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Wann hat das Konzept der Grenze eigentlich sein letztes Update erhalten?

Als Buch hier erhältlich:

Dieses Buch enthält Meinung, Wut und andere Nebenwirkungen. Und das weltbeste Rezept für Borschtsch.

Als die ersten Ukrainer:innen nach Deutschland kommen, auf der Flucht vor dem Krieg und der Zerstörung, die das russische Nachbarland über sie gebracht hat, weiß Bianca, sie muss etwas tun. Als Kind polnischer Eltern, die 89 vor dem Sozialismus flohen und in Deutschland eine neue Heimat fanden, fühlt sie sich in der Pflicht.
Und so stellt sie das unbesetzte Zimmer in ihrer Wohnung zur Verfügung und hat ab sofort eine ukrainische Mitbewohnerin, Ana. Doch der Start der beiden Frauen ist nicht leicht, die Verständigung schwierig, das Erlebte zu belastend, die Situation ungewiss. Die Küche wird zum neuen Mittelpunkt der WG, hier am Tisch nähern sie sich an, diskutieren, trinken Wein, kochen und finden erste Gemeinsamkeiten. Und so werden aus Fremden, Bekannte und schließlich Freundinnen; auch wenn eine Frage bleibt: Was bringt die Zukunft?


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003190

Leseprobe

»Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.«

HANNAH ARENDT

»Hey Gewissen – bin ich tot?«

DORIE IN FINDET NEMO

25. März 2022, Tag 30

Für die Anmeldung ihres Termins in der Ausländerbehörde am Freitag sehe ich zum ersten Mal ihren Pass. Nicht nur, dass sie drei Namen hat, jetzt ist sie auch noch fünf Jahre älter, als sie gesagt hat. Meine neue Mitbewohnerin ist eine Geheimagentin. Oder Spiderwoman. Oder ich habe meine Erklärung dafür, warum sie ukrainische Frauen als zu abhängig von ihrer Außenwirkung durchschaut. Man erkennt in anderen Menschen die Macken und Märchen, die Stärken und Schwächen als Erstes, mit denen man selbst durchs Leben geht.

Nach dem Herumplagen mit Anmeldeformularen und Infobroschüren lesen wir gemeinsam die Nachrichten, was fast die Sehnsucht nach dem vorhergegangenen Beamtendeutsch in mir weckt. Die russische Armee kommt vor Kyiv* weiterhin nicht voran, zur Abwechslung wirft sie jetzt Bomben auf Wohnhäuser und Einkaufszentren. »Schau mal«, sagt Ann, Anna, Hanna, Ganna oder wie auch immer sie heißen mag, auf Englisch und zeigt mir ein Foto auf ihrem Handy. Schwarze Rauchschwaden, dunkelgraue Betonwüste. »Das ist ein Fitnessstudio in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kyiv. Gar nicht lange her, dass ich mal da war.«

In Russland sind Facebook und Instagram seit heute Nachmittag verboten. Good job, Putin. Den Wahnsinn hast du im Griff. Oder er dich. Währenddessen sind sich im Rest der Welt alle einig. Es hängen keine Friedensflaggen von den Balkonen, alle bekennen Blau-Gelb.

25. Februar 2022, Tag 2

»Wenn sie erst mal hier sind, werden sie bleiben.« Meine Mutter weiß, wovon sie spricht. Sie ist auch gekommen, um zu bleiben. »Millionen Menschen aus der Ukraine werden fliehen. Und auch wenn viele Familie in Polen haben, bei der sie unterkommen – Deutschland ist ein attraktives Ziel.«

»Es klingt komisch, wenn du das so sagst, Mama.« Ich bereue bereits, auf dem Weg zur Arbeit noch mal haltgemacht zu haben. Offiziell, um meine Tupperdosen, inoffiziell, um mir eine Umarmung abzuholen.

Gestern, am 24. Februar 2022, startete Putin seinen Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen den souveränen Nachbarstaat Ukraine. An diesem Tag stand ich am Set eines Weihnachtsfilms und drehte 43-mal dieselbe Glühbirne in ein Gewinde. »Cut! Noch mal auf Anfang – und bitte.«

Während Menschen zu verstehen versuchten, was der Kreml-Chef und sein unberechenbares Ego planen, wiederholte ich die immer gleichen drei Zeilen, die jemand anderes für mich geschrieben hat. Genauso, wie gerade unzählige Menschen in einem Krieg sterben, den jemand anderes für sie begonnen hat. Während Menschen aus der Ukraine flohen, kehrte ich, vom Set-Fahrer chauffiert, in meine beheizte, mit Fotos und Mamas Kissen ausstaffierte Zweizimmerwohnung zurück.

Besagter Set-Fahrer steht in zehn Minuten vor der Tür meiner Eltern, um mich für den heutigen Drehtag abzuholen.

»Wovor hast du denn Angst?« Ich werde es bereuen, dass ich Mama diese Frage stelle, anstatt das RTL-Morgenmagazin lauter zu stellen. Selbst da sprechen sie zur Abwechslung nicht über die Royals, sondern über Ukraine–Russland. »Noch wissen wir nicht, wie viele Menschen fliehen und …«

»Ich habe nichts gegen sie, solange sie sich benehmen.«

26. März 2022, Tag 31

Anna: »Viele Menschen aus Syrien leben hier, stimmt das? Wie benehmen die sich?«

Ich: »Das kann ich, ehrlich gesagt, nicht beantworten, weil ich kaum Berührungspunkte mit ihnen habe. Habt ihr keine Syrerinnen und Syrer in der Ukraine?«

Anna: »Doch, doch. Auch Doktoren aus arabischen Ländern. Aber hier leben viel mehr, denke ich. Hast du manchmal Angst?«

Ich: »Wovor sollte ich denn Angst haben?«

Sie zuckt mit den Schultern.

Ich: »Weißt du, ich finde, dass Deutschland nicht immer gut mit Menschen umgeht, die hier einwandern wollen oder müssen.« Das Wort »Souveränität« eignet sich ganz wundervoll, um staatliche Verantwortungslosigkeit zu verschleiern. Deutschlands Anspruch an Souveränität sollte nicht im Schutz des Inneren durch Abschottung zum selbst definierten Äußeren bestehen, sondern im Schutz der Menschlichkeit. Doch wenn Menschen ins Land gelassen werden, dann ausgewählt und um unterbezahlt zu arbeiten. Dennoch wurden die vornehmlich aus Syrien stammenden Geflüchteten während unserer letzten großen Flüchtlingskrise (Begriffsekel) nicht ganz so herzlich aufgenommen.

»2015 war hier eine ganz andere Stimmung«, fasse ich zusammen.

»2015?« Anna hebt fragend die Augenbrauen.

»Wir hatten eine große Krise.«

»Krise?«

»Ich meine … ehm, viele Geflohene, viele Menschen sind nach Deutschland gezogen. Und einige Deutsche hatten davor Angst.«

Schweigen.

Anna: »Es leben auch viele Homosexuelle in Berlin. Und Türken, Asiaten und so. Wie in einem Netflixfilm.«

»Du erinnerst mich irgendwie an meine Eltern …«

»Es ist ja nicht so, dass ich sie nicht mag!«

»Ja, ich weiß. Ich habe nur das Gefühl, dass die jüngeren Generationen von Berliner:innen mehr daran gewöhnt sind, Menschen aus anderen Ländern zu sehen.«

26. Februar 2022, Tag 3

Zwei Taxifahrer winken mir zu. Rechts Bierbauch, blond, blass, biodeutsch. Links Bierbauch, buschige Brauen, sonnengeküsst, Türkeitrikot. Intuitiv richten sich meine Zehenspitzen rechtsbündig aus. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich leider noch nicht, wie rechts.

Nach fünf Minuten Fahrt bitte ich den Taxifahrer, das Radio lauter zu drehen, um die Nachrichten besser verstehen zu können. Egal, ob Politik-, Kultur- oder Sportteil, es geht um den Krieg.

»Sehen Se ma.« Der Taxifahrer deutet mit dem Wurstfinger auf den Lautsprecher. Im Gegensatz zum Fahrzeug nimmt das Gespräch eine unerwartete Wendung. »Jetzt komm se wieder alle. Die lügen doch, wenn se behaupten, am Ende wieder zurückzuwolln.«

Leider ist er trotz FFP2-Maske gut zu verstehen. Und leider, leider fehlen mir die Gegenargumente. Nicht, weil es sie nicht gibt, sondern weil ich sie zu wenig geschärft habe. In meiner Bubble bin ich solchen Meinungen nicht ausgesetzt. »Haben wir mit den Syrern und Afghanen und wat weeß ick nich allet doch jesehen.« Der Mann scheint gern mehrere Themen auf einmal abzufrühstücken und keines davon richtig. Schade, dass die rote Ampel, an der wir halten, nicht für sein Gerede gilt. »Aber schon interessant, datt jetzt nur Frauen und Kinder anreisen.« Das Wort »Anreise« hat in diesem Kontext so viel verloren wie Logik in seiner Argumentation. »Von da unten sind’s ja viel mehr Männer, die kommen und dann behaupten, Familie nachzuholen. Haha. Suchen sich hier ’ne neue Ische und vergessen Frauen und Kinder.«

Eigentlich muss ich mich darauf gar nicht einlassen, ich werde den Taxifahrer ohnehin nicht bekehren können. Es ist auch nicht mein Job. Ich sollte um einen anderen Radiosender bitten, einen, in dem einfach nur Musik läuft.

»Ich sehe das anders«, antworte ich. »Erstens ist so eine Reise gefährlich, und vielleicht wollen die Männer ihre Frauen und Kinder der Gefahr nicht aussetzen, zweitens flüchten sie vor dem Einsatz im Krieg, der …«

»Im Krieg lebt man nich, im Krieg stirbt man.«

»Eben.«

»Wir ham ’39 wenigstens noch richtig jekämpft.«

»Wir?«

»Unsere Väter. Dit war’n richtige Männer.« Der Taxifahrer bedient den Schaltknüppel so energisch, als stellte er sich vor, es sei meine Gurgel.

»Wat da ausm Süden kommt, ist kriminell. So is dit nämlich.«

»Also, ich finde nicht, dass man das so …«

»Wir können doch nich die janze Welt uffnehmen!« Das Gespräch wird nicht besser, dem Taxifahrer gelingt es sogar, den Satz »Ick sach’s, wie’s is: Ick wähl AfD« unterzubringen.

»Einbahnstraße«, erwidere ich daraufhin und klemme mir die Maske so unter die Brille, dass sie nicht beschlägt.

»Wat?«

»Das ist eine Einbahnstraße.« Ich deute auf das Schild.

Als das Navi endlich das Erreichen des Zielorts verkündet, korrigiert sich die Intuition meiner Zehenspitzen und richtet sich auf Flucht aus. Ich habe den einen Fuß schon aus der Tür, als dem Taxifahrer auffällt, nicht das letzte Wort zu haben.

