenal gut in einer, zwei, vielleicht sogar drei Sportarten. Er hatte Talent für alles, was er in die Hand nahm. Einmal habe ich gesehen, wie er (nachdem er nur einmal als Junge bei einem Tagescamp Pfeil und Bogen angerührt hatte) bei einer Vorführung im Bogenschießen, die ein Jagdexperte in einem Waffengeschäft vor Ort machte, einen Compoundbogen ausprobierte. Nach einer Stunde informeller Unterweisung übertraf Adam mit seinen Schüssen alle anwesenden Jäger und konnte es bei Distanzschüssen sogar mit dem Lehrer aufnehmen.

Doch Adams verschwenderische Talente waren nicht auf den Sport beschränkt. In seinem Junior-Jahr, ohne jegliche musikalische Vorbildung, spazierte Adam auf die Bühne der St. Mark’s und sang in der Inszenierung von My Fair Lady das Lied »Auf der Straße, mein Schatz, wo du lebst« mit einer so zarten und doch mächtigen Tenorstimme, dass es einer der Höhepunkte der Show war. Um alles noch schlimmer zu machen, war Adam bei seinen Englischlehrern genauso beliebt wie bei denen, die Mathematik und Physik unterrichteten. Seine Punktzahlen bei den Standardtests lagen in der Abschlussklasse fünfzig Punkte über denen aller Mitschüler und garantierten ihm ein staatliches Stipendium. An dem Nachmittag des Leichtathletikwettbewerbs von 1987 hatten ihn bereits fünf Ivy-League-Unis akzeptiert. Unser Vater wollte, dass er seine Alma Mater Swanee besuchte, aber in einem seltenen Akt der Auflehnung verriet mir Adam, dass er fest vorhatte, auf die Brown University zu gehen.

Dafür liebte ich ihn, dafür, dass er sich aus dem Schema löste, das unser Vater für sein Leben hatte. Leute aus Mississippi, die Adams Talente haben, verlassen den Staat kaum je, noch viel seltener die Südstaaten. Wenn man aus Mississippi stammt, gilt die Vanderbilt in Nashville bereits als nördliche Universität. Mein Bruder hatte sich nicht nur entschlossen, eine Ivy-League-Uni im hohen Norden zu besuchen, sondern sich auch noch für die am wenigsten strukturierte Lehrstätte von allen entschieden. Oh, ich liebte ihn dafür.

Und doch war es schwer, einen Bruder wie Adam zu haben.

Die drei Jahre zwischen uns hätten bei einem normal begabten älteren Bruder als schützender Puffer ausgereicht, aber Adams Schatten konnte man einfach nicht entkommen. Das Gleißen des Rampenlichtes, in dem er sich bewegte, ließ alles andere ringsum verblassen. Und obwohl ich in der neunten Klasse eins achtzig groß und im Unterricht keineswegs eine lahme Ente war, konnte ich unmöglich so herausragen, dass ich mich aus dem Schatten meines Bruders befreien konnte. Doch wenn ich ihn wie Apollon durch unsere irdischen Gefilde schreiten sah, brachte mich am meisten seine Bescheidenheit zum Staunen. Trotz der beinahe ständigen Anbetung wurde Adam nicht »großkopfig«. Er hielt sich von allen Cliquen fern, behandelte alle als seinesgleichen, und er wurde beinahe nie wütend. Adam schien, an menschlichen Fehlern gemessen, zu gut, um wahr zu sein. Und während jemand, der so allgemein bewundert wird, beinahe unvermeidlich Missgunst oder offene Feindseligkeit auf sich zieht, schien Adam auch darin eine Ausnahme zu sein. Sogar Teams, die er auf den heiß umkämpften Spielfeldern von Mississippi gedemütigt hatte, akzeptierten ihn als eine Art Held, als jemanden, mit dem sie später angeben konnten, weil sie einmal gegen ihn gespielt hatten.

Am Ende seiner Abschlussklasse – zumindest des Sportjahres, mit dem Leichtathletik-Wettbewerb als einer Art Coda – war Adam nicht der einzige Junge auf der Highschool, der glaubte, unsterblich zu ein. Sobald die Trainer uns unsere Trophäen überreicht hatten, drehten wir alle völlig durch. Nachdem wir uns den größten Teil des Jahres sehr zurückgehalten und auf ein paar Biere am Wochenende beschränkt hatten, stiegen wir für die Heimfahrt auf Jack Daniel’s oder Wodka um, und ein paar Jungs holten sogar Gras aus der Tasche. Um zehn Uhr abends in Bienville waren alle Mitglieder des Leichtathletik-Teams von St. Mark’s völlig breit.

Wir zogen in einer großen Gruppe los, bildeten einen Konvoi von Autos und Pick-ups, die wie ein motorisierter Triumphzug an allen Orten Station machten, wo Highschool-Leute rumhingen. Bei McDonald’s, auf dem Parkplatz beim Einkaufszentrum, bei der kürzlich geschlossenen Galvanisierfabrik und schließlich bei der Sandbank am Fluss. Die Zeit schritt voran, und Schnaps und Gras sonderten bereits die schwächeren Mitglieder des Stammes aus. Manche gingen, um sich zu spätnächtlichen Rendezvous mit ihren Freundinnen zu treffen, während andere einfach an verschiedenen Stellen überall in der Stadt in Autos einschliefen. Um Mitternacht waren wir nur noch ein harter Kern von sechs Mann in zwei Autos.

Adam und ich fuhren in Joey Burrells klapprigem Nissan 280ZX 2+2 mit. In dem anderen Auto saßen Paul Matheson und seine beiden Cousins aus Jackson – Superarschlöcher und Stars in der Capital Prep. Wie Paul waren sie blond und sahen ärgerlicherweise sehr gut aus (unsere Cheerleader liebten die Scheißkerle). Nachdem die Matheson-Cousins die Quad-A-Abteilung des Leichtathletik-Wettbewerbs gewonnen hatten, waren sie mit ihrem funkelnagelneuen IROC-Z Camaro die vierzig Meilen von Jackson nach Bienville gefahren, um »Cousin Paul beizubringen, wie man ordentlich feiert«.

In dieser Hinsicht brauchte Paul Matheson keine Nachhilfe. Paul war es gewesen, der nach unserer Rückkehr von Jackson das Gras geliefert hatte, und ich war mir ziemlich sicher, dass er das schon das ganze Jahr über zwischen der siebten Stunde und dem Nachmittagstraining geraucht hatte. Obwohl Paul nur ein Jahr älter war als ich, hatte er so viel Talent, dass er die meisten von uns auch völlig zugekifft an die Wand spielen konnte. Sein Vater Max war 1969 an der staatlichen Schule von Bienville eine Football-Legende gewesen, ehe er nach Vietnam ging. Und der Sohn hatte genug von seinen Genen geerbt, um für seine Schule manchen Punt und Kick-off abzuwehren und als starker Anker in der Verteidigung seinen Gegenspielern den Kopf abzureißen. Paul war auch der sechste Mann im Meister-Basketball-Team gewesen, das die Capital Prep geschlagen hatte – und das hatte seine Cousins auf die Palme getrieben.

Trotz des Altersunterschiedes waren Paul und ich seit unserer Kinderzeit immer wieder mal Freunde gewesen. Damals war sein Zuhause nicht weit von meinem entfernt; wir schwammen in demselben Schwimmbad, und als ich sieben war, spielten wir auch in denselben Sportmannschaften. Nachdem wir gemeinsam bei den Wölflingen und Pfadfindern gewesen waren, traten wir nun gemeinsam für die St. Mark’s Junior High an. In diesem Sinne waren wir Kameraden und beinahe wie Brüder. Was uns am meisten voneinander trennte, war das Geld.

Pauls Vater war reich. Sein Onkel in Jackson war noch reicher. Pauls Familie gehörte das Sägewerk in der Stadt und ein Imprägnierwerk am Fluss. Der Onkel war ein wichtiger Bauunternehmer mit jeder Menge Staatsaufträge. Mein Vater verdiente sich als Herausgeber des Bienville Watchman einen guten Lebensunterhalt, aber die Autos unserer Familie waren zehn Jahre alt, und wir wohnten in einem Siedlungshaus von 1958. Wir hatten kein Zweithaus am Lake Comeaux, keine Wahnsinns-Stereoanlage, auch keinen Projektionsfernseher, keinen Telefonanschluss für die Kinder und keinen Swimmingpool hinter dem Haus, als wir Teenager waren.

Als kleiner Junge habe ich diesen Unterschied im Reichtum nie bemerkt. Paul teilte mit uns, was er hatte, und Geld schien unwichtig. Außerdem hatte sein Dad ein paar bedeutende Orden für Tapferkeit in Vietnam bekommen, und kaum jemand neidet einem Kriegsveteranen seinen Erfolg, nachdem er die Kämpfe überlebt hat. Aber Paul hatte schwer an der Bürde zu tragen, Max Matheson zum Vater zu haben. Der Kriegsheld war ein harter Hund, obwohl er dafür bekannt war, ab und zu wild zu feiern, und er setzte seinen Sohn unter Druck, jeden Wettbewerb zu gewinnen, an dem er sich beteiligte.

So wie Pauls Cousins sich in der Nacht nach dem Leichtathletik-Wettbewerb aufführten, dachte ich mir, dass der Onkel noch ein größerer Schweinehund als Max sein musste. Die beiden waren nach Bienville gekommen und immer noch wütend darüber, dass sie im Februar gegen uns die Staatsmeisterschaft verloren hatten. Als sie uns fanden, waren sie völlig zugedröhnt mit einer Mischung aus Gras und Speed. Nicht dass wir nüchtern gewesen wären. Sogar Adam – der immer nur mäßig trank – hatte die kleinen Fläschchen Miller zugunsten von Jack Daniel’s aufgegeben. Die Stunden bis Mitternacht verbrachten wir in ziemlich freundschaftlicher Atmosphäre, doch nach zwölf ging es hitziger zu. Die Matheson-Cousins hatten den ganzen Abend gegen uns gestichelt, und wir hatten es ihnen mit Zins und Zinseszins zurückgegeben. Aber gegen 2 Uhr morgens geriet die Sache außer Kontrolle.

Wir hatten am Fuß des großen Strommasts beim Hafen geparkt, so nah am Fluss, dass uns die Scheinwerfer der vorüberfahrenden Schlepper streiften. Die Matheson-Jungs aus Jackson waren keine Genies, aber sie waren schlau wie Raubtiere. Dooley war siebzehn, sein Bruder Trey ein Jahr älter. Dooley hatte was Gemeines an sich. Den ganzen Abend nannte er uns schon Schwuchteln, Verlierer und Betrüger – denn wenn wir nicht geschummelt hatten, wie sonst hätte ein jämmerliches Single-A-Team gegen die Capital Prep gewinnen können? Die Tatsache, dass wir mit nur einem Punkt Vorsprung gewonnen hatten, war für sie der eindeutige Beweis dafür, dass wir mindestens einen Schiedsrichter bestochen hatten.

Mich scherte es einen Dreck, was die sagten, aber aus irgendeinem Grund konnte Adam ihre ständigen bissigen Bemerkungen nicht ertragen. Das erregte meine Aufmerksamkeit, denn ich kannte niemanden, der so unerschütterlich war wie mein Bruder. Und irgendwie, ehe ich begriffen hatte, was da vorging, hatte Adam die Herausforderung zu einem 100-Yard-Sprint unter dem Mast angenommen. Eben waren wir noch eine Gruppe von jammernden Betrunkenen, und schon standen wir in einer Reihe auf dem Asphalt im Scheinwerferlicht des IROC-Z, zerschlugen Flaschen und warteten auf den Startschuss.

