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Vitamin L wie Liebe

hier erhältlich:

Das ist er, ihr Mr. Perfekt! Marius ist sexy, sportlich, und sein Lächeln macht Charley schwach. Nichts wie ran an den Mann! Ihre Strategie: Jeden Tag stellt sie einen Obstkorb aus ihrem Laden vor die Tür von Good Dog, wo Marius anscheinend als Hundesitter arbeitet. Doch der verflixte Kerl bedankt sich nicht mal ...


  • Erscheinungstag: 30.11.2023
  • Seitenanzahl: 124
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745753851
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Schwungvoll bog Charley Meller um die Ecke. Hinter ihr lag der Kurfürstendamm mit seinem morgendlichen Straßenlärm, aber hier, in der Seitenstraße, war es deutlich ruhiger.

Charley ging mit raschen Schritten. Ihre blonden Locken, die sich wie immer erfolgreich jeder Bändigung widersetzten, wippten in wilden Ringeln auf den schmalen Schultern. Mit voller Absicht hatte sie heute ihr Lieblingsoutfit gewählt: Wenn sie diese rote Jacke, diesen bunten Rock, diese roten Wildlederstiefeletten anhatte, dann drehten sich die Männer nach ihr um. Und genau das war es, was ihr Ego brauchte! Die Sache mit Jens war endgültig vorbei, und wie bei den Sträuchern und den Bäumen, die in frischem Grün ausschlugen, war auch in ihrem Herzen der Frühling eingezogen. Das Eis war definitiv geschmolzen.

Die Berliner Luft prickelte wie Champagner mit einem leichten Beigeschmack von Abgasen. Charley blieb stehen und atmete tief ein. Genießerisch schloss sie für einen Moment die Augen. Sie konnte praktisch spüren, wie jede ihrer blassen Sommersprossen zum Leben erwachte. Kaum jedoch hatte sie ihre Wimpern gesenkt, tippte ihr jemand von hinten auf den Rücken. „Hey, Charley!“

Sie blinzelte kurz, wirbelte dann herum und stand Lilly gegenüber. „Lilly! Wo kommst du denn her? Ich dachte, du kommst heute später in den Laden! Und warum bist du überhaupt zu Fuß unterwegs? Wo ist der Lieferwagen?“ In einem Anfall von unternehmerischem Größenwahn hatte sie Lilly vor einem halben Jahr fest in ihrer Obst- und Gemüseboutique Das Obstkörbchen angestellt. Das Risiko war ein Riesenerfolg geworden: Inzwischen konnte sie sich den Geschäftsalltag ohne die Freundin nicht mehr vorstellen.

Lilly, die ihr dunkles, langes Haar zu einem lockeren Knoten hochgesteckt und mit zwei chinesischen Essstäbchen befestigt hatte, lachte sie mit blitzenden dunkelbraunen Augen an. „So viele Fragen so früh am Morgen! Zu Fuß bin ich heute, weil der Wagen bei mir zu Hause vor der Tür steht. Ich war gestern Abend mit Kilian verabredet. Und …“, sie beugte sich vor, sodass nur Charley und kein neugieriger Passant hören konnte, was sie sagte, „… ich habe nicht zu Hause geschlafen! Es war die Nacht der Nächte! Ich war bei Kilian! Aber er musste heute früher zur Uni, und an einem so traumhaften Morgen konnte ich es einfach nicht mehr allein aushalten. Kaum war er weg, bin ich auch losgegangen, hierher, zu dir, weil ich es einfach jemandem erzählen muss – ich bin so verliebt!“

Sie rief das Bekenntnis in den frühen Maitag hinaus, riss die Arme dabei hoch, und eine Sekunde lang war Charley überzeugt, dass ihre Freundin abheben und in den blauen Himmel entschweben würde. Was Lilly aber glücklicherweise nicht tat. Stattdessen erzählte sie weiter.