»Werden Se erst mal so alt wie icke, dann reden wa noch ma«, ruft er mir, sich versonnen die Wampe streichelnd, hinterher. »Dit sind allet Schmarotzer!«

Hallo, ich bin Anna

Am Morgen des 24. Februar 2022 wurde ich mit einem Anruf von meinem Vater geweckt. Er sagte: »Steh auf, Tochter, der Krieg hat begonnen!« Ich sprang aus dem Bett und fing an, meine Sachen zusammenzusuchen, meine Papiere, alle meine Hundeutensilien. Ich habe meine Mutter und andere Verwandte angerufen. Meine Mutter war ganz ruhig und sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen, außer den militärischen Einrichtungen sei nichts betroffen. Aber ich hatte nur eines im Sinn – so nah wie möglich an die Grenze zur EU zu kommen. Das brachte mich letztendlich nach Berlin und zu Bianca. In diesem Buch möchte ich den Deutschen wie auch den Polinnen und Polen dafür danken, dass sie Menschen aus der Ukraine in ihre Familien und Häuser aufgenommen haben. Genauso all denen, die mit einem freundlichen Wort geholfen haben, die mir den Weg zur nächsten Apotheke zeigten oder im Supermarkt nicht die Geduld verloren, wenn ich nicht verstand, dass ich keinen Blumenkohl auf der Waage finden würde, weil er pro Stück bezahlt wird.

Ich rede nicht gern über mich, aber Bianca sagt, ich soll an dieser Stelle noch ein paar Sachen schreiben, die nichts mit meiner Fluchtgeschichte zu tun haben, weil ich nicht nur meine Fluchtgeschichte bin.

Also: Ich bin gern allein und eher introvertiert. Deshalb verbringe ich viel Zeit in der Natur, da kann ich gut Energievorräte aufladen. Wenn ich Zeit mit Freundinnen und Freunden verbringe, dann im kleinen Kreis. Ich brauche nur wenige Menschen in meinem Umfeld, aber die möchte ich richtig kennenlernen. Tagsüber treibe ich Sport, vor allem Yoga macht mir Freude. Am Abend will ich es gemütlich haben, vielleicht einen guten Thriller gucken und eine Pizza warm machen. Es ist wie mit den Märchen, die uns in der Kindheit vorgelesen wurden. In der echten Welt fühlt man sich umso sicherer, je größer der Horror in der Geschichte ist. Wenn mein Hund Oscar dann noch auf meinem Schoß sitzt und kuscheln will, anstatt wie wild durch die Wohnung zu rennen, um bespaßt zu werden, ist es noch schöner.

Hallo, ich bin Bianca

Ich bin Autorin und Schauspielerin, in Berlin geboren, mit polnischen Wurzeln. Außerdem bin ich Frühaufsteherin, passionierte Gastgeberin für Spieleabende, vernarrt ins Fahrradfahren und in Schwarzkopfschafe, abhängig von Kaffee und empfänglich für Flachwitze. Dass ich mich zuerst über meinen Beruf vorstelle, zeigt, wie deutsch ich bin. Dass ich mit Hobbys und Schmarrn weitermachen kann, ist mein Privileg. Etwas, was mir durch den Austausch mit Anna umso bewusster geworden ist. Unser Zusammenleben führte nicht nur dazu, dass ich mit ihr eine wahnsinnig starke Frau kennenlernte, sondern auch, mich selbst neu einzuschätzen. Der Krieg musste mir erst mal näher kommen, damit ich bereit war, einen Schritt aus meiner Komfortzone heraus zu machen und mich maßgeblich mit dem Rassismus in mir auseinanderzusetzen.

Anna gibt mir die Chance, mir ein Narrativ für mich selbst zu basteln, das mich mit Stolz erfüllt. Nicht nur die Tatsache, dass wir uns über das Internet kennenlernten, macht unsere Geschichte zu einer modern lovestory, sondern auch der Umstand, dass hier weibliche Kraft, politische Jugend, Migration als Protestform und Gespräche über vegane Fleischersatzprodukte zusammenkommen.

Doch es wird auf den folgenden Seiten zum Glück viel mehr Spaß gehabt als kritisiert. Es wird nicht erst gelernt und dann gehandelt, sondern aus dem Handeln gelernt. Nicht nur, was man lernt, kann sich unterscheiden, sondern auch, wie man lernt. (Mein Kopf fühlt sich im besten Sinn so wohlgenährt an wie noch nie, auch wenn ich mit ziemlich großer Sicherheit den, im Vergleich zu Anna, spaßigeren Lernteil mitnehmen durfte. Angst- und sorgenfrei, ausgesucht und gefühlsbasiert.) Durch und mit Anna erfahre ich eine neue Art des Lernens, fernab meiner Schmöker. Ich lerne, dass Lernen »Verlernen« beinhalten kann. Irgendwo zwischen Aktivismus, Erfahrung und Leben etabliert sich in mir empfundenes Wissen über Gerechtigkeit und aktiviert kritische Denkstrukturen besser und dauerhafter, als Bücher das je konnten. Außerdem habe ich gesunde Selbstgerechtigkeit und Wut getankt. Selbstwirksamkeit ein- und Hoffnung ausgeatmet. Nicht umsonst gibt es ein Wort dafür, dass man Gelerntes vergisst, aber kein Wort dafür, dass man Gefühle verliert. Menschen verlernen, aber sie verfühlen nicht. Erkenntnisse haben keine Chance gegen die Gefühle, die in unseren Mägen knurren. Weder meine geliebte Arbeit noch meine daraus erwachsenen Möglichkeiten, Dinge zu kaufen, haben mir so viel (Achtung, überstrapaziertes Wort) Selbstwirksamkeit geschenkt wie die Zeit mit Anna, in der ich mich als Teil einer Zivilgesellschaft begreifen darf.

Es wäre wahrscheinlich zu einfach, alles auf den Kapitalismus zu schieben. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mich bereitwillig von ihm habe bescheißen lassen. So von Romantik geblendet bin selbst ich nicht, dass ich verleugnen würde, dass Geld eine Notwendigkeit ist. In einer kapitalistisch strukturierten Welt muss man es sich leisten können, zu machen, was man will. Ob und wie sich dieser Trend zurückdrehen lässt, können andere besser erklären. Sorry, Kapitalismus, es ist 2022. Feste Beziehungskonstrukte waren gestern, offen ist in. Ich will mich nicht über mein neues Smartphone definieren, das mich modern und erfolgreich aussehen lässt, ich will mich über uns definieren. Das Uns, in dem es in diesem Buch geht, sind Anna und ich.

Diese unsere Erfahrung ist nicht auf alle übertragbar. Es ist nicht an mir, über Anna zu urteilen, doch an dieser Stelle erlaubt sie es mir, deshalb wage ich mich küchenpsychologisch so weit vor, zu sagen, dass Anna eine sehr resiliente Person ist. Es kann leichter, schwieriger, auf viele Arten anders laufen für andere Menschen. Doch wenn jede und jeder unsere Geschichte erleben würde statt einer eigenen, wäre das ja auch ganz schön langweilig.

Ich habe dieses Buch auch geschrieben, um damit anzugeben, dass ich etwas Gutes getan habe, dass ich hilfsbereit und ein guter Mensch bin (meistens). Ein Fortschritt, ich habe nämlich schon mit wesentlich unwichtigeren Dingen angegeben. Doch es gibt gerade ganz viele Menschen, die sich ebenso dazu entschieden haben, ihren Wohnraum zu teilen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, um sich in Buchform selbst auf die Schulter zu klopfen. Menschen, die im Gewöhnlichen ungewöhnlich handeln, was leider selten Ruhm bringt. Kollektive Weltenrettung bedeutet nicht das Geschenk eines individuellen Held:innennarrativs. Aber es bringt Spaß.

PS: Dieses Buch enthält Meinung, Wut und andere Nebenwirkungen.

PPS: Як і найкращий у світі рецепт борщу.

27. März 2022, Tag 32

»Look! Bianca, guck mal!« Anna freut sich wie ein Kind am Weihnachtsabend. Sie hat noch nicht mal die Schuhe ausgezogen, da hält sie mir bereits das halb leere, aussortierte Parfüm meiner Mutter entgegen. »Calvin Klein in blushment

»Basement«, korrigiere ich sie, obwohl ich den Keller bis gestern selbst noch »Blushment« genannt habe und das immer noch tun würde, hätte vorhin eine Freundin beim Telefonieren nicht gefragt, was ich mit »Blushment« überhaupt meine. Dieser falsche Freund hat sich über Annas Sprachgebrauch in meinen geschlichen, so, wie mir nach jahrelangem Zusammenleben mit polnischen Eltern auch »Norwegien«, »Mazorella« und die Redewendung »Jetzt wollen wir mal die Katze in der Kirche lassen« ein Begriff waren.

»Calvin Klein in basement«, wiederhole ich gleich noch mal.

Anna zuckt fassungslos mit den Schultern: »Germany!«

Und bislang war sie nur in meinem, noch nicht in Mamas Keller, in dem Papa und sie Auslegeware verlegt, einen kleinen Kronleuchter angebracht, Bilder aufgehängt und dekorativ Puppen platziert haben. Ihr Keller sieht aus wie ein Wohnzimmer, mein Keller sieht aus wie ein Keller.

Anna hängt Staub in den Haaren, als sie nach zwei Stunden wieder auftaucht. Sie sollte sich nach Dingen umsehen, um sich ihr neues Zimmer zu eigen zu machen oder aber eine erste Aussteuer anzulegen. Nicht, dass ich mir die Illusion mache, sie würde auf dem hart umkämpften Wohnungsmarkt Berlins schon nächste Woche eine Wohnung finden, jedoch habe ich von meinen Eltern gelernt, dass, wer Zeit hat, auch besser sparen kann. Wenn Anna weiß, was sie aus meinem Keller haben kann, kaufen wir nichts doppelt und können in den nächsten Wochen weitere Dinge ansammeln, die wir zum Beispiel bei Flohmarktbesuchen erbeuten. Dann muss sie nicht wie meine Eltern damals im Übersiedlerheim Konserven zu Geschirr umfunktionieren, und ich habe nach ihrem Auszug Platz für das Rennrad, das ich mir zulegen will. Win-win.

Als Nächstes präsentiert Anna mir stolz eine Lampe, die mal meinem Bruder und dann mir gehört hat. In Annas Händen macht sie sich besonders schön. Sie platziert sie am Kopfende neben dem ordentlich gemachten Bett, das sie mit zusätzlichen Kuscheldecken ausstaffiert hat. Der warme Schein wirft gemütliche Schatten über die verhipsterte, weil tapetenfreie Wand und mein »Léon – Der Profi«-Filmplakat.

»But something is kaputt …«, sagt Anna in ähnlichem Tonfall, wie sie sonst »Hitler kaputt« sagt, wenn man sie zu ihren bereits bestehenden Deutschkenntnissen befragt. Das hat sie leider nicht von mir.

