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Weil das Herz nicht vergisst

Als Buch hier erhältlich:

Die erste Liebe hat für immer einen Platz in deinem Herzen

»Sie glaubt an Magie und liebt alles, was mit Einhörnern zu tun hat – und mich.« Jack lebt noch immer in diesen Momenten mit Alice, die vor Jahren bei einem Autounfall gestorben ist. Er weiß, wie ihr Lachen klang, was sie sich erträumt hat – was ihre gemeinsamen Träume waren. In der Nacht damals hat er nicht nur seine große Liebe verloren, sondern auch seinen Lebensmut. Bis heute spürt er eine unbeschreibliche Leere in sich. Doch dann führt ihn das Schicksal mit Clare zusammen, die selbst schwere Zeiten erlebt hat. Gegenseitig geben sie sich Halt, und Jack erlaubt sich, etwas Tiefes für sie zu fühlen. Aber ist sein Herz, das Alice nicht vergessen kann, bereit für ein neues Glück?


  • Erscheinungstag: 23.11.2021
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675932
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Esme,

die mich das eine und andere

über die Liebe lehrte.

1

Die erste E-Mail kommt am Donnerstag.

Sie geht an meine Kanzleiadresse, und noch am nächsten Tag, Freitag, den 10. August, starre ich sie an. Die Einladung ist sehr reduziert im Stil: Nur eine schlichte Angabe von Zeit und Ort, um Alice’ Geburtstag zu feiern. Während die Buchstaben ihres Namens auf dem Bildschirm verschwimmen, rauscht mir eine flüchtige Erinnerung an unseren letzten Tag vor dreißig Jahren durch den Kopf – ich hatte sie in den Armen gehalten, sie aufs Haar geküsst, das weich und duftend war.

Mit dem typischen schüchternen Klopfen betritt Mabel das holzvertäfelte Büro, und ich finde in die Gegenwart zurück. Schon ist Alice’ Gestalt fort. Die Frau, die seit mehr als zehn Jahren an meiner Seite arbeitet, bringt mir lächelnd einen Cappuccino auf einem kleinen Silbertablett, und ich nicke ihr dankend zu. Sobald sie wieder draußen ist, stehe ich auf und gehe im Zimmer auf und ab. Die drei Affen auf dem Regal gleich links von meinem Schreibtisch sind nicht ganz richtig ausgerichtet; ich rücke den mittleren einen Tick weiter nach links. Hör-nichts-Böses sitzt jetzt exakt zehn Zentimeter von dem Sieh-nichts-Böses und dem Sag-nichts-Böses entfernt, genau in der Mitte zwischen einer langen Reihe von ledergebundenen Gesetzesbüchern.

Heute wäre Alice fünfzig …

Ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch, umklammere den Kaffeebecher mit beiden Händen und nippe mich durch den Milchschaum, wobei ich auf den Monitor blicke, als müsste ich das Datum überprüfen. Innerhalb von Sekunden erscheint der Bildschirmschoner: Ein Foto von einer Wohltätigkeitsveranstaltung vor wenigen Jahren, ich im Smoking, flankiert von meinen Eltern. Ich zwinge mich, mich auf die Veranstaltung an jenem Abend zu konzentrieren, bei der Spenden für eine hiesige Einrichtung gesammelt wurden, deren Schirmherr ich bin. Wie aufs Stichwort kneife ich die Augen zu, weil Schmerz aus den gekappten Nervenenden explodiert, wo mal mein linker Unterschenkel war.

Ich hole zwei Tabletten aus der Packung in meiner Schublade und schlucke sie mit dem Kaffee. Ehe mich die Klänge und Bilder meines letzten Abends mit Alice überwältigen, drucke ich die Einladung aus, nehme den Telefonhörer hoch und erinnere Mabel daran, dass ich bis zum späten Nachmittag außer Haus sein werde.

Ich lasse mir Zeit. Obwohl ich merke, dass ich zu spät komme, halte ich mich ans Tempolimit, weil ich das Schicksal nicht herausfordern will. Das Schicksal und ich waren Zeit meines Lebens seltsame Bettgenossen. Ich konnte es nie annehmen, weil ich es vorzog, jedes noch so kleine Detail zu kontrollieren, um es im Zaum zu halten. Ich mag Gewissheiten, überprüfe Fakten, ehe ich sie als Wahrheit anerkenne. Geht es um Zahlen, rechne ich zwei-, dreimal nach, um sicher zu sein. Geht es um Wörter – was es tut, wenn ich bei Gericht bin –, lese ich sie stumm, lese sie laut und studiere sie, bis ich sie auswendig kenne. Fühlt sich irgendwas nicht richtig an, suche ich, bis ich heraushabe, was nicht stimmt, und korrigiere es. Ich prüfe und prüfe, um so wenig Raum wie möglich für Irrtümer oder Zufall zu lassen, die alles durcheinanderbringen können.

Die alte Grundschule ist ein roter Jahrhundertwende-Backsteinbau mit einem geteerten Pausenhof und einem Parkplatz gleich neben einem schmalen Grünstreifen. So nahe, wie die neue Wohnsiedlung liegt, sieht es aus, als wäre einiges von dem städtischen Land verkauft worden und der Rest würde in absehbarer Zeit folgen. Ausgeblichene »Verkauft«-Schilder ragen auf hohen Holzpfosten auf. Ich lasse lauter unsinnige Gedanken meinen Kopf fluten, kremple meine Hemdsärmel auf, lege mein Jackett ordentlich zusammengefaltet über meinen Unterarm und eile auf den Haupteingang zu. Davor bleibe ich stehen, kann nicht umhin, mir eine kleine Alice vorzustellen, die in ihrer Schuluniform daherkommt, ihr langes Haar zu losen Zöpfen gebunden und die Schuhspitzen abgeschubbert. Rechts von mir stehen zwei Töpfe mit ungeliebten Geranien. Ich zupfe die toten Blüten raus, stecke sie in meine Tasche und richte die verbliebenen Blütendolden wieder aus. Symmetrie ist wichtig.

Dann gehe ich nach drinnen und lasse meine Schritte von der Musik führen. Es gibt Tage, an denen ich mir Mühe geben muss, damit man mir die Prothese nicht anmerkt, und dies ist einer von ihnen.

Als ich die Schwingtüren zur Eingangshalle öffne, stehen Leute um ein großes, projiziertes Bild herum. Alice’ Gesicht füllt die Leinwand aus, und ich erstarre auf dem Teppichboden. Ihr Gesicht … Mein erster Impuls ist, wegzusehen und mich zu dem Bereich zu wenden, der voller Klapptische mit Essen steht. In der Einladung hatte gestanden, dass Freitagmittag Alice’ Lieblingszeit gewesen war, und ich erinnere mich noch: Essen und das bevorstehende Wochenende, zwei ihrer Lieblingsdinge. Musik aus unserer Zeit schallt aus den Lautsprechern, als es mich wieder zu ihrem Bild zieht. Sie ist genau so, wie ich mich an sie erinnere; ihr glattes, walnussbraunes Haar fällt ihr über den Rücken und bedeckt die winzigen Sommersprossen, die ich geliebt habe. Sie wirft lachend den Kopf in den Nacken. Lebhaft. Lebendig.

Eine Frau, die ich sofort erkenne, kommt auf mich zu. Es ist ihre jüngere Schwester April. Sie reicht mir die Hand. »Jack«, sagt sie. »Ich erkenne dich von dem Foto auf der Kanzleiwebsite, auch wenn ich der Fairness halber sagen muss, dass du nur eine ältere Version des Mannes von damals bist. Du hast dich nicht verändert.«

»Du dich auch nicht«, antworte ich und sehe mich kurz nach ihren Eltern um.

»Danke, dass du gekommen bist. Ich war mir nicht sicher, ob du hier sein würdest.«

Verhalten lächele ich. »Ehrlich gesagt bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich hier sein sollte. Ich …«

»Alice und ich waren auf dieser Schule, so wie meine beiden Kinder auch. Jetzt wird sie verkauft, aber ich war jahrelang im Elternrat, deshalb haben sie mich die Eingangshalle vor Vertragsabschluss für heute mieten lassen. Ach herrje, ich plappere schon wieder.« Ihr Grinsen ist dem Lächeln ihrer Schwester sehr ähnlich.

Ich habe mich nicht gerührt und schaue mich immer noch nervös um.

»Unsere Eltern sind beide letztes Jahr gestorben, Jack.«

»Das tut mir leid.« Die Worte kommen wie von selbst, aber ich meine sie ernst. Trotzdem werde ich rot, weil ich erleichtert bin. Seit Alice’ Beerdigung hatte ich ihre Eltern nicht mehr gesehen. Damals war ich zurück nach Surrey gezogen, hatte von der York University, an der wir uns kennenlernten, an die Royal Holloway gewechselt, wo meine Eltern mich im Blick hatten. Mir hatte davor gegraut, ihre Eltern jemals wiederzutreffen. Auch wenn sie es nie aussprachen, habe ich immer geglaubt, dass sie mir die Schuld an ihrem Tod gaben. Und ich wollte in ihren Augen nicht sehen, was ich in meinen eigenen bis heute, Jahrzehnte später, noch wahrnehme.