Joey Burrell hatte eine Pistole in seinem Auto, eine kleine .25er. Er feuerte sie in den Himmel ab, und schon rasten wir alle die Straße entlang, während uns Adrenalin, Alkohol und Cannabis durch die Adern dröhnte. Ich rannte so schnell, dass ich dachte, das Herz würde mir platzen, aber ich wurde nur Vierter. Adam gewann das Rennen mit einem halben Schritt Vorsprung vor Paul. Trey Matheson war Dritter, dann kam ich, und schließlich Dooley Matheson, ein Scheißkerl, der mehr rumnörgelte als irgendjemand sonst, den ich kannte. Auf dem ganzen Rückweg zu den Autos beschwerte er sich, Adam und Paul wären mit einem Vorsprung losgelaufen.

An diesem Punkt hätten wir aufhören sollen. Doch als wir den Fuß des Masts erreichten, verlangte Dooley eine Gelegenheit zur Revanche. Aber er wollte das nicht zu Fuß machen. Er wollte ein Autorennen über die Straße auf dem Damm. Das war absurd. Ihr IROC-Z hatte locker 100 PS mehr als Joeys 280ZX, aber trotzdem saß ich wenig später als Beifahrer in Joeys Nissan, während Dooley und sein Bruder den starken Motor des IROC-Z aufheulen ließen. Adam saß hinter mir auf dem Rücksitz, den Sicherheitsgurt eng umgeschnallt, während Paul wütend auf der Rückbank im Auto seiner Cousins Platz nahm, damit die Gewichtsverteilung gleichmäßig war. Ein etwa zwei Meilen entferntes Getreidesilo am Ende der Port Road war das Ziel. Nachdem Joey und Dooley einen gemeinsamen Countdown von fünf gebrüllt hatten, rasten wir los über den Damm, beobachteten die Heckleuchten des IROC-Z, der wie ein Starfighter vor uns verschwand. Dieser Camaro besiegte uns so deutlich, dass die Mathesons, als wir das Silo erreichten, bereits Bier trinkend an ihrem Wagen lehnten.

An diesem Punkt hätten wir aufhören sollen, solange wir im Rückstand waren, aber dieses Autorennen triggerte nur weitere Verrücktheit. Wir waren schließlich Jungs, und das Testosteron floss in Strömen. Nachdem sie uns diese peinliche Niederlage zugefügt hatten, bestanden die Mathesons darauf, uns die Gelegenheit zu geben, »unseren Stolz zurückzugewinnen«. Ich begriff nicht, wovon sie redeten, bis Dooley zum Strommast hochzeigte, der zwei Meilen entfernt an der Startlinie stand. Mit sechshundert Fuß Höhe stützt dieser Mast – zusammen mit seinem eine Meile entfernten Gegenüber am Louisiana-Ufer – die Hochspannungsleitung über den Mississippi. Ich kannte ein paar Jungs, die behaupteten, sie wären auf diesen Mast geklettert, aber ich hatte ihnen nie geglaubt. Ich konnte auch nicht kapieren, wieso es ein Wettbewerb sein konnte, auf einen sechshundert Fuß hohen Metallbaukasten zu steigen. Doch im Laufe der Diskussion unter Betrunkenen wurde klar, dass es eher um einen Beweis von Männlichkeit als um einen Wettbewerb ging.

Wieder war ich schockiert, als ich begriff, dass mein älterer Bruder auf diese Idee einging. In jeder anderen Nacht hätte Adam über diese absurde Mutprobe nur gelacht. Aber in dieser Nacht ließ er sich ködern. So vorsichtig, wie ich konnte, versuchte ich, ihn davon abzubringen. Ich hatte damals nicht vor vielen Dingen Angst, aber ich war nicht sonderlich schwindelfrei. Dieser Mast war so hoch wie ein fünfundfünfzigstöckiges Gebäude. Selbst wenn ich mit beiden Beinen fest auf der Erde stand, kribbelte es mich schon in den Füßen, wenn ich nur zu den Metallträgern und Verstrebungen hinaufschaute, die sich vor einer vom Mond beschienenen Wolke abzeichneten.

Als wir zu dem massiven Fundament des Masts gefahren waren, hatten die Mathesons sich bereits eine Strafe für das Kneifen ausgedacht. Jeder, der es nicht bis oben schaffte, müsste in der Morgendämmerung splitternackt auf der Main Street sechs Häuserblocks entlanglaufen. Na toll, dachte ich und stellte mir schon vor, wie ich mit einer Hand vor Schwanz und Eiern über die Main sprintete. Es erwies sich als schwierig, überhaupt nur bis zur Hauptleiter hinaufzukommen. Zunächst mussten wir ein Auto unter einem Baum parken, der neben einem der vier Beine des Masts wuchs. Wenn man auf das Autodach kletterte, konnte man den niedrigsten Ast des Baumes packen und kam schließlich bis zu einer Stelle, von wo man sich zwanzig Fuß über dem Boden waghalsig strecken und die Metallstützen erreichen konnte, die für die ersten hundert Fuß als Leiter dienten. (Die Elektrizitätsgesellschaft hatte zweifellos dieses Hindernis so geplant, um betrunkene Idioten wie uns davon abzuhalten, diese selbstmörderische Kletterpartie zu versuchen. Eindeutig hatte man dort unsere Dummheit unterschätzt.)

Während er noch im Baum war, entschied Joey Burrell, er sei zu betrunken, um den Übergang zu den Metallstützen zu wagen, und machte kehrt und war der Erste, der sich die Strafe verdiente. Doch schon bald hingen wir anderen am Bein des Masts wie neugeborene Waschbären, die sich fürchten, ihrer Mutter einen Baum hinauf zu folgen. Trey Matheson war bereits am höchsten geklettert, gefolgt von seinem Bruder Dooley. Dann kamen Paul, Adam und als Letzter ich. Ich hielt mich an letzter Stelle, weil ich das Gefühl hatte, dass ich vielleicht einen strategischen Rückzug antreten müsste. Ich wollte nicht, aber ich war nicht so verblendet, zu glauben, ich würde nicht vielleicht in Schwierigkeiten geraten.

Während des größten Teils der Kletterpartie starrte ich nur auf die Leitersprossen, konzentrierte mich auf die wenigen Quadratzentimeter, die ich mit meiner freien Hand greifen würde, um dann die andere loszulassen und weiter hochzulangen, die nächste Sprosse zu packen – immer und immer und immer wieder. Ich hörte, wie Vögel und Fledermäuse um mich herumflogen, wandte den Blick aber nicht zu ihnen hin. Mücken stachen mich und saugten ungehindert mein Blut, während der Wind mein Hemd peitschte und an meinem Körper zerrte. Ich schwitzte ununterbrochen, durchnässte meine Kleidung. Die Jungs über mir plauderten und lachten, und die Mathesons johlten alle ein, zwei Minuten wie Wahnsinnige. All das ignorierte ich, um meine zen-artige Konzentration zu halten.

Bei zwei Dritteln des Weges nach oben – etwa in vierhundert Fuß Höhe – beging ich den Fehler, über den Fluss hinauszublicken. Ein lähmendes Schwindelgefühl überflutete mich wie eine Welle, und es kostete mich alle Mühe, mich nicht zu übergeben. Alles verschwamm mir vor Augen. Ich nahm vage die Lichter ferner Städte und Bauernhöfe und die große glitzernde Schlange des Flusses unter uns wahr. Aus sechshundert Fuß Höhe kann man dreißig Meilen weit sehen. Ich war schon bei vierhundert Fuß bewegungsunfähig.

Adam bemerkte schnell, dass ich Probleme hatte. Er kletterte nicht mehr weiter und bot an, zu mir zurückzukommen und mir nach unten zu folgen, gab jede Absicht auf, den Rest der Strecke zu klettern, um seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Aber da wir schon zwei Drittel hinter uns hatten, beschloss ich, weiterzumachen. Ich wollte die Strafe nicht, wollte nicht das Risiko eingehen, wegen unsittlicher Entblößung verhaftet zu werden; und ich wollte auch nicht, dass Paul und seine aufgeblasenen Cousins mich in alle Ewigkeit damit aufzogen.

Ich schaffte noch fünfzig Fuß. Dann versagten meine Nerven.

Es war das schlimmste Versagen meines Lebens. Während die Mathesons von oben verächtlich lachten und aus vollem Hals »Schlappschwanz!« grölten, hing ich an der Leiter wie eine alte Dame mit Arthrose, die man aufgefordert hat, das Matterhorn zu besteigen. Diesmal bestand Adam darauf, mich nach unten zu begleiten. Bibbernd vor Todesangst sagte ich ihm, ich würde nur nach unten absteigen, wenn er bis oben weiterkletterte. Außerdem, wimmerte ich, waren wir auf einer Leiter. Wie zum Teufel konnte er mir da helfen, sicher zum Erdboden zurückzugelangen? Adam erwiderte, er würde ein Ende seines Gürtels an seinen Knöchel binden und das andere an meinen linken Arm, sodass ich, wenn ich ausrutschte, einen Augenblick haben würde, um mich zu fangen, ehe der Gürtel riss und ich im freien Fall abstürzte.

In diese Gefahr wollte ich meinen Bruder nicht bringen. Als Adam begriff, dass ich meine Meinung nicht ändern würde, begann er schließlich, wieder weiterzuklettern. Mein anschließender Abstieg war ein Triumph des Mutes über die elende Todesangst. Ich war immer noch zweihundert Fuß über dem Erdboden, als ich sah, wie die anderen den »Gipfel« des Mastes erstürmten. Sobald sie auf der Plattform standen, sechshundert Fuß hoch im Himmel, fand ich heraus, wie verrückt die Matheson-Cousins wirklich waren. Dooley, der Siebzehnjährige, kletterte auf die höchste Strebe, auf der die Befeuerung angebracht war. Da stand er nun wie eine Turnerin auf dem Schwebebalken. Es war nichts mehr da, woran er sich festhalten konnte, kein Sicherheitsgeländer, kein Sicherheitsgurt … nichts. Ein einziger Windstoß hätte ihn von diesem Mast pflücken können wie einen Löwenzahnsamen. Mir wurde übel, wenn ich zusah, wie er über diese Strebe tanzte wie ein betrunkener Hofnarr. Dooley Matheson war willens, sein Leben wegzuwerfen, nur um sich an meinem Bruder für eine Niederlage im Basketball zu rächen, die auch so nicht mehr zu tilgen war. Deswegen, dachte ich, sind die McEwans den Mathesons auf der Evolutionsleiter voraus.

Dann sah ich zu meinem Entsetzen, wie mein gefeierter Bruder unter Beweis stellte, dass er genauso verrückt war wie Dooley Matheson. Als Dooley in die Arme seines Bruders zurückstieg, kletterte Adam auf die Strebe und lief nicht nur darüber, sondern streckte auch noch seine Arme wie Flügel aus, während sein Hemd sich rings um ihn im Wind wie ein Fallschirm aufblähte. Als ich sah, wie der Wind Adams Hemd peitschte wie ein Segel im Sturm, musste ich schließlich doch kotzen. Nachdem ich mich erholt hatte und wieder hochschaute, beobachtete ich, wie Adam in die Knie ging, Pauls Hand ergriff und sich wieder auf die Plattform fallen ließ. Erleichterung durchflutete mich wie ein Betäubungsmittel.