»Warte eine Sekunde.« Ich schnappe mir den Lampenschirm aus Papier, der aufgespannt so groß ist wie Anna selbst, drehe ihn um 180 Grad und befestige ihn neu in den Ösen. »So ist es besser!«

»Ahaaa.« Sie klatscht aufgeregt in die Hände. »Du bist mein Ehemann!«

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Lampenschirms lasse ich das Geschlechterklischee heute mal gelten. Außerdem freue ich mich darüber, was Anna aus meinem winzigen Schlafzimmer herausgeholt hat. Es sieht viel gemütlicher aus als zuvor, und ich plane, Ideen von ihr abzuschauen.

»Da war auch Bier im blush… basement.« Anna verzieht das Gesicht, als hätte sie ein Haar auf der Zunge. »Aber das Bier war alkoholfrei.«

»Das Bier ist von einem Freund.« Ich muss laut lachen. »Er hat es mir als Spende mitgegeben, für das Haus, in dem sich die ukrainische Wohngemeinschaft gebildet hat. Ich warte, bis ich genügend Sachen zusammenhabe, damit sich die Fahrt ans andere Ende Berlins lohnt.«

»Oh wow«, bemüht Anna sich, ihre Fassung zurückzuerlangen. »Das ist ja … nett?«

Alkoholfreies Bier ist wohl der deutscheste Weg, Geflüchtete willkommen zu heißen. Samt gekühlter Brause gibt es zur Begrüßung gleich noch die Ermahnung dazu, sich zu benehmen und bloß nicht dem Rausch zu erliegen. Und das bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum des fleißigen, pflichtbewussten Deutschen von 92 Litern Bier im Jahr.

Devilish basement versus holy basement

Der eine Keller ist voller Angst, der andere voller Geschenke.

Im Februar ging ich in den Keller, um zu überleben, im März, um mir Geschenke auszusuchen. Eigentlich war unser Keller in der Region Kyiv dazu da, Kartoffeln und andere Vorräte zu lagern. Es ist mehr ein Loch im Boden, eng, klein, niedrige, gewölbte Decken. Die Männer hatten Schusswaffen mitgenommen, um uns im Notfall zu verteidigen, was ich für dumm hielt. Ich hatte Angst, dass sie potenzielle Angreifer erst recht wütend machen würden. Ich hielt es für sinnvoll, sich im Notfall zu ergeben. Dabei war das gar nicht die größte Gefahr. Die Keller in der Ukraine sind nicht für den Schutz bei Bombenangriffen ausgelegt. Viele Menschen starben in den Kellern, unter Schutt begraben.

Als ich das erste Mal Biancas Keller betrat, bemerkte ich sofort die gepanzerte Tür für den Notfall. Doch im Inneren erwarteten mich kleine Schätze. Ich habe beinahe eine Ladenklingel bimmeln hören. Da stehen zwei Fahrräder, Kleiderständer voller Jacken, eine Schneiderpuppe, Werkzeugkästen, ein Regal voller Bücher, mehrere Koffer, ein Nachttisch und ein Wohnzimmertisch. Ein paar der Sachen konnte ich nutzen, um es mir in meinem neuen Zimmer gemütlicher zu machen.

Calvin Klein im Sozialamt. Anna führt stolz das Parfüm meiner Mutter aus, es ist ein besonderer Anlass für sie. Zum ersten Mal höre ich meine Mitbewohnerin davon sprechen, dass sie gern Kontakt zu anderen Ukrainer:innen aufnehmen würde. Anna plant ihre Zukunft in Deutschland, die mit jedem Schritt Richtung Rathaus greifbarer scheint, und sie freut sich darauf. Annas Freiheit, die wir zwischen grauen Wänden schwarz auf weiß zu finden versuchen, liegt im Bleibendürfen.

Erst mal finden wir leider nur eine Schlange vor. Und noch eine. Auf den Treppen zum Rathaus Reinickendorf weist ein hagerer Mann in gelber Warnweste darauf hin, dass man ein Bändchen braucht, um auf die Party zu kommen. Zum ersten Mal bin ich es, die Anna zum Übersetzen braucht. Der Mann spricht fließend Russisch und Ukrainisch, aber nur brüchiges Deutsch. Macht in diesen Tagen auch mehr Sinn als andersherum. Anna hält die Klarsichtfolie mit den Dokumenten fest umklammert, will, dass ich die Frau, die in Schlange zwei vor uns steht, darum bitte, dass sie uns einen Platz freihält, bis wir von Schlange eins zurück sind.

»Das geht nicht, Anna. Stell dir vor, alle würden das so machen. Dann gäbe es eine Prügelei.«

»Okay, okay.« Sie zuckt zurück. »Nur eine Idee.«

Anna kann es kaum erwarten. Wir stellen uns hinter einer Frau an, die ihre Tochter an der Hand hält und deren »Mascha und der Bär«-Turnbeutel, der vor einem Monat noch an einem Kleiderhaken vor einem ukrainischen Klassenzimmer baumelte, auf dem Rücken trägt. Der Anblick erinnert mich daran, dass ich das letzte Mal vor dem zum Rathaus gehörenden Ernst-Reuter-Saal anstand, eingehakt in den Arm meiner Mutter, um mein Abiturzeugnis entgegenzunehmen. Als ich Anna gerade davon erzähle, spricht der hinter uns wartende Mann uns an, sein Oberteil ist blau-gelb: »You german?« Ich nicke. Sieht er in meinen Augen nur müder aus als alle anderen, weil ich weiß, wie schwer es BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) an den Grenzen haben, oder ist er tatsächlich erschöpfter von der »Reise«? »Komm uns doch mal besuchen!«, schlage ich nach kurzem Small Talk vor, mit dem Gedanken an Annas Aussage, neue Leute kennenlernen zu wollen, sich eine Community aufzubauen.

»Eins nach dem anderen«, geht Anna dazwischen, was mich stutzen lässt. War ich vorschnell vertrauensvoll, gar naiv als Frau? Ich will Anna niemanden aufdrängen wie eine Mutter, die Sorgen ums introvertierte Kind hat. Der junge Mann sucht derweil nach seinem Personalausweis, hat Angst, ihn verloren zu haben, und zieht sich auf eine ruhige Bank zurück.

»Es gibt ja auch einige, die die Gelegenheit nutzen …«, sagt Anna, kaum, dass er außer Hörweite ist. »Vielleicht ist er gar kein Ukrainer.«

Ihre Vorbehalte erschrecken mich. Liegt der Grund in internalisiertem Rassismus oder der Angst verborgen, dass nicht genug Platz für alle ist? Vielleicht ist es beides. Ersteres bedingt durch Letzteres oder andersherum. Heute erst habe ich Anna den Begriff »Teufelskreis« beigebracht.

»Sag so etwas nicht«, erwidere ich deutlich verspätet und halbstark. Der Mann kramt und kramt in Bauchtasche und Beutel. »Du hast keinen Anlass, das zu glauben.«

Ähnliche Vorbehalte gegenüber Schwarzen Menschen kenne ich von meinen Eltern, und doch habe ich mir noch nicht die richtige Antwort zurechtgelegt, um ihnen zu begegnen.

»Ich hatte es auch schwer als Frau«, erinnert Anna mich, als würde ich daran zweifeln, bloß weil sie sich die Last mit jemandem teilt.

Der Mann findet schließlich seinen Personalausweis, erleichtert reiht er sich wieder in die Schlange ein.

»Darf ich kurz ein paar Schritte austreten?«, frage ich Anna und deute auf den wenige Meter entfernten und von der Sonne beschienenen Beton. Der aus den 50ern importierte Ernst-Reuter-Saal wirft seinen langen Schatten ausgerechnet auf den Pulk wartender Menschen, die sich die Beine in den Bauch stehen.

»Klar doch.« Anna lächelt mir zu.

Ich stelle mich zu einer Frau, die etwa mein Alter hat. Wir stellen uns einander vor. Darin ist 25 Jahre alt, hat tiefschwarzes Haar aus der Flasche, getuschte Wimpern, eine Kippe klemmt im Mundwinkel. In der Hand das Handy mit der Anatomie-Vorlesung via Zoom.

»Die Dozentin steckt an der slowakischen Grenze fest. Sie ist superdiszipliniert«, erklärt Darin und deutet auf das Handy. Darin kann beides: Flucht und Studium, ein neues Leben aufbauen und Alltagssorgen weglachen, schlau sein und schön. Das ist Feminismus, wenn ich meine von zu viel Kaffee geschwängerte Gefühlsduseligkeit frage. Darin erzählt mir von ihrer so offenherzigen Pflegefamilie in Tegel, der beeindruckenden Hilfsbereitschaft der Deutschen.

»2015 war das anders.« Scham zwingt mich an dieser Stelle des Gesprächs zur Relativierung ihrer überschwänglichen Komplimente. Ich bin Teil von diesem verantwortungslosen 2015. Darin nickt.

Wer hat damals die Verantwortung getragen, der wir uns entzogen haben? Wer trägt sie in diesem Moment? Mittlerweile gilt Syrien, unter anderem laut Tagesschau, als »Versuchslabor« für Putin. Damals haben russische Kampfjets und Hubschrauber Städte und Dörfer, die unter Kontrolle der Aufständischen waren, angegriffen, offiziell, um Terroristen zu bekämpfen. Getroffen haben sie vor allem die Bevölkerung. Putin habe auf diese Weise die Niederlage des Präsidenten Syriens und seines Verbündeten Assad abwenden wollen, dem die Kontrolle über weite Teile seines Landes entglitten sei, erklärt die Tagesschau. Und weiter: Für Russland sei es die Chance, im Nahen Osten Fuß zu fassen und so eine wichtige Basis für russische Flugzeuge und Schiffe zu schaffen. Gleichzeitig testete Putin mehr als 200 Waffensysteme. Auch ein Training für 2022?

»Die Charité hat auf der ganzen Welt einen großartigen Ruf.« Darin redet lieber über Deutschlands gute Seiten. Sie versucht, sich trotz bürokratischen Wahnsinns nicht von ihrer optimistischen Zuneigung zu meiner Heimat abbringen zu lassen. Auch wenn die es ihr besonders schwer macht, auch zu ihrer Heimat zu werden.

Es heißt »Man kommt auf die Welt«, wenn man geboren wird, doch in Wirklichkeit kommt man in ein Land. Die Lotterie des Lebens entscheidet über deine Startbedingungen. Darin muss kämpfen für etwas, was mir geschenkt wurde.

»Ich hatte schon in der Ukraine nur ein zehnjähriges Bleiberecht dank meines Studiums, deshalb ist für mich alles aufwendiger als für richtige Ukrainerinnen.« Darin lässt es wie eine plausible Begründung klingen. »Ich komme aus Bangladesch, und dahin würde ich auch zurückkehren. Nur ist das Studium dort nichts wert, und ich will eine gute Ärztin werden.«

Ich glaube nicht, dass ich den Mut hätte, mir in völliger Fremde allein ein neues Leben aufzubauen. Vor allem, wenn ich die viel einfachere Exit-Möglichkeit zurück zur Familie hätte.

