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Was du getan hast

Wem kannst du trauen - wenn nicht deiner besten Freundin von früher?

Kate bekommt den schrecklichsten Anruf ihres Lebens. Sie erfährt ausgerechnet von ihrem Vater, dass ihre Mutter umgebracht wurde. Kate ist verzweifelt. In dieser schweren Stunde ruft sie ihre ehemals beste Freundin Blaire an. Blaire lebt mittlerweile als erfolgreiche Krimiautorin in New York. Sie kommt zurück und steht Kate bei, denn jemand hat es auf Kate abgesehen. Sie wird bedroht. Als erst ihr Vater in den Fokus der Ermittlungen rückt und dann plötzlich Kates Ehemann Simon verdächtigt wird, verliert sie jegliche Sicherheit. Wem kann sie noch trauen?


  • Erscheinungstag: 16.09.2019
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678476
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Sie schrie und versuchte aufzustehen, doch der ganze Raum drehte sich. Sie setzte sich wieder, atmete tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren. Gab es eine Möglichkeit zu entkommen? Denk nach. Sie stand auf, immer noch wacklig auf den Beinen. Das Feuer breitete sich nun aus, erfasste die Bücher und Fotos. Sie ließ sich auf Hände und Knie nieder, während schwerer Rauch das Zimmer erfüllte. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, und sie zog sich das T-Shirt über den Mund, um auf allen vieren Richtung Flur zu kriechen.

»Hilfe!«, krächzte sie, obwohl sie wusste, dass niemand da war, der ihr helfen würde. Keine Panik, sagte sie sich. Sie musste versuchen, ruhig zu bleiben, um Sauerstoff zu sparen.

So konnte sie doch nicht sterben. Der Rauch wurde immer dichter, und sie konnte nur noch wenige Zentimeter weit sehen. Die Hitze der Flammen streckte sich nach ihr aus und würde sie verzehren. Ich schaffe es nicht, dachte sie. Ihre Kehle fühlte sich rau an, und in ihrer Nase brannte es.

Mit letzter Kraft schleppte sie sich in die Diele. Vor Erschöpfung keuchend blieb sie liegen. Sie fühlte sich benommen, doch der Marmorboden war angenehm kühl auf ihrer Haut, und sie presste die Wange daran. Nun konnte sie einschlafen. Ihre Augen fielen zu, und sie spürte, wie sie dahinschwand, bis alles schwarz wurde.

Kapitel 1

Vor ein paar Tagen hatte Kate sich noch Gedanken darüber gemacht, was sie ihrer Mutter zu Weihnachten schenken sollte. Unmöglich hätte sie ahnen können, dass sie statt eines Geschenks einen Sarg für sie aussuchen würde. Nun saß Kate benommen schweigend da, während die Sargträger langsam auf die Tür der voll besetzten Kirche zuschritten. Eine plötzliche Bewegung veranlasste sie, sich umzudrehen, und da erblickte Kate sie. Blaire. Sie war gekommen. Sie war tatsächlich gekommen! Auf einmal hatte sie das Gefühl, ihre Mutter würde gar nicht in dieser Kiste liegen, wäre nicht einem brutalen Mord zum Opfer gefallen. Sie sah sie wieder vor sich, lachend, mit vom Wind verwehtem Haar, wie sie Blaire und Kate bei den Händen nahm und sie alle drei durch den heißen Sand ins Meer liefen.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Simon, Kates Ehemann, und berührte sie am Ellbogen.

Sie war so aufgewühlt, dass ihre Stimme versagte. Deshalb nickte sie nur und fragte sich, ob er Blaire auch gesehen hatte.

Nach dem Gottesdienst brauchte die lange Autoprozession eine Ewigkeit bis zum Friedhof. Als sich schließlich alle dort eingefunden hatten, war sie nicht überrascht zu sehen, dass die Schlange rund um das Gelände reichte. Zusammen mit ihrem Vater und Simon nahm sie Platz, während sich die restlichen Trauergäste um das Grab versammelten. Trotz des klaren Himmels wehten ein paar Schneeflocken durch die Luft, Vorboten des nahenden Winters. Durch ihre dunkle Sonnenbrille studierte Kate die Gesichter der Anwesenden, versuchte, jeden Einzelnen einzuschätzen, und fragte sich, ob sich der Mörder unter ihnen befand. Es waren einige Fremde da – jedenfalls kannte sie die Leute nicht – und alte Freunde, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Sie ließ den Blick über die Menge schweifen, bis sie einen hochgewachsenen Mann entdeckte, neben dem eine zierliche weißhaarige Frau stand. Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus, als würde eine unsichtbare Hand ihr Herz zerquetschen. Jakes Eltern. Sie hatte sie seit seiner Beerdigung nicht mehr gesehen, die bis zu dieser Woche das schlimmste Ereignis ihres Lebens gewesen war. Mit versteinerten Gesichtern starrten sie vor sich hin. Kate ballte die Fäuste, wollte den Schmerz und die Schuldgefühle nicht wieder zulassen. Doch sie wünschte sich so sehr, mit Jake reden zu können, an seiner Schulter zu weinen, während er sie festhielt.

Die Grabrede des Geistlichen war erbarmungsvoll kurz. Harrison, Kates Vater, stand bewegungslos da und starrte auf den Sarg, der in die Erde hinuntergelassen wurde. Kate verschränkte ihre Hand mit seiner, und er blieb noch eine Weile mit undurchdringlicher Miene stehen. Mit einem Mal sah er viel älter aus als achtundsechzig, selbst die Furchen um seinen Mund wirkten tiefer als zuvor. Die Trauer überwältigte Kate, und sie musste sich an einem der Klappstühle abstützen.

Lilys Tod würde eine riesige Lücke in ihrer aller Leben hinterlassen. Sie war der Fixpunkt gewesen, um den sich die Familie drehte, hatte Harrisons Leben für ihn organisiert und sorgfältig ihre zahlreichen gesellschaftlichen Aktivitäten geplant. Eine elegante Frau, die der wohlhabenden Evans-Familie entstammte und der man von Kindheit an eingeprägt hatte, dass ihr glückliches Schicksal sie dazu verpflichtete, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Lily war im Vorstand mehrerer Wohltätigkeitsverbände gewesen und darüber hinaus Vorsitzende ihrer eigenen Stiftung, dem Evans-Michaels Family Trust, der Organisationen finanziell unterstützte, die sich für Opfer von häuslicher Gewalt und Kindesmissbrauch einsetzten. Kate hatte jahrelang miterlebt, wie ihre Mutter die Stiftung geleitet, unermüdlich Spenden gesammelt und sich sogar persönlich um die Opfer gekümmert hatte, und doch war sie immer für ihre Tochter da gewesen. Zugegeben, sie hatte Kindermädchen gehabt, aber Lily hatte sie immer selbst ins Bett gebracht, hatte nie eine Schulveranstaltung verpasst, hatte ihr die Tränen weggewischt und ihre Erfolge mit ihr gefeiert. In gewisser Weise war es auch etwas entmutigend gewesen, ihre Tochter zu sein, denn Lily erledigte alles mit einer ungeheuren Leichtigkeit und Eleganz. Doch es war die tief in ihrem Innern verwurzelte Zielstrebigkeit, die sie antrieb. Manchmal hatte Kate sich vorgestellt, wie ihre Mutter die aufrechte Körperhaltung und das perfekte Auftreten endlich einmal fallen ließ und sich entspannte, wenn sie die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich schloss. Kate hatte sich geschworen, eine Mutter wie ihre eigene zu werden, sollte sie jemals Kinder bekommen.

Sie hakte sich bei ihrem Vater ein und zog ihn sanft aus dem Bestattungszelt, unter dessen Baldachin Treibhausrosen und – lilien die kalte Luft mit ihrem Übelkeit erregenden Geruch erfüllten. Simon ging auf ihrer anderen Seite, und zu dritt liefen sie zu der wartenden Limousine. Erleichtert glitt Kate in die abgeschottete Dunkelheit des Wagens und schaute aus dem Fenster. Der Atem stockte ihr, als sie einen Blick auf Blaire erhaschte, die mit verschränkten Händen allein dastand. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht das Fenster herunterzulassen und nach ihr zu rufen. Sie hatten vor fünfzehn Jahren das letzte Mal miteinander gesprochen, doch jetzt, da sie Blaire sah, kam es ihr vor, als wären sie erst gestern zusammen gewesen.

Simons und Kates Haus in Worthington Valley war nur eine kurze Autofahrt vom Friedhof entfernt. Sie hatten nie erwogen, den Trauerempfang im Haus von Kates Eltern abzuhalten, in dem Lily ums Leben gekommen war. Ihr Vater war nicht mehr dort gewesen, seit er die Leiche seiner Frau entdeckt hatte.