Während Adam schon wieder die Leiter hinunterstieg, sprang Trey Matheson von der Plattform und packte die Hochspannungsleitung, wo sie über eine horizontale Strebe verlief, die aus dem Mast ragte. Das Herz hämmerte mir gegen die Rippen. Der Verrückte hing an einem Draht, der 50.000 Volt Elektrizität über den Mississippi transportierte! Gott weiß, was er da gespürt haben mag: Es mussten sich ihm alle Haare am Leib aufgestellt haben. Ich konnte mir nicht ausmalen, wie er wieder auf den Mast gelangen wollte, ohne sich umzubringen. Wenn er seinen Körper an dem Metall erdete, würde ihm der Strom die Beine wegpusten, und ihm Gehirn und Herz kurzschließen. Ich beobachtete Trey so, wie ich als kleiner Junge die Trapezartisten des Ringling Bros. Circus beobachtet hatte, bis der ältere Matheson-Cousin schließlich ein paar Mal Schwung holte, um Geschwindigkeit aufzubauen, das Kabel losließ und wie Spider-Man auf die Leiter zurückflog.

Der Spott und die Beleidigungen, mit denen sie mich überhäuften, als sie schließlich den Fuß des Masts erreichten, waren beinahe unerträglich. Ich hörte das Wort Schlappschwanz hundert Mal in fünf Minuten. Dooley trumpfte auf, dass ich »schlappgemacht hatte, wie alle Schwuchteln, wenn es hart auf hart kommt«. Trey starrte uns mit einem tranceartigen Glanz in den Augen an und behauptete, er hätte einen totalen Steifen bekommen, sobald er die Hochspannungsleitung gepackt hatte. Schon bald gaben sie an, es gäbe nichts, wozu man Eier brauchte, worin sie uns nicht besiegen konnten. Die Basketball-Meisterschaft war offensichtlich nur Dusel gewesen. Dann fing Dooley an, »Die Ballade von Casey Jones« zu singen und bei jeder nur möglichen Stelle Flüche einzubauen. »Marshall McEwan war ein Schlappschwanz hoch drei, der geborene Schwanzlutscher aus Beeeen-VILLE, hat versucht, mit paar richtigen Männern ’nen Turm hochzuklettern, und hat wieder schlapp, schlapp, schlapp gemacht!«

Ich lachte, obwohl ich mich auch fragte, warum Dooley so von der Homosexualität besessen war. Hasste er Schwule wirklich so sehr? Oder war er insgeheim selbst einer? Als er die nächste Strophe anfing, überlegte ich, ob Dooleys IQ vielleicht doch eine Spur höher war, als ich ursprünglich gedacht hatte – aber Adam wollte nichts davon wissen. Er forderte Paul auf, seinen Cousin zum Schweigen zu bringen, sonst würde er das gern übernehmen. Seit Adam mich einmal gegen einen Raufbold verteidigt hatte, als ich zehn Jahre alt war, hatte ich nicht mehr erlebt, dass Adam eine solche Drohung aussprach. Dooley hob schon die Fäuste, um gegen Adam zu boxen, und Adams Augen wurden seltsam ausdruckslos. Paul Matheson wirkte besorgt. Paul wusste nur zu gut, was Adam jemandem auf dem Football-Feld antun konnte, wenn er keine besondere Feindseligkeit verspürte. Was würde passieren, wenn Adam McEwan sich entschied, jemanden wirklich zu vermöbeln?, konnte ich Paul von der Nasenspitze ablesen.

Ich hörte mich sagen: »Doch, es gibt was, worin ich euch Arschlöcher locker schlagen kann. Und ich wette so viel Geld darauf, wie ihr wollt.«

Das lenkte die Aufmerksamkeit von Adam ab, und zwar blitzschnell. Wovon redete ich da?, wollten sie wissen. Irgend so ein schwules Gesellschaftsspiel wie Bridge?

»Ich kann euch über den Fluss schlagen«, sagte ich.

»Wie meinst du das?«, fragte Trey. »Ein Rennen über die Brücke? Das Autorennen haben wir schon gewonnen.«

»Nicht im Auto«, erwiderte ich und fühlte mich unheimlich ruhig. »Beim Schwimmen.«

Das ließ sie innehalten. Da wusste ich, dass sie, was immer sie sagen würden, meine Herausforderung nicht ablehnen konnten. Eine Weigerung passte nicht in ihr Selbstbild. Ich hatte sie erwischt.

»Verdammter Scheißblödsinn«, sagte Dooley endlich. »Du schwimmst niemals durch den Fluss. Der ist ’ne Meile breit.«

»Eher eine halbe. Oder vielleicht dreiviertel, wenn er so viel Wasser führt. Und ich schlage dich um hundert Yard, du dämlicher Kuhficker.«

Sie schauten mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Bist du schon mal rübergeschwommen?«, fragte Trey verschlagen.

»Nein.«

»Lügt der?«, fragte Dooley Paul über die Schulter.

»Nein. Aber er ist ein verdammt guter Schwimmer.«

»Na, Scheiße. Ich bin auch ein verdammt guter Schwimmer!«, krähte Dooley. »Ich bin ein fantastischer Schwimmer! Ich hab’ mit dreizehn die dreihundert Meter Freistil gewonnen.«

»Blaues Band«, erwiderte ich mit spöttischer Ehrfurcht. »Dann bist du ja bereit dafür.«

»Fick dich«, knurrte Dooley. »Ich war schon bei meiner Geburt bereit dafür.«

»Niemand geht in diesen Fluss«, sagte Adam mit ernüchternder Autorität. Das klang ganz wie unser Vater. »Wir sind alle betrunken, und selbst ein nüchterner Mann wäre verrückt, wenn er versuchen würde, über diesen Fluss zu schwimmen, besonders nachts. Ganz zu schweigen vom Hochwasser, was selbst am helllichten Tag nur ein Wahnsinniger probieren würde. Außerdem ist das jetzt Schmelzwasser aus dem Norden. Kalt wie ein Eisberg. Also vergesst die Sache.«

»Ich schaffe das«, sagte ich ruhig.

»Ich sagte, vergesst es«, blaffte Adam. »Wir gehen nach Hause.«

»Du kannst gehen, wenn du willst. Ich schwimme.«

»Dann lass mal dein Geld sehen«, sagte Trey Matheson. »Ich mach mich nicht umsonst nass.«

Schließlich wetteten wir vierhundert Dollar auf das Wettschwimmen. Vierhundert Dollar waren damals so viel wie heute für mich vierzigtausend. Mehr. Es war alles, was ich auf der Welt besaß, jeder Dollar, den ich mit meinen Mindestlohn-Jobs zusammengespart hatte. Aber ich riskierte alles, weil ich an mich glaubte. Aber was danach geschah …

»Hey, Marshall!«, ruft eine hohe Stimme. Nicht Adams Stimme …

Ich zwinkere, fahre aus meiner Trance hoch und sehe zweihundert Meter unterhalb der Klippen den Fluss, der sich im hellen Sonnenlicht nach Norden erstreckt, nicht in Nebel gehüllt wie in jener schrecklichen Nacht …

»Marshall!«, ruft Denny Allman und kommt am Zaun entlanggelaufen. »Komm und sieh dir das an! Ich habe den Pick-up gefunden! Ich habe Dr. Bucks Pick-up gefunden!«

Als Denny mich wild schnaufend erreicht, bin ich wieder bei mir. Er reckt mir den beschatteten Bildschirm seines iPad Mini ins Gesicht. Ein grünes Meer aus Baumwipfeln gleitet unter der fliegenden Kamera hinweg, als hätte Stanley Kubrick die Aufnahme gemacht.

»Ist das live?«, frage ich.

»Nein, die Drohne fliegt gerade auf Autopilot zurück. Der Akku war beinahe leer. Das ist eine Aufzeichnung. Da ist der Wagen! Siehst du ihn?«

Anscheinend hatte Denny seine Drohne im Schwebflug über Lafitte’s Den, eine stadtbekannte Stelle für knutschende Paare und Picknicks, fliegen lassen. Diese geologische Anomalie ist eine Sandsteinhöhle, die recht weit unten im Lössboden der Klippe liegt und von der seit langer Zeit behauptet wird, hier hätte sich der Pirat Jean Lafitte versteckt, um den Schiffen der US Navy zu entkommen, die ihn von New Orleans hierher verfolgt hatten. Niemand hat je eine zufriedenstellende Erklärung dafür gefunden, wo Lafitte seine Schiffe verborgen haben könnte, während er in der Höhle Zuflucht fand, und die Historiker halten die Geschichte eher für eine Legende als für eine Tatsache. Als Dennys Drohne sich langsam auf die Baumwipfel zubewegt, sehe ich das rostorangerote Dach von Buck Ferris’ GMC Pick-up.

»Das ist er!«, staune ich. »Du hast es geschafft!«

Denny strahlt vor Stolz. »Jawohl. Ich hab’ überlegt, ob ich ganz runterfliegen und in die Fenster schauen soll, aber die Bäume stehen ziemlich eng, und wir sind an der Grenze meiner Reichweite.«

»Nein, das ist prima. Riskier nicht deine Drohne.«

Ich starre auf den verlassenen Pick-up, der an der Wendestelle bei Lafitte’s Den abgestellt wurde, und ich bin mir in einer Sache sicher: Buck hätte keine einzige Minute darauf verschwendet, bei dieser natürlichen Obdachlosenunterkunft zu graben. Dank der Lafitte-Legende wurde im Laufe der Jahrzehnte diese Sandsteinhöhle durchlöchert wie ein Käse, als eine unerwünschte Armee von Neugierigen mit Metalldetektoren, von Zehnjährigen mit Spielzeugschaufeln und Hausfrauen mit Spaten hier einfiel. Das Einzige, was man je hier gefunden hat, waren ein paar Pfeilspitzen und Keramikscherben, die man nach einem heftigen Regenguss überall in und um Bienville einsammeln kann. Niemand hat in den letzten zweihundert Jahren je ein einziges Goldstück gefunden.

»Hier würde Buck nicht graben«, sagt Denny, als hätte er meine Gedanken gelesen. »In der Höhle ist rein gar nichts außer leeren Bierdosen und gebrauchten Gummis.«

Dieser Junge. »Du hast recht. Hier stimmt was nicht.«

»Aber rings um die Höhle ist Sandstein. Hätte ein Sturz auf diesen Stein Bucks Schädel so einschlagen können, wie wir es gesehen haben?«

»Ich glaube nicht. Erstens ist hier fast überall Erde. Zweitens ist sogar der Sandstein so weich, dass man mit einem Autoschlüssel ein Loch reinbohren kann. Drittens geht die Höhle zwar weit rein, ist aber nicht besonders hoch, sodass er also nicht so weit gestürzt sein kann.«

»Es sei denn, er ist von oben von der Klippe gefallen«, wendet Denny ein.

»Dann hätte er aber viele gebrochene Knochen. Außerdem sollten in dem Fall in Bucks Wunde Spuren von Sandstein sein.«

»Was machst du jetzt?«

Ich schaue in das erwartungsvolle Gesicht des Jungen. Wie immer erblicke ich da seine Mutter. Während der Highschool habe ich wie viele Jungs ein paarmal mit ihr geschlafen. Dixie war ein guter Mensch, aber ich wusste sogar damals schon, dass sie es nie schaffen würde, diese Stadt zu verlassen oder gar auf ein College zu gehen. »Möchtest du, dass ich erwähne, dass du Bucks Wagen gefunden hast?«

Denny denkt ein paar Sekunden darüber nach. »Das ist es nicht wert, dass der Sheriff dann sicher rauskriegt, wer heute Morgen seine Deppen auf dem Fluss gefilmt hat.«

»Wahrscheinlich nicht. Irgendjemand findet den Wagen in den nächsten paar Stunden, je früher, desto besser, wenn es darum geht, dass ein Mordfall draus wird. Wie wäre es mit einem anonymen Anruf?«

Denny nickt.

»Okay. Ich kümmere mich drum.«

»Wie denn? Es gibt doch keine Münztelefone mehr.«

Natürlich mit meinem Wegwerfhandy, denke ich. »Mach dir darüber keine Sorgen.«

»Okay«, sagt er skeptisch. »Und was kommt jetzt?«

Ich will ihn gerade fragen, was er damit meint, aber ich weiß es schon. Und ich bin froh. Denn obwohl Denny erst vierzehn ist, hat er eine Ressource, die ich nicht leicht ersetzen kann.