»Ich kenne Studierende und auch eine Ärztin an der Charité, vielleicht können sie dich herumführen oder dir einen Studi-Job besorgen, wenn die Anträge durch sind«, schlage ich vor und gebe Darin meine Nummer. »Oder du kommst mal auf ein Abendessen vorbei, wenn du die ukrainische Sprache vermisst. Dann kannst du dich mit meiner Mitbewohnerin Anna austauschen, die dasselbe durchmacht wie du.«

Wie aufs Stichwort ruft Anna nach mir. Sie ist in der Schlange die Nächste, die in den Saal eintreten darf. Mit entschuldigendem Blick Richtung Darin eile ich nach vorn und schiebe mich an der schweren Glastür vorbei in den Vorraum mit hohen Decken und seltsam geformten Lampen. Wie wichtig hat es sich für mich vor wenigen Jahren angefühlt, in diesen Räumlichkeiten mein Abiturzeugnis überreicht zu bekommen, und wie muss es sich nun für all die Menschen hier anfühlen, das Bleiberecht zu erhalten?

Am besten vergleichen kann das Calvin Klein, der war in beiden Fällen dabei. Beim ersten Mal an Mamas, jetzt an Annas Hals. Auf jeden Fall war es damals eine unverhältnismäßig feierliche Angelegenheit, nur weil wir in schicken Kostümchen und Smoking mit zu großen Schulterpolstern ein Stück Papier entgegennahmen, von dem ich aktuell nicht mal weiß, in welchem meiner mit »WICHTIG!« gekennzeichneten Aktenordner es verstaubt. Während die Menschen heute mit »Mascha und der Bär«-Turnbeutel auf die Bestätigung warten, vor dem Krieg sicher zu sein, und sich dafür an einen provisorisch aufgestellten weißen Plastiktisch setzen. Sie reihen sich dicht aneinander, keine Abtrennung – weder der Privatsphäre noch der Pandemie wegen. Die gibt’s ja auch noch.

»Kein Blabla.« Anna holt mich aus meiner Erinnerung ab. Sie deutet mit dem Zeigefinger in Richtung Darin, die noch immer vor der Tür wartet und wieder konzentriert auf ihr Handy schaut. Dann zeigt Anna auf meine Brust. »Ich brauche dich als meine Übersetzerin.«

Ich erlebe Anna zum ersten Mal launisch mir gegenüber. Gleichzeitig fängt hinter uns ein Kind an zu weinen, und sie stolpert ein Stück vorwärts, weil jemand eine Tasche in ihren Rücken drückt. Anna pustet sich eine Strähne aus der Stirn. Die Erinnerung an die Unsicherheit, die sie inmitten dieses Stimmengewirrs fühlen muss, sowie das Wissen, dass sie und der Mann in Blau-Gelb letztendlich doch Nummern ausgetauscht haben, worüber sie ehrlich glücklich zu sein scheint, stopfen das kurzzeitig entstandene Leck in meinem Verständnis für sie. Noch glücklicher ist Anna darüber, dass wir endlich an der Reihe sind. Wir werden begrüßt von einer Dame mit ordentlichem Bob, weicher, ruhiger Stimme sowie ehrlich freundlichem und mitleidsvollem Auftreten. Mitleid haben Anna und ich auch nötig, denn wir standen zwei Stunden umsonst an, wie wir jetzt erfahren: »Erst müssen Sie zur Ankunftsstelle am ehemaligen Flughafen Tegel, dann die Bestätigung Ihrer Wohngenossenschaft einholen, und dann erst können Sie zu mir zurückkommen. Es tut mir leid, es ändert sich jeden Tag etwas. Aber ich gebe Ihnen meine Nummer, damit Sie das nächste Mal an der Schlange vorbeikommen.«

Wie gut, dass ich mich vorab bei einer offiziellen Info-Hotline der Stadt Berlin informiert habe und mir diese Information nicht gegeben wurde. Anna und ich bedanken uns mit hängenden Schultern. Im Hinausgehen wünscht Anna dem Mann in Blau-Gelb »Good luck«, draußen aber platzt es aus ihr heraus. Wütend beschwert sie sich über die deutsche Bürokratie, und ich gerate auf der Suche nach der richtigen Reaktion wiederholt ins Schwimmen.

»Sei doch nicht so wütend«, sage ausgerechnet ich, die im Streit um nicht mehr als Ausgehzeiten schon mal einen Teller kaputt gehauen hat.

»Ich bin nicht wütend!« Eine Duftwolke erinnert mich daran, wie wichtig ihr dieser Moment war.

»Weißt du was? Eigentlich hast du recht«, ändere ich meine Haltung mit Calvin Klein in der Nase. »Deutsche Bürokratie ist scheiße. Du solltest wütend sein!«

Meine Vorurteile

Bianca und ich reden oft darüber, dass uns die Lage in anderen Kriegsländern bislang nicht wirklich interessiert hat. Die mediale Berichterstattung hat bestimmt ihren Teil dazu beigetragen, dass ich dachte, alle Syrer seien Terroristen, Schwarze Menschen Drogenhändler und Russen unsere Brüder. So haben wir sie im allgemeinen Sprachgebrauch tatsächlich genannt: »unsere Brüder«. Jetzt behaupten unsere Brüder, wir wären Nationalsozialisten. Ich habe Freunde, die mit ihren Eltern in Russland telefonieren, aber sich nicht länger ertragen. Sie sagen »Mama, Papa, mein Haus ist zerstört«, und ihre Eltern wollen sie beruhigen: »Russland kommt und rettet euch.« Viele brechen deshalb den Kontakt ab, blockieren sich gegenseitig bei WhatsApp, wollen nichts mehr voneinander wissen – und wir sehen, wer wirklich unsere Brüder und Schwestern sind: Europa, Polen, Menschen, die uns helfen.

Immer noch haben viele meiner Freundinnen und Freunde Sorgen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich mit Menschen aus arabischen Ländern oder der Türkei zu tun habe. Erst recht, seitdem ich in der Integrationsklasse bin. Egal, ob es meine Freundin Dalal aus Syrien ist oder Asal aus dem Iran – ich sehe ja, dass sie nett sind. Sie haben genau das Gleiche durchgemacht wie ich, sind geflohen, weil sie ein besseres, weil sie ein Leben haben wollten. Es tut mir leid, dass ich ihnen anfangs distanziert begegnet bin.

Am Abend kaufe ich uns einen Wein zum Wegspülen des Frustes über die gescheiterte Mission des Tages.

»Wie kann die Welt es zulassen, dass ein Mann alle terrorisiert?«, fragt Anna, als wir auf den Küchenfliesen sitzend in unsere Gläser starren. Nach eigener Darstellung treiben die ukrainischen Truppen die russischen Besatzer in der Stadt Charkiw (Ukrainisch: Харків/Kharkiv) erfolgreich in Richtung der russischen Grenze zurück. Ebenfalls in der Nacht wurde bei russischen Luftangriffen auf die Ortschaft Oskil im Bezirk Isjum ein Wohnhaus getroffen. Eine vierköpfige Familie starb. Putin nennt es immer noch einen »Befreiungsakt«. Viele Menschen in Russland glauben ihm. Sie hatten eine funktionierende Demokratie nie zur Auswahl. Sie haben nie demokratische Vorzüge erlebt und können sie somit gar nicht zu schätzen wissen. Die Menschen in Russland glauben daran, dass Kriege helfen, sie suchen im Regal der Möglichkeiten nach dem gutherzigen Herrscher, und Putin hat sich selbst als solcher verkauft.

Die Einrichtung von Fluchtwegen scheitert immer wieder, wofür die Kriegsparteien sich gegenseitig die Schuld zuweisen, während allein in der Hafenstadt Mariupol 170.000 Menschen warten. Eine Stadt, von der bald nur noch ihr schöner Name übrig ist. In der Gegend um die Atomruine Tschernobyl kommt es laut Ukraine zu neuen gefährlichen Bränden, die aktuell aufgrund russischer Militäreinsätze nicht vollständig zu kontrollieren und zu löschen seien. In einer UNO-Mission soll eine Schutzzone in dem Gebiet errichtet werden, so zumindest die Forderung von Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk, nach Angaben der Ukrajinska Prawda am gestrigen Sonntag.

Tschernobyl ist zwei Stunden Autofahrt von Kyiv entfernt, wo Annas Freund gerade sitzt, als wir ihn per Videochat erreichen. »Cheers!«, ruft Slawyk, als er die Weingläser in unserer Hand entdeckt. Anna beginnt auf die Frage nach unserem Wohlbefinden von der einzig schönen Nachricht des Tages zu berichten: »Bianca und ich wurden auf ein Borshch and Barbecue eingeladen!«

Annas Freude löst wiederum Freude bei Slawyk aus.

»Wirklich?«, fragt er. »Wo denn?«

Die beiden sind ein schönes Paar, daran können auch Augenringe nichts ändern. Anna erzählt Slawyk davon, dass ich nach dem Sozialamt Tobias getroffen habe, einen meiner besten Freunde, um mit ihm zusammen seine Spende von zwei Fahrrädern und einem MacBook auszuliefern. In einer Unterkunft im Süden der Stadt für zehn Menschen aus der Ukraine, die uns zum Dank zu besagtem Barbecue einladen wollen. Als Tobias und ich ankamen, herrschte buntes Treiben. Viele Kinder huschten um unsere Beine, eines davon tat so, als wäre es eine Sobaka, ein Hund. Als ich das mithilfe der von Anna erlernten ukrainischen Sprachkenntnisse erkannte und benannte, trafen mich gleich vier glückliche Augenpaare von den umstehenden Erwachsenen. Ich erklärte, dass ich Polnisch spreche, vieles ähnlich sei und Anna deshalb nicht müde werde, mir ihre Muttersprache einzutrichtern. Simone, die mit einer Freundin zusammen kostenfrei das Haus zur Verfügung stellt und sich um alles kümmert (ich war zuvor über drei Ecken auf Instagram auf sie aufmerksam geworden), fragte mich daraufhin, ob wir uns bei bürokratischen Angelegenheiten zusammentun könnten. Simones Haar war so verwuschelt wie das der Sobaka zwischen unseren Beinen, ihre Augen sahen müde aus, wenn auch ein glückliches Müde. Simones Ausstrahlung ist ununterbrochen einnehmend. Selbstwirksamkeit steht Menschen besonders gut, wenn sie mit Fremdwirksamkeit einhergeht.

»Ruf mich an, wenn was ist«, antwortete ich Simone. »Nach dem Stress im Sozialamt heute und den Terminen letzte Woche habe ich so langsam verstanden, wie es funktioniert.«

Kaum dass die Tür zwischen Simone und uns ins Schloss gefallen war, erinnerte mich ein Anruf meines Bruders Thomas daran, dass ich nicht zu voreilig und selbstbewusst Versprechungen bezüglich meiner Fähigkeiten machen sollte. Während ich mit der Auslieferung der Spenden beschäftigt war, hatte er sich dankenswerterweise mit Anna zum Flughafen Tegel begeben, um wenigstens schon mal diesen Teil der Registrierung abzuhaken.