„Gestern waren wir im ‚Razzmatazz‘, einem zauberhaften Restaurant in Kreuzberg. Alles vegetarisch, alles toll gewürzt!“, schwärmte sie und hakte sich bei Charley ein. Gemeinsam liefen sie weiter ihrem Ziel entgegen, das am hintersten Ende der Straße lag. Nach den ersten Metern mit Lilly am Arm schnupperte Charley: In der Tat, das Essen musste würzig gewesen sein – im blumigen Parfümduft der Freundin konnte sie deutlich Knoblauch ausmachen.

„Zauberhaft“ war zurzeit Lillys Lieblingswort, was wahrscheinlich damit zu tun hatte, vermutete Charley, dass Kilian zwar tagsüber BWL studierte, abends jedoch als Zauberkünstler in einem Varieté jobbte. Und nebenbei hatte er das Herz ihrer Freundin mir nichts, dir nichts verzaubert. Seit einigen Wochen drehten sich Lillys Gespräche hauptsächlich um Kilian hier, Kilian da, und nun hatte sie endlich mit ihm die lang ersehnte, leidenschaftliche Liebesnacht verbracht.

Charley schluckte. Sicher, sie gönnte Lilly ihr Glück, bloß … sie wünschte sich auch mal wieder, so richtig ohne Wenn und Aber verliebt zu sein.

„Wird Simon nicht traurig sein, wenn er hört, dass du endgültig in festen Händen bist?“, fragte sie.

„Ach, Charley, das habe ich doch schon längst mit ihm geklärt“, meinte Lilly. „Er weiß, dass wir als Freunde toll, aber als Pärchen hoffnungslos wären. Er mag andere Musik als ich, andere Filme, andere Bücher, anderes Essen, hat andere Interessen. Kann ich alles tolerieren, wenn wir nicht zusammen sind. Aber als Partner … vergiss es. Stell dir mal vor, er will immer Steak, ich immer Gemüse. Er schaut Actionfilme, ich mag Comedys. Wie soll das denn funktionieren? Und Simon sieht es zum Glück genauso.“

Simon arbeitete auf dem Großmarkt. Seit Charley mit Lilly vor einem halben Jahr zum ersten Mal dorthin gefahren war, war er zu Lillys Dauerflirt geworden. Sie scherzten und schäkerten, dass sich die Balken der Gemüsekisten bogen. Und nicht nur das – Simon war auch überaus praktisch fürs Geschäft. Wann immer eine besonders erlesene Sendung eintrudelte, klingelte Lillys Handy, die sich dann in den kobaltblau gestrichenen Lieferwagen schwang und lossauste, um die fruchtige oder gemüsige Ware abzuholen. Besonders günstig daran war – und da waren sich Charley und Lilly völlig einig –, dass Simon ihnen die Kisten reservierte und sie nicht in aller Herrgottsfrühe hinfahren mussten, sondern erst einmal in Ruhe im Geschäft eine Latte macchiato trinken konnten, bevor es so richtig losging.

„Schau mal, da ist Aida. Huhu, Aida!“ Lilly winkte temperamentvoll einer hübschen blonden Frau mit streichholzkurzem Haar zu, die gerade die rot-weiß gestreifte Markise eines kleinen Geschäfts herunterkurbelte. Aida ließ die Kurbel los, winkte zurück und rief: „Guten Morgen, ihr beiden Hübschen! Ich wünsche euch einen prachtvollen Freitag!“

Sie waren an der kleinen Passage angekommen, die sie untereinander den „Weiber Walk“ nannten. Mit der Rückseite zu einem kleinen Park gelegen, öffneten sich die eingeschossigen Geschäfte zur Straße hin. Hier waren die Räumlichkeiten des Obstkörbchens, zusammen mit mehreren anderen Läden, die alle von Frauen betrieben wurden: Aidas Confiserie Süßes Wunder, in der sie nicht nur alles von Spekulatius über Geleekonfekt bis Pralinen verkaufte, sondern auch eigenhändig herstellte; Minuschs Dessousgeschäft French Kiss, in dem ausschließlich französische Dessous zu haben waren, von denen jedes einzelne auch oder gerade den härtesten Mann in die Knie zwingen konnte; Delilahs CD-Handlung Ohrenschmaus – Delilah spielte gerade Opernmusik, die sie so laut gedreht hatte, dass Charley und Lilly sie bis auf die Straße hören konnten. Dann gab es noch Ninas Bioseifenladen Saubere Sache. Und last not least Victorias Hutboutique Baron’s Best. Das Baron’s Best war noch geschlossen und würde es bis Montag auch bleiben: Victoria hatte ihnen gestern erzählt, dass sie zu einer Hutmesse nach Mailand fliegen würde, um für die nächste Saison einzukaufen.