»Muss es nicht. Sie waren so glücklich, wie sie es unter den Umständen sein konnten. Mein Vater hatte Krebs, und meine Mutter hatte nur sechs Monate nach seinem Tod einen Herzinfarkt. Sie waren beide über achtzig …« Sie zuckt traurig mit den Schultern, bevor sie eine Hand hebt. »Das hier war meine Idee. Ich habe noch zu vielen Freunden von Alice Kontakt, und wir haben gedacht: Was soll’s, machen wir eine Party. Kann ich dir was zu trinken holen?«

Ich ahme ein Lenkrad mit beiden Händen nach. »Ich muss noch zurück ins Büro.«

»Es gibt nur Softdrinks, Tee oder Kaffee – was möchtest du?«

Nachdem ich um schwarzen Kaffee gebeten habe, beobachte ich, wie April auf den improvisierten Getränkestand zugeht, bevor es meinen Blick wieder zu Alice zieht. Ich konzentriere mich auf das Bild der einzigen Frau, die ich jemals geliebt habe, und ich bin machtlos gegen die erdrückende Erinnerung: Vergessen. Jetzt. Bitte.

Bald ist April zurück und reicht mir eine kleine weiße Tasse mit Untertasse. Ich schaue sie an.

»Und was treibst du dieser Tage so, Jack, abgesehen von deiner Arbeit mit Bösewichten?«

»Ich bin Anwalt – und sie sind nicht alle böse.« Ich lächle.

»Ah, da ist das Lächeln, von dem sie immer geredet hat.«

Mit meiner freien Hand reibe ich meinen Nacken.

»Bist du verheiratet, Jack? Hast du Kinder?« Auf mein Kopfschütteln hin runzelt sie die Stirn. »Ich gestehe, dass ich versucht habe, dich auf Social Media zu finden, aber keine Spur von dir. Hast du nie geheiratet?«

Wieder verneine ich stumm und wische meine schwitzenden Hände an der Serviette ab, die April mir zu dem Kaffee gegeben hat.

»Das ist ein Jammer.«

Ehe ich begreife, was geschieht, hat sie sich bei mir eingehakt. »Komm, setzen wir uns. Wir können uns da drüben unterhalten.«

Ich bleibe stehen. »April, entschuldige. Ich glaube, dies hier war ein Fehler.«

»Unsinn«, sagt sie. »Ich beiße nicht. Und ich möchte seit über dreißig Jahren mit dir reden, habe nur nie den Mut dazu aufgebracht. Jetzt lasse ich dich nicht gehen. Komm, ich werde dir auch nicht zumuten, die gesamte Verwandtschaft kennenzulernen. Nur du und ich, wir unterhalten uns.«

»Sie hat dich geliebt.« Das hat April mir mehrmals gesagt. Ich bin nicht sicher, warum, denn, wenn ich eines mit Sicherheit wusste, war es, dass Alice und ich uns liebten. Ich weiß, dass wir beide gleich empfanden. Ich trinke den Rest von meinem bitteren Kaffee.

»Was ich zu sagen versuche: Sie war glücklich, als sie gestorben ist. Und wenn jemand schon mit zwanzig sterben muss, ist es dann nicht wunderbar, dass die Person wahre Liebe erlebt hat?«

Ich stimme zu, gebe die angemessenen Laute von mir und blicke mit einem Auge zum Ausgang. Dreißig Schritte und ich bin hier weg.

»Darf ich dich etwas fragen?«

Sie lässt nicht locker, also murmle ich: »Natürlich.«

»Warum hast du nie eine Familie gegründet?«

»Ich habe nie jemanden genug geliebt.« Meine Antwort ist typisch wahrheitsgemäß und direkt, doch mir fällt Lynn ein. Sie ist dem am nächsten gekommen. Wir haben zusammengelebt, sie und ich mit ihrem Sohn Antony im Teenageralter, und ich habe die Beziehung ruiniert, als ginge ich nach einem festen Plan vor.

Plötzlich sind all die Momente seit Alice, Millionen von ihnen, wie ein rauschender Lärm in meinem Gehirn.

»Ich sollte gehen. Danke, dass du an mich gedacht hast.« Ich sehe auf meine Uhr. »Ich werde heute Nachmittag in der Kanzlei gebraucht, also fahre ich lieber zurück.«

»Können wir in Kontakt bleiben?«, fragt April.

»Tut mir leid«, antworte ich und nehme meine Jacke auf. »Ich bin froh, dass du mich eingeladen hast, aber ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre.«

Nach einer ebenso höflichen wie linkischen Umarmung verlasse ich die Schuleingangshalle, in der einst Alice bei der Morgenversammlung gestanden hat, in der sie mit ihren Freundinnen Hüpfen oder Küssefangen mit den Jungen gespielt hat. Im Wagen schließe ich die Augen, umklammere das Lenkrad und versuche, mich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Das ist leichter, als darüber nachzudenken, was hätte sein können.

Im Büro gehe ich die Nachrichten auf meinem Desktop durch, ehe ich die neue Mandantenakte lesen muss, die Mabel mir hingelegt hat. Sofort erscheint Aprils Name; es ist die zweite E-Mail von ihr innerhalb von zwei Tagen. Obwohl ich dringend so tun möchte, als hätte es den heutigen Tag nicht gegeben, rufe ich die E-Mail auf.

– Ursprüngliche Nachricht –

Von: AprilFahy272@gmail.com

Gesendet: 10. August 2018, 15:55

An: JackTate@WhittardChambers.com

Re: Heute

Jack,

es tut mir unsagbar leid. Dich so traurig zu machen war das Letzte, was ich heute vorhatte. Eigentlich wollte ich Alice feiern. Ihr Leben war kurz, aber erfüllt, und mir fehlt bis heute, wie sie sich für wirklich alles begeistern konnte. Und heute habe ich dir angemerkt, dass es dir genauso geht.

Verzeih mir. Ich schreibe dies von meinem Handy aus und habe beschlossen, einfach zu sagen, was ich empfunden habe.

Im Laufe der Jahre wurdest du häufig erwähnt, und das nicht voller Wut, wie du anscheinend denkst. Meine Eltern haben dir nie die Schuld gegeben. Ich habe dir nie die Schuld gegeben. Dennoch denke ich, nachdem ich dich heute gesehen habe, dass du sie dir gibst.

Oh Jack, das Leben ist nie leicht, oder?

Was ich dir noch sagen wollte? Etwas ganz Einfaches.

Ich denke, du bist gefangen in dem Moment, als sie starb. Und ich bitte dich heute, an ihrem Geburtstag, tu bitte alles, was du kannst, die nächste Hälfte deines Lebens zu leben. Ich meine, lebe von diesem Moment an – als würde das Leben für dich in der Mitte anfangen.

Um Himmels willen, Jack, schalte einen Gang höher. Sieh dir an, wie die weite Welt funktioniert. Tu etwas Großes! Lass Liebe in dein Leben. Mach sie stolz.

Und vergib mir, wenn das, was ich hier schreibe, bei dir den Wunsch auslöst, mich anzuschreien. Was ich mir denn einbilde und so weiter.

Ich bin Alice’ einzige Schwester. Wäre das Leben freundlicher gewesen, denke ich, dass wir befreundet wären.

Denn sie hat dich so sehr geliebt, Jack.

Darf ich sagen, dass du es ihr schuldig bist?

Pass auf dich auf,

April

Ich ziehe die Schublade neben mir auf und nehme mir eine der Mini-Whiskyflaschen, die ich von irgendeinem Flug übrig habe. In zwei Schlucken leere ich sie. Tagsüber trinke ich sonst nie, aber der heutige Tag fühlt sich wie eine Ausnahme von der Regel an. Als hätte jemand mein Regelbuch genommen und es in Brand gesteckt.

Ich versuche, Aprils unerbetenen Rat zu ignorieren, indem ich die Akte aufschlage, die Mabel mir hingelegt hat, und überfliege den Inhalt. Der neue Mandant ist ein Bursche in den Zwanzigern, der wegen schwerer Körperverletzung angeklagt wird. Es ist seine dritte Straftat, also wird die Staatsanwaltschaft die Höchststrafe fordern. Die E-Mail, die ich an Mabel tippe, ist wahrscheinlich ein bisschen schroff, spiegelt jedoch meine Stimmung wider. »Bestell ihn sofort zur Besprechung her. J.« Ich stütze die Ellbogen auf den Tisch, wobei ich die Tastatur wegschiebe, und senke den Kopf in die Hände. Aprils Worte einmal gelesen zu haben scheint schon zu reichen, dass sie gleichsam durchs Büro hallen. Die lautesten sind: »Tu etwas Großes. Lass Liebe in dein Leben. Mach sie stolz.«

Während ich mit den Daumen meine Schläfen massiere, frage ich mich, wie das gehen sollte.

Wie zur Hölle macht man das?

Halbwegs bin ich versucht, ihr zurückzuschreiben, dass sie ihre Gefühle für sich behalten soll. Andererseits sagt sie es nur, wie es ist. Eine beinahe Fremde, die erkennt, dass ich in einer Zeitschleife gefangen bin. Jemand, der denkt, dass drei Viertel eines Körpers genügen, um zu lieben.