Als sie ankamen, eilte Kate den anderen voraus zur Haustür. Sie wollte kurz nach ihrer Tochter sehen, bevor die Leute ins Haus strömten. Schnell lief sie die Treppe hinauf in den ersten Stock. Simon und sie hatten beschlossen, der Kleinen, die demnächst fünf wurde, das Trauma der Beerdigung zu ersparen.

Lily war vor Freude außer sich gewesen, als Kate ihr von der Schwangerschaft berichtet hatte. Sie hatte Annabelle vom Moment ihrer Geburt an vergöttert und ihr alle Aufmerksamkeit geschenkt, ohne die Einschränkungen, die Kate hatte hinnehmen müssen. Lachend hatte sie gesagt: »Ich darf sie verwöhnen. Du bist diejenige, die sie erziehen muss.« Kate fragte sich, ob Annabelle sich in einigen Jahren noch an ihre Großmutter erinnern würde. Der Gedanke brachte sie aus dem Gleichgewicht, und ihr Fuß rutschte von der obersten Stufe ab. Sie hielt sich am Geländer fest, stieg die letzte Stufe bis zum Treppenabsatz hinauf und ging zum Kinderzimmer.

Als sie hineinspähte, spielte Annabelle zufrieden mit ihrem Puppenhaus. Die tragischen Ereignisse der letzten Tage schienen zum Glück nicht zu ihr durchzudringen. Ihre Nanny Hilda schaute auf, als Kate den Raum betrat.

»Mommy.« Annabelle stand auf, rannte auf Kate zu und schlang die Arme um ihre Taille. »Ich habe dich vermisst.«

Kate umarmte ihre Tochter und schmiegte das Gesicht an ihren Hals. »Ich habe dich auch vermisst, Schatz.« Sie setzte sich auf den Schaukelstuhl und zog Annabelle auf ihren Schoß. »Ich möchte mich gern mit dir unterhalten, und anschließend gehen wir zusammen nach unten. Ich habe dir doch erzählt, dass Grammy in den Himmel gekommen ist …«

Annabelle schaute sie ernst an. »Ja«, antwortete sie mit zitternder Oberlippe.

Kate fuhr mit den Fingern durch die Locken ihrer Tochter. »Unten sind eine Menge Leute. Sie sind alle gekommen, um uns zu sagen, wie lieb sie Grammy hatten. Ist das nicht nett von ihnen?«

Annabelle nickte und sah sie starr mit großen Augen an.

»Sie wollen uns damit zeigen, dass sie sie niemals vergessen werden. Und wir werden sie auch nicht vergessen, nicht wahr?«

»Ich will Grammy sehen. Ich will nicht, dass sie im Himmel ist.«

»Ach Liebling, du wirst sie wiedersehen, das verspreche ich dir. Eines Tages wirst du sie wiedersehen.« Sie drückte Annabelle an sich und versuchte, ihre eigenen Tränen zu unterdrücken. »Lass uns runtergehen, um die Leute zu begrüßen. Es ist sehr nett von ihnen, dass sie heute zu uns gekommen sind. Du kannst Granddaddy und unseren Freunden Hallo sagen und dann wieder hochgehen und spielen. Okay?« Kate stand auf und nahm Annabelles Hand. Mit einem Nicken bedeutete sie Hilda, ihnen zu folgen.

Unten bahnten sie sich ihren Weg durch die Menge der Kondolenzgäste. Nach einer Viertelstunde bat Kate Hilda, Annabelle wieder hoch ins Spielzimmer zu bringen. Dann lief sie allein von Gast zu Gast, um jeden zu begrüßen, doch vor Trauer und Schmerz zitterten ihr die Hände, und sie atmete keuchend, als würde die Menge alle Luft verbrauchen. Die Leute drängten sich dicht an dicht im Wohnzimmer.

Auf der anderen Seite des Raums standen Selby Haywood und ihre Mutter Georgina Hathaway dicht mit Harrison zusammen. Wehmut überkam Kate, als sie sie betrachtete. So viele schöne Erinnerungen … All die Sommertage am Strand seit ihrer Kindheit, als sie und Selby in der Brandung herumgeplanscht und Sandburgen gebaut hatten, während ihre Mütter zusahen. Georgina war eine von Lilys engsten Freundinnen gewesen. Beide waren immer so froh gewesen, dass ihre Töchter sich ebenfalls mochten. Kates Freundschaft zu Selby war jedoch anders als die zu Blaire. Ihre Mütter hatten Kate und Selby zusammengebracht, während sie und Blaire sich einfach gefunden hatten. Von Anfang an hatte zwischen ihnen eine besondere Verbindung bestanden, als würden sie einander in einer ganz besonderen Weise verstehen. Sie konnte Blaire das Innerste ihrer Seele offenbaren, was bei Selby nie möglich gewesen war.

Als sie eine Berührung am Ellbogen spürte, drehte sie sich um und blickte in das Gesicht der Frau, die während der prägenden Jahre ihrer Jugend wie eine Schwester für sie gewesen war. Sie ließ sich in Blaires Arme sinken und schluchzte.

»Oh, Kate, ich kann es immer noch nicht glauben.« Als Blaire sie an sich drückte, spürte Kate ihren warmen Atem am Ohr. »Ich hatte sie so lieb.«

Nach einer Weile löste sie sich von Blaire und umfasste ihre Hände. »Sie hatte dich auch lieb. Ich freue mich so, dass du gekommen bist.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Es war geradezu surreal, Blaire hier in ihrem Haus zu sehen nach all den Jahren der Entfremdung. Dabei hatten sie einander früher so viel bedeutet.

Blaire hatte sich kaum verändert: Ihr langes dunkles Haar fiel in dicken Wellen herab, und ihre grünen Augen funkelten so wie früher. Nur die zarten Lachfalten, die sie umgaben, zeugten von den Jahren, die seither vergangen waren. Blaire war schon immer stylish gewesen, doch nun wirkte ihre Aufmachung so elegant und teuer, als gehörte sie zu einer anderen, viel glamouröseren Welt. Schließlich war sie jetzt eine berühmte Schriftstellerin. Eine Welle der Dankbarkeit durchströmte Kate. Sie wollte Blaire wissen lassen, wie viel es ihr bedeutete, dass sie gekommen war, dass sie den Teil von Kates Vergangenheit verkörperte, mit dem sie so viele angenehme Erinnerungen verband, und dass sie ihren Verlustschmerz besser verstand als alle ihre anderen Freunde. Sie fühlte sich nicht mehr ganz so allein.

»Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Sollen wir in ein anderes Zimmer gehen, wo wir ungestört reden können?«, fragte Kate vorsichtig. Sie wusste nicht, wie Blaire reagieren würde und ob sie überhaupt über die Vergangenheit sprechen wollte. Doch jetzt, da sie ihr gegenüberstand, wünschte sich Kate nichts sehnlicher.

»Natürlich«, antwortete Blaire, ohne zu zögern.

Kate führte sie in die Bibliothek, wo sie es sich gemeinsam auf der großen Ledercouch bequem machten. Nach kurzem Schweigen sagte Kate: »Ich weiß, es ist dir nicht leichtgefallen herzukommen, aber ich musste dich anrufen. Danke, dass du es auf dich genommen hast.«

»Aber natürlich. Ich musste einfach kommen. Wegen Lily.« Blaire zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: »Und deinetwegen.«

»Ist dein Mann auch hier?«

»Nein, er hatte keine Zeit. Er ist gerade auf Tour und stellt das neue Buch vor. Aber er versteht, dass ich herkommen musste.«

Kate schüttelte den Kopf. »Es ist so schön, dass du da bist. Mutter hätte sich auch gefreut. Sie fand es schrecklich, dass wir uns nicht wieder vertragen haben.« Sie zupfte an dem Papiertaschentuch in ihrer Hand. »Ich denke oft an unseren Streit zurück. Die furchtbaren Dinge, die wir gesagt haben.« Erinnerungen strömten auf sie ein und erfüllten sie mit Bedauern.

»Ich hätte deine Entscheidung, Simon zu heiraten, nie infrage stellen dürfen. Es war falsch von mir«, sagte Blaire.

