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Wenn alle Schranken fallen

Ein Schicksalsschlag führt Lydia Reid und Gordon Cameron zusammen: Die junge Bürgermeister-Gattin und der verschlossene Farmer erfahren im Krankenhaus, dass ihre Ehepartner tödlich verunglückt sind - und ganz offensichtlich ein Liebespaar waren. Der Schock sitzt tief, dennoch spüren Lydia und Gordon von Anfang an eine tiefe Seelenverwandtschaft, die sie sich allerdings lange nicht eingestehen wollen. Schließlich aber wird die Sehnsucht übermächtig, und Lydia findet in Gordons Armen nie geahnte Erfüllung. Doch das Gerede der Leute und eine politische Intrige stellen die aufblühende Liebe auf eine harte Probe …
  • Erscheinungstag: 01.09.2012
  • Seitenanzahl: 128
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862786978
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Beverly Barton

Wenn alle Schranken fallen

Roman

Übersetzung aus dem Amerikanischen von

Heike Hellmann-Brown

MIRA® TASCHENBUCH

Band 55628

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Talk Of The Town

Copyright © 1992 by Beverly Beaver

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises, S.A., Schweiz

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN epub 978-3-86278-697-8

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Das ist er!

Lydia Reid warf einen zweiten schnellen Blick auf den großen, dunkelhaarigen Mann in verwaschenen Jeans und Stetson. Was machte er hier in Clements Futtermittelhandlung? Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Schnell schlüpfte sie hinter eine Reihe von der Decke herabhängender Töpfe mit großen Farnen und sah sich nach einem Versteck um.

In den zwei Monaten seit Tylers Tod hatte niemand vor ihr den Namen Cameron erwähnt. Kein einziges Mal. Nur selten hatte sie seither mehr als ein paar Minuten für sich allein gehabt. Sämtliche Einwohner der Stadt gingen bei ihr ein und aus, brachten Essen und Blumen und überschütteten sie mit ihrem Mitleid. Ebenso wie ihre Mutter und ihr Bruder, die sich abwechselnd um Lydia kümmerten, vermieden ihre Besucher tunlichst jede Erwähnung der besonderen Umstände, die mit Tylers tragischem Tod zusammenhingen. Offenbar waren alle entschlossen, sie vor der schrecklichen Wahrheit zu beschützen: Macie Cameron war bei demselben Unfall ums Leben gekommen, der Bürgermeister Reid das Leben gekostet hatte.

Seit jener schrecklichen Nacht, in der sie Gordon Cameron zum ersten Mal begegnet war, schlich er sich oft in ihre Gedanken. Zu oft. Glücklicherweise verkehrten sie nicht in denselben Kreisen. So war es leicht gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber falls Lydia nicht bald eine Möglichkeit fand, sich unbemerkt davonzuschleichen, musste sie ihm heute gegenübertreten.

Lydia senkte ein wenig den Kopf und spähte unter dem Farn hindurch. Gordon sprach gerade mit einem Mann, der ebenso groß und dunkelhaarig war wie er. Obwohl der andere einen Bart trug und hässliche Narben die linke Hälfte von Stirn und Hals entstellten, waren die beiden offensichtlich Brüder. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.

“Wenn ich hier fertig bin, gehe ich noch auf ein Bier rüber ins ‘Lewey’s’”, erklärte Gordon.

“Tanya und ich treffen dich dann dort. Sie ist drüben bei Billings und sieht sich nach einem neuen Sonntagskleid um.”

Als sich der Jüngere zum Gehen wandte, legte Gordon ihm die Hand auf die Schulter. “Ben?”

“He, mir geht es prima. Du hast selbst genug Probleme, mach dir um mich keine Sorgen.”

Lydia kam sich vor wie eine Lauscherin, weil sie hier stand und eine private Unterhaltung mit anhörte. Scheinbar hatte der jüngere Cameron-Bruder einige persönliche Probleme.