»Ich habe das Gefühl, dass ich weiß, wo Buck wirklich gestern Nacht gegraben hat. Und es war nicht diese Höhle.«

Dennys Augen leuchten. »Wo?«

»Auf dem Gelände der neuen Papierfabrik im Industriepark. Ich glaube, wir könnten da draußen ein bisschen Luftüberwachung gut gebrauchen. Anzeichen für Grabungen in letzter Zeit suchen.«

»Aber du hast doch gesagt, dass da heute der erste Spatenstich ist.«

Ich schaue auf die Uhr. »In anderthalb Stunden. Die Zeit für einen Überflug wäre heute Nachmittag. Kannst du mich später da draußen treffen, wenn ich deine Mutter anrufe und dafür sorge, dass alles okay ist?«

»Darauf kannst du deinen Arsch wetten! Ich meine – kein Problem.«

»Danke, Denny. Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Nö, schon in Ordnung. Ich gehe noch ins Depot was essen.«

»Okay.« Ich tätschele ihm die Schulter und mache mich auf zu meinem Flex, aber er ruft meinen Namen, und ich bleibe stehen.

»Was ist?«, frage ich und drehe mich um.

»Geht es dir gut?«, will er wissen und wirkt aufrichtig besorgt.

»Jaja. Ich habe nur an was gedacht, das vor langer Zeit geschehen ist.«

Denny Allman schaut nicht verwirrt oder auch nur neugierig. Er bewegt ein paar Sekunden seine Lippen und sagt: »Dein Bruder?«

Also weiß er es doch. »Ja. Wer hat dir davon erzählt?«

»Meine Mom.«

Natürlich. »Hab’ ich mir gedacht.«

»Sie hat gesagt, das war das Schlimmste, was je in dieser Stadt passiert ist.«

Das überrascht mich nicht. »So hat es sich damals angefühlt. Aber seit diese Stadt gegründet wurde, sind eigentlich einige ziemlich schlimme Dinge passiert.«

Denny beißt sich auf die Unterlippe und schaut auf den Boden. »Vielleicht auch gestern Nacht, stimmt’s?«

»Das glaube ich. Du geh jetzt nach Hause und mach deine Schularbeiten. Ich rufe später deine Mom an.«

Ehe ich mich abwende, erschallt über uns das Hornissensummen der Drohne, und Dennys DJI-4-Rotor kommt schnell auf Autopilot herunter, schwebt ein paar Sekunden in der Luft und landet dann langsam dreißig Yard von uns entfernt.

Er grinst stolz. »Ziemlich cool, was?«

»Ziemlich cool.«

KAPITEL 7

Nachdem Denny Allman in Richtung altes Eisenbahndepot verschwunden ist, gehe ich zu meinem Flex, lasse den Motor an, schalte aber noch nicht auf Fahren. Nachdem ich meinen anonymen Anruf getätigt habe, ist die Aufregung vergangen, die ich nach dem Fund von Bucks Pick-up verspürt hatte. Dass ich mit ansehen musste, wie mein Ersatzvater aus dem Fluss gezerrt wurde, hat einen tiefen Schatten über mich geworfen. Und ich habe das Gefühl, dass der lange nicht vergehen wird.

Ich muss noch eineinviertel Stunden warten, bis die Zeremonie des ersten Spatenstichs für die neue Papierfabrik anfängt, aber ich habe keine Lust, ins Büro zurückzugehen. Ich lechze nach einem Kaffee, will aber auf keinen Fall zu Nadine’s gehen, wo ich normalerweise meine morgendliche Kaffeepause verbringe. Nadine Sullivan ist etwa zehnmal so scharfsichtig wie Denny Allman, und ich möchte nicht, dass sie meine Seele erforscht, ehe ich nicht meinen Schutzschild wieder errichtet habe. Wenn man eine Tür zur Vergangenheit aufstößt, kommt manchmal das, was dahinter ist, von selbst hervor. Man kann versuchen, wegzurennen, aber ganz gleich wie schnell man rennt, man zerrt die Dämonen immer hinter sich her. Irgendwann kann man genauso gut auch stehenbleiben, sich umdrehen und von ihnen überrollen, überwältigen lassen. Wenn man Glück hat, vergehen sie im Licht des Tages.

Quinn Ferris’ Anschuldigungen gegen den Bienville Poker Club hallen noch in meinen Ohren wider, aber daran möchte ich jetzt lieber nicht denken. Ich werde diese Jungs beim ersten Spatenstich treffen, wo ich genug Zeit haben werde, sie in ihrer gewohnten Umgebung genau zu mustern. Ich lege den Vorwärtsgang ein, fahre langsam in nördliche Richtung an der Klippe entlang, am Stadtrand vorüber in Richtung des Garden District, wo zwischen dem Geschäftsviertel und der Anhöhe des städtischen Friedhofs sechs Häuserblocks mit liebevoll gepflegten Wohngebäuden aus Viktorianischer Zeit stehen. Bei der Fahrt wird mir klar, dass ich zwar schon seit fünf Monaten wieder in Bienville bin, aber noch kein einziges Mal auf dem Friedhof war.

Schon bald nachdem ich die Klippe aus den Augen verloren habe, biege ich links in die Hallam Avenue ein, die mich durch den Garden District zur Cemetery Road bringt, die in west-östlicher Richtung vom Friedhof zu den im Osten gelegenen Wäldern von Tenisaw County führt. Zu beiden Seiten huschen zwei- oder dreistöckige Lebkuchenhäuser an meinem SUV vorüber, ein Stück hinter schmiedeeisernen Zäunen zurückgesetzt. Doch eigentlich nehme ich sie nicht wahr. In Gedanken stehe ich mit meinem Bruder am Flussufer und linse durch den Nebel zum Louisiana-Ufer, das mir nie so weit entfernt schien.

In jener Nacht fuhren wir im Camaro und im Nissan den Damm hinunter, bis wir an eine Stelle kamen, wo der Fluss nur zwanzig Yard entfernt war. Sobald wir ankamen, erklärte Adam erneut – wieder mit der Stimme meines Vaters –, dass niemand vor Sonnenaufgang ins Wasser gehen dürfe. Das bedeutete, dass wir mindestens eine Stunde warten mussten. Adam hoffte, mir das Schwimmen noch ausreden zu können, bat mich, eine Minute mit ihm ins Auto zu kommen. Stattdessen ging ich immer fünfzig Yard den Damm auf und ab, atmete tief, lockerte meine Muskeln und versuchte, so viel Alkohol wie möglich abzubauen. Nach meinem Versagen beim Besteigen des Strommasts verspürte ich ein Hochgefühl bei der Aussicht darauf, mich zu rehabilitieren und Pauls Cousins eine dringend nötige Lektion zu verpassen.

Trey und Dooley Matheson saßen in ihrem IROC-Z, nahmen in regelmäßigem Turnus Züge von einem Riesenjoint. Während der Mond unterging und der Himmel dunkler wurde, fuhren zwei Reihen von Schleppern den Fluss hinunter und eine Kette flussaufwärts. Als der letzte Kahn vorüberfuhr und die großen Dieselmotoren den Boden unter unseren Füßen erbeben ließen, bemerkte ich, dass sich über der Wasseroberfläche Nebel sammelte. Das würde unseren Schwimmwettkampf nicht beeinträchtigen, aber es ließ mich über die Wassertemperatur nachgrübeln.

Als es am östlichen Horizont heller wurde, gingen vier von uns den Damm hinunter zum Ufer: Trey, Dooley, Adam und ich. Vor uns lagen tausend Yard Fluss, eine sechs Fuß dicke Nebelbank schwebte über dem Wasser. Ich kam mir vor wie am Ufer des Atlantiks. Joey Burrell stand hinter uns auf dem Damm und erklärte uns, wir wären verrückt, auch nur daran zu denken, über den Fluss zu schwimmen. Paul stand schweigend neben ihm und schaute angespannt zu. Joey hatte einfach Angst, ein Beweis für seine Vernunft. Aber ich hatte noch nie gesehen, dass Paul Furcht zeigte, und er wusste, dass seine Cousins ihn Höllenqualen leiden lassen würden, wenn er das hier ausließ. Seine Weigerung zeigte mir, dass Paul entweder wusste, dass ich der beste Schwimmer war und seine Hilfe nicht brauchte, um seine Cousins zu besiegen, oder dass er die Situation gut eingeschätzt hatte und trotz seiner beachtlichen sportlichen Fertigkeiten beschlossen hatte, dass die Todesgefahr zur groß war, um es mit diesem Fluss aufzunehmen.

Das hätte mich nachdenklich machen sollen.

Das tat es nicht. Ich wollte diesen reichen Schweinehunden unbedingt zeigen, dass sie nicht unbesiegbar oder irgendwie vom Himmel gesegnet oder überhaupt nur mehr als schlichter Durchschnitt waren. Ich war mir nicht sicher, ob Adam mit mir mitkommen würde, aber als die Mathesons und ich unsere Levi’s auszogen, tat Adam es uns gleich. Zu dem Zeitpunkt sagte ich ihm, er müsse nicht mitschwimmen, aber er erwiderte ruhig, er könne mich nicht allein schwimmen lassen. Wenn ich ertrank, sagte Adam, könnte er unseren Eltern niemals gegenübertreten und sagen, was geschehen war. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich mit ihm darüber streiten sollte, aber ehrlich gesagt war ich froh, dass er da draußen bei mir sein würde.

Die Kälte des Flusses war ein Schock für mich, als wir hineinwateten, und die Mathesons jaulten auf. Adam und ich gaben keinen Laut von uns, außer dass wir kurz nach Luft schnappten und ergeben seufzten, als wir uns mit den Zehen vom überfluteten Gras des Damms abstießen und in die Hauptströmung des Flusses begaben.

»Das ist nichts Besonderes«, sagte ich zu Adam. »Mach einfach, was ich mache.«

»Dann schwimm du voraus«, antwortete er. »Ich bin gleich hinter dir.«

Es war seltsam, dieses Mal der Anführer zu sein. Aber Adam gab im Wasser ohne Zögern die Führung an mich ab. Der Nebel war dichter, als er vom Damm her ausgesehen hatte, aber ich wusste, dass wir es schaffen konnten. In einem Schwimmbecken konnte ich diese Strecke in zwanzig Minuten zurücklegen. In einem Fluss mit Hochwasser, der mit acht oder zehn Meilen pro Stunde floss – und mit der zusätzlichen Verantwortung, dass ich auch Adam über die Distanz bringen musste –, musste ich ebenso viel treiben wie schwimmen. Wenn ich es richtig eingeschätzt hatte und wir gleichmäßig vorankamen, würden wir vielleicht vier Meilen flussabwärts am Ufer von Louisiana an Land gehen. Die ganze Sache sollte eine halbe Stunde dauern. Höchstens vierzig Minuten.

Ich schaute mich um und flüsterte Adam das alles zu. Er nickte und meinte, wir sollten uns so weit wie möglich von Trey und Dooley fernhalten. Ich stimmte ihm zu, doch ehe wir dreißig Yard in die Strömung vorgedrungen waren, kam Dooley herangeschwommen und versuchte, mich unter Wasser zu drücken. Ich konnte ihm leicht ausweichen, aber er warf einen Arm zurück und bekam Adam zu fassen, ehe der die Gefahr erkannte. Sie kämpften eine halbe Minute, und Dooley schaffte es, ihn runterzudrücken, bis ich tauchte, Dooleys Bein packte und seinen Kopf unter Wasser zog. Er wehrte sich heftig, aber ich hielt ihn unten, bis ich ihn schreien hörte. Als ich wieder auftauchte, bemerkte ich, dass Adam bei einer Rangelei, die ich wohl verpasst hatte, Trey die Nase blutig geschlagen hatte. Sobald Adam sich überzeugt hatte, dass es mir gut ging, begannen wir, mit kräftigen Beinschlägen in Richtung Louisiana halb zu schwimmen, halb zu treiben, wobei wir uns wie die Wassermokassinottern immer weit oben im Wasser hielten.