»Wir waren so jung … und so töricht, unsere Freundschaft daran zerbrechen zu lassen.«

»Du glaubst nicht, wie oft ich dich anrufen wollte, um mich mit dir auszusprechen. Aber ich hatte Angst, du würdest einfach auflegen.«

Kate betrachtete das Taschentuch in ihren Händen, das nun völlig zerfetzt war. »Ich habe auch überlegt, dich anzurufen, aber je länger ich gewartet habe, desto schwerer fiel es mir. Ich kann nicht glauben, dass erst meine Mutter ermordet werden musste, damit ich mich dazu durchringe. Aber sie wäre überglücklich, uns wieder zusammen zu sehen.« Lily war furchtbar traurig über ihren Streit gewesen. Sie hatte das Thema im Laufe der Jahre immer wieder angesprochen und versucht, Kate zu überreden, auf Blaire zuzugehen. Nun bedauerte Kate ihre eigene Dickköpfigkeit. Sie blickte hoch. »Ich kann nicht glauben, dass ich sie nie wiedersehen werde. Es war ein so brutaler Tod. Mir wird übel, wenn ich daran denke.«

Blaire lehnte sich zu ihr hinüber. »Es ist schrecklich«, sagte sie, und Kate vernahm einen fragenden Ton in ihrer Stimme.

»Ich weiß nicht, wie viel du mitbekommen hast – ich habe bewusst nicht in die Zeitungen geschaut«, sagte Kate. »Dad ist Freitagabend nach Hause gekommen und hat Mom gefunden.«

Ihre Stimme zitterte, und sie musste ein Schluchzen unterdrücken, bevor sie weitersprechen konnte.

Blaire schüttelte den Kopf und schwieg, während Kate fortfuhr: »Er hat sie im Wohnzimmer gefunden … Sie lag auf dem Boden, ihr Kopf … Jemand hatte ihr auf den Kopf geschlagen.« Kate schluckte.

»Geht die Polizei von einem Einbruch aus?«, fragte Blaire.

»Offenbar war ein Fenster zerschmettert, aber sonst gab es keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen.«

»Hat die Polizei schon jemanden in Verdacht?«

»Nein. Sie haben keine Waffe gefunden, obwohl sie überall gesucht haben. Mit den Nachbarn haben sie auch gesprochen, aber niemand hat etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen. Du weißt ja, wie abgeschieden ihr Haus liegt. Der nächste Nachbar wohnt einen halben Kilometer entfernt. Der Gerichtsmediziner hat gesagt, sie ist irgendwann zwischen siebzehn und zwanzig Uhr gestorben.« Sie wrang ihre Hände. »Ich ertrage den Gedanken nicht, dass ich, während meine Mutter ermordet wurde, hier war und meinem normalen Alltag nachgegangen bin.«

»Aber du konntest es doch nicht ahnen.«

Kate nickte. Natürlich hatte Blaire recht, das änderte aber nichts an ihren Gefühlen. Während sie sich vielleicht gerade eine Tasse Tee gekocht oder ihrer Tochter eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, hatte jemand ihre Mutter brutal ermordet.

Blaire runzelte die Stirn und legte ihre Hand auf Kates. »Sie würde nicht wollen, dass du so denkst. Das weißt du doch, nicht wahr?«

»Du hast mir gefehlt«, schluchzte Kate.

»Jetzt bin ich ja da.«

»Danke«, sagte Kate schniefend. Sie umarmten sich wieder, und Kate klammerte sich an Blaire wie an einen Rettungsring, der sie davor bewahrte, in ihrer tiefen, fürchterlichen Trauer zu versinken.

Als sie das Zimmer verließen, blieb Blaire stehen und schaute Kate fragend an. »Waren das Jakes Eltern vorhin in der Kirche?«

Kate nickte. »Ich war auch überrascht, sie zu sehen. Aber ich glaube, sie sind nicht mit hierhergekommen. Vermutlich wollten sie Mutter nur die letzte Ehre erweisen und sind dann gegangen.« Sie spürte einen Kloß in ihrer Kehle. »Ich kann verstehen, dass sie nicht mit mir reden wollten.«

Blaire schien etwas entgegnen zu wollen, doch dann sah sie Kate nur traurig an und drückte sie noch einmal an sich.

»Ich sollte mich besser wieder um meine Gäste kümmern«, sagte Kate.

Den Rest des Tages war sie wie benommen. Als sich alle verabschiedet hatten, verkroch sich Simon in seinem Büro, um sich mit einer Krise bei der Arbeit auseinanderzusetzen, während Kate rastlos von einem Zimmer zum andern wanderte. Sie hatte es kaum abwarten können, dass die Gäste endlich gingen und der Tag, an dem sie ihre Mutter unter die Erde gebracht hatte, vorbei war. Doch nun erfüllte unheimliche Stille das Haus, und wohin ihr Blick auch fiel, sah sie Beileidskarten und Blumenbouquets.

Schließlich pflanzte sie sich auf den Liegesessel in ihrem Arbeitszimmer, lehnte sich zurück und schloss müde und traurig die Augen. Sie war fast eingedöst, als sie an ihrer Seite ein Vibrieren spürte. Sie öffnete die Augen. Ihr Handy. In der Tasche ihres Kleids. Sie holte es heraus und entsperrte es. Anstelle einer Telefonnummer stand auf dem Display Anonym. Sie las die SMS.

Ein wunderschöner Tag für eine Beerdigung. Ich habe es genossen, dich zu beobachten, während der Sarg deiner Mutter in das Grab gesenkt wurde. Dein hübsches Gesicht war vom Heulen ganz fleckig und geschwollen. Es verschafft mir unendliche Freude zu sehen, wie deine Welt zusammenbricht. Du meinst vielleicht, dass du jetzt traurig bist und dass es nicht schlimmer kommen kann. Aber warte nur ab. Wenn ich mit dir fertig bin, wünschst du dir, selbst begraben zu sein.

Sollte das ein makabrer Scherz sein?

Wer bist du? schrieb sie und wartete auf eine Antwort, aber es kam nichts. Dann sprang sie aus dem Sessel auf, während ihr das Herz wild gegen den Brustkorb hämmerte, und rannte hektisch atmend aus dem Zimmer. »Simon!«, schrie sie und stürmte die Treppe hinunter. »Ruf die Polizei an.«

Kapitel 2

Von tiefer Traurigkeit erfüllt, war Blaire der langen Autoschlange zu Kates Haus gefolgt. Sie konnte nicht fassen, dass Lily tot war, noch dazu ermordet. Warum sollte jemand einem so freundlichen und warmherzigen Menschen wie Lily Michaels etwas antun wollen? Blaire hatte den ganzen Morgen mit den Tränen gekämpft. Hatte das Lenkrad fest umklammert, tief durchgeatmet und sich gezwungen, ruhig zu bleiben. Sie war die von Bäumen gesäumte Auffahrt des Anwesens entlanggefahren und vor dem eleganten Haus von einem Parkdiener in Livree begrüßt worden. Nachdem sie aus ihrem Maserati gestiegen war, hatte sie dem jungen Mann die Autoschlüssel überreicht.

Das Steinhaus lag auf einer Anhöhe mit Blick über eine abfallende grüne Wiese, an deren Rand sich große Stallungen und ein Paddock befanden. Das hier war Pferdeland und der Austragungsort des weltberühmten Maryland Hunt Cup. Blaire würde nie vergessen, wie sie an einem sonnigen Tag im Mai zum ersten Mal mit Kate und ihren Eltern das Rennen besucht hatte. Die gespannten Zuschauer standen um ihre Autos herum, tranken Mimosas und warteten auf den Start. Blaire, völliger Neuling im Pferdesport, hatte an der Mayfield School begonnen, Reitstunden zu nehmen, aber Kate war praktisch im Sattel geboren. Im Unterricht hatte Blaire gelernt, dass Hindernisrennen ähnlich abliefen wie Hürdenläufe bei Menschen, und bei diesem ersten Rennen hatte sie fasziniert beobachtet, wie Pferde und Reiter Holzzäune von fast einem Meter fünfzig übersprangen. Lily war an dem Tag bester Laune gewesen und hatte auf einem Klapptisch mit einer wunderschönen Blumentischdecke ein Festmahl ausgebreitet, das sie in ihrem Picknickkorb mitgebracht hatte. Sie hatte bei allem, was sie tat, Stil und Eleganz bewiesen. Doch nun weilte sie nicht mehr unter ihnen, und Blaire war nur ein Trauergast unter den vielen, die Kates und Simons Haus füllten.

Dem Treffen mit ihrer alten Freundin hatte Blaire äußerst nervös entgegengesehen, doch als Kate auf dem Friedhof zu ihr gekommen war, waren so viele Gefühle von früher wieder in ihr hochgestiegen. Kate hatte sie sogar zur Seite genommen, um sich mit ihr auszusprechen, und sie hatten eine Weile gemeinsam um Lily trauern können.