»Erst brauchen wir die Meldung der Wohngenossenschaft, dann müssen wir zur Registrierung am Flughafen, und zuletzt geht es ins Sozialamt«, erklärte Thomas. Auch am Flughafen haben sie Anna also wieder nach Hause geschickt. Die Frau mit Bob im Sozialamt hatte es doch genau andersherum erklärt.

»Wie viel kann man falsch machen?«, fragte ich.

»Andere bekommen das auch hin.« Manchmal haben sogar große Brüder recht. »Dann drehen wir eben eine Extra-Schleife.« Und manchmal sind große Brüder alles, was du brauchst. Dankbar verabschiedete ich mich von ihm und legte auf.

Thomas und ich streiten uns oft und besonders leidenschaftlich, gerade weil wir uns lieben. Wir haben beide mal recht, mal unrecht, wissen genau, wo die Schwachstellen des: der jeweils anderen liegen, und vor allem in den letzten Monaten endeten unsere Streits (wenn man mich fragt) und Diskussionen (wenn man ihn fragt) häufig damit, dass eine weint. Also ich. Wir leben den typischen Konflikt zwischen konservativ denkendem Familienvater und linker Studentin in den 20ern, die nur Verantwortung für sich selbst trägt. Doch trotz aller Konflikte sprechen seine Handlungen für sich. Er ist da, wenn ich ihn brauche. Ich könnte jetzt aufstehen, zu ihm hinfahren und ihn in den Arm nehmen. Mich in den Arm nehmen lassen. Anna und Slawyk können das nicht.

Mittlerweile hat sich Anna in ihr Zimmer zurückgezogen, um in Ruhe mit ihrem Freund zu sprechen. Vielleicht berichtet er von seinem Alltag, der nun schon seit über einem Monat aus dem Gang in den Supermarkt und der Arbeit im Homeoffice besteht. Ohne dass ich ihre Sprache verstehe und selbst durch die geschlossene Zimmertür hindurch ist dem Paar anzuhören, wie sehr es sich vermisst. Noch nie habe ich jemandem die »normalen« Sorgen einer Fernbeziehung gewünscht. Noch immer werden die Männer nicht aus der Ukraine gelassen, weil sie eventuell zum Kämpfen eingezogen werden müssen. Slawyk würde an der Grenze stecken bleiben. Im selben Moment, in dem ich mir versuche vorzustellen, wie einsam er sich gerade fühlen muss in den vier Wänden, die er gewohnt ist mit seiner Freundin zu teilen, vibriert mein Handy. Ein Update will gemacht werden. Ich trinke den letzten Schluck Wein in einem Zug leer. Wann hat das Konzept der Grenze eigentlich sein letztes Update erhalten?

27. Februar 2022, Tag 4

Die Inzidenzen gehen durch die Decke, und ich trage seit heute meinen Teil dazu bei.

Nachdem der Taxifahrer mich zu Hause abgesetzt hat, spürte ich bereits ein Kratzen im Hals und plünderte meine drei letzten Tests. Zwei von drei schlugen aus. Bingo. Nun bin ich offiziell Teil des Teams, worüber es sich nur so leicht lachen lässt, da ich nahezu symptomfrei in die Quarantäne starte und der Taxifahrer so ein Arschloch war, dass sich mein Mitleid in Grenzen hält, sollte ich ihn angesteckt haben. Fast schon genieße ich die Zwangspause, die Ausrede für unliebsame Treffen und Zeit nur für mich. Zumindest einen Vormittag lang.

Als ich am Nachmittag die Steuer vorbereite, beginne ich mir Sorgen um meinen Zustand zu machen. Nach zwölf Stunden Quarantäne habe ich dann nicht nur den Kühlschrank ausgewischt, sondern auch Fenster geputzt (!) und sämtliche Fotos in den Bilderrahmen ausgetauscht. In meinen Oberschenkeln kitzelt der Bewegungsmangel. Um 23 Uhr gehe ich dazu über, Nägel in meine Holzcouch zu hämmern, wo sie nicht hingehören. Besser als mit dem Kopf gegen die Wand. Fast wünsche ich mir ein mich ans Bett fesselndes Fieberdelirium herbei, das die Zeit schneller vergehen lässt. Wie lange kann man sich in vier Wänden beschäftigt halten, ohne wahnsinnig zu werden?

28. März 2022, Tag 33

Annas Stimme schallt vorwurfsvoll aus der Küche zu mir herüber ins Bad: »Biancaaa! Wer hat die Teller sauber gemacht?«

»Oscar! Es war Oscar!«, antworte ich schnell und deute auf den Chihuahua, der daraufhin seinem Spieltrieb folgend mein Bein hochhüpft. »Du hast völlig recht. Es ist nicht okay, dass er den Abwasch macht. Wir sollten mit ihm reden.«

Anna legt den Kopf schief, lächelt noch schiefer und stemmt die Arme in die Seiten.

»Oscar?«, wiederholt sie spöttisch. »Schon klar.«

»Ich kann dich nicht alles machen lassen!«, verteidige ich mich. Anna hat mich darum gebeten, sie den kompletten Hausputz übernehmen zu lassen. Erstens als Dankeschön, zweitens, um etwas zu tun zu haben. Auch wenn Letzteres ein Argument ist, das ich nachvollziehen kann, fühlt es sich völlig falsch an, ihrer Aufforderung Folge zu leisten.

Immer noch kopfschüttelnd holt Anna ihre Hacksuppe vom Balkon und wärmt sie auf. Im Kühlschrank ist kein Platz für den Topf, dessen Inhalt eine Großfamilie satt machen würde, weil Anna jeden Tag aufs Neue kocht, selbst wenn noch Reste übrig sind. Auch das, um etwas zu tun zu haben. Während ihr Teller sich in der Mikrowelle dreht, schmiere ich mir meine übliche Morgenstulle. Anna macht sich gern darüber lustig, dass ich tatsächlich so viel Brot esse, wie man es von jemandem erwartet, der in Deutschland aufgewachsen ist. Bling! In der Mikrowelle geht das Licht aus. Anna bevorzugt Suppe zum Frühstück, kein dünnes Prenzlauer-Berg-Wässerchen, das Detox-Jüngern das Geld aus der Tasche zieht, sondern deftige Hacksuppe auf Brühe- anstatt Pulverbasis mit Reis und Kartoffeln, worüber ich mich wiederum lautstark amüsiere. Es ist eine Suppe, wie ich sie von meiner Mutter kenne. Zumindest, wenn keine Deutschen eingeladen sind, die sie mit einem Currycremesüppchen an Kokosmilchschäumchen mit Thai-Basilikumblättchen und einem Spritzer Limette begeistern will. Den Hauch Knorr-Tüte hat bislang noch keiner der feinen Gaumen herausgeschmeckt. Während Annas Löffel nun also die Innenseite des Porzellans entlangschabt und ich in meine deutsche Butterstulle beiße, wärmen wir uns mit Sticheleien und Anekdoten für den Tag auf. Meine Küche ist nicht für zwei Menschen gemacht. Anna sitzt auf dem kleinen Hocker, der eigentlich für meine Nichte gedacht ist und dementsprechend auch eher die Anforderung erfüllt, die ein dreijähriger Hintern an eine Sitzfläche hat. Ich sitze mit ausgestreckten Beinen auf den Fliesen, die Holztür unter der Spüle im Rücken, den Teller im Schoß, die Zehenspitzen geben sich einen schüchternen Kuss. Oscar nutzt unsere weggestreckten und abgeknickten Gliedmaßen für seinen Morgensport – wahlweise als Hürde oder Ballettstange, um sich daran zu dehnen.

Normalerweise würde ich mit dem Frühstück jetzt schon am Laptop sitzen. Erstaunlicherweise erlaubt der mir eigene wie gleichermaßen lästige Produktivitätsgedanke diese Umstellung der Alltagsstruktur ohne schlechtes Gewissen. Denn das Essen schmeckt besser, wenn ich in Augen anstatt auf Pixel gucke. Und immerhin haben Anna und ich jeweils ein ganzes, wenn auch noch nicht sehr langes Leben voller Geschichten, von denen wir berichten können. Anna zeigt mir Fotos von ihrer Mutter und ihrem Vater. Wir tauschen uns über die skurrilen Spitznamen unserer Eltern aus. Kurzum: Wir tauen auf, Tag für Tag ein Stückchen mehr. Ich mache mir keine Illusionen über anstehende Konflikte und gegenseitiges Genervt-voneinander-Sein. Umso mehr will ich genießen, solange wir genießen.

Als die Teller leer sind und bevor ich mich ans Tagewerk mache, teile ich Anna noch schnell mit, was der Plan für heute ist: »Um zehn macht die Genossenschaft auf. Dann können wir anrufen, um die Bescheinigung anzufordern, dass du bei mir wohnen darfst.«

»Okay.« Sie nickt und lässt mich ins Wohnzimmer verschwinden, um in Ruhe an einer Drehbuchidee zu arbeiten. Währenddessen geht sie mit Oscar spazieren, ein paar Kaninchen verschrecken. Zehn vor zehn kehren die beiden zurück, fünf vor zehn klopft Anna an meine Tür: »Und? Was sagt die Genossenschaft?«

Milde lächelnd greife ich nach dem Handy. Ich kann Anna nur zu gut verstehen.

28. Februar 2022, Tag 5

Meine Daumen sind stumpf vom Tippen und Wischen auf dem Handydisplay. Die Quarantäne sperrt mich mit dem Suchtmittel unseres Jahrhunderts ein. Meine Augen werden zwei kleine Klötze bleiben, wenn ich so weitermache, und doch kann ich nicht aufhören, durch die Postings meiner Freund:innen zu scrollen, die auf Demos Frieden in der Ukraine fordern. Parallel zur Netflixserie, wie sich das gehört. So lächerlich erschien mir die globale Pandemie noch nie. Ich fühle mich schäbig, dass ich angetrocknete Ketchupflecken von meiner Jogginghose pule, anstatt mit ihnen vor der russischen Botschaft zu stehen, doch mein Test zeigt konsequent zwei Striche an. Zum Ausgleich teile ich Postings in den sozialen Medien, allerdings auch nur selektiv, um nicht Teil einer Flut von Informationen zu sein, in der die wichtigen untergehen. Insbesondere meine polnische Community feuert einen Post nach dem nächsten ab, teilt Ankunftsstellen, Unterkünfte und wo welche Spenden benötigt werden. Endlich scheint Instagram mal für etwas gut zu sein, das »sozial« in »soziale Medien« nicht willkürlich. Wie zu erwarten, verabschieden sich im Gegenzug ein paar Follower:innen. Ob nur ich die Beobachtung mache, dass politische, grüne oder feministische Postings mich zuverlässig drei bis zehn Follower:innen »kosten«, während mein wahlweise lächelndes oder gestellt ernstes Gesicht mir etwa genauso viele neue Follower:innen einbringt?