»Tu etwas GROSSES

Zum Beispiel?

»Lass Liebe in dein Leben.«

Das ist lächerlich. Ich habe es versucht. Ich bin beschädigt, nicht vollständig. Neurotisch und ein bisschen zwanghaft. Unfähig zu lieben. Frag Lynn. Verdammt, frag auch Antony …

Um mich abzulenken, nehme ich mir wieder die Akte vor und lese sie, diesmal gründlich. Und ich lerne etwas Neues, abgesehen von einer wichtigen Tatsache. Zum allerersten Mal kümmert mich im Grunde nicht, was mit diesem Typen passiert. Und das ist nicht in Ordnung. Gedanken kollidieren. Ich nehme den Telefonhörer hoch und bin erleichtert, als am anderen Ende abgehoben wird.

»Ich schicke dir nur mal die Kopie einer E-Mail«, sage ich.

»Ja, dir auch guten Tag, Jack.«

»Entschuldige. Hi, Ollie. Hast du sie schon?«

»Vielleicht bin ich zu beschäftigt, um deine E-Mail jetzt gleich zu lesen.«

»Bist du?«

Seufzend täuscht Ollie Ungeduld mit mir vor. Das ist sein Ding: So zu tun, als wäre er genervt, wenn ich ihn irgendwie brauche. Dabei ist er immer schon für mich da gewesen, ob telefonisch oder persönlich. Uns verbindet schon seit der Grundschule eine tiefe Freundschaft, die seit dem Unfall erst recht unverbrüchlich ist.

»Gut, ich habe sie«, erwidert er. »Und ich lese sie gerade.« Er gibt einige Male »Aha« und »Hm« von sich, ehe er schließlich mit einem gedehnten »Ok-a-a-y« endet.

»Was meinst du?« Ich knabbere an einem Niednagel.

»Ich finde, sie hat recht. Die Frau gefällt mir.«

Ich sage nichts.

»Also, sie hat dir das geschickt, nachdem du bei der Party warst, auf die du angeblich nicht gehen wolltest?«

»Ich hatte es mir anders überlegt.«

»Ja, das sehe ich. Was glaubst du, was sie meint?«

»Keine Ahnung. Deshalb rufe ich dich an.«

»Etwas Großes … Ich würde sagen, hör auf, Plastik zu kaufen, hilf im Kampf gegen die globale Erwärmung oder spende für Tafeln und Hilfsorganisationen, aber das machst du alles ja schon. Und die Größe ist entscheidend, ich meine, sie spricht von GROSS. Warte mal, ich lese es gerade noch mal.« Er verstummt kurz. »Ja, mit dem Teil über die Liebe liegt sie richtig. Es wird Zeit, Alter.«

»Oh, bitte!« Ich fahre richtig zusammen. »Bitte fang jetzt nicht an, lauter Dinnerpartys zu schmeißen, bei denen du mich neben irgendwelchen Single-Frauen platzierst! Ich bin nicht interessiert.«

»Stimmt.«

Ich kann fast hören, wie er nickt.

»Jack?«

»Ja?« Ich halte den Atem an und wappne mich für das, was jetzt kommt, auch wenn ich es vermutlich hören muss.

»Eigentlich steht hier nichts Neues, abgesehen von dieser Aufforderung, etwas GROSSES zu tun, was wahrscheinlich eine gute Idee ist. Aber vor allem schreibt sie, was ich dir schon seit Langem sage und was du bereits weißt. Wie haben es die Rolling Stones noch gleich formuliert? ›Die Zeit wartet auf keinen‹, und vielleicht ist es jetzt Zeit, nach vorn zu sehen. Willst du meinen Rat hören? Ignorier das hier nicht. Es ist aus einem Grund passiert. Lass ihre Worte einige Tage auf dich wirken.«

»Auf mich wirken …« Ich stelle mir vor, wie die E-Mail über Tage durch meinen Kopf geistert.

»Hör mal, ich habe in fünf Minuten ein Meeting, tut mir leid«, sagt er. »Lass uns Ende der Woche reden, ja?«

Dann ist er weg, und sofort reise ich in der Zeit zurück zu jenen Momenten, die sich tief in meine Psyche eingegraben haben. Zu jenen Erinnerungen, die ich jedes Mal Sekunde für Sekunde aufs Neue durchlebe. Wenn ich es zulasse.

Es ist ein langsamer Tanz. Ihr Kopf lehnt an meiner Brust, und sie hat beide Arme um mich gelegt. Ich bin dieser schlaksige Typ, eben erst aus dem Teenageralter heraus, der sich immerzu vorbeugt, um seine Größe von einem Meter dreiundneunzig zu kaschieren, und in einer Bluesband Trompete spielt. Jemand, der während der gesamten Schulzeit als »komisch« galt und diesem Etikett geglaubt hat.

Alice, eine kleine, zierliche Brünette, die sich in ihrer weichen Samthaut rundum wohlfühlt, trägt eine Caprihose zu einem T-Shirt mit einem Einhorn drauf, weil sie »total an Magie« glaubt.

Alice liebt mich.

Ich liebe Alice.

Ich frage mich, warum ihr Haar im Juli nach Weihnachten riecht, als sie flüstert: »Lass uns gehen.« Sie führt mich auf diesem abendlichen Open-Air-Konzert durch die Menge, und wir laufen zum Parkplatz und dem Mini, den ich mir von Ollie geliehen habe. Wir beide kichern, als ich mich auf den kleinen Fahrersitz falte.

Sie summt irgendeinen Song, den wir gehört haben, und ich will gerade etwas sagen, an das ich mich später nicht erinnern kann, da hebe ich die linke Hand, um meine Augen abzuschirmen. Vorn, zu nahe, blenden die Scheinwerfer eines Wagens auf der falschen Straßenseite auf. Ich weiche aus, und das Einzige, was ich tun kann, ist, ihren Namen zu sagen.

Reifen quietschen. Metall kreischt an Metall. Alicerechter Arm schnellt auf eine mütterliche Art, die nie ihre Blüte erreichen wird, vor mich, als wollte sie mich vor dem schützen, was kommt.

Der Hang seitlich der Straße ist steil; scharfkantige Zweige peitschen durchs offene Fenster herein, als wir kopfüber in den Abgrund stürzen. Die Scheinwerfer explodieren, bevor der Wagen erbebend zum Stehen kommt, die Front gequetscht wie eine Ziehharmonika. Mein linkes Bein verklemmt sich in geborstenem Metall, und mitten im Schrei schmecke ich Blut.

Alice Kopf ist in einem seltsamen Winkel nach vorn geneigt. Ich greife nach ihrem schönen Gesicht, und sofort erfüllt mich Panik. Ich weiß es.

Und alles, was ich will, ist Bewusstlosigkeit.

2

WhatsApp Grace & Tim

Dad, bitte, kein Ärger, okay?

Wie & warum sollte ich Ärger machen?

Du hast gesagt, du hältst dich fern.

Wenn du das willst, darf ich aber traurig sein sad

Ich weiß …

Nein, Gracie, weißt du nicht. Das kapierst du erst, wenn du älter bist & jemanden liebst & der einfach sagt, er liebt dich nicht mehr, einfach so. Ohne Vorwarnung, einfach so & du sollst das so hinnehmen. Ich hoffe, du erfährst nie, wie sich das anfühlt.

Ich würde sagen, Mum erinnert es anders.

Du weißt nichts. Muss los. Sehen uns vielleicht morgen.

Nein, Dad! Du hast gesagt, du machst das nicht. Dad!

3

Clare hatte das Gefühl, ihr Innerstes hätte sich über Nacht vollkommen verdreht. Als sie aufwachte, rieb sie ihren schmerzenden Bauch und versuchte, sich auf die ersten Minuten des Tages einzustellen. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, welches Drama sie heute erwartete. Zwar waren Schulferien, doch Grace musste zu einem Hockeyturnier gefahren werden, also beschäftigte Clare sich damit, zunächst einen Instantkaffee zu machen, dann ein Mittagessen für Grace. Zwei Scheiben Weißbrot, keine Butter, Ketchup und ein bisschen Salami. Clare hätte schwören können, dass ihr einziges Kind ohne Geschmacksknospen auf die Welt gekommen war.

Radio 1 lief im Hintergrund, als Clare das Sixpack Limodosen unter fließendem Wasser abspülte und auf einmal merkte, dass sie beobachtet wurde. »Rattenurin«, sagte sie zu ihrer Tochter, ohne aufzublicken. »Ich habe einen Artikel darüber gelesen. Diese Dosen stehen in Lagerhäusern herum, und man kann nie wissen, was darauf herumgekrabbelt ist. Dann trinkt man daraus und …«

»Klar.« Grace nahm ihr eine Dose ab, trocknete sie und steckte sie in ihre Tasche. »Bist du bereit?«

»Bin ich immer«, antwortete Clare lächelnd.

»Ja, aber bist du bereit, jetzt loszufahren, Mum?«

»Deine Kutsche wartet, meine Teure.« Clare schob sie zur Haustür hinaus und zog sie hinter ihnen zu. Bei der Kutsche handelte es sich um einen zwölf Jahre alten Nissan, der schon sehr viel bessere Tage gesehen hatte. Meistens ging Clare lieber zu Fuß, anstatt zu riskieren, dass der Motor hustete wie ein müder alter Mann mit Atemwegsproblemen.