Das ging fünfzehn Minuten lang gut. Dann wurden wir getrennt. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie es passiert ist. Vielleicht ist einer von uns in einen Wirbel geraten, eine Wasserblase, einen Strudel, irgendwas – aber wir verloren einander aus den Augen, und im Nebel waren Stimmen nur schwer zu verfolgen. Der Mississippi ist wegen seiner Strömungen so verräterisch, die alle mit verschiedenen Geschwindigkeiten und in verschiedenen Tiefen fließen. Das erzeugt an der Wasseroberfläche gefährliche Effekte. Ich hatte gedacht, dass ich damit fertigwerden könnte, aber im Laufe der Zeit war ich immer weniger überzeugt davon. Während der ersten zehn Minuten hatte ich noch gehört, wie die Mathesons brüllten und fluchten und Beleidigungen schrien. In den letzten fünf Minuten hatte ich jedoch gar nichts mehr gehört. Selbst völlig zugekifft hatten sie wohl begriffen, dass es sie umbringen könnte, wenn sie auf dem Fluss derart ihre Energie verschwendeten.

Ich ermüdete schneller, als ich erwartet hatte, und begann mich um Adam zu sorgen. Ich war mir sicher, dass er hinter mir war, schwamm im Zickzack zurück, um ihn zu suchen, rief alle zehn Sekunden seinen Namen. Diese Anstrengung kostete mich zwei Minuten, aber ich fühlte mich besser, nachdem ich mit ihm im Nebel zusammengestoßen war. Dann sah ich, dass er blass war und so keuchte, wie ich es bei ihm noch nie gehört hatte. Auf meine Frage, ob alles in Ordnung wäre, antwortete mir Adam, jemand hätte ihn an den Beinen nach unten gezogen. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Mathesons vor uns schwammen, hatte also keine Ahnung, was ihn da belästigt haben konnte. Ein Alligatorhecht? Ein großer Wels? Beides war unwahrscheinlich.

Ich schaffte es, noch weitere fünf Minuten nah bei ihm zu bleiben, doch dann wurden wir erneut getrennt. Adam rief mir zu, es sei alles in Ordnung und ich solle weiterschwimmen. Das machte ich, aber viel langsamer, als es mir möglich gewesen wäre, und ich rief alle zwanzig Sekunden nach ihm. Ich riskierte es, ein bisschen vorauszuschwimmen, denn ich wollte das andere Ufer so bald wie möglich sehen, damit ich unseren Kurs ändern konnte, wenn wir uns nicht aktiv genug quer zur Strömung bewegten. Die Sonne war da schon über den Horizont getreten, aber im Nebel half uns das nicht viel. Ich merkte, dass mir die Zähne klapperten. Ich fragte mich, wie lange ich wohl schon bibberte. Ich spürte auch eine Vibration im Wasser, ein kaum hörbares Grollen, das eher aus meinem Körper als von einer Quelle außerhalb zu kommen schien. Als Adam um Hilfe rief, kehrte ich sofort um, doch wieder dauerte es eine Weile, bis ich ihn im Nebel gefunden hatte.

Da bemerkte ich, dass er in Schwierigkeiten war. Er lag zusammengekrümmt im Wasser und hatte Mühe, an der Oberfläche zu bleiben.

»Ich habe Krämpfe in den Beinen«, keuchte er hervor. Sein Gesicht war grau, die Augen glasig, und seine Zähne klapperten. »Meine Waden. Ich krieg sie nicht locker.«

Ich wusste, was geschehen war. Die letzten sechsunddreißig Stunden – der Leichtathletik-Wettbewerb, große Mengen von Alkohol, der Sprint auf dem Damm und die lange Kletterpartie am Strommast – hatten Adams Kaliumspiegel so gesenkt, dass seine Skelettmuskeln nicht mehr richtig funktionierten. Ich versuchte, zu tauchen und ihm die Krämpfe herauszumassieren, aber das brachte nicht viel. Ich musste ihn irgendwie ans Ufer schleppen.

»Trey!«, schrie ich. »Dooley! Adam hat Probleme! Wir brauchen Hilfe!«

»Die helfen nicht«, meinte Adam. »Die können von Glück sagen, wenn sie’s selbst schaffen.«

»Hör zu. Du musst dich jetzt ganz schlaff hängen lassen. Versuch dich zu entspannen. Ich nehme dich in den Schlepp und schwimme mit dir ans Ufer.«

»So weit kannst du mich nicht schleppen. Nicht in diesem Fluss.«

»Quatsch. Du weißt, dass ich das kann. Tu, was ich dir sage.«

»Ich schaffe es selbst«, behauptete Adam und versuchte, sich durchs Wasser zu bewegen.

»Nein, nicht mit solchen Krämpfen. Lehn dich zurück! Ich schleppe dich nach Louisiana.«

»Ich muss nur warten, bis meine Beine …«

Er verstummte. Adam hatte dasselbe gehört wie ich. Das Grummeln, das ich zuvor kaum wahrgenommen hatte, schien nun plötzlich bei uns, um uns, unter uns zu sein. Irgendwo in diesem Nebel schob nicht weit von uns entfernt ein Schlepper eine Reihe von Kähnen. Schob sie auf uns zu. Panik breitete sich in meiner Brust aus, und Adam sah das in meinen Augen.

»Wir müssen weg!«, schrie ich. »Lehn dich zurück!«

Ich hatte noch nie zuvor gesehen, dass sich die Augen meines Bruders mit Angst erfüllten, und ich hatte sein Gesicht auch noch nie so ausgelaugt gesehen, dass ich bezweifelte, ob er hier weitermachen könnte. Ich hatte ihn noch nie hilflos gesehen. Ich hätte mir so etwas niemals vorstellen können. Niemand in Bienville hätte sich das vorstellen können. Aber in diesem Fluss, an jenem Morgen war unser goldener Apollon so hilflos wie ein Neugeborenes. Hilfloser eigentlich, denn ein Baby hätte ich mit Leichtigkeit ans Ufer schleppen können, während es sein würde, als zerrte ich einen Anker durch das Wasser, wenn ich seine 190 Pfund Muskeln hinter mir herzog. Trotzdem tauchte ich ab und schwamm hinter Adam, kam an die Oberfläche und legte ihm den Arm um den Nacken und unter das Kinn, stützte mit meiner linken Hüfte seinen unteren Rücken ab. Dann legte ich los im »Kampfstil«, den mir mein Schwimmtrainer, ein ehemaliger Marine-Rettungsschwimmer, beigebracht hatte. Ich hatte längst jeden Gedanken an die Mathesons aufgegeben. Von diesem Zeitpunkt an hing unser beider Leben nur von mir ab.

Der Schlepper war näher gekommen, das konnte ich spüren. Das bedeutete, dass die Kähne, die sich bis zu einer Viertelmeile vor dem Schlepper erstrecken konnten, uns jeden Augenblick überfahren könnten. Ich gab den abwechselnden Scherschlag und Kraulbeinschlag auf und machte nur noch mit der ganzen Kraft meiner Beine den Kraulbeinschlag. Aber dabei bemerkte ich etwas, das meine Angst noch weiter erhöhte: Ich bibberte, Adam nicht. Seine Kerntemperatur war stark abgesunken. Die Kombination aus kaltem Wasser, Erschöpfung, Dehydrierung und Alkohol brachte ihn allmählich um. Wenn ich losließ, könnte er ohne Gegenwehr versinken.

Ich bot jedes letzte Atom Energie in meinem Körper auf, kickte meine Beine mit konzentrierter Kraft und durchpflügte mit meiner rechten Hand das Wasser, beschwor mich, ich würde es schaffen, die Arbeit von zweien zu tun. Doch nach den Anstrengungen eines langen Tages war das so, als wollte ich meinen Bruder auf dem Rücken einen Berg hochschleppen. Schlimmer noch, außerdem war das Dieselgrollen stetig lauter geworden. Und doch hinderte mich der Nebel daran, die genaue Richtung dieser Bedrohung auszumachen. Ich wusste nur, dass das Geräusch von flussaufwärts kam.

»Du wirst schwächer!«, keuchte mir Adam ins Ohr. »Du schaffst es nicht, Marsh.«

»Quatsch!«, japste ich, fürchtete zu hyperventilieren.

»Du bringst uns beide um. Der Kahn da kommt flussabwärts, mit Karacho.«

»Halt die Klappe, ja?«, blaffte ich und kickte wie ein Verrückter.

»Kannst du das Ufer sehen?«

»Noch nicht … kann aber nicht mehr weit sein.«

Ehe Adam wieder etwas sagte, erschien rechts neben mir eine haushohe graue Wand aus dem Nebel. Es war der flache Bug des ersten Kahns, vielleicht fünfunddreißig Yard von uns entfernt, und er wurde mit jeder Sekunde größer. Ich konnte weder schreien noch sprechen.

»Lass mich los«, hustete Adam.

Plötzlich bemerkte ich, dass ich mit den Schwimmbewegungen aufgehört hatte. Ich begann wieder zu kicken, suchte im Nebel nach dem Rand dieser hohen Wand.

»Lass los!«, schrie Adam. »Du kannst es noch schaffen.«

Tränen strömten mir aus den Augen, und ich trat mit aller Kraft, die ich noch hatte, aber es reichte nicht. Ich hatte das Gefühl, fünf Jahre alt zu sein. Als ich das nächste Mal aufblickte, war der Kahn noch zwanzig Yard entfernt. In diesem Augenblick biss mein Bruder mir in den Nacken. Ein stechender Schmerz schoss mir durch den Körper, mein Bruder boxte mir ins Gesicht und befreite sich mit einem Tritt von mir. Durch drei Fuß Wasser getrennt, blickten wir einander mit verzweifelter Intensität in die Augen. Dann hob uns eine Wassermasse beide in die Höhe und schob uns mehrere Fuß flussabwärts.

»Geh«, sagte Adam mit einer Ruhe, die mich bis heute verfolgt. Dann lächelte er traurig und glitt unter die Wasseroberfläche.

Einen Sekundenbruchteil lang, der mir immer wie eine Ewigkeit erscheinen wird, starrte ich auf die Leere, wo vorher mein Bruder gewesen war. Nun übernahm mein Stammhirn die Kontrolle über meinen Körper. Von Adams Gewicht befreit, durchpflügte ich im Freistil das Wasser und meinte zu fliegen. Der Bug des Kahns krachte so nah an meinen Füßen vorbei, dass die Bugwelle mich hochhob wie einen Surfer, der eine Welle erwischt hat. Ein übler Sog erfasste meine untere Körperhälfte, zog mich zu der Stahlwand zurück, doch die Todesangst verlieh mir schier übermenschliche Stärke. Ich kämpfte mich frei.

Nach zwanzig weiteren Armzügen erblickte ich in 150 Yard Entfernung das niedrige Ufer von Louisiana. Weißer Sand, graue Schüttsteine, taillenhohes Unkraut. Als ich die Felsen erreichte, hatte ich nicht mehr die Kraft, aus dem Wasser zu klettern, ich konnte nur den Kopf hochhalten und mein Gewicht auf den unter Wasser liegenden Steinen abstützen.