„Aida hat echt Glück gehabt, dass das mit dem Vertrag im letzten Sommer geklappt hat“, sagte Lilly, während sie am Süßen Wunder vorbeigingen.

„Wir alle haben Glück gehabt, dass wir hier unsere Läden haben“, antwortete Charley. „Nicht auszudenken, wenn wir hier rausmüssten. So etwas finden wir nie wieder.“

„Warum sollte es jemals aufhören? Alle zahlen pünktlich die Miete an den alten Herrn Schluff, das ist doch schon mal gut! Da kann sich jeder Vermieter freuen“, meinte Lilly.

Der Weiber Walk, zentral gelegen und dank vieler Touristen mit guten Umsätzen gesegnet, war die letzte Bastion niedriger Mieten seitlich des Kurfürstendamms. Links und rechts von ihnen ragten hohe Geschäftshäuser empor, dazwischen aufwendig restaurierte Altbauten aus der Gründerzeit. Charley wusste, dass in diesen Luxusgebäuden kein Platz für die Erfüllung ihrer kleinen Geschäftsträume war. Dort gab es nur Büroräume für Gut-, Besser- und Bestverdienende wie Steuerberater, Rechtsanwälte, Ärzte mit Privatpatienten, Dependancen von internationalen Softwareunternehmen. Bei den Frauen des Weiber Walk dagegen floss das Geld nicht so reichlich. Jede Einzelne von ihnen war überglücklich gewesen, als sie den günstigen Mietvertrag unterschrieben hatte, und jede Einzelne wünschte sich, für immer und ewig hierzubleiben.

Charley schloss das Obstkörbchen auf, die kleine Glocke an der Tür bimmelte, als sie sie aufstieß, und nacheinander betraten sie das Geschäft. „Erst mal schnell die Ware raus. Wir sind heute spät dran“, sagte Lilly, und zusammen gingen sie in den Lagerraum, der hinter dem Verkaufsraum lag. „Machst du das Obst? Ich schnapp mir das Gemüse.“ Sie öffnete die Kühlzelle, in der sie über Nacht die verschiedenen Obst- und Gemüsesorten aufbewahrten: alles frisch, lecker und, wenn irgend möglich, aus biologischem Anbau.

„Heute müssen wir sehen, dass wir den grünen Spargel verkauft kriegen“, meinte Charley nach einem kritischen Blick in eines der Weidenkörbchen.

„Das ist kein Problem“, meinte Lilly und nahm einen Korb mit duftenden, orange-rosigen Aprikosen, um ihn nach vorne zu tragen. „Zum Wochenende hin geht der garantiert weg wie warme Semmeln. Da nehmen sich die Leute mehr Zeit zum Kochen …“ In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie stellte den Korb auf einem Regal ab, fischte das Telefon aus ihrer Tasche, checkte das Display und sagte: „Es ist Simon.“

„Wir brauchen erst wieder Montag was“, meinte Charley. Während sie die rote Samtjacke auszog und sich die große grüne Schürze, auf der das Logo des Obstkörbchen aufgestickt war – zwei dicke, rote Knupperkirschen –, umband, lauschte sie unfreiwillig dem Gespräch.

„Nein“, sagte Lilly gerade, „heute komme ich nicht vorbei. Rufst du Montag wieder an? Das wäre toll. Danke, Simon! Und, was hast du am Wochenende vor?“ Sie lauschte, dann wurden ihre Augen plötzlich groß und rund. „Ach, wirklich? Da wünsche ich dir aber viel Spaß! Und viel Erfolg! Tschüss!“

Sie beendete das Gespräch, sah Charley an und sagte: „Der Gute. Stell dir vor, er hat morgen Abend ein erstes Date mit der Tochter des Großmarktleiters! Sie schauen sich den neuen Kung-Fu-Streifen an, weil sie Karatemeisterin ist. Das klingt doch vielversprechend! Vielleicht ist das genau die Richtige für ihn. Er hat es echt verdient.“

„Super“, sagte Charley mit so viel Herzlichkeit in der Stimme, wie sie aufbringen konnte, während sie dachte: Wieder einer, der Glück hat. Was mach ich bloß falsch?