Nachrichtenfluten sind wir gewohnt, doch der Krieg in der Ukraine lässt Wellen ungeahnten Ausmaßes über dem sonst nur aus der Ferne zusehenden Europa zusammenschlagen. Die geografische Nähe sowie die optische Ähnlichkeit zu den Ukrainer:innen lassen Mitleid entstehen, wo bislang keines war. Mich jedoch plötzlich als Teil einer Generation zu bezeichnen, die von vor und nach dem Krieg sprechen kann, wäre im Hinblick auf den Jemen, die Demokratische Republik Kongo, Palästina, Syrien, Nigeria, Äthiopien, Myanmar, Sahel, Afghanistan, Irak, Südsudan und Venezuela wohl genauso verblendet, wie in eine Zeitrechnung vor und nach dem Klimawandel zu unterteilen.

Freund:innen sammeln Geld mit Straßenmusik für gemeinnützige Organisationen, andere fahren an die Grenze und bringen Menschen zu den von ihnen anvisierten Unterkünften. Die Straßen sind überfüllt, es soll mit dem Zug fahren, wer kann.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein muss, seine Heimat zurückzulassen und von vorn anzufangen. Dafür können meine Eltern mitreden, auch wenn ihre Flucht vor dem polnischen Sozialismus 1989 eine stillere und weniger bedrohliche war. Die ersten Jahre verbrachten sie im Übersiedlerheim, teilten sich ein Bad und eine Küche mit drei weiteren Familien. Sie sahen ostdeutsche Familien kommen und gehen, die aufgrund deutscher Sprachkenntnisse schnellere Einstiegschancen in einen Alltag in der BRD hatten. Noch heute sprechen meine Eltern voller Dankbarkeit über jeden einzelnen Deutschen, der ihnen bei der Wohnungssuche half oder auch nur ein besonderes Maß der Offenheit zeigte, das sie ermutigte, am Ball zu bleiben.

Es gab eine Zeit, in der ich mich gefühlt habe, als würde ich meinen Migrationshintergrund, der vielmehr der Migrationshintergrund meiner Eltern ist, für meinen privaten Erfolg ausnutzen. Nach der Veröffentlichung von zwei Romanen über eine deutsch-polnische Familie kam es mir vor, als würde ich meine Ost-Herkunft überbetonen, als würde ich mich zu sehr darüber definieren. Und das, nachdem ich gerade erst gelernt hatte, besagte Herkunft nicht zu verschweigen, wie ich es als Kind getan hatte, um Polenwitzen zu entgehen. Ich schämte mich erneut. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass Ärger das richtige Gefühl ist. Ärger darüber, dass ich die mir anerzogene Scham für mich sprechen lasse. Sie kommt aus einer Zeit, in der man Jungs den Fußball ansozialisiert hat, Mädchen das Tutu und den Deutschen ihren Spargel. Also heute.

»Ich habe mich angemeldet, dass ich jemanden aufnehmen will«, verkünde ich Mama stolz am Telefon, da die Quarantäne ein persönliches Treffen nicht zulässt.

»Hast du nicht.« Anders als erwartet reagiert Mama nicht gerade mit Begeisterung. Aber vielleicht ist es auch nur ein Missverständnis.

»Jemanden aus der Ukraine«, werde ich deshalb genauer. »Es gibt verschiedene Websites, wo das unkompliziert per Formular möglich ist, und ich habe zusätzlich einen Post bei Instagram abgesetzt, dass bei mir ein Zimmer frei ist.«

»Hast du dir das auch gut überlegt?«

»Was soll das denn jetzt heißen, Mama?«

»Das heißt, was es heißt. Ich glaube, du unterschätzt das. Du bist eine junge, alleinstehende Frau.«

»Wie aufmerksam von dir, dass dir das nicht entgangen ist.«

»Und du arbeitest von zu Hause aus.«

»Ich weiß, dass du dir schnell Sorgen machst, aber das sind doch gerade wirklich besondere Umstände.«

»Du weißt überhaupt nicht, wer da kommt«, lässt Mama nicht locker. Die ihr wesenseigene Hypochondrie macht Sorgen zu dauerhaft zirpenden Begleiterinnen ihres Unterbewusstseins. »Du lässt jemand Fremdes in deine Privatsphäre eindringen. Am Ende wirst du noch beklaut.«

»Mama!«, widerspreche ich vehement. »Ich hatte, ehrlich gesagt, erwartet, dass du stolz bist!«

»Ich freue mich ja, dass du so ein gutes Herz hast und so weiter und so weiter, aber …«

Das Gespräch verläuft noch eine Weile so weiter, bis wir beide genervt voneinander auflegen. Was zurückbleibt, sind Zweifel an meinem Entschluss. So selbstsicher ich Mama auch widersprochen habe, ich bleibe ein Mama-Kind. Nicht ganz das Ausmaß des Klischees eines italienischen Sohnes, aber doch weit von Selbstständigkeit entfernt. Was Mama sagt, ist immer noch Gold wert und löst etwas in mir aus, ob ich will oder nicht.

Bianca: Wovor hattest du Angst?

Mama: Ich bin deine Mutter, natürlich mache ich mir Sorgen, wenn jemand bei dir einzieht, den du vorher noch nie gesehen hast. Erst recht, als anfangs ein Mann bei dir einziehen sollte. Jetzt, wo ich Anna kenne, bin ich sehr froh darüber, dass sie ein Teil unserer Familie ist. (Anmerkung der töchterlichen Redaktion: Sorry, Anna, ich wurde auch getauft, ohne gefragt zu werden. Zwar gibt es in der polnischen Sprache das Sprichwort »Tropfen für Tropfen formt das Meer« – »Kropla do kropli i bedzie morze« –, jedoch hält Mama nicht viel davon.) Dass Anna Oscar mitgebracht hat, freut mich umso mehr. Ein Mädchen, das einen Hund mitbringt, muss ein liebes Mädchen sein, habe ich gedacht. Und dann war sie da. Eine modebewusste, hübsche Frau und trotzdem zurückhaltend. In der Art und Weise, wie sie über Familie sprach, war erkennbar, wie warmherzig sie ist. Gleichzeitig hat sie genug Stolz und Mut, um ihre Ziele auch ganz allein durchzusetzen. Und sie ist bescheiden, will wirklich nie etwas annehmen, erst recht kein Geld. Selbst wenn ich Oscar ein neues Spielzeug besorge, schimpft Anna mit mir. Die Chemie stimmt einfach zwischen uns und ihr. Ihr seid euch in mehrerlei Hinsicht ähnlicher, als ihr denkt. Die oberflächlichen Dinge, wie die Ernährungsweise, mögen sich voneinander unterscheiden, doch ihr macht beide, was ihr wollt. Ich muss das wissen, glaub mir. Mittlerweile bin ich sehr stolz auf dich, meine Tochter, dass du das durchgezogen hast. Dass du dich trotz Gegenwind nicht hast beeinflussen lassen. Nun hast du eine Freundin gefunden und wir auch.

29. März 2022, Tag 34

Politischer Paradigmenwechsel im Schnelldurchlauf: Unser grüner Wirtschafts- und Klimaschutz- und Philosophie- und Instagramminister Robert Habeck hat einen Krisenstab zusammengetrommelt, also die Frühwarnstufe verkündet, Deutschland bereitet sich auf eine mögliche Gasknappheit vor. Putin wiederum hat angekündigt, in der Ukraine weniger kämpfen zu lassen, was ihm keiner glauben will. Und wir? Wir müssen den Abfluss der Badewanne entkalken, die bislang nur einen Kopf Frauenhaar gewöhnt war. Anstatt sich von der Nachrichten- und Badezimmerlage lähmen zu lassen, startet Anna handlungseifrig in den Tag. Sie konzentriert sich auf das Positive: Unser Anruf bei der Genossenschaft war erfolgreich. Sie sichern volle Unterstützung zu, bitten aber um einige Tage Geduld, um uns die nötigen Formulare postalisch zukommen zu lassen. Anna ist damit für ein Jahr in meiner Wohnung registriert. Und wenn sie nach Ablauf der 365 Tage immer noch bei mir bleiben wollen würde, könnten wir erneut mit der Vermietung ins Gespräch gehen. Zumindest laut meiner zuständigen Beraterin mit der hellen Stimme und dem Bilderbuchnamen »Frau Herbst«. So lange haben Anna und ich Zeit für andere Dinge.

Im ketchuproten Bademantel (Kellerfund) steht sie vor meinem/ihrem/unserem Schrank und murmelt leise vor sich hin: »Ich sprechen nicht Deutsch. Ich sprechen kein Deutsch. Ich spreche keine Deutsch.« Wenn nicht sie selbst deutsche Wortfetzen wiederholt, dann tut es die Stimme aus der App. Ich klopfe an ihre offene Tür, und Anna bedankt sich, als ich ihr eine Tasse Kaffee mit Milch und Zucker reiche, wie sie ihn am liebsten trinkt. Der Löffel darin ist ein Souvenir, das auf der Reise durch Polen ihren Besitz vergrößert hat. Sie liebt diesen Löffel, vielleicht, weil er Zeuge dessen ist, was sie geleistet hat, weil sein Anblick Stolz auf sich selbst in ihr auslöst.

»Es ist Wochenende«, stelle ich fest. »Lust, etwas mit mir und meinen Freund:innen zu unternehmen?«

Kyiv versus Berlin

Kyiv ist genauso eine europäische Metropole wie Berlin. Voller Menschen von verschiedenen Orten. Es gibt alte und neue Gebäude. Wenige Städte innerhalb der Ukraine sind wie Kyiv und Berlin. Kharkov war eine davon, sie wurde von vielen »die zweite Hauptstadt« genannt. Die Entfernungen innerhalb Kyivs sind nicht so weit wie in Berlin. Die Leute sind spontaner, wenn es darum geht, sich zu verabreden. Wenn ich einen freien Samstag vor dem 24. Februar in Kyiv verbringen könnte, würde er natürlich mit einem Spaziergang mit Oscar anfangen. Sauber machen, kochen, entspannen und sich mit Freunden auf ein Barbecue treffen. Wir könnten alle gemeinsam in den Wald gehen, spazieren. Cafés, Restaurants, Kinos haben mich nicht so sehr interessiert, ich bevorzuge es, im Grünen zu sein. Da lade ich auf, während mich zu viele fremde Menschen eher Energie kosten. In der Nähe von meinem Zuhause gab es einen kleinen See, den hätten meine Freunde und ich bestimmt besucht. Ich vermisse diesen Ort.