Bis heute kann ich nicht einmal den Gedanken an manches ertragen, was darauf folgte. An die Suche nach Adams Leichnam erinnere ich mich. Daran wird man sich erinnern, solange Menschen am Unterlauf des Mississippi leben und arbeiten. Alle machten mit: die Küstenwache, zwölf Sheriff’s Departments, vier Schlepperunternehmen, hundert private Bootsfahrer, professionelle Rettungstaucher und sogar die Pfadfinder aus einem Dutzend Bezirken und Gemeinden entlang des Mississippi.

Niemand fand ihn.

Mein Vater lieh sich von einem Freund ein Boston Whaler aus und fuhr mit diesem Motorboot monatelang den Fluss auf und ab, suchte an den Ufern und auf den Inseln nach seinem verlorenen Sohn. Ich wäre mit ihm gefahren, aber Dad wollte mich nicht im Boot haben. Obwohl meine Augen schärfer als seine waren, konnte er meine Anwesenheit während dieser Suche nicht ertragen.

So fing es an. Er zog sich nicht nur in sich selbst zurück, wie meine Mutter ihren Kummer durchlebte, sondern er löschte mich, den schuldigen Überlebenden, ganz aus. Es war natürlich nicht Duncan McEwans erste Reise in den Schmerz. Er hatte schon einmal ein Kind verloren. Ich wusste davon, hatte aber nie ernsthaft darüber nachgedacht. Dass er, ehe er meine Mutter heiratete, eine andere Familie gehabt hatte. Klar, mein Vater war immer älter gewesen als die Väter meiner Freunde, aber das schien nie ein Thema zu sein. Doch nach dem Verlust meines Bruders – während ich allein zu Hause saß und mein Vater in der vergeblichen Hoffnung auf ein Wunder den Fluss absuchte – schienen seine erste Frau und seine Tochter plötzlich wieder wichtig zu werden.

Eloise und Emily. Emmie war die Tochter. Zwei Jahre alt. Meine Mutter erzählte mir, dass sie 1966 auf der Cemetery Road bei einem Autounfall ohne Beteiligung anderer ums Leben gekommen waren, nachdem sie meinen Vater bei der Zeitung besucht und auf dem Heimweg eine Abkürzung genommen hatten. Tausendmal war ich an genau dieser Stelle vorbeigefahren. Es ist eine scharfe Kurve, wo drei Eisenbahngleise den Asphalt durchschneiden. Tiefe Schluchten klaffen zu beiden Seiten der Straße. Nachts bei schlechter Sicht im strömenden Regen schleuderte der Wagen – eigentlich Dads Auto, ein Oldsmobile Delta 88 – von der Straße und stürzte in eine der Schluchten, landete auf dem Dach in drei Fuß tiefem Abflusswasser. Mutter und Kind ertranken in weniger als einer Minute. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für meinen Vater gewesen sein mag, all das erlitten und sich danach ein neues Leben aufgebaut zu haben – einen talentierten Sohn wie Adam zu haben –, nur um die Nachricht zu bekommen, dass ihm der Fluss diesen Sohn bei einer dummen Teenager-Mutprobe geraubt hatte. Es war mehr, als mein Vater ertragen konnte. Und ohne einen Leichnam, den man betrauern konnte, weigerte er sich einfach, zu glauben, dass Adam tot war. Wer konnte ihm das verübeln? Wenn man gesegnet ist und einen Gott zum Sohn hat, fällt es schwer, die Sterblichkeit zu akzeptieren.

Während ich so an meinen Vater denke, wie er jeden Tag unterhalb der Front Street zu der hoffnungslosen Suche nach seinem toten Sohn an Bord dieses Boston Whaler ging, wird mir plötzlich klar, dass ich bei der niedrigen Steinmauer des Friedhofs von Bienville angekommen bin. Hier kreuzt die Hallam Avenue die Cemetery Road. Von dieser Stelle aus sind die Klippe und der Fluss nicht ganz sichtbar, aber ich sehe Laurel Hill, den westlichsten Hügel der Nekropolis von Bienville, wo das Denkmal für Adam steht. Die Statue – ein athletischer junger Mann, der eine traurige Wache am Fluss zu halten scheint – wurde in Italien von einem Bildhauer geschaffen, den mein Vater kennengelernt hatte, als er in Rom als Reporter bei der Army-Zeitung Stars and Stripes war. Eine Geschichte für ein andermal. Bei den Mannschaften auf den Kähnen ist die Statue berühmt. Sie nennen ihn den »Wächter«. Die Statue steht 240 Fuß über dem Fluss und ist das Erste, wonach die Mannschaften Ausschau halten, wenn sie nördlich von Bienville vorüberfahren. Trotz der Tragödie, die hinter ihrer Statue steckt, beruhigt sie die Leute irgendwie, eine Art lebensgroße Christophorus-Medaille.

Es war unmöglich, vorherzusehen, welche Auswirkung sie auf die Stadt haben würde. Innerhalb von Stunden, nachdem man sie auf dem Hügel errichtet hatte, wurde Adams Statue zu einem Schrein für die Teenager am Ort. Damals befand ich mich in einem Abgrund der Verzweiflung, litt an etwas, das die Ärzte später als posttraumatisches Erschöpfungssyndrom diagnostizieren würden. Aber ich ging trotzdem zur Schule, und ich hörte, wie davon erzählt wurde. An jedem Wochenende konnte man dort Kids sehen, die sich an den Sockel lehnten und den Sonnenuntergang beobachteten. In der Morgendämmerung beobachtete man Kids, die sich von der gleichen Stelle aus den Sonnenaufgang ansahen. Seit meiner Rückkehr nach Hause habe ich mir sagen lassen, dass das immer noch so ist, einunddreißig Jahre später und obwohl die heutige Generation nichts von Adam weiß, außer dem, was ihnen ihre Eltern erzählt haben. Diese Pilger haben an Adams Statue gebetet, unter ihr Kinder gezeugt, Berge von Blumen und Gedichten zu ihren Füßen niedergelegt. Aber ich habe seit achtundzwanzig Jahren nicht mehr davorgestanden. Ich kann es nicht ertragen. Als ich das letzte Mal dort war, wurde ich zu jenem schrecklichen Morgen im Fluss zurückkatapultiert – genau wie heute beim Anblick von Bucks Leiche. Doch die schlimmste Stunde dieses Morgens, schlimmer noch, als meinen Bruder seinem Tod unter diesem Kahn zu überlassen, war der seelenzerstörende Augenblick, als ich mit dem Sheriff ins Zuhause meiner Familie ging und meinen Eltern mitteilen musste, dass ihr ältester Sohn nie wieder nach Hause zurückkehren würde.

Und dann zu erklären, warum das so war.

Auf meinem Parkplatz neben der Friedhofsmauer, nur zweihundert Yard von Adams Statue entfernt, beschließe ich, dass ich immer noch nicht bereit bin, seinen Marmordoppelgänger aus größerer Nähe zu betrachten. Jedenfalls noch nicht. Es ist jetzt besser, wenn ich in die Stadt zurückfahre und bei Nadine eine Tasse Kaffee trinke, meine Nerven beruhige, zur Zeremonie für den ersten Spatenstich fahre und herauszufinden versuche, welcher meiner feinen Mitbürger den beinahe allgemeinen Wunsch, Buck Ferris zum Schweigen zu bringen, in die Tat umgesetzt hat.

KAPITEL 8

Mein täglicher Zufluchtsort ist ein Buchgeschäft/Café namens Constant Reader, das sich bei der Klippe zwischen zwei große Gebäude schmiegt. Bienville hatte in der neueren Zeit fünf Buchläden, die sich alle nicht länger als fünfzehn Jahre gehalten haben. Im Einkaufszentrum hat der Laden einer großen Kette bis vor ein paar Jahren durchgehalten, schließlich aber auch den Geist aufgegeben. Angesichts dieser düsteren Vorgeschichte eröffnete Nadine klugerweise ihr Constant Reader nur zwei Blocks von der Battery Row entfernt, und einen Block vom Aurora Hotel, der Art-déco-Grande-Dame von Bienville, dem wichtigsten Wahrzeichen der Zeit nach dem Sezessionskrieg in der Innenstadt. Obwohl das Aurora im Augenblick wegen Renovierung geschlossen ist, spaziert doch beinahe jeder Tourist, der von den Flussbooten kommt oder an der Klippe entlangläuft, vor Nadines Ladentür vorüber, und die meisten gehen für eine Tasse Kaffee und einen Muffin hinein, wenn nicht gar um Bücher zu kaufen, diese muffigen Relikte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Nadine ist acht Jahre jünger als ich, hat aber genau wie ich die St Mark’s Episcopal School besucht. Sie war so lange nach mir gekommen, dass ich ihre Existenz kaum bemerkt habe, aber sie wusste bei ihrem Schulabschluss einiges über mich. Keiner von uns hätte ahnen können, dass uns Jahrzehnte später ein gemeinsames Erlebnis zu engen Freunden machen würde. Nadine war die Tochter eines Pharmavertreters, der die Stadt für immer verließ, als sie neun Jahre alt war. Sie wurde in Raleigh, North Carolina, eine außerordentlich erfolgreiche Anwältin für Personenschäden. Mit siebenundzwanzig verheiratet, wurde sie mit einunddreißig geschieden; Kinder, über die man hätte streiten müssen, gab es nicht. Nachdem man ihr in einem Verfahren gegen ein Pharmaunternehmen eine ungeheuer große Abfindung zugesprochen hatte, plante sie gerade, in Charleston, South Carolina, eine unabhängige Buchhandlung zu eröffnen, als man bei ihrer Mutter Krebs im Endstadium diagnostizierte. Nadine zog nach Hause zurück und glaubte, es würde sich nur um eine kurze Pflegezeit handeln, doch ihre Mutter erholte sich unter ihrer Pflege und lebte noch zwei Jahre. (Obwohl mein Vater sich nicht erholt hat, hat diese so ähnliche Erfahrung Nadine und mich zu natürlichen Vertrauten gemacht.) Während Mrs. Sullivans Erkrankung organisierte Nadine einen wöchentlichen Literaturklub für sie und ein paar enge Freundinnen. Es überraschte also niemanden sonderlich, als Nadine nach dem Tod ihrer Mutter in der Innenstadt eine Apotheke aus dem neunzehnten Jahrhundert kaufte, sie renovierte und darin den Constant Reader eröffnete. Nur Touristen und Neuankömmlinge nennen den Laden bei seinem offiziellen Namen. Für Ortsansässige ist er »Nadines Laden« oder schlicht »Nadine’s«.

In den fünf Monaten seit meiner Rückkehr hat Nadine Signierstunden mit einigen der besten Schriftsteller der Südstaaten veranstaltet. Sie war eine der Ersten, die das Genie von Jesmyn Ward und Angie Thomas erkannte, und sie veranstaltete in ihrer Buchhandlung auch kleine Konzerte mit berühmten Musikern, die sie während ihrer Zeit in North und South Carolina kennengelernt hatte. Nadine ist eine Frau, die mühelos Menschen in ihre Umlaufbahn zieht. Ihr Geschick im Umgang mit Menschen lässt sich nicht auf irgendeinen identifizierbaren persönlichen Stil zurückführen, vielmehr allein auf ihre Ausstrahlung. Bei Nadine Sullivan wird einfach die Seele ruhiger, so ähnlich wie es einem geht, wenn man bei einem Baby ist. Nicht, dass sie irgendwie kindhaft wäre; ich weiß genau, dass sie vor Gericht eine gerissene Anwältin war. Doch das kann man sich heute nur schwer vorstellen. Nadine hat etwas Unverfälschtes, eine Klarheit in den Augen, die – zusammen mit dem Fehlen jeglicher Neigung, andere zu bewerten – die Welt einlädt, so zu kommen, wie sie ist. Doch ihr Laden ist mehr als nur eine Zuflucht für alle, die Sympathie oder ein Gespräch suchen. Ihre Autorenpartys und Musikveranstaltungen werden live über das Internet an Zehntausende von Followern gesendet, und sie macht gute Geschäfte mit dem weltweiten Versand von signierten Büchern und CDs.