„Ich brauch erst mal eine Latte macchiato“, fuhr Lilly unbekümmert fort. „Du auch?“ Sie trat hinter den Tresen, wo nicht nur die Kasse stand, sondern vor allem ihre wunderschöne neue Espressomaschine, aus der auf Knopfdruck köstlicher Kaffee hervorsprudelte. Als sie Charley einen Becher zuschob, aus dem es appetitlich dampfte, fragte Lilly: „Wo waren wir stehen geblieben?“

„Beim Spargel.“

„Richtig. Also, wenn wir ihn heute oder morgen nicht loskriegen, nehme ich für Kilian und mich ein, zwei Kilo. Sagt man nicht, Spargel sei ein Aphrodisiakum?“ Ihre Augen leuchteten.

Schweigend, aber zu hastig nahm Charley einen Schluck aus ihrem Becher. Autsch! Der Kaffee war so heiß, dass sie sich prompt den Mund verbrannt hatte. Sie ließ den Becher wieder sinken.

„Lilly …“, sagte Charley und versuchte zu lächeln, was ihr aber gründlich misslang. Sie wollte den Kopf abwenden, damit Lilly ihre Betroffenheit nicht sah, aber es war zu spät.

„Charley!“, rief Lilly und knallte ihren Becher auf den nächsten Weidenkorb, der glücklicherweise leer war. Kein weißfleischiger Pfirsich aus Andalusien hätte diesen Aufprall ausgehalten. „Charley, oh Charley! Sorry, ich bin ja so ein Riesenkamel!“ Sie umarmte Charley. „Wie egoistisch ich bin! Ich hab ganz vergessen, dass die Sache mit Jens noch nicht so lange her ist. Kannst du dich deshalb nicht richtig für mich und Kilian freuen? Ist das der Grund?“

„Ich gönne dir das total“, murmelte Charley, „aber es ist ein bisschen so, wie wenn meine Seele einen Muskelkater hat. Weißt du, was ich meine?“

„Na klar! Aber Jens hat dich sowieso nicht verdient. Selbst wenn er nicht nach Chicago abgezogen wäre und sich dort gleich mit der Tochter des Chefs eingelassen hätte. Der hat dich für seine blöde Juristenkarriere einfach so sitzen gelassen. Das weißt du doch, Charley! Er war nicht der Richtige, wäre es niemals gewesen! Er hätte dir auf Dauer nur Unglück gebracht! Und ihr wart doch auch nur ein knappes Jahr zusammen, das ist ja nun nicht so lange.“

Charley schwieg. Zuerst spürte sie bei Erwähnung von Jens’ Namen noch ein bisschen Ärger, aber das bedeutete ja nur, dass die Zeit der Trauer wirklich vorbei war. Und während Lilly immer weiterredete, begann sie nach jedem Satz zu nicken. Erst zaghaft, dann energischer. Schließlich kam sie sich wie ein Wackeldackel vor, wie sie ihn manchmal auf den Ablagen in einigen Autos sah.

„Du bist bereit für den Nächsten, Charley! Es gibt so viele nette Männer, und schau dich an, du siehst so süß aus mit deiner blonden Pudelfrisur …“ Lilly hatte manchmal die Angewohnheit, Komplimente zu machen, die nicht wirklich wie Komplimente klangen, fand Charley, jetzt schon etwas amüsierter. „… du musst nur die Augen aufmachen! Wir sind in Berlin, da gibt es jede Menge Männer! Die Liebe kann an jeder Straßenkreuzung auf dich warten. Du kannst einen Autounfall haben, und peng! – der Mann im anderen Wagen ist die Liebe deines Lebens! Du kannst einen Kurzschluss haben, und der Elektriker ist dein Traummann! Du kannst dir den Magen verderben, und der Mann, der ihn dir auspumpt, ist derjenige, welcher! Du kannst mit dem Flugzeug abstürzen, und der Pilot ist …“