Sie blickte sich um. Rechts und links von ihr befanden sich zwei lange Gänge mit eingetopften Sommerblumen. Hinter ihr waren Säcke mit Gartendünger vor der Wand aufgestapelt. Hätte sie geahnt, dass Gordon Cameron heute in Clements Futtermittelhandlung auftauchen würde, hätte sie bis Montag gewartet, um den bestellten Rosenstrauch abzuholen.

Abgelenkt von ihren Fluchtgedanken, bemerkte Lydia nicht, wie Gordon sich ihr näherte.

“Hallo.”

Bei dem unerwarteten Klang seiner Stimme zuckte Lydia zusammen. Bevor sie sich langsam umdrehte, versuchte sie ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. “Hallo, Mr Cameron.”

In ihrem Bauch breitete sich ein Kribbeln aus. Er sah genauso aus, wie sie ihn aus dem Krankenhaus in Erinnerung hatte. Diesen Mann umgab etwas überwältigend Männliches, eine Aura von Stärke, die Lydia magnetisch anzog.

“Hier bei Clements hätte ich Sie ganz bestimmt nicht erwartet.” Gordon ließ sie nicht aus den Augen. Ihre geröteten Wangen und die strahlenden Augen verrieten ihre Verlegenheit.

“Weshalb nicht?” Du liebe Güte, ist er groß, schoss es Lydia durch den Kopf. Er musste mindestens einsneunzig sein.

“Eigentlich dachte ich, Sie hätten einen Gärtner für solche Aufgaben.”

Seine Augen waren dunkelbraun und wirkten fast schwarz, so wie sein Haar.

“Wir … das heißt ich, beschäftige einen Gärtner, aber meine Rosen rührt er nicht an.” Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, ihre Nerven zu beruhigen. Die schwache Citrusnote seines Aftershave überdeckte den Geruch von Blumenerde und blühenden Pflanzen und benebelte Lydias Sinne. “Ich wollte meinen Rosenstrauch abholen. Clyde hat eine neue Tropicana für mich bestellt.”

“Tropicana?” Lydia Reid sah wirklich reizend aus, mit ihrem blassen Teint und der grazilen Figur.

“Eine orangerote Rose.” Warum beendete er nicht endlich das Gespräch und verschwand? Seine Nähe verwirrte sie mehr, als sie zugeben wollte.

“Sie würden sich großartig mit meiner Mutter verstehen.” Bei der Vorstellung, welch ein gegensätzliches Paar Lydia und seine Mutter abgeben würden, musste Gordon unwillkürlich lächeln. Die blasse, zarte Rose und das raue, zähe Unkraut …

“So?”

“Sie hat einen grünen Daumen. Bei ihr wächst einfach alles.”

Gedankenverloren sahen sie einander an. Mehrere Kunden warfen ihnen im Vorrübergehen neugierige Blicke zu. Im Gang nebenan hörte Lydia weibliche Stimmen.

“Es ist Gordon Cameron”, flüsterte eine mollige grauhaarige Frau. “Er spricht mit Lydia.”

“Was könnten die beiden wohl zu bereden haben?”

“Bestimmt sprechen sie über diese entsetzliche Nacht.”

Lydia errötete und hätte vor Scham im Boden versinken mögen.

“Ich hatte gerade vor, bei ‘Lewey’s’ ein Bier zu trinken”, meinte Gordon in der Hoffnung, Lydias Aufmerksamkeit von den beiden Frauen abzulenken. “Warum kommen Sie nicht mit?”

Mit ihm gehen? Ja, genau das wollte sie. Es ergab keinen Sinn, aber irgendwie hatte Lydia das Gefühl, er wäre der Einzige, der den Albtraum verstand, den sie seit zwei Monaten durchlebte. Einerseits fürchtete sie sich vor Gordon und der unwiderstehlichen Anziehungskraft, die er auf sie ausübte. Andererseits jedoch sehnte sie sich danach, von ihm umsorgt und beschützt zu werden.