An beinahe jedem Morgen schaue ich gegen Viertel nach zehn in ihrem Laden vorbei, wenn die alten Männer mit ihrem Geschimpfe über die »Scheißliberalen« fertig sind und die walkenden Damen ihr Fitnesswasser und ihre Muffins verputzt haben. Nadine bringt mir gewöhnlich selbst meinen Kaffee herüber und verweilt noch für ein paar Minuten auf ein Schwätzchen, je nachdem, wie viel sie gerade zu tun hat. Meistens bleibt sie stehen und bringt mich mit dem hörenswerten Klatsch auf den neuesten Stand. Doch an manchen Tagen setzt sie sich zu mir und holt sich meine Meinung zu Veranstaltungen ein, die sie abhalten möchte, oder sie redet einfach über die Welt im Allgemeinen. Wir haben einander von unseren Scheidungen erzählt, und diese gegenseitige Anteilnahme hat zwischen uns eine Vertrautheit entstehen lassen, die einige ihrer Kunden spekulieren lässt, ob wir miteinander schlafen. Das tun wir nicht. Doch wäre ich nicht anderweitig gebunden, ich hätte sicher mal in dieser Richtung vorgefühlt.

Nadine meint, dass die Leute über uns tratschen, weil man im Ort, ehe ich auftauchte, gemunkelt hat, sie wäre lesbisch. Dieses Gerücht war aufgekommen, nachdem sie so gut wie jeden alleinstehenden Mann in Bienville und dazu noch ein paar verheiratete Streuner hatte abblitzen lassen. Es ist kein Geheimnis, warum sie hier die Zielscheibe des Tratsches ist. In Bienville wimmelt es nur so vor unechten Blondinen mit unechten Titten. Nadine dagegen ist eine natürliche Blondine mit einem scharfen Verstand und einem spitzbübischen Zwinkern in den Augen. Mit achtunddreißig hat sie einen immer noch wohlproportionierten Körper und bewegt sich mit feiner Eleganz; das allein würde die Männer schon zu ihr hinziehen. Sie versichert mir, dass ihre ständigen Ablehnungen weniger mit ihren sexuellen Vorlieben zu tun haben als mit ihren strengen Maßstäben in Sachen Männer. Wenn sie Sex will, verlässt sie die Stadt. Ich weiß nicht, wo sie hingeht, und ich frage auch nicht. Nadine hat bisher diese Information auch nicht freiwillig herausgerückt. Ich muss zugeben, dass ich trotz unserer Vertrautheit von dem Hauch des Geheimnisvollen fasziniert bin, der diesen Teil ihres Lebens umgibt.

Eine Messingglocke läutet, als ich den Laden betrete, und der Duft des heißen Kaffees zieht mich durch den Buchladen, als hätte ich ein Seil um den Hals. Die Cafétische im hinteren Bereich sind leer, bis auf ein junges Paar, vielleicht französische Touristen. Nadine steht hinter der Theke und putzt ihre Espressomaschine. Sie lächelt mir über die Schulter zu und fragt mit leiser Stimme: »Stimmt das mit Buck?«

Ich trete an die Theke, ehe ich antworte. »Was hast du gehört?«

»Dass sie ihn im Fluss gefunden haben. Tot.«

Ich nicke und zittere, als die Klimaanlage mein verschwitztes Hemd abkühlt. »Ich habe gerade zugesehen, wie sie ihn rausgezogen haben.«

Sie schüttelt den Kopf, lässt ihren Lappen fallen und wendet sich von der blitzblanken Maschine ab. »Unfall?«

»So unter uns? Auf keinen Fall.«

Sie kneift die Lippen zusammen und senkt den Blick auf die Theke, verarbeitet die Nachricht. »Waren es die indianischen Artefakte? Die Gefahr für die Papierfabrik?«

»Ich glaube, ja. Was uns, wenn man auch die Leute aus dem Bezirk mitzählt, so ungefähr sechsunddreißigtausend Tatverdächtige beschert.«

»Das könnte hinkommen. Möchtest du einen Kaffee? Ich dachte, du bist beim ersten Spatenstich.«

»Da gehe ich auch hin, aber ich brauche mein Koffein.«

Ihre Augen mustern meine mit beinahe ärztlicher Gründlichkeit. »Du brauchst was Stärkeres. Geht’s dir gut? Ernsthaft.«

Ich schaue auf die übergroßen Muffins unter der Glasplatte. »Diese Szene am Fluss … war nicht so gut für mich.«

Sie langt über die Theke und drückt mir die Hand, wendet sich dann der Zubereitung meines Kaffees zu. »Willst du dich hinsetzen? Oder hast du es zu eilig?«

»Hast du Zeit, dich zu mir zu setzen?«

Sie sieht sich im Laden um und lächelt erneut. »Ich bin in einer Sekunde bei dir. Wie geht’s deinem Dad?«

»Ziemlich unverändert«, lüge ich wie gewohnt.

Während ich den Blick über die acht Tische im Café schweifen lasse, höre ich das Paar tatsächlich bei der Lektüre eines Reiseführers Französisch reden. Auf dem runden Tisch vor den beiden liegen Exemplare von Richard Grants Dispatches from Pluto und Richard Wrights Native Son. In Vorbereitung auf das Gespräch, das ich gleich mit Nadine führen werde, gehe ich ein Stück weiter in die Signier-Ecke, zu der halbrunden Bank auf einem großen Podium zwei Fuß über dem Rest des Cafés.

An den Wänden hinter der Bank hängen signierte Autorenporträts, die meisten schwarz-weiß. Als ich Platz nehme, schauen mich Rock Bragg, Chris Offutt, Kathryn Stockett, John Grisham und Pat Conroy (kurz vor seinem Tod signiert) an. Darüber klettert noch ein Dutzend weitere Fotos in Richtung Decke. Hinter mir hängt eine Sammlung signierter Fotos, die Nadine von treuen Kunden geschenkt bekommen hat. Darunter sind Eudora Welty, James Dickey und Donna Tartt, aber auch die Mississippi-Blues-Sänger Sam Chatmon und Son Thomas. Links von mir prangen dicht gedrängt signierte PR-Aufnahmen von Jerry Lewis und dem jungen Elvis in ihren Klamotten aus den fünfziger Jahren. Jerry Lee gilt praktisch als Einheimischer, da er aus Ferriday, Louisiana, stammt, das gerade einmal vierzig Meilen flussabwärts liegt. Das seltenste Exemplar ist ein signiertes Foto von Bobbie Gentry, dem einsiedlerischen Sänger von »Ode to Billie Joe«.

Während ich auf Nadine warte, erinnere ich mich an ein Wochenende, in dem Buck eine Gruppe von befreundeten Musikern aus dem Süden zusammengetrommelt hat, um in diesem Laden zu spielen. Obwohl die anderen ausgesprochene Könner waren, nahm mich Buck an beiden Abenden mit dazu. Wir hatten zwei Gitarren, eine Mandoline, eine Geige, einen Bass, eine Harmonika und ein Trap-Kit. Nach einem Set war die Menschenmenge so groß, dass die Leute bis auf die Straße standen und die Polizei, anstatt zu stören, lieber die Second Street für den Autoverkehr sperrte und uns so eine Party für den ganzen Häuserblock ermöglichte. Manchmal ist es richtig cool, in einer Kleinstadt zu leben.

Nadine kommt mit leichten Schritten die Stufen zu meiner Ecke hinauf und stellt einen schweren Porzellanbecher vor mich. Sie setzt sich mit einer Tasse grünem Tee zu mir an den Tisch und wirft mir ein Lächeln zu, das meine Lebensgeister aufmuntern soll.

»Heute bist du nicht drum rumgekommen«, sagt sie. »Um den Fluss, meine ich. War schlimm, was?«

»Mir reicht’s. Ehrlich gesagt, ich fühle mich, als hätte ich Buck umgebracht.«

Ihre Augen verdunkeln sich. »Oh, komm schon. Das ist totaler Quatsch.«

»Wirklich? Als ich die Geschichte veröffentlicht habe, wusste ich, dass sie die Leute total wütend machen würde. Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber Buck wollte, dass es in die Zeitung kam. Es sah ihm gar nicht ähnlich, es so auf Kontroversen anzulegen. In all den Jahren, die er hier gelebt hat, hat er nie so was gemacht. Er hat sich immer sehr viel Mühe gegeben, das nicht zu tun. Aber das hier war für ihn wie eine Mission. Eine Lebensaufgabe.«

»Wieso war ihm das so wichtig? Ich vermute, du weißt viel mehr, als ihr in der Zeitung veröffentlicht habt.«

»Einiges. Aber ich hatte ein paar Tage nicht mehr mit ihm geredet. Ich habe eigentlich auf die nächste Hiobsbotschaft gewartet.«

»Die ist jetzt wohl eingetroffen.« Nadine pustet auf ihren Tee. »Nur nicht so, wie du gehofft hattest.«

»Ich hatte gehofft, dass die Denkmalschutzbehörde herkommen und die ganze Fundstätte mit Beschlag belegen würde. Die haben in solchen Situationen sehr viel Macht. Sie stellen ihren eigenen Ausschuss ein und sind zumindest theoretisch immun gegen Druck aus der Politik. Sie können Denkmalschutzauflagen für Gemeindeland – und das ist das Gelände für die Papierfabrik – erlassen, und damit hätten sie das gesamte Gelände unter ihrer Kontrolle. Zumindest für die Zeit, in der sie es untersuchen und bewerten.«

»Und genau davor haben die Leute Angst, stimmt’s? Das würde die Bauarbeiten verzögern.«

»Zweifellos.«

»Vielleicht sogar unmöglich machen?«

»Wenn diese Stätte das ist, was Buck geglaubt hat.«

»Und was ist das? Eine Stätte wie Poverty Point? Eine potenzielle UNESCO-Welterbestätte?«

»Genau. Und ich glaube, er hat recht. Poverty Point ist nur vierzig Meilen von hier entfernt. Und bei Anna’s Bottom nördlich von Natchez gibt’s Überreste derselben Kultur. Buck hat geglaubt, dass es in einer tieferen Schicht möglicherweise sogar Beweise für eine noch ältere Kultur geben könnte, so wie in Watson Brake, Louisiana. Das ist nur siebzig Meilen von hier weg, und diese Kultur war älter als die Pyramiden von Gizeh und als Stonehenge.«

In Nadines Lächeln schwingt etwas wie Traurigkeit mit. »Mein Dad hat mich als kleines Mädchen mal nach Poverty Point mitgenommen. Das hab’ ich dir nie erzählt. Es ist eine meiner wenigen guten Erinnerungen an ihn. Wir haben dort ein Picknick gemacht. Wenn man sich überlegt, dass an diesem Fluss schon Menschen gelebt haben, ehe die Pyramiden erbaut wurden, ist das schon ziemlich überwältigend.«

»Wenn Buck seine Funde nur irgendwo in der Pampa und nicht in einem Industriepark gemacht hätte.«

Nadine verzieht das Gesicht. »Der schon beinahe mal für seinen giftigen Abwasserschlamm für staatliche Sondermittel in Frage gekommen wäre. Was hast du in deinem Artikel ausgelassen?«

»Hauptsächlich Bucks Hartnäckigkeit. Vor etwa dreißig Jahren haben ihn ein paar kleine Hinweise auf die Idee gebracht, dass es hier in der Nähe eine uralte Zivilisation gegeben haben könnte, die lange vor den bekannten Stämmen existierte. Die Indianer, für die wir berühmt sind – vor allem die Natchez –, sind relativ spät aufgetaucht. Sie sind faszinierend, weil sie Sonnenanbeter waren, Mais angebaut und Erdhügel angelegt haben, genau wie die Maya. Buck hat sich seinerzeit einen Namen gemacht, indem er ihre Verstrickung mit den Franzosen und den Engländern beim Sklavenhandel dokumentierte.«