Blaire schaute sich um und stellte fest, dass dieses Haus genauso imposant war wie das, in dem Kate aufgewachsen war. Doch sie hatte Mühe, ihre Erinnerung an die unbeschwerte Dreiundzwanzigjährige mit der Herrin dieses repräsentativen Anwesens übereinzubringen. Kates Mann Simon war Architekt und hatte das Haus selbst in diesem historisch anmutenden Stil entworfen. Simon war bestimmt nicht glücklich darüber, dass Blaire wieder aufgetaucht war. Nicht, dass seine Meinung sie interessierte. Sie wollte lieber Kontakt mit ein paar anderen alten Freunden aufnehmen, die sie jahrelang nicht gesehen hatte, und verdrängte den Gedanken an Simon.

Bedienstete führten die Gäste in einen Raum, in dem Appetithäppchen und Weißwein auf Tabletts gereicht wurden. Das riesige Zimmer war lichtdurchflutet, was eine heitere, fast behagliche Atmosphäre schuf.

Doch lieber hätte Blaire ein wenig Zeit in der Bibliothek verbracht, an der sie gerade vorbeigekommen war. Der Raum erstreckte sich über zwei Stockwerke. Eine Seite bestand aus einer Reihe hoher Fenster, während die anderen Wände und die Decke mit dunklem Holz vertäfelt waren, das im Sonnenlicht schimmerte. Eine hölzerne Wendeltreppe führte zu einer Empore hinauf, wo sich noch mehr Bücher befanden. Der dunkle Perserteppich und die Ledermöbel trugen zum altehrwürdigen Charakter des Raums bei. Hier konnte der Leser wahrlich in eine andere Zeit eintauchen. Blaire verspürte den Drang, die Treppe hochzusteigen, mit der Hand über das dicke Holzgeländer zu fahren und sich in den Büchern zu verlieren. Stattdessen lief sie weiter zum riesigen Wohnzimmer, wo ihr die hohen Decken mit den kunstvollen Stuckleisten und die Originalgemälde an den Wänden auffielen. Ähnliche Werke wie jene, die sie aus dem Haus von Kates Eltern kannte, mit einer Patina von Alter und Reichtum. Die Bodendielen bedeckte ein riesiger, in Dunkelrot und Blau gehaltener Orientteppich. Blaire bemerkte die schütteren Fransen und einige leicht abgenutzte Stellen. Mit einem süßsauren Lächeln sagte sie sich, dass er wahrscheinlich schon seit Jahren im Besitz der Familie war. Auf der anderen Seite des Raums sah sie einen schlaksigen Mann an der Bar stehen. Ihr Blick fiel auf die Fliege, die er um den Hals trug. Wer, bitte, trägt auf einer Beerdigung eine Fliege?

Sie hatte nie verstanden, warum die Leute in Maryland diese Dinger so toll fanden. Okay, vielleicht in der Schule, aber als erwachsener Mann doch bitte nur zu förmlichen Anlässen. Ihre alten Freunde würden sicher widersprechen, doch wenn es nach ihr ginge, wären Fliegen für alle Männer außer Pee-wee Herman und Krusty, dem Clown, verboten. Aber als sie den Fliegenträger erkannte, ergab alles wieder einen Sinn: Gordon Barton. Früher war er eine oder zwei Schulklassen über ihnen gewesen und immer hinter Kate hergetrottet wie ein verirrtes Hündchen. Er war ein sonderbarer und irgendwie unheimlicher Junge gewesen. Wenn sie sich unterhielten, hatte er sie immer wieder angestarrt, weshalb sie sich oft gefragt hatte, was in seinem Kopf vorging.

Er fing ihren Blick auf und kam herüber.

»Hallo, Gordon.«

»Blaire. Blaire Norris.« Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, und in seinem Blick lag keine Spur von Wärme.

»Ich heiße jetzt Barrington«, informierte sie ihn.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ach, stimmt. Du bist ja verheiratet. Und außerdem ziemlich berühmt.«

Sie hatte nicht viel für ihn übrig, trotzdem gefiel es ihr, dass er ihren Erfolg als Schriftstellerin anerkannte. Früher war er immer so arrogant gewesen und hatte auf sie herabgeschaut.

Er schüttelte den Kopf. »Schrecklich, diese Sache mit Lily. Einfach schrecklich.«

Blaire spürte, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. »Es ist grauenhaft. Ich kann es immer noch nicht glauben.«

»Ja, wir sind natürlich alle furchtbar schockiert. Ich meine, Mord. Hier. Unvorstellbar.«

Die zahlreichen Gäste bildeten eine Schlange, um Kate und ihrem Vater, die am Kamin standen, ihr Beileid zu bekunden. Beide wirkten, als wären sie in Trance. Harrison war aschfahl und starrte ins Leere.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit Kates Vater zu sprechen. Entschuldige bitte«, sagte Blaire und lief Richtung Kamin. Kate wurde von der Menge verschluckt, bevor Blaire sie erreichte, doch sie sah, wie Harrisons Augen sich weiteten, als sie näher kam.

»Blaire.« Seine Stimme klang herzlich.

Sie fiel in seine offenen Arme, und er drückte sie fest an sich. Der Duft seines Aftershaves versetzte sie in die Vergangenheit zurück, und der Gedanke an all die verlorenen Jahre erfüllte sie mit einer tiefen Traurigkeit. Als er sich von ihr löste, zog er ein Taschentuch hervor, um sich das Gesicht abzuwischen, und räusperte sich mehrmals, bevor er sprechen konnte.

»Meine wunderbare Lily. Wer tut so was nur?«, sagte er mit brüchiger Stimme und verzog das Gesicht, als spüre er körperliche Schmerzen.

»Es tut mir so leid, Harrison. Worte können nicht ausdrücken …«

Sein Blick wurde wieder stumpf, und er ließ ihre Hand los, während er das Taschentuch zu einem kleinen Ball zusammenknüllte. Bevor sie noch etwas sagen konnte, kam Georgina Hathaway angerauscht. Blaire wurde das Herz schwer. Sie mochte weder Mutter noch Tochter. Irgendwo hatte sie gehört, dass Georgina jetzt Witwe war. Die Nachricht, dass Bishop Hathaway vor einigen Jahren an den Folgen von Parkinson gestorben war, hatte sie überrascht. Er war immer ein so dynamischer Mann gewesen, sportlich und muskulös, mit der Figur eines Läufers. Er hatte jede Party in Schwung gebracht und war immer als Letzter gegangen. Mitzuerleben, wie sein Körper verfiel, musste die Hölle für ihn gewesen sein. Blaire hatte sich immer gefragt, was er in einer so egozentrischen Narzisstin wie Georgina gesehen hatte.

Als die ihre Hand auf Harrisons Schulter legte, schaute er auf, und sie reichte ihm einen Tumbler mit bernsteinfarbener Flüssigkeit – Bourbon, nahm Blaire an, seit jeher sein Lieblingsgetränk.

»Harrison, mein Lieber, das wird deine Nerven beruhigen.«

Wortlos nahm er das Glas entgegen und trank einen großen Schluck.

Blaire hatte Georgina seit über fünfzehn Jahren nicht gesehen, doch sie hatte sich praktisch nicht verändert. Ihre samtige Haut wies nicht eine einzige Falte auf, was wahrscheinlich einem geschickten Schönheitschirurgen zu verdanken war. Ihr Haar war immer noch zu einem schicken Bob geschnitten, und in ihrem schwarzen Seidenkostüm sah sie sehr elegant aus. Als einzigen Schmuck trug sie eine schlichte Perlenkette um den blassen Hals und wie eh und je den edlen, mit Smaragden und Diamanten besetzten Ehering. Mit zusammengepressten Lippen lächelte sie Blaire an.

»Blaire, was für eine Überraschung, dich hier zu sehen. Ich wusste nicht, dass ihr noch in Kontakt steht, du und Kate.« Sie klang immer noch wie eine Filmfigur aus den Vierzigerjahren mit einer Mischung aus britischem Akzent und den unbeweglichen Kiefern einer Pensionatsschülerin.

Blaire öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch bevor sie ein Wort herausbrachte, hatte Georgina sich schon wieder Harrison zugewandt.

»Sollen wir uns nicht setzen?«

Ohne Zeit zu verlieren, hat sie Harrison in Beschlag genommen, dachte Blaire. Hoffentlich hatte er Verstand genug, sich nicht auf eine Romanze mit ihr einzulassen.