»Also, Rattenurin«, sagte Grace, während sie durch ihre enge Straße fuhren, in der zu beiden Seiten Autos parkten.

Clare lachte. »Mach dich ruhig lustig, aber da könnte was dran sein!«

»Nicht mehr, nachdem du dich darum gekümmert hast, Mum.«

»Tue ich das nicht immer? Mich um Sachen kümmern?«

»Doch, tust du.«

Bedrückende Stille trat ein. »Kommst du heute klar?«, wollte Grace wissen. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

»Natürlich.«

»Rufst du mich an, wenn es irgendwelche Probleme gibt?«

»Wird es nicht. Ich hole dich um halb sechs ab.«

»Und wenn irgendwas …«

»Grace, geh spielen, amüsier dich! Sei fünfzehn, mein Schatz! Alles ist gut, versprochen.« Clare hielt vor dem Schulsportplatz an, gleich hinter einem Zebrastreifen. »Bis später«, rief sie ihrem einzigen Kind nach, das ihr einen Kuss zupustete.

Clare hatte keine Ahnung, wie sie zu dieser Tochter kam. Grace war eine alte Seele; Clare war überzeugt, dass sie schon tausend frühere Leben geführt hatte. Grace hatte früher als andere Kinder gesprochen, war früher als andere Kinder gelaufen, hatte früher als andere Kinder Bücher gelesen und ihren Namen geschrieben. Außer ihren dunklen Augen hatte das Mädchen keine Ähnlichkeit mit dem Vater und noch weniger mit Clare, aber die beiden hatten es geschafft, einen freundlichen, fürsorglichen Teenager zustande zu bringen. Und bei allem, was es an Tim auszusetzen gab – wobei da einiges zusammenkam –, bemühte er sich, ein guter Vater zu sein.

Allein der Gedanke an Tim bewirkte, dass sie wieder Bauchgrummeln bekam. Sie blickte zur Uhr am Armaturenbrett – gerade noch genug Zeit, nach Hause zu fahren, nach E-Mails zu sehen, noch einigen Papierkram zu erledigen und dann zum Saal zu fahren, um alles für ihren Tanzkurs mittags vorzubereiten. Es war ihr Lieblingskurs – Walzerstunden für Leute über siebzig. Dort übten sie die Neigungen und Dehnungen, verbesserten ihre Fußarbeit und konnten einmal die Woche mit Freunden zusammen lachen.

Kaum öffnete sie die Haustür, gingen ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Sie hatte das Radio angelassen, doch jetzt war es stumm. Die Post, die in der Zwischenzeit gebracht worden war, lag ordentlich aufgestapelt auf der Heizungsabdeckung neben ihr.

»Hallo?«, rief sie und ließ die Haustür hinter sich offen.

Tims großer Umriss erschien an der Wohnzimmertür. »Hallo«, antwortete er.

Sie seufzte. »Tim, du musst damit aufhören.« Sie sprach betont ruhig und langsam. »Du hattest gesagt, dass du den Schlüssel zurückbringst.«

Ihr baldiger Exmann streckte seine Hand mit dem Schlüssel vor. »Komm und hol ihn dir.«

»Ich spiele nicht mit. Was willst du?«

»Ich wollte hier sein, wenn du ihn aufmachst.«

Clare sah zur Post. Sechs Wochen nach ihrem vorläufigen Scheidungsurteil befand sich also irgendwo in dem Stapel das endgültige Ende ihrer Ehe. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist schräg. Begreifst du nicht, wie gruselig das ist?«

»Ich will dein Gesicht sehen.« Er nahm mehrere Umschläge in die Hand, ging sie durch und reichte ihr einen – weiß, gestärkt, mit ihrem Namen und ihrer Adresse getippt vorn drauf und dem Frankierstempel der Anwälte in der rechten Ecke oben.

»Geh nach Hause, Tim.«

»Dies hier ist mein Zuhause.«

»Nicht mehr.« Während der langen Trennung hatte sie hart darum gekämpft, das Haus zu behalten. Mit freier Rechtshilfe hatte sie ihn vor Gericht gezerrt, um Kindesunterhalt und seinen Teil der Hypothekennachzahlungen zu bekommen, aber er zahlte nie. Und weil sie die Schulden nicht allein begleichen konnte, gehörte das Haus jetzt wieder dem Kreditgeber. Die letzte Mahnung würde in weniger als zwei Wochen kommen.

Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er näher kam, denn sie wollte sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Nicht heute.

»Mach den Brief auf«, sagte er.

»Nicht, solange du hier bist.« Sie zählte die Spitzen der Palmenblätter auf der Flurtapete. Die hatte sie vor Jahren mit ihm ausgesucht, als sie beide diesen Miami-Stil mochten.

»Bitte, ich möchte, dass du es vorliest. Schön laut.«

Clare riss den Umschlag auf und begann zu lesen: »Gemäß vorläufigem Urteil vom 18. Juni 2018, nach dem die Ehe, geschlossen am 18. März 2000 in der St. Margaret’s Church Twickenham zwischen der Klägerin Clare Bryanson und dem Beklagten Mr. Timothy Bryanson, aufgelöst ist …«

»Aufgelöst.« Tim umfing ihr Kinn und hob es an, sodass sie ihn ansehen musste. »Hört sich an, als wären wir eine Alka-Seltzer.«

Clare befreite ihren Kopf ruckartig und bewegte sich zur Haustür. »Ich finde, du solltest jetzt gehen.«

»Bist du nicht mal ein kleines bisschen traurig?«

Nun sah sie ihn doch an, und ein Bild von ihnen beiden am Tag ihrer Hochzeit tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Sie hatte einen Kloß im Hals. »Selbstverständlich bin ich traurig. Wärst du jetzt nicht hier, würde ich wahrscheinlich in meinen Kaffee heulen.«

»Dann trink einen Kaffee und heul mit mir.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Tim, bitte! Ich kann das nicht mehr, erst recht nicht heute.« Sie hielt das Schreiben in die Höhe. »Es ist vorbei. Es ist schon lange vorbei, doch heute stimmt sogar das Gesetz zu, dass es endgültig vorbei ist.«

Ehe sie begriff, was geschah, hatte er den Brief gepackt und riss ihn in zig kleine Stücke. Dann starrte er sie an, hob die Hände und ließ die Fetzen langsam nach unten rieseln. Clare beobachtete, wie sie konfettigleich zu Boden schwebten. Dann drehte Tim sich um und ging in die Küche.

»Ich kann eine Kopie anfordern, Tim«, rief sie ihm nach und fragte sich, ob sie die Polizei rufen müsste. Es wäre nicht das erste Mal. Als er in den Flur zurückkam, hatte er einen Rucksack über der Schulter und eine Dose Limonade in den Händen.

»Ich gehe jetzt«, sagte er. »Richte Grace aus, sie soll am Freitag um sechs bereit sein.«

Clare nickte widerwillig. Das Curry-Essen freitagabends mit ihrem Vater schien Grace eher zu ertragen als zu genießen, aber ihr schien regelmäßiger Kontakt zu ihrem Vater wichtig.

Im Vorbeigehen neigte Tim den Kopf zu ihr. Sie zuckte zusammen, als sie seinen Kuss auf ihrer Wange spürte. »Mach’s gut, Clare. Du hast bekommen, was du wolltest – jetzt bist du Single. Wir beide fliegen aus unserem Haus. Ich wohne bei meinen Eltern, und du kannst dir nicht mal das beschissenste Drecksloch leisten. Glückwunsch.«

Sie hielt den Atem an und verkniff sich, was sie zu gern erwidert hätte. »Kann ich bitte den Schlüssel haben?«, sagte sie, als er über die Schwelle trat. »Die Bank wird sie alle wollen.«

»Ich denke, den behalte ich«, antwortete er grinsend und schob ihn tief in seine vordere Jeanstasche. »Zur Sicherheit.«

Clare schloss die Tür hinter ihm, legte den Riegel vor und lehnte die Stirn an die Tür, deren Farbe verblichen war. Sie hatte es gewusst. Grace hatte es gewusst. Ihnen beiden war klar gewesen, dass er heute aufkreuzen würde.

»Hätte ich bekommen, was ich wollte, hättest du mich nie geschlagen«, flüsterte sie. »Ich hätte nicht immerzu raten müssen, was in deinem Kopf vorgeht. Hättest du mir geholfen, hätte ich nie das Haus verloren.« Sie blinzelte langsam. »Und ich würde mir jetzt nicht wünschen, dass du von einer satten Dosis Rattenurin vergiftet wirst.« Clare richtete sich auf und schaute auf die Uhr. Dank Tim blieb keine Zeit mehr für Papierkram, aber sie hatte noch ein paar Minuten für einen Kaffee und einen Anruf bei den Anwälten, um eine Kopie des Urteils anzufordern. Danach würde sie sich von ihren Walzertänzern in den Siebzigern aufmuntern lassen. Es war bitter nötig.