“Ich … ich weiß nicht … soll ich wirklich …?”, stammelte sie, hin- und hergerissen zwischen zwei grundlegenden Bedürfnissen – dem Wunsch, ihren guten Ruf zu bewahren, und dem Verlangen nach Gordons Gesellschaft.

“Kommen Sie schon. Es ist ein heißer Tag, und hier drinnen wird es langsam ziemlich voll. Den Rosenstrauch können Sie auch später noch abholen.”

Strahlende Junisonne lag wie transparentes Gold über der verschlafenen kleinen Stadt in Mississippi. Nicht der leiseste Windhauch wehte, als Lydia und Gordon auf den Bürgersteig hinaustraten.

Schweigend machten sie sich auf den Weg ins “Lewey’s”. Beiden war bewusst, dass Gordons Hand auf Lydias Taille ruhte. Fasziniert beobachteten die Menschen auf der Straße und in den Geschäften, wie die Witwe des Bürgermeisters mit Macie Camerons Ehemann das Lokal betrat.

“Lewey’s” war nicht mehr als eine winzige Imbissstube, bestehend aus einem L-förmigen Tresen mit runden Drehstühlen und fünf Nischen, von denen zwei an dem großen Fenster zur Straße hin lagen. Instinktiv führte Gordon sie zu einem etwas abgeschirmteren Tisch. Er setzte seinen Stetson ab und hängte ihn an einen Hutständer in der Nähe, bevor er Lydia gegenüber in die Nische schlüpfte.

Sofort erschien ein Junge, Block und Bleistift in der Hand. “Hallo, Gordon, was darf ich Ihnen und der Lady bringen?”

“Tee?” Gordon bemerkte, dass Lydia hinunter auf ihre Hände schaute, die in ihrem Schoß lagen.

Sie hob den Kopf und sah ihn an, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. “Ungesüßten Eistee mit Zitrone, bitte.”

“Eistee und ein Bier.” Der Junge notierte sich ihre Bestellung und eilte davon.

In der antiken Musikbox lief ein alter Buddy-Holly-Titel. Obwohl Lydia seit über vier Jahren in Riverton lebte, war sie noch nie im “Lewey’s” gewesen. Nun erkannte sie auch, warum: Das Lokal besaß nicht gerade den Stil, den sie gewohnt war.

“Wie geht es Ihnen?” Gordons Stimme war leise und tief. Sein Blick ruhte auf der Frau, die ihm gegenübersaß – die Frau, deren Anwesenheit ihm wie ein Traum erschien.

“Es ist nicht einfach gewesen.” Das ist noch untertrieben, dachte Lydia. “Alle waren so überfürsorglich. Anscheinend glauben sie, die Wahrheit könnte mich nicht verletzen, solange niemand sie mir gegenüber erwähnt.”

“Das hat es sicher noch schlimmer gemacht, oder?”

“Ja.” Er schien der Einzige zu sein, der sie wirklich verstand. Nichts konnte sie vor der Realität beschützen. Ihr Mann war tot. Tödlich mit dem Auto verunglückt, zusammen mit seiner neuesten Geliebten. Tyler Dodson Reid, Rivertons Goldjunge, war im Alter von einunddreißig Jahren gestorben und hatte eine Ehefrau hinterlassen, die nicht nur verwirrt und unsicher in die Zukunft schaute, sondern außerdem von Gefühlen der Unzulänglichkeit und des Versagens zerfressen wurde.

“Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass Sie sich mit der Zeit nicht mehr allzu sehr an dem ganzen Klatsch, dem Anstarren und den mitfühlenden Blicken stören werden? Früher oder später taucht ein anderer armer Narr auf, und dann haben die Leute etwas Neues, worüber sie sich das Maul zerreißen können.”

Das Schwierigste, womit Gordon in den letzten beiden Monaten hatte fertig werden müssen, war Mollys Kummer. Auch wenn Macie nie eine besonders gute Mutter gewesen war, auf ihre Art hatte sie ihre Tochter geliebt.