Es war ein heißer Junitag gegen Ende der achten Klasse gewesen, als Blaire Selbys Haus zum ersten Mal betreten hatte. Kate hatte darauf bestanden, dass sie mitkam, um mit ihr zusammen am Pool zu sitzen. Noch nie zuvor hatte Blaire ein Schwimmbecken von olympischen Ausmaßen auf einem Privatgrundstück gesehen. Alles erinnerte sie an ein Resort: Es gab Kübel mit Palmen, Wasserfälle, einen riesigen Whirlpool und ein Poolhaus mit vier Zimmern, üppiger ausgestattet als ihr eigenes Zuhause in New Hampshire. Sie trug einen lindgrünen Stringbikini, den sie gerade erst im Einkaufszentrum erstanden hatte und in dem sie, wie sie fand, sensationell aussah. Sie genoss die heiße Sonne auf der Haut, während sie einen Zeh in das glitzernde blaue Wasser tauchte.

Nachdem sie fast den ganzen Morgen geschwommen waren, hatte die Haushälterin ihnen Lunch nach draußen gebracht. Noch tropfnass saßen sie zusammen um den großen Glastisch, ließen sich von der Sonne trocknen und nahmen sich Sandwiches, die auf einem Tablett aufgetürmt waren. Blaire hatte sich für Roastbeef und Emmentaler entschieden. Sie nahm sich gerade ein paar Chips aus der Schale vor ihr, als Georginas Stimme erklang.

»Kinder, ihr müsst aber auch ein wenig Rohkost essen und nicht nur Chips«, rief sie, während sie herübergeschlendert kam, sehr elegant in einem marineblauen Einteiler mit Sarong.

Lustlos stellte Selby Blaire ihrer Mutter vor, die das Mädchen mit einem lauwarmen Lächeln bedachte, um sie dann einige Sekunden anzustarren. Sie legte den Kopf schräg.

»Blaire, Liebes, dieser Bikini ist ein bisschen offenherzig, findest du nicht? Manches sollte man doch der Fantasie des Betrachters überlassen.«

Blaire ließ den Chip fallen, den sie gerade genommen hatte, und senkte den Blick, ihr Gesicht heiß vor Scham. Kate war die Kinnlade heruntergeklappt, doch sie sagte nichts. Sogar Selby schwieg ausnahmsweise.

»Also dann, guten Appetit«, sagte Georgina, drehte sich um und verschwand im Haus. Sie war damals schon ein Miststück gewesen, und Blaire war sich sicher, dass sich daran nichts geändert hatte.

Während sie die unangenehme Erinnerung abzuschütteln versuchte, sah sie, wie Simon den Raum betrat. Sie beobachtete ihn eine Weile, bevor sie auf ihn zuging. Immer noch so unverschämt gut aussehend wie vor fünfzehn Jahren, lehnte er sich gelassen an einen Türpfosten, und die Haarsträhne, die sich nie bändigen ließ, fiel ihm in die Stirn. Die Frauen lagen ihm vermutlich immer noch zu Füßen. Alles an seinem Look wirkte nun teuer, von dem hervorragend maßgeschneiderten schwarzen Anzug bis zu den italienischen Abendschuhen. Als Kate ihn während der Spring Break zum ersten Mal mit auf das Anwesen ihrer Eltern genommen hatte, hatte sie Blaire anvertraut, dass er sich in dieser Umgebung nicht wirklich zu Hause fühlte. Simon war in bescheidenen Verhältnissen an der Ostküste von Maryland aufgewachsen. Sein Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, als Simon zwölf Jahre alt war, was seine Familie sowohl emotional als auch finanziell völlig aus der Bahn geworfen hatte. Seine Mutter war nie wirklich darüber hinweggekommen, und ohne seine Stipendien wäre ein Studium in Yale für ihn völlig unmöglich gewesen. Doch zum Zeitpunkt seiner Hochzeit mit Kate stand er finanziell bereits so gut da, dass er seiner Mutter das Leben etwas angenehmer machen konnte, was er bis zu ihrem Tod kurz vor Annabelles Geburt auch tat. Und offenbar genoss er auch selbst die angenehmen Seiten des Lebens.

Eine junge Brünette stand bei ihm. Sie sah gut aus, doch Blaire fiel vor allem der Blick auf, mit dem die Frau Simon bedachte: anhimmelnd und erwartungsvoll zugleich. Simon lächelte, als sie etwas sagte und seinen Arm berührte. Ihre Körpersprache verriet, dass sie sich gut kannten. Blaire fragte sich, wie gut. Nach einer kurzen Weile schien Simon ihr Gespräch zu beenden, doch Blaire konnte nicht verstehen, was er sagte. Dann ging er zu Kate. Die junge Frau folgte ihm mit ihrem Blick, wandte sich dann ab und stakste davon, um einige Sekunden vor einer Mahagonianrichte stehen zu bleiben. Als sie das Wohnzimmer verlassen hatte, ging Blaire hinüber, um nachzuschauen, was die Aufmerksamkeit der Frau geweckt hatte: ein Silberrahmen mit einem Hochzeitsfoto von Kate und Simon, auf dem beide unbekümmert lächelten.

Eine Glocke erklang, und ein Mann in Livree verkündete, es sei Zeit für den Lunch. Simon stand allein auf der anderen Seite des Raums, und Blaire ergriff die Gelegenheit. Als sie auf ihn zuging, musterte er sie misstrauisch.

»Hi, Simon. Mein herzliches Beileid«, sagte sie so aufrichtig, wie es eben ging.

Er erstarrte. »Was für eine Überraschung, dich hier zu sehen, Blaire.«

Ärger schwappte in ihr hoch wie Säure, stieg brennend vom Bauch in ihre Kehle. Die Erinnerung daran, was bei ihrer letzten Begegnung geschehen war, stürmte mit der Kraft einer Flutwelle auf sie ein, doch sie stemmte sich dagegen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren.

»Lilys Tod ist eine Tragödie. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Zankereien«, sagte sie.

Er blickte sie kalt an. »Wie nett, dass du wieder zu uns zurückgerannt kommst.« Er kam näher, legte auf eine Weise einen Arm um ihre Schulter, die ein zufälliger Beobachter für freundschaftlich hätte halten können, und zischte: »Denk nicht mal daran, dich wieder zwischen uns zu drängen.«

Empört, dass er es wagte, so mit ihr zu reden, noch dazu an einem solchen Tag, wich sie zurück. Dann straffte sie die Schultern und setzte ihr bestes Autorinnenlächeln auf. »Solltest du dir nicht eher Sorgen darüber machen, wie deine Frau mit der Ermordung ihrer Mutter klarkommt, als über meine Beziehung zu ihr?« Ihr Lächeln verschwand. »Aber keine Sorge. Ich mache nicht noch mal den gleichen Fehler.« Diesmal sorge ich dafür, dass du dich nicht zwischen uns drängst, dachte sie und ging davon.

Auf dem Weg zum Badezimmer im Erdgeschoss, wo sie sich vor dem Lunch noch schnell frisch machen wollte, fiel ihr eine Gestalt auf, die draußen stand. Sie ging näher zum Fenster und sah im Schatten neben der Auffahrt einen uniformierten Mann. Es dauerte eine Weile, bis sie Georginas Fahrer erkannte. Wie hieß er noch? Irgendwas mit R … Randolph, ja, genau. Er hatte sie immer herumkutschiert, wenn Georgina in ihrer Fahrgemeinschaft an der Reihe war. Blaire war überrascht, dass er noch lebte. Er war ihr vor all den Jahren schon uralt vorgekommen, doch nun wurde ihr bewusst, dass er damals in den Vierzigern gewesen sein musste. Dann sah sie, wie Simon auf ihn zuging, ihm die Hand schüttelte und daraufhin einen Umschlag aus seiner Manteltasche holte. Randolph schaute sich nervös um, dann nahm er ihn mit einem Nicken an und stieg in sein Auto. Simon kam bereits wieder auf die Eingangstür zu, deshalb huschte Blaire schnell ins Badezimmer, bevor er sie sehen konnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Simon mit Georginas Fahrer zu schaffen hatte. Doch sie würde es herausfinden.

Kapitel 3

»Der Mörder hat heute mit uns am Grab gestanden – vielleicht war er sogar hier im Haus«, sagte Kate mit brüchiger Stimme, als sie Detective Frank Anderson vom Baltimore County Police Department ihr Handy reichte. Seine Anwesenheit beruhigte sie. Er strahlte Selbstsicherheit und Zuversicht aus, und wieder fiel ihr auf, dass seine muskulöse Statur ihr ein Gefühl der Sicherheit gab. Er nahm im Wohnzimmer gegenüber von Kate und Simon Platz und las stirnrunzelnd die SMS.