Um zehn Uhr abends war sie so müde, dass sie ununterbrochen gähnte. Sie schaltete die Nachrichten aus und schwang die Beine von der Couch. Pochende Schritte waren zu hören, als Grace die Treppe herunterkam, um sich vermutlich noch eine Scheibe Toast zu machen. Clare nahm ihr Handy vom Sofa neben ihr und löschte die neueste Textnachricht, ohne sie zu lesen. Tim hatte für einen Tag genug gesagt.

»Mum.« Grace stand in der Tür. »Weißt du noch, dass du Gladys im Gemeindesaal ein Los abgekauft hattest?«

Clare gähnte wieder und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Gladys. Ihre Tanzschülerin – Tanzpartnerin von Phillip. Eine entzückende alte Dame, sie hatte sie heute erst gesehen. »Los?«, wiederholte sie.

»Du hast ihr eines abgekauft. Der Frau, deren Sohn in Afghanistan verwundet wurde, weißt du noch?«

Es fiel ihr wieder ein. Gladys hatte Lose für eine Hilfseinrichtung in Wiltshire verkauft, die Amputierte bei der Reha unterstützte. »Was ist damit?« Clare war hundemüde und konnte nicht klar denken.

»Ich muss denen bei Twitter gefolgt sein, denn da steht, dass sich ein Gewinner bisher nicht gemeldet hat. Wo kann das Los sein?« Grace war in die offene Küche gegangen und kramte in den Schränken.

»Was gab es denn zu gewinnen? Wahrscheinlich habe ich es weggeworfen, Schatz.«

»Mum! Der Gewinn war zehntausend Pfund, und die Lose haben fünf Pfund das Stück gekostet.«

»Fünf Pfund!« Clare schüttelte den Kopf. »Gladys hatte mich kommen sehen!«

»Zehntausend, Mum.«

Sie ging zu ihrer Tochter in die Küche. Sie erinnerte sich wieder, wie Gladys allen von den Verwundungen ihres Sohnes erzählt hatte. Und Clare gab fünf Pfund, obwohl sie es sich nicht leisten konnte. »Grace, das könnte irgendwo sein.«

»Denk nach, Mum!«

»Tue ich ja. Du bist das einzige Glück in meinem Leben, Schatz. Jetzt trink deinen Tee, iss deinen Toast und geh ins Bett. Wir müssen beide morgen früh raus.«

»Gott, du bist zum Wahnsinnigwerden«, sagte Grace und schüttelte den Wasserkocher.

»Ich hab dich auch lieb.« Clare küsste sie auf die Wange. »Mach alles aus, ehe du nach oben kommst.«

Clare wachte von dem Geräusch aufgezogener und zugeschobener Schubladen in ihrem Schlafzimmer auf. Benommen warf sie ihr Federbett zur Seite, von dem Tim behauptet hatte, dass es »seines« wäre. Dabei hatte sie es von ihm zum Geburtstag bekommen.

»Es war Samstag, und ich war mit dir dort. Ich hatte dir mit den Kleinen geholfen, bevor du die Alten hattest.« Grace’ blondes Haar war noch schlafzerzaust, und bei dem zu kleinen Pyjamaoberteil blitzte immer wieder ihr Bauch hervor, besonders als sie die Hände in die Hüften stemmte.

Clare stieg aus dem Bett, öffnete ein Fenster und atmete die taufeuchte Morgenluft ein. Dann ging sie durch den schmalen Flur, auf dem der grüne Teppich mit den Jahren flacher geworden war, ins Bad.

»Du hattest deine blaue Handtasche mit den roten Sternen dabei, das weiß ich noch!«, rief ihre Tochter ihr nach.

Auf der Toilette stützte Clare den Kopf in die Hände. Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, schaltete sie die Dusche ein und trat ein Stück zurück. »Willst du zuerst duschen oder soll ich?«

»Mein Gott, Mum, zehntausend Pfund wären jetzt wirklich praktisch! Träumst du nie davon, hier rauszukommen?«

Clare stand sehr still da. Sie hatte hart gegen Tim gekämpft, damit er ihr half, ihr Dach über dem Kopf zu behalten, und verloren. Sie hatte mit der Gemeinde um eine Sozialwohnung gekämpft, musste aber zu Recht ihren Platz am Ende der langen Schlange einnehmen. Sie bemühte sich nach Kräften, irgendwie über die Runden zu kommen und Grace’ Leben so wenig wie möglich durcheinanderzubringen; Grace sollte auf ihrer Schule bleiben, ihr Zimmer mit dem pinkfarbenen Moskitonetz über dem Bett behalten und die Auswahl seltsamer Teenager, die sie manchmal ihre Freunde nannte. Aber es war ausgeschlossen, dass sie sich eine Miete in dieser Gegend leisten konnte. Sie blinzelte. Ja, sie hatte Träume. Zugleich bedeutete das Aufrechterhalten der Ehe in den letzten Jahren und das Verhandeln mit Tim nach der Trennung, dass sie sich nicht erinnerte, welche. »Dann dusche ich zuerst«, murmelte sie.

»Diese Tasche!«, brüllte Grace. »Wo kann die sein?«

Clare ignorierte sie, drehte das Wasser sehr heiß und stieg unter den Strahl. Manche Menschen nutzten ihre morgendliche Dusche, um wach zu werden; Clare zog es vor, sie als ein Reinigungsritual zu betrachten. Sie wusch alles von sich ab, was in den letzten vierundzwanzig Stunden gewesen war. Heute Morgen bedeutete es, dass sie sich extra gründlich schrubben musste, um Tim, dessen ganzen Mist und Grace’ Enttäuschung in den Abfluss zu spülen. Und der Gedanke, dass ihre einzige Option sein könnte, ihre Mutter um Hilfe zu bitten – der erforderte ein Scheuern, dass es beinahe wehtat.

Zehn Minuten später kam sie zurück ins Schlafzimmer, ein großes Badelaken um ihren Körper und ein Handtuch um ihr Haar gewickelt. »Das Bad ist frei«, sagte sie, ohne Grace anzusehen.

»Ich überprüfe das nur«, antwortete ihre Tochter. Sie war über ihr Handy gebeugt, was an sich nichts Neues war.

»Und ich muss mich für die Arbeit anziehen.«

»Mum!«

Clare ging um den Haufen Handtaschen herum, die Grace vor dem Fußende gelassen hatte. »Ich habe um neun einen Kurs.«

»Ich habe das Los gefunden. Die Zahlen passen nicht.«

»Das hätte ich dir gleich sagen können. Ja, ich habe dir sogar gestern Abend schon gesagt, dass du mein einziges Glück bist.«

»Mum!«

Sie drehte sich zu Grace um. »Was?«

»Was sollen wir denn machen?«

Clare setzte sich zu ihr und legte einen Arm um Grace’ Schultern. Dann wischte sie die Tränen weg, die aus Grace’ Augen quollen, und hielt ihr Gesicht mit der freien Hand. »Ich werde das tun, was Mums nun mal machen, und alles regeln.«

»Es sind nur noch zwei Wochen, bis wir ausziehen müssen.«

Clare nickte. »Ja.«

Noch heute würde sie ihre Mutter anrufen. Sie würde all den Schmerz verdrängen und die Nummer wählen, die sie immer noch auf einem alten Zettel hatte. »Mum«, würde sie sagen und jeden Funken Stolz herunterschlucken, den sie besaß. »Ich brauche deine Hilfe.« Das würde sie sagen. Sosehr es ihr auch widerstrebte, sie würde es tun. Heute.

»Grace, du musst mir vertrauen, okay?«

Sie fühlte, wie sich Grace’ Kopf kaum merklich an ihrer Brust bewegte. Es war ein Ja. Und mehr brauchte sie nicht. Sie durfte ihre Tochter nicht im Stich lassen.

Heute würde sie die Frau anrufen, die sie in ihren ersten Lebensjahren enttäuscht hatte. Sie würde die Frau anrufen, die sie, als Clare zehn Jahre alt war, angewiesen hatte, niemals jemanden zu lieben und nie Kinder zu bekommen, weil »die Menschen, die du liebst, dich immer enttäuschen«. Und Clare müsste ihrer Mutter gestehen, dass sie genau wie prophezeit versagt hatte.

Und dann um ein Darlehen bitten.

4

»Das Glas kommt später.« Mein Bauunternehmer Tony zieht an seiner Zigarette, nachdem er es gesagt hat, und ich kann nicht anders, als die so lässig überbrachte schlechte Nachricht mit einem wütenden Blick zu quittieren.

»Um wie viel?«, frage ich. Ich stehe vor der zwei Meter breiten Öffnung, wo ein durchgehendes Fenster eingebaut werden sollte, damit der ganze Scheunenumbau wasserdicht ist. Dieser Umbau ist seit Monaten so was wie ein Hobby, aber jetzt will ich, dass er fertig wird.

»Das kommt aus Schweden, Jack«, antwortet Tony, bevor er seine Zigarette auf den Boden wirft.

Ich starre ihn noch ein wenig länger an. Es ist eine Taktik, die ich jahrelang vor Gericht verfeinert habe. Wenn die gegnerische Seite weiß, dass sie meine Frage eigentlich nicht beantwortet hat, warte ich. Und warte.