“Vermutlich haben Sie recht.” Lydia fuhr zusammen, als der Kellner ihren Eistee auf den Tisch stellte.

Ihre Anspannung entging Gordon nicht. War sie so nervös, weil sie mit ihm zusammen war, oder weil sie sich hier in einer fremden Umgebung befand? Oder war sie einfach mit den Nerven fertig durch die Tortur, die sie in den letzten beiden Monaten durchgestanden hatte? Vermutlich eine Kombination von allem. “Meine Ehe ist schon vor Jahren zerbrochen, trotzdem war Macies Tod nicht leicht für mich. Obwohl ich sie nicht mehr liebte, habe ich dennoch um sie getrauert.” Lydia schien verblüfft von seiner brutalen Ehrlichkeit. “Sie war die Mutter meines Kindes”, versuchte er zu erklären.

Sie nickte und griff nach dem Teeglas. Ihre Hand zitterte leicht. “Ich wusste nicht, dass Tyler … dass er … mir untreu war.”

“Sie haben es nicht einmal vermutet?”

“Ich wagte es nicht.”

Lydias Ehe war alles andere als perfekt gewesen. Während des letzten Jahres hatte sie sogar ernsthaft an ihrem Fortbestehen gezweifelt. Warum fiel es ihr dann so schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass ihr Leben als Tylers Ehefrau vorüber war? Vier Jahre war sie die perfekte Lebensgefährtin eines Mannes gewesen, der eines Tages Gouverneur von Mississippi werden wollte. Als sie Birmingham als Tylers Braut verließ, gab sie zugleich ihre vielversprechende Karriere als Innenarchitektin auf. Stattdessen machte sie sich als freiwillige Helferin im Krankenhaus, als Mitglied der örtlichen Schulbehörde, Vorsitzende eines kirchlichen Wohltätigkeitsvereins sowie als Funktionärin unzähliger Vereine und gemeinnütziger Einrichtungen nützlich.

In dem Bemühen, ihr Leben wie das ihrer Mutter auszurichten, investierte Lydia vier Jahre und ihre gesamte Energie in ihr Leben als Politikergattin.

Gordon nippte an seinem kühlen Bier und beobachtete die Frau, die vor ihm saß. Er sehnte sich danach, sie in den Arm zu nehmen und ihr etwas Tröstliches zu sagen. Zum Beispiel, dass Macie die Schuld an dem trug, was zwischen ihr und Tyler Reid geschehen war. Aber es wäre nicht fair gewesen, schlecht über eine Frau zu reden, die sich nicht mehr verteidigen konnte.

Lydia schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. Ordentlich und mit geradem Rücken saß sie da, so wie sie es gelernt hatte. “Der Verlust der Mutter muss schrecklich für Ihre kleine Tochter sein.”

“Sie ist hart im Nehmen, genau wie ihr alter Herr, aber ja, es ist schwer für Molly.”

“Ich … es tut mir leid.”

“Obwohl Macie keine gute Mutter gewesen ist, hat Molly sie geliebt. Macie wollte eigentlich kein Kind. Sie hat Molly nur bekommen, damit ich sie nicht rauswerfe.” Klinge ich wie ein herzloses Ungeheuer, weil ich die Wahrheit zugebe? überlegte Gordon.

“Aber sie muss ihr eigenes Kind doch geliebt haben.”

“Sehen Sie, so gut wie jeder hier in der Gegend weiß, dass Macie und ich nicht mehr als Mann und Frau zusammengelebt haben, seit Molly ein Baby war … seit fast sechs Jahren.”

“Warum haben Sie sich nicht scheiden lassen?”

“Ich wollte nicht das Risiko eingehen, Molly zu verlieren oder Macie einen Teil meiner Farm abzutreten. Sie gehört unserer Familie schon seit vier Generationen.”

“Also haben Sie und Ihre Frau ihr eigenes Leben gelebt?”

“Sobald ich herausfand, dass Macie sich herumtrieb, gingen wir getrennte Wege. Ich bin nicht der Mann, der seine Frau teilen will. Nie wieder werde ich mich in so eine Situation bringen lassen, das versichere ich Ihnen.”