Runa und Bjarne entführen Anna, Oscar und mich zu einem Tag am Bernsteinsee. Die Sonne lässt das Wasser glitzern, Oscar nutzt die vielen Hände, um unterschiedliche Massagetechniken kennenzulernen, und Anna hat einen Anlass, um nicht nur Calvin Klein, sondern auch ihre Sonnenbrille auszuführen. Sie hat darauf bestanden, uns alle auf ein Getränk einzuladen, deshalb stecken die Flaschen nun im Sand zwischen unseren ausgestreckten Beinen. Es ist eine andere Atmosphäre als sonst zwischen Bjarne, Runa und mir. Weniger intim vielleicht, aber nicht weniger schön. Anna bringt neue Stimmungen, Geschichten, Perspektiven und Witze mit in die Runde, sie lacht über meine Eigenarten wie ich über ihre. Doch es herrscht nicht nur eine eigene Dynamik zwischen uns beiden und mir und meinen jahrelangen Freund:innen, sondern auch zwischen uns vieren. Ich will unser Lachen in Konserven füllen und sie erst in den Wahlkabinen besonders rechter Wahlbezirke wieder aufschrauben. Wen diese Freude nervt, der ist sich selbst das größte Hindernis.

Eine Autofahrt lang trainierten Runa, Anna und Bjarne für das Wechselspiel zwischen leichten und ernsten Themen, was eine knappe Stunde später und am Zielort angekommen, bereits wettbewerbsfähig gelingt.

»Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, aufgrund seiner Herkunft ausgegrenzt zu werden.« Runa pult an dem feucht gewordenen Flaschenetikett herum. »Mir passiert das nur wegen meines Körpers.« Wenn sie spricht, versteht man, dass Sprache Musik ist, und sie ist noch schöner, als sie klingt. Runa hat volle Brüste, attraktiv kurvig-weiche Hüften, aufgeregt aufblitzende Augen. Aber sie hat auch recht, und es wäre unfair, das Problem des Pretty Privilege nicht zu sehen, gar zu leugnen, dass manche Menschen von potenziellen Datingpartner:innen schnell in die Freundschaftsschublade geschoben werden. Wir mögen nicht nur mehr weiße Haut in der Öffentlichkeit, sondern auch weniger Fett.

»Es ist stark, wie ehrlich du bist, Runa«, spreche ich den Gedanken aus, der auch in Annas und Bjarnes Blicken zu erkennen ist, und muss an Worte denken, die ich kürzlich in einem Essay von Donatella Di Cesare dreimal umkreist habe. Die italienische Philosophin spricht darin vom Leben »im Zeichen einer neu entdeckten und artikulierten gemeinsamen Verletzlichkeit«.

Erst als Anna sich ein paar Schritte von uns entfernt, um mit Oscar Gassi zu gehen, erlauben Bjarne und Runa sich den Wechsel in die deutsche Sprache. Auch für mich ist es ungewohnt, den ganzen Tag Englisch zu sprechen.

»Und wie geht es dir?«, will Bjarne wissen. »Wenn du mal eine Auszeit brauchst, dann sag Bescheid.«

»Meine Wohnung ist deine Wohnung, das weißt du«, ergänzt Runa und breitet ihr Lächeln vor mir aus. Worte wie Doping. Ich habe gute Freundinnen und Freunde, richtig gute: »Vielleicht komme ich darauf zurück, danke.«

»Gut.« Runa nickt. »Es ist nämlich wichtig und gut, was du da machst, und ich würde gern mit meiner Energie dazu beitragen, dass du genug Energie hast, um Energie für Anna zu haben.«

»Klingt energetisch.«

»Aber eine Frage habe ich noch: Warum machst du das? Ist der Solidaritätsgedanke der einzige Grund, warum du jemanden aufnehmen wolltest?«

1. März 2022, Tag 6

»Kommen Sie zu uns – für einen Tag, einen Monat oder ein Jahr! Wir suchen das ganze Jahr über kurz-, mittel- oder langfristig Freiwillige, die an unseren Aktionen im Lager und vor Ort teilnehmen«, lese ich auf der Website der Auberge des Migrants in Calais. Der Dachverband bietet Exilant:innen, die an der französisch-britischen Grenze gestrandet sind, konkrete Hilfe an. »Dachverband« klingt zu amtlich und seelenlos, um das Bild der Menschen in den Köpfen der Lesenden zu wecken, die letztendlich der Dachverband sind. L’Auberge des Migrants wird ausschließlich von Ehrenamtlichen getragen.

Als ich auf ihrer Website weiterscrolle, finde ich den Namen eines alten Bekannten: Loan Torondel, Vizepräsident. Ich war damals sofort verknallt in den Franzosen mit den braunen Locken und markanten Gesichtszügen. Loan war weder unsympathisch breit vom Fitnessstudio wie so viele der Berliner Jungs, mit denen ich zu tun hatte, noch legte er viel Wert auf besonderes Styling. Er sah aus wie jemand, der seine Zeit nutzte, um mit anzupacken, wo es gebraucht wurde, um nachzudenken und miteinander zu sein. Jemand, mit dem man abends auf dem Sofa sitzen wollte, nur um seine Gedanken zu hören. Vielleicht hatte ich diese Faszination entwickelt, weil ich zu diesem Zeitpunkt zu viel Jane Austen las. Vielleicht aber auch, weil Loan war, was ich sein wollte, weil Menschen mit Idol- und Vorbild-Charakter so sehr dazu einladen, sie zu lieben. Seine Freundin war mindestens genauso toll, was mir zwar jegliche Aussicht auf eine Romanze mit Loan verwehrte, aber dafür einen weiteren Menschen schenkte, zu dem ich aufsehen konnte. Während L’Auberge des Migrants für mich nur eine Etappe war, ist es für die beiden ihr Leben. Während ich vor allem meinem guten Gewissen einen Vorsprung verschaffte, haben Loan und seine Freundin das Helfen zu ihrem Tagesgeschäft erklärt. Auf Instagram sieht es so aus, als wäre Loan mittlerweile auch für Amnesty unterwegs. Ich könnte ihn fragen, doch ich schäme mich. Wir drei lernten uns 2016 in Calais kennen, als ich für ein paar Wochen gemeinsam mit Kommiliton:innen an die französische Küste fuhr. Die Tatsache, dass wir in Calais waren, weil wir einem Aushang in unserer Journalist:innenschule gefolgt waren, hatte vermutlich nicht gerade für Sympathiepunkte gesorgt. Es stank nach Eigennutz, nach Leuten, die nur für eine gute Geschichte helfen wollen. Zu diesem Zeitpunkt leiteten Loan und seine Freundin den Dachverband. In malerischer Gegend kamen wir in einer Herberge unter, in der freiwillige Helfer:innen aus allen möglichen Ländern für einen schmalen Taler wohnten. Fußläufig 15 Minuten vom Strand entfernt und einen Wimpernschlag von allgemein akzeptiertem zu konservativem Gedankengut. Dass ausgerechnet Calais einer der von den Rechten regierten Wahlbezirke Frankreichs ist oder zu diesem Zeitpunkt zumindest war, sorgte nicht nur für angespannte Stimmung, sondern auch für angezündete Geflüchtetenlager. Als wären die Konflikte unter den Ankommenden noch nicht genug. Frust, kulturelle Unterschiede und Wut auf das Leben vermischten sich zu einem explosiven Cocktail.

Pünktlich zum Wahlkampfbeginn sprach am 26. September 2016 Präsident François Hollande bei einem Besuch in Calais davon, das improvisierte Lager »komplett und definitiv« auflösen zu wollen, nachdem wenige Tage zuvor Lastwagenfahrer:innen und Bauern sowie Bäuerinnen aus Protest Straßen in der Region um Calais blockiert und eine ganze Autobahn gesperrt hatten. Sie hatten Banner vorbereitet mit Slogans wie: »Die Bürger von Calais sind eingesperrt, die Flüchtlinge sind frei«, weil sich die Bewohner:innen von Calais durch das Camp eingeschränkt fühlten. Die konservative Opposition, darunter Ex-Präsident Nicolas Sarkozy und Marine Le Pen, erklärte die Begrenzung der Migration zu einem ihrer wichtigsten Wahlkampfthemen. Proteste sämtlicher Hilfsorganisationen scheiterten. Die Räumung des Lagers fand vom 24. bis 26. Oktober 2016 statt, obwohl ursprünglich eine Woche dafür angesetzt war. Vor der geplanten Räumung gab es gewaltsame Zusammenstöße zwischen Geflüchteten und der Polizei, während der Räumung selbst kam es zu einem Brand.

»Freiwilligenarbeit ist eine Möglichkeit, die Realität mit eigenen Augen zu sehen«, lese ich weiter auf der Website der Auberge des Migrants. »Calais ist nicht mehr wirklich ein heißes Thema in den Medien, aber das humanitäre Drama bleibt bestehen. Wir wollen es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, mit eigenen Augen zu sehen, selbst zu urteilen und zu handeln. Unsere Freiwilligen können dann unsere Stimme zu den Menschen tragen, die um sie herum sind.«

Ich habe nach meiner Rückkehr aus Calais nur ungern über die Zeit vor Ort gesprochen. Nicht, dass ich keine Freude gehabt hätte, ganz im Gegenteil, die Arbeit mit den anderen Freiwilligen hat sich zeitweise wie eine große Party angefühlt. Bei lauter Musik tanzten wir uns in der kühlen und heruntergekommenen Lagerhalle warm, die in verschiedene Arbeitsbereiche unterteilt war. In einem Bereich kochten wir Chili sin Carne sowie andere ausschließlich vegane Gerichte, damit möglichst viele Religionen respektiert wurden und Unverträglichkeiten kaum eine Rolle spielten. Die Töpfe waren so groß, dass wir sie im Hof mit Gartenschläuchen auswaschen mussten. Von hier aus konnte man auch die Nebenhalle erreichen, in der Tonnen an Kleiderspenden nach Art und Brauchbarkeit sortiert wurden. Wir haben uns gemeinsam darüber echauffiert, was für Dreckswäsche manche Menschen »Spende« nennen, als hätten die Geflohenen kein Ehrgefühl, als wären sie nichts wert. Eine Gruppe von uns fuhr zur Essensausgabe, stand zwischen Polizist:innen mit riesigen Gewehren und Sturmausrüstung. Sie patrouillierten, um uns einzuschüchtern und einzugreifen, sobald unsere genehmigte Stunde vorbei war. Wir schöpften die Zeit bis zur letzten Sekunde aus, um möglichst viele Menschen mit nicht mal dem Nötigsten zu versorgen, damit ihre Mägen aufhörten zu knurren und die Menschen nicht noch mehr Gewicht verloren. Die Polizei kontrollierte unsere Ausweise. Wer ihn nicht dabeihatte, wurde mit zur Wache genommen. Die, bei denen man sich hätte beschweren können und um Schutz bitten, waren es selbst, die uns grob, ausfällig behandelten und teilweise aggressiv anpackten. Keine Angst musste man in den Jugendzentren mit sanitärer Grundversorgung haben, bestehend aus Duschen und Toiletten. Wir besuchten sie, um mit den Jugendlichen aus unter anderem Syrien und Afghanistan auf dem Bolzplatz zu kicken. Um ihnen zu zeigen, dass auch Menschen hier sind, die sie willkommen heißen. An den Abenden und nach getaner Arbeit zischten wir in der Herberge gemeinsam ein Bier, hörten französische Musik oder spielten Gruppenspiele im Innenhof. Ich hatte Spaß, zeitweise sogar großen Spaß.