»Weiß ich nicht«, sagt er schließlich und wischt sich die schweißbenetzte Stirn mit dem Handrücken ab. »Aber, wenn ich raten muss, würde ich sagen, noch vierzehn Tage.«

»Ich bezahle dich nicht fürs Raten, und zwei Wochen länger sind nicht drin.« Während ich rede, bücke ich mich, um seinen Zigarettenstummel aufzuheben. Ich reiche ihm das Teil, das in einem nach Wochen ohne Regen ausgetrockneten Garten eine Brandgefahr darstellt, bevor ich weggehe. »Regle das, Tony«, sage ich und füge im letzten Moment ein »Bitte« hinzu.

Sein Blick bohrt sich in meinen Rücken, und ich kann mir die unausgesprochenen Kraftausdrücke vorstellen, die ihm auf der Zunge brennen. Ich gehe an dem neu aufgestellten Zaun und den frisch gepflanzten Sträuchern entlang, die den Grenzverlauf zwischen den Grundstücken markieren. Ich verrücke den Wasserschlauch, der ihre Wurzeln gießt, und gehe hinauf zum Haupthaus, denn Ollie kommt bald.

Ich habe ein Mittagessen vorbereitet, auch wenn Ollies Steak die Pfanne quasi nur berühren darf.

»Mir ist schleierhaft, wie du das machst. Das Ding muht praktisch noch«, sage ich, als ich mit der Gabel auf sein Fleischstück zeige, nachdem wir uns an den Küchentisch gesetzt haben.

Ollie grinst. »Das ist super!« Er redet weiter, während er sein Fleisch schneidet. »Und hast du schon entschieden, was du tun willst?«

Die letzten Tage war er mein Resonanzboden, während ich so viele Dinge verarbeite, die April mit ihrer E-Mail ausgelöst hat. »Jo … Ich nehme ein Sabbatical, irgendwas zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Wohin es geht, muss ich noch entscheiden.«

»Klingt immer noch ein bisschen vage, Jack.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich kann die Leerstellen nicht füllen, ehe ich nicht mit Marsha geredet und die Einzelheiten mit der Kanzlei geklärt habe. Danach wird es aufregend!« Als ich es sage, bin ich mir nicht sicher, dass Marsha, die Kanzleichefin, es genauso aufregend finden wird.

Ollie sieht mich kauend an. »Und ist dieses Reisen ein ›Ding‹ oder das ›Große‹?«

Stirnrunzelnd denke ich nach. »Weiß ich nicht genau. Ich habe nur das Gefühl, dass ich es tun sollte.«

»Läufst du weg?«

»Nein.« Ich seufze. »Es war klar, dass du das denkst. Ich war mir nicht sicher, was ich machen wollte, bis ich diese Woche eine Besprechung mit einem neuen Mandanten hatte …« Ich möchte es richtig erklären und lege mein Besteck hin. »Von dem Moment an, als ich diesen Typen getroffen habe, nein, schon in dem Augenblick, in dem ich seine Akte gelesen habe, wurde mir bewusst, dass mich nicht interessiert, was mit ihm geschieht. Aber ob schuldig oder nicht, er verdient die bestmögliche Verteidigung, und die kann ich nicht leisten, wenn es mich nicht schert. Also ist es kein Weglaufen, sondern eher …« Ich merke, wie ich mich auf eine zerkratzte Stelle auf dem Eichentisch neben meinem Glas konzentriere. »Ich bin müde, Ollie«, gestehe ich. »Und die Vorstellung einer Pause, von allem wegzukommen, hat kaum Gestalt angenommen, da wurde sie schon immer mehr zu einer lauten Stimme in meinem Kopf.«

Er nickt. »Das verstehe ich. Aber was an Aprils E-Mail anders war, war ihre Erwähnung einer großen Geste für dich oder die Welt oder beides – das Große

»Ich habe überlegt, eine Spendenveranstaltung für das hiesige Rehazentrum zu machen.« Dabei achte ich auf seinen Gesichtsausdruck.

Und der wirkt wenig beeindruckt. »Oder du könntest ihnen einen Scheck ausstellen.«

»Ehrlich, ich denke, Reisen würde meinen Horizont erweitern, was eventuell bedeutet, dass ich die Vergangenheit hinter mir lasse, und das wäre nicht nur groß, sondern riesig. Gigantisch!« Ich breite die Arme so weit wie möglich aus und grinse ihn matt an.

»Klar, aber reicht es, dir einen längeren Urlaub zu gönnen?«

»Ich ziehe die Bezeichnung ›lehrreiche Erfahrung‹ vor. Wer weiß?« Ich zucke mit den Schultern und nehme von meinem kalten Essen. Mein Appetit versiegt bereits. »Es ist immerhin ein Anfang.«

Lächelnd tippt Ollie mit seinem Wasserglas gegen meines mit Merlot. Er ist mit dem Auto da, und keiner von uns trinkt einen Tropfen, wenn er mit dem Wagen unterwegs ist. Es ist unsere Lehre aus dem, was Alice und mir passiert war, als wir beide Opfer eines Fremden wurden, der sich vor langer Zeit anders entschieden hatte.

»Wie läuft es mit der Scheune?«, fragt er und sieht nach draußen zu den Umrissen.

Mein Telefon vibriert auf dem Tisch; nach einem kurzen Blick aufs Display drücke ich den Anruf weg.

»Tony, der Bauunternehmer, strapaziert meine Geduld«, antworte ich. »Anscheinend versteht er das Wort ›fertigstellen‹ nicht.«

»Und was hast du damit vor, wenn alles fertig ist?«

»Der Plan war eigentlich, zu verkaufen, aber der Markt ist am Boden, und angesichts der neuen Pläne werde ich wohl für ein Jahr vermieten.«

»Und dieses Haus? Was ist damit, wenn du weggehst?«

Ich nehme mir einen Moment, um mich in dem Zuhause umzuschauen, das ich liebe – meine Küche im Landhausstil mit dem Aga, mit dem ich immer noch kämpfe, dem alten Eichenesstisch, an dem wir neben der tickenden Standuhr sitzen, die ich von meinem Vater hatte. Durch einen offenen Türbogen sieht man in ein kleines Wohnzimmer mit einem Sofa und einem Sessel, einem Plattenspieler und einer Musikanlage. Dort sind die Wände weiß gestrichen; an der hinteren führt eine Glastür in den Garten.

Ollie schnippt vor meinem Gesicht mit den Fingern. »Erde an Jack.«

Ich blicke zu seinem Teller und sehe, dass er aufgegessen hat. Ich habe eigentlich keinen Hunger mehr. Wir räumen gemeinsam den Tisch ab.

Minuten später sitzen wir im Wohnzimmer, ich auf dem Sofa, eingesunken in die Vertiefung, die mein Hintern hier geformt hat. Gleich hinter dem Sessel, in dem Ollie sitzt, steht eine große alte Truhe, in der ich all meine Schallplatten und Noten aufbewahre. Die Glastür ist offen; draußen neigt sich der Augusttag dem Ende zu.

»Ich habe gefragt, was du mit diesem Haus vorhast.«

»Ich lasse es leer, engagiere jemanden, der hier nach dem Rechten sieht. Die Vorstellung, dass hier andere Leute wohnen, ertrage ich nicht.«

Ollie nickt, trinkt seinen Kaffee, und ich schenke mir einen Brandy ein. Plötzlich ist er still, und ehe ich ihn fragen kann, was los ist, platzt er heraus: »Ich habe nachgedacht.« Es tritt eine Pause ein; ich sehe ihm an, dass er an die Unfallnacht denkt. Im Laufe der Jahre hatten wir viele Abende bei Brandy, und es kommt selten vor, dass wir am Ende nicht über die Rolle des Zufalls sprechen. Was, wenn er mir seinen Wagen nicht geliehen hätte? Was, wenn ich zehn Minuten später losgefahren wäre? Was, wenn Ollie nicht die Grippe gehabt hätte und wie geplant mit mir zu dem Konzert gekommen wäre? Er wurde krank, und Alice und ich gingen hin. Wer von uns wäre gefahren, wären Ollie und ich dort gewesen? Und wer von uns wäre dann jetzt tot?

Ich beobachte, wie er überlegt, bevor er fortfährt: »Über alles, was dich hergeführt hat, und … ich habe eine Idee.«

»O Gott …«

»Hör zu«, sagt er. »Hör mich einfach an, ja? Ich bin neu im Vorstand einer Wohltätigkeitsorganisation, gegründet von einer Frau, die ich von der Uni kenne. Es ist eine kleine Organisation, die Familien hilft, wenn sie durch Scheidung ihre Häuser verlieren, bis sie wieder auf die Beine kommen. Vor Jahren war sie selbst in einer solchen Lage und hat diesen Verein gegründet, um anderen zu helfen.« Ollie sieht mich an. »Sie glaubt fest, dass es eine Chance auf einen Neuanfang ist, und hat mich überzeugt, in den Vorstand zu kommen.«

Ich ahne, was folgt. »Das denke ich nicht, Oliver.«

»April sprach von etwas GROSSEM

Der Brandy brennt in meiner Kehle. »Deshalb dieser ungewöhnliche Spontanbesuch?«

Er hat sein rechtes Bein über das linke geschlagen, der Fuß wippt sanft. Das gelegentliche Knacken in seinem Knöchel ist das einzige Geräusch, bis er weiterspricht. »Erwischt. Jack, ich verstehe das mit dem Reisen, aber du bist auch auf Großes aus, und das ist es, mein Freund. Zeig dem Schicksal den Stinkefinger und hilf, das Leben von jemandem zum Besseren zu ändern.«

Ich lasse mir die Idee durch den Kopf gehen. Wie er sicher schon wusste, verwerfe ich sie nicht gleich, weil sie GROSS ist und funktionieren könnte. »Erzähl mir mehr über diese Organisation. Ich höre zu.«

Zwei Kaffees später weiß ich so gut wie alles, was ich wissen muss, und er verstummt.