Lydia biss sich auf die Unterlippe. “Wussten Sie von Tyler und Macie?”

Gordon beobachtete die Bewegungen ihrer kleinen rosigen Zungenspitze. Er wollte ihre Zunge in seinem Mund spüren, ihre Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss verschließen und herausfinden, welches Feuer unter Lydias kühlem Äußeren verborgen lag. Er musste verrückt sein! “Ja, ich wusste davon. So wie viele andere Leute auch.”

“Und es störte Sie nicht?” In Lydias haselnussbraunen Augen tanzten Flecken.

“Schon vor Jahren habe ich aufgehört, mich dafür zu interessieren, was Macie tat.” Er beugte sich leicht vor und legte die Hände auf den Tisch. “Lange bevor sie etwas mit Ihrem Mann anfing, hatte sie meinem Stolz schon den letzten Schlag versetzt.”

Ein Stöhnen entfuhr Lydia, und der qualvolle Laut schien sie ebenso zu schockieren wie Gordon. Er griff über den Tisch und nahm ihre zitternden Hände in seine. “Es tut mir leid. Wenn ich die Dinge ändern könnte, würde ich es tun. Irgendwie … nun ja, irgendwie fühle ich mich mit verantwortlich.”

Lydia verlor sich in dem Blick seiner warmen braunen Augen. Darin lag so viel Sorge, so viel Mitgefühl. “Nein. Nein, das dürfen Sie nicht. Wenn jemand Schuld trägt, dann bin ich es. Zweifellos war ich nicht … nicht die richtige Frau für meinen Mann.”

Gordon umschloss ihre Hände fester. “Wenn Sie mich fragen, dann war Tyler Reid ein ausgemachter Dummkopf. Männer wie er …” Als sie nach Luft schnappte, hielt er inne. “Entschuldigen Sie. Ich habe kein Recht, solche Dinge zu sagen.”

Lydia schaute auf Gordons große Hände, die ihre völlig bedeckten. Wieso war Gordon Cameron von allen Menschen, die in den letzten beiden Monaten versucht hatten, sie zu trösten, der einzige, bei dem sie sich lebendig, umsorgt und geborgen fühlte? “Uns beide verbindet das gleiche Los, nicht wahr?”

“Ja, es scheint so.” Gordon ließ sie los, doch am liebsten hätte er Lydia in die Arme gezogen und sie geküsst, bis sie nach Atem rang. Wenn er die Selbstbeherrschung verlor und sie in Verlegenheit brachte, würde er ihr nur noch mehr Leid zufügen.

“Die ganze Stadt redet davon.” Als sie nach dem Eistee griff, stieß sie gegen das Glas, doch Gordon konnte es gerade noch vor dem Fall bewahren.

“Was die Leute von Ihnen halten, ist Ihnen anscheinend ziemlich wichtig.” Ganz im Gegensatz zu Macie, der es völlig gleichgültig gewesen war, was die Leute von ihr denken mochten. Und Lydia unterschied sich auch von seiner Mutter, die sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte und erwartete, dass die anderen Menschen es genauso hielten.

“Ja, das stimmt wohl.” Unzählige Male war Lydia von ihrer Mutter ermahnt worden: Was werden nur die Leute sagen?

“Als Frau des Bürgermeisters standen Sie unweigerlich im Licht der Öffentlichkeit.”

“Tyler hatte große Erwartungen. Seine Partei wollte ihn bei der nächsten Wahl als Senator aufstellen, und dann, in einigen Jahren …”

“Gouverneur. Ich habe davon gehört.”

“Er war erst einunddreißig, wissen Sie.”

“Macie war siebenundzwanzig.”

Ich möchte, dass du mich in die Arme nimmst, dachte Lydia. In ihren Augen erschien ein sehnsüchtiger Ausdruck. Mehr als sechzig endlos lange Tage und Nächte voller Kummer und Unsicherheit, und niemand außer Gordon konnte die Qual lindern. Diese Gedanken waren ebenso unvernünftig wie die neuen, unbekannten Gefühle, die dieser Mann in ihr weckte.