„Jetzt ist es aber gut“, sagte Charley und lachte. „Ich weiß, was du meinst, aber ich will nicht mit dem Flugzeug abstürzen, um die Liebe meines Lebens kennenzulernen! Dann lieber gar nicht.“

„Zugegeben, das war ein blödes Beispiel“, räumte Lilly grinsend ein. „Aber du weißt, was ich meine. Wir leben nur einmal, und obwohl nirgends geschrieben steht, dass wir nur einmal lieben, ist die Vorstellung, dass man den Richtigen trifft, schon toll, oder? Ich und Kilian zum Beispiel – oh nein! Jetzt fange ich schon wieder damit an!“, rief sie in gespielter Verzweiflung und warf die Arme nach hinten, wobei sie um ein Haar den Weidenkorb, in dem noch immer ihre erkaltende Latte stand, herunterriss. Hastig griff sie mit einer Hand nach dem Korb, mit der anderen nach ihrem Becher und nahm dann einen Schluck. „Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie der ultimative Mann für dich sein müsste?“

Charley begann langsam im Laden auf und ab zu gehen. „Meinst du, wie er aussehen sollte?“

„Nein“, erwiderte Lilly. „Obwohl das natürlich auch nicht ganz unwichtig ist. Ich meine, was er machen sollte, ob er forsch oder schüchtern sein sollte, so was eben. Was für ein Typ er sein müsste. Mich interessiert’s halt, ob du anspruchsvoll oder genügsam bist.“

Charley blieb stehen und überlegte einen Moment. Dann sagte sie: „Ich glaube, ich verlange nicht sehr viel. Lass mal sehen. Er sollte nicht besessen von seiner Karriere sein, so viel ist mir nach Jens wohl klar geworden. Selbst wenn das heißt, dass er nicht im Geld schwimmt. Aber er sollte an das, was er macht, glauben. Bei mir soll er forsch, bei anderen Frauen zurückhaltend sein. Und er soll Kinder und Tiere mögen, intelligent sein, gut kochen – am liebsten biologisch. Oh, und er muss viel Humor, Geist, Charme und Witz haben und total treu sein. Kunst muss er mögen, damit er mit meiner Malerei zurechtkommt.“ Malen war Charleys Hobby, solange sie denken konnte. Gerade in der ersten Zeit, nachdem der treulose Jens sang- und klanglos verschwunden war, hatte es ihr sehr geholfen.

Sie blickte einen Moment lang versonnen auf eine saftige grüne Schlangengurke. „Ja, ich glaube, das wär’s. Nein, halt, er muss auch absolut ehrlich sein. Lügen kann ich nicht ertragen. Und es wäre natürlich toll, wenn er gut im Bett wäre.“ Sie sah Lilly unsicher an, denn deren Gesicht war mit jeder weiteren Beschreibung düsterer geworden. „Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“

Bei den ersten Charakterzügen hatte Lilly noch gelächelt. Doch allmählich war das Lächeln verschwunden, und nun blickte sie ihre beste Freundin stirnrunzelnd an.

„Was ist?“, fragte Charley unruhig. „Warum guckst du so?“

Lilly seufzte, setzte den Becher ab, ging zu dem Haken neben der Kasse, an dem auch ihre Schürze hing, nahm sie und hängte sie sich um. Sorgfältig zog sie die Bänder um ihre schmale Taille und band sich auf dem Bauch eine große dekorative Schleife. Dann sah sie auf, und obwohl Charley wusste, dass Lilly eine großartige Schauspielerin war, sah sie auch, dass sie wirklich etwas besorgt aussah. „Süße, darf ich ehrlich zu dir sein? Brutal und ungeschönt?“, fragte Lilly.