»Wie überprüfe ich die Leute, die einziehen?«, frage ich, denn das ist meine größte Sorge.

»Gar nicht«, antwortet er schulterzuckend. »Wie gesagt, die Leute bewerben sich, müssen die Kriterien erfüllen, dass sie kürzlich geschieden wurden, ihr Haus verloren haben und so weiter. Und dann entscheiden Timing und Glück. Natürlich sieht die Organisation sich die Leute an …«

»Könntest du dabei sein – mit denjenigen reden, die vorgeschlagen werden?«

»Könnte ich.« Ollie grinst, denn er glaubt, schon gewonnen zu haben, obwohl ich nach wie vor unsicher bin.

»Ich meine, die Scheune ist nicht riesig. Eigentlich reicht der Platz nur für einen Erwachsenen und ein Kind, höchstens mit zwei kleinen Kindern. Und Kinder … Mist, das viele Glas …«

»Hör auf, dich zu sorgen. Du wirst derweil durch die Weltgeschichte reisen.«

Er hat recht. Werde ich. Und ohne zu kapieren, was ich tue, erzähle ich ihm, dass ich darüber nachdenke, was Ollie wie üblich als Ja nimmt. Im Takt seiner Hand, die auf seinen Oberschenkel schlägt, wiederhole ich: »Ich habe gesagt, ich denke drüber nach, Ollie. Und es wäre höchstens für ein Jahr, wobei du es persönlich überwachen müsstest.«

»Selbstverständlich!« Er steht auf, zieht mich vom Sofa hoch und umarmt mich.

»O Mann, welchen Teil von ›drüber nachdenken‹ hast du nicht verstanden?« Ich verziehe das Gesicht.

»Es ist richtig GROSS, und du würdest wirklich jemandem helfen.«

Ich weiche zurück, greife nach meinem Glas und leere es. »Ich helfe täglich Leuten.«

»Jack, du knöpfst ihnen Geld für deine Arbeit ab.« Er schüttelt den Kopf, und einiges von seinem krausen Haar löst sich aus dem Zopf. Er mag der untypischste Wirtschaftsprüfer sein, den man je gesehen hat, doch er ist auch der Mensch, dem ich am meisten vertraue.

»Du berechnest den Leuten Unsummen«, fährt er fort. »Dies hier wäre selbstlos, philanthropisch.«

Ich setze mich wieder, nehme meine Prothese ab und reibe meinen Stumpf. Abends kommt immer eine Zeit, in der ich sie kurz abnehme, einfach um die Freiheit zu fühlen. Oliver beobachtet mich, ehe er zurück in den Sessel sinkt.

»Denkst du, ich habe das Zeug zum Philanthropen?«

»Auf jeden Fall hast du das Geld«, antwortet er lachend.

Darüber denke ich nicht weiter nach. Ich bin schon großzügig, glaube ich. Ich spende monatlich eine große Summe an eine Hilfsorganisation, und einmal im Jahr helfe ich ihnen, Spenden einzuwerben. Ich unterstütze einige andere Organisationen nicht ganz so umfangreich, dennoch betont meine Mutter es immer wieder. Da ich aus sehr viel einfacheren Verhältnissen komme als denen, in denen ich heute lebe, ist ihr Lieblingssatz: »Wie viel kann ein Mann allein ausgeben?« Sie vergisst gern einen meiner Hauptgründe, warum ich so viel habe. Ich verdiene gut, klar, habe eine Menge Geld verdient und niemanden, den ich ernähren muss. Doch ein großer Betrag kam von der ersten Entschädigung, die ich klug investiert habe. Von der Schadenssumme der Versicherung, nachdem ein betrunkener Autofahrer mein linkes Bein halbiert hatte.

»Lass es.« Ollie schwenkt mahnend den Zeigefinger.

»Was?«

»Alles zu zergrübeln. Du hast diesen Blick.«

Ich rümpfe die Nase und versuche, den Blick, was immer das sein mag, abzustellen.

»Danke«, meint er. »Dass du darüber nachdenkst.« Er hebt eine Hand. »Also, nachdem wir das potenziell große Ding besprochen haben, reden wir über den Teil mit der Liebe. Das ›Lass Liebe in dein Leben‹ aus der E-Mail.«

»Das kann ich«, behaupte ich nickend.

»Seit Lynn hat es niemanden mehr gegeben, Jack.«

»Und?«

Er zuckt mit den Schultern. Ollie mag schlichte Fakten, sogar noch mehr als ich, der abgekämpfte Anwalt. »Ich weiß immer noch, wie es geht, Oliver.«

»Aber du musst dich mal vortasten, und dann musst du …«

»Ich bin bereit, zumindest mehr denn je.«

»Das ist gut.« Er beugt sich vor und betrachtet mich nachdenklich. »Du musst offen sein.«

»Ich bin ein offenes Buch.«

»Offen für alles, was die Welt dir zuwirft. Ich meine es ernst, Jack, und …«

»Und was?«

»Und du bist schon so lange verschlossen. In Panik, dass das Schicksal dich wieder verarscht. Du wirst dein geschundenes Herz riskieren müssen.«

»O Mann, wer hat dich denn zum Liebesguru gemacht?« Ich fange an zu lachen, um das Echo des letzten Schicksalssatzes zu übertönen.

»Ich glaube, ich beneide dich«, sagt er. »Du hast all das Abenteuer und den Kitzel vor dir, jemanden zu finden, kennenzulernen, dich zu verlieben. Den ersten Sex, die …«

»Was für einen Blödsinn du redest!« Schließlich hat er Jennifer, seine umwerfende Frau, und seine beiden schönen, gesunden Kinder.

»Ich weiß«, gesteht er.

»Niemals würdest du mit mir tauschen wollen.«

»Keine Sekunde lang.«

»Du musst mir nichts vormachen, Ollie. So was tun wir nicht.« Ich sehe ihn streng an. »Was auch passiert, was auch auf mich zukommt, ich bin bereit.«

Er nickt, und es ist wie ein Schlusspunkt. Nach längerem Schweigen steht er auf. »Ich fahre dann mal nach Hause. Jen wartet sicher schon.«

»Was denn, jetzt, da du dir praktisch meine ausgebaute Scheune für ein Jahr gesichert und mir Anweisungen gegeben hast, verschwindest du?«

»Autsch.« Er zuckt übertrieben zusammen. »Es wird spät, und ich sollte losfahren.« Im Vorbeigehen drückt Ollie meine Schulter. »Bleib sitzen.« Gemeint ist, dass ich meine Prothese nicht wieder anschnallen muss, um ihn zur Tür zu begleiten.

»Ja, geh lieber, ehe du mir noch eine peinliche Liebeserklärung machst.«

»Ich liebe dich tatsächlich, Alter!«, ruft er.

»Gute Nacht, Ollie. Grüß die Familie von mir, die du nicht mal eine Sekunde eintauschen willst!«

Es wird vollkommen still, als er fort ist. Ich kremple mein Hosenbein auf, befestige die Prothese wieder und gehe zum Plattenspieler. Dann öffne ich die Truhe und suche ein Jazzalbum raus, von dem ich das erste Stück wähle – Herb Alpert und seine Band. Aus dem grünen, mit Samt ausgeschlagenen Kasten neben dem Plattenspieler nehme ich meine Trompete. Den linken Daumen über dem Sattel, den Finger durch den Ring und mit den rechten Fingern auf den Ventilen setze ich das Mundstück an die Lippen. Bald füllen die fröhlichen Jazzklänge den Raum. An der offenen Gartentür beuge ich meinen Rücken und spiele mein Instrument. Wie immer verfliegen dabei meine Sorgen. Mit den Tönen, die meine Lunge und meine Hände hervorbringen, fliehen sie aus meinem gebrochenen Körper. Es gab nie irgendwelche Nachbarn, um die ich mich scheren musste, und während mein verwundetes Herz aufsteigt und über der Grenze schwebt, die nun die Scheune vom Haus trennt, ahne ich, dass sich das bald ändern könnte.

Aber bis dahin könnte ich schon irgendwo sein.

Am nächsten Tag scheint es mir sinnlos, die bereits getroffene Entscheidung aufzuschieben.

»Marsha?«

»Ja?« Die Kanzleichefin ist ein wenig schroff am Telefon. Ich stelle sie mir in ihrem Büro vor, wo sie auf ihre Armbanduhr schaut und sich fragt, was ich so kurz vor Feierabend von ihr will.

»Ein schneller Drink?«, frage ich.