»Die Indianer waren in den Sklavenhandel verstrickt?«

»Und wie. Jedenfalls wurde die Galvanisierfabrik, die früher auf dem Gelände für die Papierfabrik stand, im Zweiten Weltkrieg erbaut. Buck hatte Gerüchte gehört, dass die Bauarbeiter mit ihren Bulldozern jeden Tag irgendwelche Gegenstände ans Tageslicht befördert hatten. Er hat ein paar von den Alten aufgespürt, hat sich die Gegenstände angesehen, die sie ihren Kindern geschenkt hatten. Aber es war alles aus einer späteren Zeit – zwischen 1500 und 1730. Viele andere hätten da aufgegeben, aber Buck hatte Beschreibungen des Geländes gesehen, die sogar noch vor seiner landwirtschaftlichen Nutzung entstanden waren. Ehe das Land im frühen 19. Jahrhundert von Tabak- und Baumwollfarmern umgepflügt wurde, hat es dort angeblich Halbkreise gegeben – erhabene konzentrische Ringe, die zum Fluss hingingen, vielleicht an einer älteren Schleife, wo der Fluss früher verlief. Genauso ist Poverty Point ausgerichtet.«

»Ich erinnere mich.« Nadine nickt und lächelt, als erlebte sie erneut das Picknick ihrer Kindheit. »Das konnte Buck aber nicht beweisen?«

»Nein. Den größten Teil des Geländes rings um die Fabrik hatte man planiert und asphaltiert. Das Unternehmen hat ihm stets die Genehmigung verweigert, dort zu graben, sogar in den Randbereichen – und Buck hatte so viel mit anderen Projekten zu tun, dass er es einfach hinnahm.«

Nadine nippt an ihrem Tee. »Was hat ihn dann plötzlich dazu gebracht, diesen Monat auf dem Gelände zu graben? Dass er diese geheimnisvolle Landkarte gefunden hat?«

»Ja. Dazu habe ich mich in dem Artikel sehr vage ausgedrückt, weil der Mann, der sie gefunden hat, nicht namentlich erwähnt werden wollte.«

Nadine wirft mir einen Blick zu, der mich wissen lässt, dass sie fest damit rechnet, von mir ins Vertrauen gezogen zu werden. Als ich zögere, sagt sie: »Das kommt in den Tresor.«

»Okay. Vor sechs Wochen – als der Bezirk gerade damit angefangen hat, die alte Fabrik abzureißen, weil man damit rechnete, dass der Deal mit den Chinesen klappen würde – hat der alte Bob Mortimer, der Antiquitätenhändler, einige Bücher vom Dachboden eines Hauses aus der Zeit vor dem Sezessionskrieg reinbekommen. In einem hat er zusammengefaltete Papiere entdeckt. Drei der Blätter waren Landkarten aus dem frühen 19. Jahrhundert, die ein Typ namens Benjamin L.C. Wailes gezeichnet hatte.«

»Der berühmte Historiker, den du in deinem Artikel erwähnst?«

»Genau. Der erste Geologe in diesem Teil des Staates Mississippi. Wailes’ Landkarten sind in dieser Gegend so was wie die Bibel für Archäologen.«

»Und was genau war auf dieser neuen Karte zu sehen? Erdhügel von Indianern?«

»Ja, aber auch die halbkreisförmigen Wälle, von denen Buck gehört hatte. Plus ein paar Mulden, die Pfostenlöcher sein könnten, wie bei den Maya-Stelen. Holzpfosten, die zu einem Woodhenge, einem riesigen Kreis für astronomische Beobachtungen, angeordnet waren.«

»Wie in Stonehenge?«

»Genau so. Oder wie in Cahokia, einer ähnlichen Stätte oben in Illinois. Jedenfalls hatte Buck, sobald er die Karte gesehen hatte, sofort eine intuitive Vorstellung von der Geschichte dieses Ortes. Er glaubte, mehrere Stämme hätten nacheinander über den ursprünglichen Erdhügeln der ersten neolithischen Kultur gebaut, weil die Lage so hervorragend war. Und nachdem er die Karte von Wailes gesehen hatte, konnte ihn nichts mehr vom Graben abhalten.«

»Und vor einer Woche war der Bezirk praktischerweise gerade mit dem Abriss der alten Fabrik fertig. Einschließlich des Parkplatzes, stimmt’s?«

»Genau. Natürlich wollte ihm niemand die offizielle Erlaubnis erteilen, dort zu graben. Die Chinesen werden das auch nicht tun, sobald einmal alle Formalitäten erledigt sind.«

»Und schon bald steht eine Papierfabrik für eine Milliarde Dollar drauf. Also hat er eine Guerilla-Grabung gemacht.« Nadine lächelt voller liebevoller Bewunderung. »Und wer hat die Kaution gestellt, damit er aus dem Gefängnis rauskam? Ich tippe auf dich.«

»Ich hätte ihn da drin lassen sollen. Dann wäre er vielleicht noch am Leben.«

Sie nippt an ihrem Tee und schaut kurz zu den französischen Touristen hinüber. »Und warum ist der Staat nicht auf den Plan getreten und hat das Gelände abgesperrt?«

»Normalerweise würden sie das tun. Aber diese Fabrik – plus die Interstate und die neue Brücke, die hinführt – wird den gesamten Südwesten des Staates Mississippi verändern. Es ist so wie die Nissan-Fabrik in Canton. Verdammt, in einer Stunde segnet der Gouverneur da draußen den Boden. Sie fliegen sogar Trumps Wirtschaftsminister für den Fototermin ein, Herrgott noch mal. In einer idealen Welt hätte die staatliche Denkmalschutzbehörde das Gelände gestern abgesperrt, wenn nicht schon am Wochenende. Bucks Argumente waren sehr eindrucksvoll. Wie ich in meinem Artikel geschrieben habe, glauben viele Archäologen, dass Poverty Point eine Kultur war, die vor der Keramikkultur bestand. Dass die Menschen, die dort gebaut haben, nur behauene Steinschalen benutzt haben, die sie von anderen Stämmen bezogen. Doch die Keramikscherben, die Buck gefunden hat, stützen die Theorie, dass Poverty Point das ursprüngliche Zentrum der Keramikherstellung am Unterlauf des Mississippi war. Bei den Fragmenten, die er ausgegraben hat, war dem Ton keine Magerung zugesetzt worden. Er hat auch durchbohrte Perlen gefunden, die zu den in Poverty Point gefundenen Artefakten passen, und etwas, das sich Pontchartrain-Projektil nennt. Er hatte keinerlei Zweifel darüber, was er da entdeckt hatte. Aber es ist den anderen gelungen, einen Haufen Akademiker anzuheuern, die seiner Aussage widersprechen. Also: Die Denkmalschutzbehörde hat zwar vielleicht rechtlich gesehen die Kompetenz, in dieser Situation zu handeln, aber wir leben in der Wirklichkeit.«

Nadine lacht. »Du nennst Mississippi die Wirklichkeit?«

»Leider ja. Das Einzige, was diese Situation noch ändern könnte, sind Knochen. Und nach denen hat sich Buck letzte Nacht auf die Suche gemacht.«

Sie blickt mich verwirrt an. »Ich dachte, Buck ist im Fluss gestorben?«

Ich schüttele den Kopf. »Quinn hat mir erzählt, dass er gestern Abend wieder zum Fabrikgelände gegangen ist.«

»Du meinst, er ist da umgebracht und dann flussaufwärts reingeworfen worden?«

»Wir haben vor einer halben Stunde seinen Pick-up bei Lafitte’s Den gefunden.«

»Wir?«

»Denny Allmann. Mein Drohnenpilot.«

Nadine schüttelt den Kopf. »Den Jungen kenne ich. Liest Bücher weit über dem Niveau seines Alters.« Die Glocke an der Ladentür klingelt, aber Nadine schaut nur kurz in diese Richtung. »Wer hätte denn Buck auf dem Fabrikgelände ertappen können? Es gibt da draußen keine Laternen mehr, oder? Das ist doch schlimmer als die ägyptische Finsternis.«

»In der Nacht, nachdem ich meinen Artikel über Buck gebracht hatte, hat jemand da draußen Wachen aufgestellt. Die patrouillieren die ganze Nacht.«

»Wer?«

»Vielleicht die Chinesen. Vielleicht der Bezirk. Ich weiß es noch nicht.«

»Du glaubst, Sicherheitsleute haben ihn umgebracht?«

Ich zucke mit den Achseln. »Scheint mir unwahrscheinlich und riskant, aber wer weiß? Das könnte erklären, warum man die Leiche fortgeschafft hat. Wachleute auf dem Fabrikgelände hätten sonst erklären müssen, wie er ums Leben gekommen ist.«

Nadine spitzt die Lippen, denkt über alles nach, was ich ihr erzählt habe. »Sag mir noch, warum ein Knochenfund so viel ändern würde.«

Ich will ihr gerade antworten, als ein kleiner Mann, der Mantel und Schlips trägt, zu uns in die Nische tritt. Er ist um die sechzig, hält einen Roman von James Patterson in der Hand und starrt mich intensiv an. Er kommt mir seltsam vertraut vor (wie Hunderte von anderen Leuten, die ich seit meiner Rückkehr gesehen habe), aber ich kann ihn nicht einordnen. Nadine sagt: »Hallo, Dr. Bortles.«

Er lächelt ihr schmallippig zu, hat die Augen weiter auf mich gerichtet. »Erinnern Sie sich an mich, McEwan?«

»Klar«, antworte ich ihm und zermartere mir das Hirn. »Sie sind der … Zahnarzt, nicht?«

»Kieferorthopäde. Ich bin hergekommen, weil ich sehr betrübt war, als ich Ihren Artikel über Buck Ferris’ jüngste Grabungen beim Fluss gelesen habe.«

O Mann. Jetzt kommt’s. »Der Watchman druckt Nachrichten, Dr. Bortles.«

Er feixt. »In diesem Fall schlechte Nachrichten.«

»Das könnte man bestreiten. Aber selbst wenn Sie recht haben, was schlagen Sie vor? Ich soll keine schlechten Nachrichten mehr drucken?«

Er zieht ein säuerliches Gesicht, als sei er gezwungen, sich mit einem Idioten zu unterhalten. »Wissen Sie, Sie tun sich leicht, das hier aufzurühren. Sie leben nicht mehr hier, nicht richtig. Sobald Ihr Vater verstorben ist, gehen Sie nach Washington zurück und verbringen Ihre Abende damit, den Leuten im Fernsehen zu erzählen, wie schlau Sie sind. Was kümmert es Sie, ob diese Stadt völlig austrocknet und vom Wind verweht wird?«

»Es kümmert mich zufällig sehr.«

»Dann hören Sie auf, Artikel über diesen Verrückten Buck Ferris und seine Indianer zu bringen. Wenn Sie damit weitermachen, können Sie bald diese Stadt Poverty Point nennen. Dann hat hier niemand mehr einen Job, der mehr als den Mindestlohn einbringt.«

Wut flammt in mir auf, aber ich zwinge mich, sitzen zu bleiben. Ich schaue mir den Mann näher an, die pingelig über die Glatze gekämmten Haare, die Spuren von Schönheitschirurgie an den Augen, die Apple-Uhr mit dem Fünftausend-Dollar-Armband. »Buck Ferris war nicht verrückt«, entgegne ich ihm. »Aber wegen Buck brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Jemand hat ihn umgebracht.«

Schock lässt das Gesicht des Kieferorthopäden erbleichen. »Was?«

»Das Nächste, was ich über Buck Ferris drucke, ist ein Nachruf.«

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