»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es könnte ein Spinner sein, der etwas über den Tod Ihrer Mutter und die Beerdigung gelesen hat. In den Medien wurde viel darüber berichtet.«

Simon sah ihn entgeistert an. »Wie krank muss man sein, um so was zu tun?«

»Aber das ist meine private Handynummer. Wie soll ein Fremder die rausbekommen haben?«, fragte Kate.

»Leider ist es heutzutage kein Problem mehr, Handynummern herauszufinden. Viele Drittfirmen bieten diesen Service an. Außerdem waren bei der Beerdigung Hunderte Menschen anwesend. Kannten Sie die alle?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir hatten überlegt, die Beerdigung im privaten Kreis abzuhalten, aber da meine Mutter sich stark in der Gemeinde engagiert hat, wollten wir allen die Gelegenheit geben, ihr die letzte Ehre zu erweisen. Das hätte sie sicher so gewollt.«

Der Detective machte sich fortwährend Notizen. »Normalerweise würden wir davon ausgehen, dass es irgendein Spinner war, aber da wir es mit einem ungelösten Mordfall zu tun haben, müssen wir die Sache ernst nehmen. Wenn Sie erlauben, würde ich gern Ihr Mobiltelefon überwachen lassen, ebenso Ihren Festanschluss und alle Computer. Falls Sie noch einmal bedroht werden, bekommen wir es dann in Echtzeit mit und können die IP-Adresse lokalisieren.«

»Ja, natürlich«, sagte Kate.

»Ich habe ein Gerät dabei, das Ihr Handy komplett spiegeln kann. Wenn wir fertig sind, richte ich es ein. Dann versuchen wir, die SMS zurückzuverfolgen und herauszufinden, wer sie geschickt hat. Falls sich die Person noch einmal meldet, dürfen Sie auf keinen Fall reagieren. Denn sollte es sich um einen Spinner handeln, ist es genau das, worauf er aus ist.« Anderson schaute Kate mitfühlend an. »Tut mir leid, dass Sie sich in dieser Situation auch noch mit so was rumschlagen müssen.«

Kate fühlte sich nicht wirklich erleichtert, als ihr Mann den Detective zur Tür begleitete. Sie dachte an das letzte Mal zurück, als sie per Telefon eine böse Nachricht erhalten hatte, an die grauenhafte Nacht, in der ihr Vater Lily gefunden hatte. Sie hatte seine Nummer auf dem Display gesehen und war rangegangen. Er war völlig aufgelöst gewesen.

»Kate. Sie ist nicht mehr. Sie ist nicht mehr, Kate«, schluchzte er am anderen Ende.

»Dad, worum geht’s denn?« Panik hatte ihren ganzen Körper erfasst.

»Jemand ist eingebrochen. Und hat sie umgebracht. Mein Gott, das kann nicht sein. Es darf einfach nicht sein.«

Er hatte so heftig geweint, dass Kate kaum ein Wort verstanden hatte. »Wer ist eingebrochen? Was ist mit Mutter? Ist sie tot?«, hatte sie geschrien.

»Blut. Überall Blut.«

»Was ist denn passiert? Hast du einen Krankenwagen gerufen?«, fragte sie mit schriller Stimme, während Hysterie sie zu übermannen drohte.

»Was soll ich nur tun, Katie? Was soll ich nur tun?«

»Hör zu, Dad. Hast du den Notruf gewählt?«, fragte sie. Doch außer seinem abgehackten Schluchzen war nichts zu hören.

Wie benommen war sie in ihren SUV gesprungen und die fünfundzwanzig Kilometer zum Haus ihrer Eltern gefahren. Von unterwegs hatte sie Simon eine SMS geschickt, er solle auch kommen. Schon aus zwei Blocks Entfernung leuchteten ihr die blinkenden rotblauen Lichter entgegen. In der Nähe des Hauses hielt sie an einer Polizeisperre. Als sie ausstieg, kam hinter ihr Simons Porsche angefahren. Rettungssanitäter, Polizei und Spurensicherung gingen im Haus ein und aus. In wachsender Panik rannte Kate los und versuchte, sich durch die Menge der Schaulustigen zu drängen, doch schließlich versperrte ein Polizeibeamter ihr den Weg. Er stand breitbeinig, mit vor der Brust verschränkten Armen und mürrischem Gesichtsausdruck da. »Tut mir leid, Ma’am, aber dies ist ein aktiver Tatort.«

»Ich bin die Tochter. Bitte«, flehte sie und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, während Simon ebenfalls herbeigeeilt kam. Der Polizist schüttelte den Kopf und streckte die flache Hand aus. »Gleich kommt jemand, der sich um Sie kümmert. Tut mir leid, aber ich muss Sie bitten zurückzutreten.«

Sie warteten und sahen entsetzt zu, wie mit Kameras, Taschen und Kisten beladene Ermittler kamen und gingen und den Tatort mit gelbem Band absperrten. Dabei schauten die Beamten nicht einmal in ihre Richtung. Es dauerte nicht lange, bis Fernsehteams eintrafen und Kameras auf atemlose Reporter richteten, die mit dem Mikro in der Hand jedes grausige Detail beschrieben, dessen sie habhaft werden konnten. Kate wollte sich die Ohren zuhalten, als sie berichteten, dass man dem Opfer den Schädel eingeschlagen hatte. Schließlich sah sie, wie ihr Vater aus dem Haus und zu einem Polizeiwagen geführt wurde. Ohne zu überlegen, rannte sie auf ihn zu. Doch sie kam nur wenige Schritte weit, da packte sie eine kräftige Hand und hielt sie fest.

»Lassen Sie mich los«, protestierte sie lauthals und wehrte sich gegen den Beamten. Tränen strömten über ihre Wangen, und als der Polizeiwagen losfuhr, schrie sie: »Wo bringen Sie ihn hin? Lassen Sie mich los, verdammt! Wo ist meine Mutter? Ich will meine Mutter sehen!«

Der Polizist lockerte seinen Griff, doch seine Miene blieb unbewegt. »Tut mir leid, Ma’am. Ich kann Sie nicht ins Haus lassen.«

»Mein Vater sollte bei ihr sein«, schluchzte Kate. Dann kam Simon zu ihr. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Obwohl sie noch immer wütend auf ihn war, wirkte seine Anwesenheit tröstend.

»Wo haben sie ihn hingebracht? Dr. Michaels, den Vater meiner Frau … wo haben sie ihn hingebracht?«, fragte Simon und legte schützend einen Arm um Kates Schulter.

»Auf die Wache, um ihn zu vernehmen.«

»Vernehmen?«, fragte Kate.

Eine Frau in Uniform kam auf Kate zu. »Sind Sie Lily Michaels’ Tochter?«

»Ja. Dr. Kate English.«

»Es tut mir schrecklich leid, aber Ihre Mutter ist tot. Mein aufrichtiges Beileid.« Die Beamtin schwieg einen Moment. Dann fuhr sie fort: »Ich möchte Sie bitten, mit zur Wache zu kommen und dort einige Fragen zu beantworten.«

Mein aufrichtiges Beileid? So routinemäßig. Geradezu oberflächlich. Nahmen die Angehörigen von Patienten sie auch so wahr, wenn sie ihnen schlechte Nachrichten überbrachte? Kate folgte der Polizistin, doch das Einzige, woran sie denken konnte, war ihre Mutter, die tot dalag, von Ermittlern fotografiert und von Gerichtsmedizinern untersucht, bis sie schließlich zur Obduktion ins Leichenschauhaus gebracht wurde. Während ihres Medizinstudiums hatte sie genug Obduktionen beigewohnt. So etwas war kein schöner Anblick.

»Hast du schon was gegessen?«, fragte Simon und rüttelte sie aus ihren Erinnerungen, als er das Zimmer betrat.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Wie wär’s mit ein bisschen Suppe? Dein Vater sagt, Fleur hat sie selbst gemacht. Hühnersuppe mit Reis.«

Kate ignorierte ihn. Laut seufzend setzte er sich auf den Sessel neben dem Blumengesteck, das ihre Arbeitskollegen aus dem Krankenhaus geschickt hatten. Er rieb an einem Blatt herum und las die Karte.

»Nett von ihnen«, sagte er. »Du solltest wirklich was essen, nur einen Bissen.« Es gefiel ihr nicht, dass er nach all den Spannungen der letzten Monate den fürsorglichen Ehemann mimte.