»O ja, unbedingt«, stöhnt sie beinahe, ehe sie misstrauisch ergänzt: »Warum?«

»Ich möchte dir etwas vorschlagen.«

»O Gott, das letzte Mal endete es damit, dass wir zwei neue Mitarbeiter eingestellt haben!«

»Nein, nichts in der Richtung, keine Sorge.«

Als ich aufgelegt habe, ist mir, als wäre ein Gewicht von meinen Schultern gefallen. Ich gehe zu den drei Affen und drehe den nicht sprechenden so hin, dass er in die entgegengesetzte Richtung zu den anderen hockt. Es dauert einige Sekunden, bis ich sicher bin, dass ich ihn so lassen kann, dann gehe ich nach unten, um Marsha im Foyer zu treffen. Während ich auf sie warte, übe ich mein gewinnendstes Lächeln, das ich mir für Auftritte vor Gericht aufspare. Sie kommt die Treppe herunter und runzelt sofort die Stirn.

»Mist, das werde ich bereuen, oder?«

Ich hauche ihr Luftküsse auf die Wangen. »Natürlich nicht. Du wirst mir helfen. Ich habe Großes vor.«

Marsha hält mit mir Schritt, als wir Lincoln’s Inn Field zum Wig and Pencil überqueren. Vögel zwitschern in den Bäumen, junge und alte Menschen sitzen auf den Bänken der Cafés, an denen wir vorbeigehen. Überall ist Lachen zu hören. Ich nehme Marshas freien Arm – den ohne die Aktentasche – und hake ihn in meinen ein.

»Du wirst es klasse finden«, sage ich, denn ich fürchte, das wird sie nicht. »Denn du wirst mir helfen.«

Sie schweigt, zieht ihren Arm aber nicht zurück, und bald sitzen wir auf den letzten freien Barhockern an einem schmalen hohen Tisch in dem Pub, zwei geeiste Gin Tonics vor uns.

»Na los, bring es hinter mich«, sagt Marsha und nimmt einen großen Schluck aus ihrem Glas.

Plötzlich bin ich unsicher, was ich sagen, wo ich anfangen soll. Wann habe ich das letzte Mal, sofern überhaupt, um Hilfe gebeten? Eigentlich nie, medizinische Hilfe ausgenommen, wird mir bewusst. Trotzdem sprudeln die Wörter heraus. Marsha hört zu und ist erstaunlich einverstanden mit dem Plan, gesteht sogar, dass sie ein kleines bisschen neidisch ist, und bittet mich lachend, sie mitzunehmen. Sie versichert mir, dass die anderen Partner in der Kanzlei mitziehen werden, ehe sie konstatiert, dass dies meine Midlife-Crisis sein und sich alles um meinen bevorstehenden Fünfzigsten drehen muss. Ehe wir gehen, wettet sie fünfzig Mäuse – ein Pfund für jedes meiner Lebensjahre –, dass ich innerhalb von drei Monaten wieder zurück sein werde.

Ich lächle und freue mich insgeheim auf das Geld, das sie mir schulden wird.

5

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GraceD15, Croydon

Wir ziehen um! Noch keine Details, aber weg aus dem Viertel, und ich bin sad

#umzug #werdeeuchallevermissen #hockeygang

Drei Kommentare:

SonyFarr Neeeeein!

CarolBonham Machs gut, Gracie sad #bleibinkontakt
#werdedichauchvermissen

PinkieBrown Wann bist du weg?

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6

Die jüngste Hitzewelle hat das Gras zu Heu versengt, und der jetzige Regenguss stellt nur eine kurze Verschnaufpause dar. Die Wetterberichte sagen, dieser August bricht den bisherigen Rekord von 1976. Damals war ich sieben; ich erinnere mich an den geschmolzenen Teer in den ausgebesserten Schlaglöchern vor unserem Haus – den Gestank von Bitumen an meinen Händen, der immer noch da war, wenn ich abends längst im Bett lag. Die Erinnerung bewirkt, dass ich mir die Fingernägel in der Küchenspüle schrubbe. Ich blicke durchs Fenster zum ausgedörrten Rasen, den der Regen ein wenig nährt, und denke daran, wie weit wir gekommen sind, meine Eltern und ich. Heutzutage ist mein Vater oft auf sattgrünen Golfplätzen im sonnigen Florida unterwegs, während meine Mutter abwechselnd Tennis spielt und ihren »amerikanischen Damen« Bridge beibringt.

Hinter der neuen Hecke scheint die Scheune stolz aufzuragen, als wollte sie mir bedeuten, dass ich etwas Gutes mit meinem neuen Leben anfange. Heute zieht dort eine Familie ein: eine Frau namens Clare Bryanson mit ihrer Teenager-Tochter Grace. Laut Ollie, der sie einige Male getroffen hat, könnte ich mir keine idealeren »Mieter« wünschen. Ich verkniff mir die Bemerkung, ideal wäre, gäbe es eine Mietzahlung. Ich hätte es witzig gefunden, aber Ollie, der sich sorgt, weil er mir diese Nummer aufgedrängt hat, hätte nicht gelacht. Also hielt ich die Klappe.

Sehr wohl witzig, oder vielmehr schräg, ist, wie diese Sache eine Eigendynamik entwickelt hat, seit ich zugestimmt habe. Innerhalb von zehn Tagen war die Frau von der Organisation informiert worden, und ich hatte die Verträge aufgesetzt, die unterschrieben wurden. Und plötzlich hieß es, sie würden morgen hier sein. Ich leugne nicht, dass ich sowohl aufgeregt als auch komplett panisch bin.

Als ich mich umdrehe, werde ich an einige Gründe erinnert, weshalb ich bisher nicht gepackt habe. Die Wand dort besteht teils noch aus nacktem Backstein, doch das meiste ist feinverputzt und in schwarzer Tafelfarbe gestrichen, mit meiner Mind-Map in Kreide darauf. Die sieht leider sehr nach den Irrungen und Wirrungen eines Idioten mittleren Alters aus. Nicht einmal ich kann mehr die einzelnen Fäden nachvollziehen, geschweige denn die Logik hinter den jeweiligen Entscheidungen erkennen. Mal will ich zuerst in die Staaten, von da nach Australien und zurück nach Europa, mal genau andersherum; dann wieder springe ich überall vollkommen wahllos herum – weil ich es kann. Es passt so wenig zu mir, dass ich nicht ertrage, auch nur hinzusehen. Am Ende tue ich gar nichts, weil ich die neuen Nachbarn kennenlernen will, bevor ich verschwinde. Ich muss sie zumindest gesehen haben.

Ich schnappe mir meine Regenjacke und nehme den Eimer mit Küchenabfällen auf. Die beiden Zwergschweine, Walnut und Pecan, warten schon am Gatter zum Pferch. Ich bin fest überzeugt, dass sie beide ihre eigene Persönlichkeit haben – Pecan ist die kleine Tyrannin und Walnut der Pazifist. Wie zur Bestätigung drängelt Pecan sich sofort zum Eimer in meiner Hand vor, ehe ich beim Trog bin. »Sei nicht so gierig.« Ich reibe ihre Nase. »Dein Bruder muss auch fressen.«

Sie machen solchen Radau, dass ich mich frage, ob sie mit ihren hohen Quiekharmonien meinen gesungenen Bariton zu begleiten versuchen oder schlicht lachen – ihr Quieken hat etwas vom ausgelassenen Kichern kleiner Kinder. Ich albere mit ihnen im Pferch herum, als ich andere Geräusche aus Richtung der Scheune vernehme – ein Wagen fährt vor, eventuell ein Umzugstransporter. Eilig kehre ich ins Haus zurück, und obwohl ich selten nach oben gehe, steige ich jetzt die Treppe hinauf. Aus dem Fenster auf dem Treppenabsatz sehe ich einen weißen Van. Er parkt neben dem kleinen grauen Nissan, der spät gestern Abend angekommen ist. Die Fahrerin ist sofort in einem Taxi weggefahren, das zu einem Unternehmen am Bahnhof gehört. Meine Hände zittern. Ja, ich habe all das dem Zufall überlassen, und was ist, wenn es ein Desaster wird und das Schicksal schon bei meiner Geburt beschlossen hat, ich sei irgendwie unwürdig?

Die hintere Scheunentür geht auf, was bedeutet, dass sie die Schlüssel gefunden haben, die ich dort für sie deponiert habe, und ich sehe ein Mädchen in den Garten kommen. Sie ist groß, trägt Jeans, T-Shirt und einen verknoteten Schal im blonden Haar. Eindeutig keine Hörner. Oder Ziegenhufe. Oder einen gegabelten Schwanz. Sie wandert umher, schnuppert an den Blumen, betrachtet die Aussicht, und obwohl sie harmlos wirkt, ertappe ich mich bei dem Wunsch, ich hätte eine höhere Hecke oder richtige Bäume entlang dem neuen Zaun gepflanzt. Ich gehe zurück nach unten und nehme meine Schlüssel. Es wird Zeit, dass ich die Nachbarn kennenlerne, wie ich es Ollie versprochen habe.

Mit der Mappe in der Hand, die ich vorbereitet habe, ziehe ich die Tür hinter mir zu und gehe hinüber. An der Scheune drücke ich auf die Klingel.

»Hallo!«, strahlt das Mädchen, als es die Tür öffnet.

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