Der Grund, warum ich trotzdem nicht gern über die Zeit in der Auberge rede, ist der, dass ich nach wenigen Wochen zurückgekehrt bin, während andere geblieben sind. Ich habe auch Dinge erlebt, die alles andere als eine Party waren. Ich habe gesehen, dass Hände gebraucht wurden.

Das dauerhafte Team der Auberge versuchte uns das Gefühl zu geben, dass es okay sei, wenn für uns Calais nur eine Zwischenstation war. Sie sind auch auf diejenigen angewiesen, die kaum eingearbeitet wieder fahren, um später behaupten zu können, sie waren da. Leute wie mich. Nicht sofort, aber in der Reflexion meinte ich, unterdrückten Vorwurf in manchen Blicken wahrgenommen zu haben. Auch in Loans. Er hatte so viel mehr gesehen und verstanden. Vor allem an einen Moment denke ich mit Schaudern zurück. Ein älteres Paar aus der Gegend besuchte uns in der Herberge mit dem Geflüchteten, den es aufgenommen hatte. Uns wurde gesagt, dass er seine Erfahrungen mitteilen wollte, um uns verstehen zu lassen, wie die Dinge hier funktionierten, damit wir sie in unsere Heimatländer tragen konnten und sich vielleicht etwas änderte. Irgendwann, irgendwie. Der Junge trug Skinny Jeans und ein Deutschland-Trikot, das er von einem mehrwöchigen Aufenthalt in Bayern mitgebracht hatte, was vielleicht nach Urlaub klingt, aber rein gar nichts damit zu tun hatte. Der Junge war wieder dorthin zurückgeschickt worden, da irgendwelche Paragrafen wollten, dass er in dem Bundesland blieb, in dem er angekommen war. Oder am besten dahin zurückkehrte, wo er herkam.

Anfangs kam mir das Gespräch mit dem geflohenen Jungen nicht merkwürdig vor. Wir Helfenden hatten in einem Raum einen Sitzkreis gebildet, und er bildete zusammen mit seinen Gasteltern einen Teil davon. Der Junge berichtete davon, aus einer verhältnismäßig reichen Familie zu kommen, die sich trotzdem für einen Angehörigen entscheiden musste, für den sie sich die Flucht überhaupt leisten konnte. Die Ursache für Loans verkrampften Blick führte ich so lange auf Mitleid zurück, bis die Gasteltern des Jungen ihn nicht nur durch ihre Präsenz, sondern auch verbal zum Weiterreden aufforderten. Loan hatte mit Sicherheit Mitleid mit dem Geflohenen, vor allem aber war er wütend auf dessen Begleitung. Der Junge war noch nicht so weit, über das Erlebte zu reden, aber seine Gasteltern waren so weit, sich zu präsentieren.

Als die neben mir sitzende Kommilitonin begann, Fragen zu stellen, die auch eine Bild-Redakteurin hätte stellen können, galten Loans wütende Blicke nicht mehr nur den Gasteltern. Dabei meinte sie es nicht einmal böse, dafür kannte und kenne ich sie zu gut. Vielleicht waren ihr fehlende Empathie und ungezügelte Naivität vorzuwerfen, und mit Sicherheit war auch blinder Ehrgeiz einer ihrer Antriebe, doch sicher keine Boshaftigkeit. Die damals 20-Jährige glaubte einfach daran, dass Geschichten wie diese geteilt werden mussten, um Menschen nicht nur der Emotionalisierung wegen zu emotionalisieren, sondern auch des Handelns wegen. Es war das, was wir in unseren Vorlesungen lernten und womit wir irgendwann unseren Lebensunterhalt bestreiten wollten.

Nach diesem Vorfall kam eine Freundin von Loan zu mir und sagte: »Du bist anders als deine Kommilitonen, oder? Dir geht es nicht nur darum.« Doch so ganz sicher schien sie sich nicht zu sein. Die darauffolgenden letzten Tage meiner Reise bestritt ich vor Scham dem Boden gleich. Still, möglichst unauffällig und mit Stein in der Magengrube.

Nun scrolle ich Jahre später im Zuge meiner Corona-Langeweile durch das Netz und bin diesen Stein noch immer nicht ganz los. Ich suche nach der Website des Dachverbands, weil ich beim Lesen der Artikel über die aktuelle Freiwilligenarbeit der Deutschen an Loan und das Team denken musste. Er hätte gewusst, wie man sich hier in Deutschland schnell Strukturen schafft, um als Ehrenamtliche die Geflüchteten aus der Ukraine zu versorgen. Seine Wohnung anzubieten, wäre das Mindeste, was er gemacht hätte. Ich dachte viel an ihn, als ich mich auf der Website für zur Verfügung gestellte Unterkünfte anmeldete, und wenig an Mama. Jetzt ist es andersherum. Ihre Stimme klingelt in meinen Ohren, ich denke an ihre Widersprüche, an das Zögern, das sie viel zu leicht in mir ausgelöst hat … und dann ganz schnell wieder an Loan, um es mir nicht anders zu überlegen.

Zum Glück gibt es auch deutsche Loans, und die retten unserer Regierung gerade den Arsch. Die ankommenden Geflüchteten am Hauptbahnhof werden in dieser Sekunde ausschließlich von Freiwilligen versorgt, während die Regierung pennt und ich Covid verfluche. Vielleicht denkt Loan bei der aktuellen Nachrichtenlage auch an mich und meine Kommiliton:innen. Ich hoffe jedoch, dass nicht. In Loans Erinnerung muss ich eine der deutschen Nachwuchsjournalistinnen sein, die naiv und neugierig in einen geschützten Raum eindringt und der es genügt, wenige Wochen lang ein paar Kleider zu sortieren und Chili zu kochen, um beruhigten Gewissens mit ein paar Geschichten über eigene Wohltaten im Gepäck in Mamas und Papas gemütliche Wohnung zurückzukehren.

30. März 2022, Tag 35

Rote Tropfen benetzen die stählerne Klinge. »Warum tut sie so, als wäre ich anstrengend?!« Trotzdem hören sich die gezischten S-Laute schärfer an, als das Messer in Mamas Hand aussieht. »Womit habe ich das verdient, hm?!« Ihre hohe Stimme klingelt in meinen Ohren. »Alles nur, weil deine Schwester sich schämt.« 

Das Drama ist groß, denn Julia möchte die für sie eingetupperten Essensreste nicht mitnehmen. Ein Kardinalfehler, für den ich früher auch in regelmäßigen Abständen mit halbstündigen Streitereien bezahlte. Zum Beispiel dann, wenn mir klar war, dass die mit Mayotürmchen gekrönten Eier in meinem bereits platzenden Kühlschrank nur schlecht werden würden. Oder wenn ich schlicht und einfach das Gefühl hatte, Mama tat mir mit dem halben Blech Kuchen und dem neuen Standmixer schon genügend Gutes, auch wenn Letzterer bei Tchibo im Angebot gewesen war. 

»Beruhig dich, Mama«, versuche ich die Position der Schlichterin auszufüllen, in die ich gedrängt wurde. »Julia meint es nicht so.«

Papa macht es richtig. Seit zehn Minuten stapelt er in sicherer Entfernung die letzten drei Teller, die noch nicht aus dem Wohnzimmer abgeräumt wurden. Dabei ist er für Mamas Kellerlaune durchaus mit verantwortlich, weil er heute ihre liebste Tischdecke gleich mehrfach mit Bratensoße besudelt hat. »Das hat doch alles keinen Sinn, Mama!« Meine Schwester müsste es eigentlich genauso gut wissen. Man überlebt keine 37 Jahre als Tochter, um naiv genug zu bleiben und zu glauben, Familie habe stets einen Sinn. »Was ist an einem einfachen Nein so schwer zu verstehen?«

Während Mama und Julia sich den Tupperdosenturm hin und her schieben, steht Anna bereits in Schal und Schuhen an der Tür. Eigentlich wollten wir gerade gehen, als ich unfreiwillig zur Schlichterin zwischen Mama und Julia erklärt wurde. Es ist die erste Familienzickerei, die Anna mitbekommt. Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir uns ein paar Wochen länger zusammenreißen können. Unangenehm berührt, zucke ich mit den Schultern und bedeute Anna mit gehobenem Zeigefinger, dass es nur noch eine Minute braucht. Hoffentlich. Zu meinem eigenen Erstaunen reagiert Anna mit einem ehrlich amüsierten Lächeln und einer entspannt abwinkenden Handgeste. Die polnische und die ukrainische Sprache ähneln sich genug, als dass sie Fetzen der Streiterei verstehen wird, und selbst wenn nicht, gerade spielen Mama und Julia Tauziehen mit einer der Plastikboxen, als würden sie die darin enthaltenen Schnittchen zu einem Brotcocktail schütteln wollen. Deutlicher geht es nicht. Ich hatte erwartet, dass Anna ähnlich wie meine deutschen Freund:innen reagieren würde: »Darüber streitet ihr?« Ich würde gern behaupten, dass diese Situation in ihrer Lächerlichkeit einzigartig ist, doch das wäre so gelogen wie Mamas Unterlippenbeben. Die Mischung aus bewusst gesetzter Nettigkeit und dosiert offengelegter Verletzlichkeit, mit einer vielleicht etwas stärkeren Prise Narzissmus, als sie zugeben wollen würde, macht sie gefährlich.

Meine Freund:innen haben nie verstanden, was mich stört. Warum meine Geschwister und ich Mamas Geschenke nicht freudig entgegennehmen. Einer hatte mal behauptet, seine »Kartoffeleltern« sofort gegen meine einzutauschen, wenn ich wollte: »Seit ich 18 bin, teilen wir uns sogar die Rechnung im Restaurant.«

Natürlich sind nicht alle Kartoffeleltern so, trotzdem benimmt sich auch keiner wie meine Eltern. Genauso wie man den Deutschen Sauerkraut und Bier auf die Fahne schreibt und beides in Polen viel häufiger konsumiert wird, habe ich noch nie deutsche Eltern erlebt, die so sehr Eltern sein wollen. Bis zum Tod.

Oder bis zur Flucht. Während Papa immer noch im Wohnzimmer feststeckt (die Teller sind heute aber auch schwer), schiebe ich mich Richtung Haustür und lasse Julia allein zurück.

»Entschuldige bitte«, murmle ich auf dem Weg nach Hause in Annas Richtung. »Aber Mama ist so überfürsorglich, dass das manchmal ein schlechtes Gewissen in mir auslöst.«

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