Als die Streitereien und negativen Gefühle so überhandgenommen hatten, dass sie sich weder auf ihre Arbeit noch auf etwas anderes konzentrieren konnte, hatte sie Rat bei ihrer Mutter gesucht. Das war erst vor wenigen Wochen gewesen. Sie hatten in dem gemütlichen Kaminzimmer ihrer Eltern gesessen und sich am Feuer gewärmt – Kate in ihrer Krankenhausuniform und Lily in eleganter weißer Wollhose und Kaschmirpullover. Ihre Mutter hatte Kate mit gespannter, ernster Miene angesehen. »Was ist denn los, Darling? Du klangst am Telefon schrecklich aufgebracht.«

»Es ist wegen Simon. Er ist …« Sie unterbrach sich, weil sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. »Mutter, kannst du dich noch an Sabrina erinnern?«

Lily runzelte die Stirn und blickte Kate ratlos an.

»Du weißt schon … Als Simons Vater gestorben ist, hat ihr Vater sich um ihn gekümmert. Er wurde so was wie Simons Mentor. Und Sabrina war eine der jüngeren Brautjungfern bei unserer Hochzeit.«

»Ach ja, ich erinnere mich. Sie war damals noch ein Kind.«

»Ja, sie war zwölf Jahre alt.« Kate lehnte sich in ihrem Sessel vor. »Erinnerst du dich auch noch an den Morgen unserer Hochzeit, als alle sich fertig machten und Sabrina plötzlich verschwunden war? Ich bin sie suchen gegangen. Sie saß in einem Gästezimmer auf dem Bettrand und hat geheult. Ich wollte zu ihr gehen, aber dann habe ich gesehen, dass ihr Vater bei ihr war. Ich habe mich draußen neben die Tür gestellt, außer Sichtweite. Sie war völlig aufgelöst, weil Simon heiraten wollte. Sie hat ihrem Vater erzählt, sie hätte immer geglaubt, Simon würde warten, bis sie erwachsen ist, und sie dann heiraten. Sie klang so bedauernswert.«

Lilys Augen waren immer größer geworden, doch ihre Miene blieb ruhig. »Ja, sie war noch sehr jung und hat für ihn geschwärmt. Das hatte ich völlig vergessen, aber es ist ja auch schon Jahre her.«

Kate war rot angelaufen. »Aber seitdem hat sich nichts verändert. Ich wollte ja Verständnis zeigen und nett zu ihr sein, wirklich. Ihre Mutter starb, als sie fünf war, und ich dachte, ich könnte ihr eine gute Freundin sein, jemand, dem sie sich anvertrauen kann.« Kate seufzte. »Aber sie hat mich ziemlich brüsk abgewiesen. Sie war niemals unfreundlich zu mir, wenn Simon dabei war, oh nein. Aber wenn wir allein waren, hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nichts mit mir zu tun haben wollte. Und jetzt, seit ihr Vater tot ist, ist sie noch aufdringlicher als zuvor, ruft ständig an und beansprucht immer mehr von Simons Zeit.«

»Aber Kate, was hat das denn mit dir zu tun? Solange Simon sie nicht ermutigt, hast du doch gar keinen Grund, dich aufzuregen. Und das arme Mädchen, in dem Alter schon verwaist …«

»Aber das ist es ja. Er ermutigt sie. Immer wenn sie anruft, weil sie irgendein Problem hat, springt er sofort. Und sie ruft immer häufiger an. Er ist sehr oft bei ihr. Öfter, als er sollte.« Kate war lauter geworden. »Er sagt, es ist nichts und dass ich überreagiere. Aber das stimmt nicht. Seit sie für ihn arbeitet, sind sie die ganze Zeit zusammen. Sie essen gemeinsam zu Abend, sie kommt zum Reiten zu uns, und sie ignoriert mich vollkommen und scharwenzelt die ganze Zeit um ihn rum. Ich halte es einfach nicht mehr aus. Deshalb habe ich ihn gebeten auszuziehen.«

»Kate, weißt du überhaupt, was du da sagst? Du kannst doch wegen so was deine Familie nicht zerstören.«

»Ich halte es nicht mehr aus. Er hätte sie niemals einstellen dürfen. Aber ihr Vater hat Simon auf seinem Sterbebett gebeten, sich um sie zu kümmern. Und direkt nach seinem Tod hat sie Simon nach einem Job gefragt.«

Lily hatte Kate missbilligend angeschaut. »Ich würde sagen, Simon hatte keine Wahl. Es wird sich alles schon wieder beruhigen. Vielleicht hat es etwas mit dem Verlustschmerz zu tun.«

»Also ehrlich, Mutter, ich bin es satt, die verständnisvolle, leidgeprüfte Ehefrau zu geben. Es ist doch absurd, dass ich so behandelt werde und mir dann noch von meinem Mann sagen lassen muss, ich sei unfair.«

Lily war aufgestanden und lief im Zimmer auf und ab. Dann ging sie zu Kate herüber, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Ich werde mit Simon sprechen. Und die Sache regeln.«

»Nein, bitte tu das nicht.« Das Letzte, was sie wollte, war, dass ihre Mutter Simon zusammenstauchte. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

Lily hatte das Thema danach nie wieder angesprochen. Falls sie mit ihm geredet hatte, hatten weder sie noch Simon es jemals erwähnt.

Nun saß Simon Kate gegenüber, vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt.

»Bitte stoß mich nicht einfach so von dir. Wir hatten unsere Probleme, aber jetzt sollten wir zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen«, sagte er.

»Unterstützen? Es ist schon sehr lange her, dass du für mich da warst. Ich hätte niemals zustimmen dürfen, dass du wieder einziehst.«

»Das ist nicht fair.« Simon runzelte die Stirn. »Du brauchst mich hier, und ich will mit dir und Annabelle zusammen sein. Außerdem würde ich mich besser fühlen, wenn ich auf euch beide aufpassen könnte.«

Bei der Erinnerung daran, dass da draußen ein Mörder frei herumlief, legte sich eine Gänsehaut über ihre Arme, und sie zog die Strickjacke enger um sich. In Gedanken wiederholte sie immer wieder die letzte Zeile der SMS. Wenn ich mit dir fertig bin, wünschst du dir, selbst begraben zu sein. Das bedeutete, dass es noch nicht vorbei war. Hatte der Mörder ihre Mutter umgebracht, um Kate zu bestrafen? Sie dachte an die todunglücklichen Eltern der Patienten, die sie nicht hatte retten können, und überlegte, ob jemand darunter war, der ihr die Schuld gab. Oder vielleicht ihrem Vater, der seit vierzig Jahren als Arzt praktizierte, lange genug, um sich Feinde zu machen.

»Kate.« Simons Stimme rüttelte sie wieder aus ihren Gedanken. »Ich werde dich nicht alleinlassen. Nicht jetzt, wo dich jemand bedroht.«

Langsam hob sie den Blick und schaute ihm in die Augen. Sie konnte nicht mehr klar denken. Aber die Vorstellung, ganz allein in diesem riesigen Haus zu sein, machte ihr tatsächlich Angst.

Sie nickte. »Du kannst erst mal weiter in der blauen Gästesuite wohnen.«

»Ich finde, ich sollte wieder in unser gemeinsames Schlafzimmer ziehen.«

Kate spürte, wie Hitze von ihrem Hals hoch in ihre Wangen stieg. Wollte er den Tod ihrer Mutter ausnutzen, um sich ihre Zuneigung wieder zu erschleichen? »Kommt gar nicht infrage.«

»Okay, in Ordnung. Aber warum können wir die Vergangenheit nicht einfach hinter uns lassen?«

»Weil sich nichts geändert hat. Ich kann dir nicht vertrauen.« Sie starrte ihn an und hatte das Gefühl, ihn mit ihrem Blick durchbohren zu können. »Vielleicht hatte Blaire ja recht in Bezug auf dich«, sagte sie.

Abrupt schaute er zu ihr hoch, und seine Miene verdüsterte sich. »Was will sie überhaupt hier? Sie hat hier nichts verloren.«

»Sie hat jedes Recht, hier zu sein. Immerhin war sie mal meine beste Freundin«, erwiderte Kate wütend.