„Natürlich! Wenn du nicht, wer dann?“

„Was du mir eben beschrieben hast, ist kein Mann!“

„Ach nein? Warum nicht?“

„Weil das ein perfektes Wesen ist, jemand, der noch nicht entworfen ist, den es noch nicht gibt. Um so jemanden zu finden, müssen die Wissenschaftler einen Gencocktail aus den tollsten Männern der Welt erstellen. Sie müssen George Clooney, Justin Timberlake, Prinz William, Tim Mälzer und noch ein paar andere auftreiben. Sie müssen sie überzeugen, ihnen ein paar Körperzellen zu überlassen. Daraus synthetisieren sie das Erbmaterial und machen dann ein Retortenbaby. Und wenn es dann das Licht der Welt erblickt hat und später in zeugungsfähiges Alter gekommen ist, dann werden sie den Kerl klonen. Milliarden Mal. Und somit die Gebete aller Frauen weltweit erhören. Auch deins.“ Lilly nickte zuversichtlich. „Aber bis dahin, meine liebe Charley, müssen wir uns noch gedulden und mit den Männern vorliebnehmen, wie sie hier und jetzt auf der Welt herumlaufen.“

„Du meinst – solche Männer gibt es nicht?“, fragte Charley leise.

„Genau.“

„Und Kilian? Ich dachte, der ist so einer!“

„Kilian? Er ist süß, sexy, nett und vieles mehr. Aber von perfekt ist er so weit entfernt wie … wie … wie eine Litschi vom Nordpol.“

„Ach was.“

„Ja, ach was. Aber komm, verzage nicht, das Suchen nach Mr Perfekt macht schließlich auch Spaß! Der Weg ist das Ziel.“ Lilly wollte noch viel mehr sagen, doch als sie Charleys Blick sah, unterbrach sie sich. „Was ist denn jetzt schon wieder? Hallo? Hallo? Erde an Charley! Erde an Charley!“

Aber Charley hörte sie gar nicht, denn sie starrte wie hypnotisiert aus dem Fenster. Und weil sie neugierig war, woran es lag, dass Charley diesen seltsamen Gesichtsausdruck hatte, drehte sie sich ebenfalls herum, sodass sie auf die Straße schauen konnte. Ein Blick reichte, und sie verstand.

„Siehst du“, sagte Lilly zuversichtlich. „So einen Mann meine ich, wie der da drüben. Er sieht nett aus, er ist sportlich, weil er mit dem Fahrrad unterwegs ist, auch wenn er es jetzt gerade aufpumpen muss – oh! Und einen hübschen Hintern hat er auch, schau doch nur, jetzt bückt er sich, um die Luftpumpe herauszunehmen. Sehr hübsch.“ Sie fuhr sich mit ihrer rosa Zunge über die Lippen.

„Er ist auch nett zu Kindern“, sagte Charley verträumt, während sie und Lilly Seite an Seite standen und weiter beobachteten. Denn in diesem Moment kam ein kleines Mädchen aus dem Park gerannt und jagte einem pinkfarbenen Flummi hinterher. Mit einer eleganten Bewegung machte der Mann einen Ausfallschritt, stoppte den Ball, hob ihn auf und reichte ihn dem Mädchen, das ihn anlachte und wegging. Er fuhr sich lässig durch die Haare, die ihm in die Stirn gefallen waren. Dann hielt er sich die Hand unter die Nase, schloss die Augen und nieste. Schließlich wandte er sich erneut seinem Fahrrad zu. Als er den Vorderreifen fertig aufgepumpt hatte, verstaute er die Pumpe, klopfte sich mit einer Hand das Knie seiner Hose sauber und schwang sich wieder aufs Rad. Genau in dem Moment, als er am Obstkörbchen vorbeikam, warf er einen Blick hinein. Er sah die beiden Frauen Seite an Seite hinter der Scheibe stehen und lächelte kurz.

Es war ein Lächeln, das Eis zum Schmelzen bringen konnte, fand Charley. Einen Moment lang war er so nah, dass sie ihm genau ins Gesicht schauen konnte. Er sah sehr sympathisch aus. Nein, mehr als sympathisch. Großartig. Fantastisch. Zum Verlieben.

„Siehst du, Charley? Dieser Typ ist der lebende Beweis: Es gibt jede Menge netter Männer“, meinte Lilly resolut und wandte sich ab. „So einen ähnlichen wie den da draußen wirst du schon finden. Du bist bereit für einen neuen Start in eine Beziehung, bereit für eine tolle Affäre, ich weiß es genau! Und jetzt los, wir müssen den Laden öffnen. Gleich kommt garantiert der erste Trupp Touris, die was Gutes für sich tun wollen, vitamintechnisch gesprochen. Der Obstsalat muss gemacht werden, der Saft gepresst, die Körbchen zum Liefern zusammengestellt.“

Charley schaute dem Fahrradfahrer hinterher, der die Meinekestraße bis zur nächsten Ecke entlangfuhr und dann um die Ecke bog. Sie dachte an sein Lächeln, und ihr wurde warm ums Herz.

„Nein“, sagte sie leise. „So einen ähnlichen will ich nicht. Ich will genau den. Den und keinen anderen.“ Aber sie sprach so leise, dass Lilly, die mittlerweile hinten im Laden die Saftpresse hervorholte und nach dem scharfen Obstschneidemesser suchte, sie nicht hören konnte.

2. KAPITEL

„Achtung, er kommt! Er kommt! Heute ist er durch den Park geradelt! Duck dich, schnell!“, sagte Lilly.

Charley tauchte hinter dem Regal mit den ersten Freiland-Bioerdbeeren aus der Mark Brandenburg ab. Sie hockte auf der Erde und griff nach dem Fernglas, das neben ihr hinterm Tresen stand. Selbst wenn der Radfahrer, der gleich vorbeifahren würde, ins Geschäft schaute, würde er nur Lilly sehen, nicht aber sie. Hastig hängte sie sich das Glas um und stellte es scharf ein, gerade noch rechtzeitig: In diesem Moment fuhr er vorbei.

Langsam verfolgte Charley mit dem Feldstecher seine Fahrt von links nach rechts. Sie hielt den Atem an und blickte so konzentriert auf seine Bewegungen, dass sie kaum zu blinzeln wagte.

„Und, kannst du heute etwas erkennen?“, fragte Lilly gespannt.

„Nein … nein … warte mal, ja! Jetzt sehe ich seine Hände genau!“, sagte Charley triumphierend. Nun war er vorbei, und sie ließ das Glas sinken. „Das war’s! Endlich! Er fuhr dichter als sonst! Er trägt keinen Ehering! Das heißt: Er ist höchstwahrscheinlich nicht verheiratet!“

„Super“, sagte Lilly zufrieden. „Dann ist morgen der ideale Zeitpunkt für den dritten Teil des Plans. Warte, ich rufe gleich mal Simon an.“ Sie griff nach dem Telefon und wählte seine Nummer auf dem Großmarkt. Während sie wartete, dass er abnahm, spielte sie gedankenverloren mit einem kleinen Block, der seit einigen Tagen neben der Kasse lag. Darauf hatten sie und Charley notiert:

1. Ring?

2. Wenn ja: versuchen, ihn zu vergessen. Wenn nein:

3. Obststrategie/Kiste

4. ????

Seit Charley den Radfahrer am letzten Freitag zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Am Montag- und Dienstagmorgen hatte sie sich so unauffällig wie möglich dicht am Schaufenster aufgehalten, um den besten Blick auf ihn zu haben. Mit Herzklopfen hatte sie den kurzen Moment erwartet, in dem er auf dem Rad auftauchte, und war jedes Mal enttäuscht, wenn dieser Moment viel zu schnell vorbei war. Abends schien er einen anderen Weg zu nehmen, denn noch nie hatte sie ihn aus der anderen Richtung radeln sehen.

Und noch nie hatte sie so lichterloh für jemanden gebrannt, mit dem sie kein einziges Wort gewechselt hatte! Wie konnte sie ihn nur kennenlernen? Warum hielt er nicht mal an und kaufte sich ein bisschen Obst? Ein paar Extravitamine würden ihm sicher guttun, denn er schien eine dicke Erkältung zu haben: Kein Tag verging, an dem er auf der Strecke vor ihrem Laden nicht mindestens einmal nieste. Vielleicht war bei ihm eine Sommergrippe im Anmarsch?

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