»Hast du vergessen, dass sie versucht hat, unsere Beziehung zu zerstören?«

»Und du gibt’s dir alle Mühe, ihr Werk zu vollenden.«

Er zog einen Schmollmund und antwortete nicht. Nach ein paar Sekunden sagte er schließlich in scharfem Ton: »Wie oft soll ich noch sagen, dass da nichts läuft? Gar nichts.«

Sie war zu müde, um sich mit ihm zu streiten. »Ich gehe hoch und bringe Annabelle ins Bett.«

Als sie das Kinderzimmer betrat, saß Annabelle mit einem Puzzle auf dem Boden, Hilda in einem Sessel in der Nähe. Was hätte sie nur ohne Hilda getan? Sie war so wunderbar im Umgang mit Annabelle, liebevoll und geduldig und so hingebungsvoll, dass Kate sie daran erinnern musste, dass sie nicht ständig im Dienst war, nur weil sie bei ihnen wohnte. Hilda war auch die Nanny von Selbys drei Söhnen gewesen. Als Annabelle zur Welt kam, hatte Selby Kate vorgeschlagen, das Kindermädchen einzustellen, da ihr Jüngster in die Schule kam und keine Vollzeitbetreuung mehr brauchte. Kate war erleichtert und dankbar gewesen, eine Nanny für ihre Tochter gefunden zu haben, der sie vertrauen konnte. Es schien, als würden sie Hilda schon eine Ewigkeit lang kennen. Ihr Bruder Randolph war seit Jahren Georginas Fahrer, ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Angestellter. Und auch mit Hilda klappte alles wunderbar.

Kate kniete sich neben ihre Tochter. »Das hast du aber fein gemacht.«

Annabelle blickte mit ihrem Engelsgesicht zu Kate auf, und ihre blonden Locken wippten. »Hier, Mommy. Du auch«, sagte sie und reichte Kate ein Puzzleteil.

»Hmm, sehen wir mal. Kommt das hierhin?«, fragte Kate und tat so, als wollte sie es an der falschen Stelle anlegen.

»Nein, nein«, schnaubte Annabelle. »Es gehört dahin.« Sie packte das Teil und legte es dort an, wo es hingehörte.

»Es ist fast Schlafenszeit, mein Schatz. Möchtest du dir ein Buch aussuchen, aus dem Mommy dir vorliest?« Sie wandte sich an Hilda. »Gehen Sie ruhig schon ins Bett. Ich bleibe bei ihr.«

»Danke, Kate.« Hilda wuschelte Annabelle durchs Haar. »Sie war heute ein ganz braves Mädchen, nicht wahr, Liebling? Und es war ein langer Tag.«

»Ja.« Kate lächelte Hilda an. »Für Sie war es auch anstrengend. Gönnen Sie sich etwas Ruhe.«

Annabelle holte das Buch Wilbur und Charlotte aus dem Regal und brachte es ihrer Mutter. Kate setzte sich aufs Bett, während Annabelle unter die Decke kroch. Sie liebte dieses gemeinsame abendliche Ritual mit ihrer Tochter, doch seit Lilys Tod hatte es sich verändert. Sie wollte Annabelle immerzu in die Arme nehmen, um sie vor der traurigen Wirklichkeit zu beschützen. Sobald ihre Tochter eingeschlafen war, zog Kate sanft den Arm zurück, den sie um sie gelegt hatte, und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.

Einen Moment lang spähte sie in Richtung des letzten Gästezimmers am Ende des Flurs, wo Simon seit der Beerdigung schlief. Seine Tür stand offen, und im Zimmer war es dunkel, doch sie konnte einen Lichtschein unter seiner Badezimmertür erkennen und hörte das Wasser laufen.

Sie wandte den Blick ab, und ihre Gedanken wanderten zu Jake. Seine Eltern waren nicht zum Trauerempfang auf dem Anwesen gekommen, deshalb hatte sie keine Gelegenheit gehabt, mit ihnen zu sprechen. Vielleicht war es besser so, da ihr Anblick allein sicher schon schmerzliche Erinnerungen in ihnen wachrief. Jake und sie waren in derselben Nachbarschaft aufgewachsen und hatten sich praktisch ihr ganzes Leben lang gekannt, aber erst als sie beide in die Highschool kamen – eine Mädchen- und eine Jungenschule, die zusammengehörten –, hatten sie sich ineinander verliebt. Kate konnte sich noch an ihr Abschlussjahr erinnern: wie Jake immer vom Lacrosse-Feld zur Tribüne hochgelächelt hatte, wo sie stand und auch an bitterkalten Spieltagen im Februar oder März ein warmes Glühen in sich verspürte. Und er ließ sich keinen ihrer Leichtathletikwettkämpfe entgehen, bei denen er sie mit seiner tiefen Stimme anfeuerte. Sie hatten sich beide in Yale beworben, und es schien so gut wie sicher, dass sie bis ans Ende ihres Lebens zusammenbleiben würden … bis zu der Nacht, in der sich alles änderte. Einige Tage nach seiner Beerdigung war sie zum Haus seiner Eltern gegangen, aber die Jalousien waren heruntergelassen gewesen, Zeitungen von mehreren Tagen hatten auf der Veranda vor dem Haus verstreut gelegen, und der Briefkasten war übergequollen. Irgendwann waren seine Eltern dann mit ihren beiden Töchtern weggezogen.

Kate lief weiter den Flur hinunter zu ihrem Schlafzimmer, um sich bettfertig zu machen, doch sie wusste, dass sie kaum Schlaf finden würde. Sie trottete ins Zimmer, öffnete den Reißverschluss ihres schwarzen Trauerkleids und warf es achtlos auf den Boden. Sie würde es nie wieder tragen können. Als sie das Licht im Badezimmer anknipste und in den Spiegel schaute, sah sie, dass ihr Haar schlaff herunterhing und ihre Augen rot und geschwollen waren. Sie beugte sich vor, um ihr Gesicht genauer zu begutachten. Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel etwas Dunkles und erstarrte. Sie brach am ganzen Körper in Schweiß aus und begann, unkontrollierbar zu zittern, während sie entsetzt zurückwich. Sie war kurz davor, sich zu übergeben.

»Simon! Simon!«, schrie sie. »Komm her. Schnell!«

Eine Sekunde später stand er neben ihr, während sie weiter auf die drei toten Mäuse starrte, die auf dem Waschbecken aufgereiht waren, ihre Augen ausgestochen. Und dann sah sie den Zettel.

Drei blinde Mäuse

Drei blinde Mäuse

Schau, wie sie rennen

Schau, wie sie rennen!

Sie suchten ein Leben in Saus und Braus

Er stach ihnen allen die Augen aus

Hast du jemals etwas so Schönes gesehen

Wie drei Mäuse, um die es geschehen?

Kapitel 4

In den vergangenen Jahren hatte Blaire ihr Wiedersehen mit Kate immer wieder im Geist durchgespielt: was sie ihr sagen würde, wie Kate sie anflehen würde, wieder ihre Freundin zu werden, und dann der niedergeschmetterte Ausdruck in ihrem Gesicht, wenn Blaire ihr mitteilte, es sei zu spät. Diesmal wäre es Kate, die den Schmerz des Verrats spüren würde, genau wie Blaire damals, als Kate sie nach ihrem schrecklichen Streit am Morgen ihrer Hochzeit rausgeschmissen hatte. Und dann hatte sie Selby, die eigentlich eine einfache Brautjungfer sein sollte, anstelle von Blaire zur Trauzeugin ernannt. Tatsächlich hatte Blaire ihre alte Freundin nie ganz aus ihren Gedanken verdrängen können. Gemeinsame Freundinnen hatten ihr manchmal von Kate berichtet, oder sie hatte durch deren Facebook-Bilder kleine Einblicke in ihr Leben bekommen. Doch da Blaire der Ansicht war, dass Kate ihr unrecht getan hatte, wollte sie auf keinen Fall klein beigeben und auf sie zugehen. Zumindest hatte sie das gedacht. Doch Lilys Ermordung hatte alles verändert. Das war Blaire sofort klar gewesen, als Kate angerufen hatte. Sie musste hinfahren, um Lily die letzte Ehre zu erweisen. Und wenn sie da war, musste sie alles tun, um ihnen bei der Suche nach dem Mörder zu helfen.

Jetzt, da sie zurück war, sah sie, dass sie in Bezug auf Simon recht gehabt hatte. Außerdem lief es nicht gut zwischen ihm und Kate. Blaire hatte Menschen schon immer gründlich studiert. Eine Eigenschaft, die wesentlich zu ihrem Erfolg als Autorin beitrug. Die kleinen Dinge erzählten die Geschichte: die Blicke, die zwei Menschen sich zuwarfen, eine bestimmte Ausdrucksweise, ein nicht erwidertes Gefühl. Von ihrem Platz beim Lunch aus hatte sie einen guten Blick auf die beiden gehabt und beobachtet, wie Simon seine Hand nach der seiner Frau ausstreckte. Doch Kate war zurückgeschreckt, als hätte sie sich verbrannt, und hatte ihre Hand schnell in den Schoß gelegt. Und dann war da natürlich noch die Brünette mit dem kurzen Rock.

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