“Es tut mir so leid, dass das passieren musste”, meinte sie schließlich. “Ganz besonders wegen Ihrer kleinen Tochter.”

Er musste schnellstens hier verschwinden, oder er würde sich zum Narren machen. Es ergab einfach keinen Sinn. Es war Jahre her, seit Gordon eine Frau so sehr begehrt hatte wie Lydia Reid.

“Was ist los?”, wollte sie wissen. “Stimmt etwas nicht?”

Gordon zermarterte sein Gehirn nach einer Entschuldigung, um von ihr fortzukommen. Als er sah, wie sein Bruder durch die Tür kam, atmete er erleichtert auf. “Da ist Ben. Sicher will er bei Clements das Futter einladen und zurück zur Farm fahren.” Hastig trank Gordon sein Bier aus, stand auf und griff nach seinem Stetson.

Mit einem wehmütigen Lächeln sah Lydia zu ihm auf. Zu schade, dass er schon ging. Obgleich sie und Gordon nur sehr wenig verband, erschien ihr der große dunkelhaarige Farmer wie eine verwandte Seele. Wie niemand sonst verstand er ihre Seelenqual, ihre Einsamkeit, die Scham.

“Ich komme mit und hole meine Rose ab.”

Ben Cameron gesellte sich zu Lydia und Gordon, die neben der Nische standen. “Tanya wollte noch in der Kirche mit Reverend Charles sprechen. Lass uns das Futter aufladen, dann können wir sie abholen.”

“Das ist mein Bruder Ben”, warf Gordon ein. “Auch wenn sein Verhalten dem widerspricht, Ma hat tatsächlich versucht, ihm Manieren beizubringen.”

Der jüngere Mann verzog das Gesicht, atmete tief ein und sah Lydia zerknirscht an. “Entschuldigen Sie, Ma’am.”

Lydia konnte sich nicht erinnern, je einen so raubeinig wirkenden Mann gesehen zu haben. Es lag nicht allein daran, dass Gesicht und Hals vernarbt waren oder seine linke Hand verkrüppelt schien. Ben umgab etwas Wildes, Grimmiges. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück. “Freut mich, Sie kennenzulernen.” Allerdings bezweifelte sie sehr, dass jemand über die Bekanntschaft dieses großen, grüblerischen Mannes unbedingt erfreut wäre.

Gordon zahlte an der Kasse und verließ mit Lydia das Lokal, sorgfältig darum bemüht, sie nicht zu berühren. Ihr Rückweg zu Clements verursachte einen regelrechten Aufruhr. Kunden drückten sich an den Schaufenstern die Nase platt, und die Leute auf der Straße hielten an und starrten ihrer kleinen Gruppe hinterher. Sobald sie den Laden erreichten, lehnte Lydia sich mit einem Seufzer der Erleichterung gegen den Türrahmen.

“Ich möchte mich dafür entschuldigen”, erklärte Gordon. Am liebsten hätte er sie getröstet, aber er wusste, dass es unmöglich war, Lydia hier hindurchzuhelfen, ohne sie noch mehr in Verlegenheit zu bringen.

“Was zum Teufel habt ihr zwei eigentlich erwartet, wenn ihr unter den Augen der ganzen Stadt zu ‘Lewey’s’ spaziert?” Bens Stimme klang barsch und vorwurfsvoll.

“Halt den Mund!”, zischte Gordon ihn an.

Lydia wurde blass. Sie schwankte leicht. Gordon ergriff ihren Arm und stützte sie. “Er hat recht”, stimmte sie zu. “In den letzten beiden Monaten waren Tyler und Macie das Stadtgespräch. Nun bleibt es anscheinend an uns hängen.”

Als sie sich abwandte, festigte er den Griff um ihren Arm. “Lydia …”

“Ich muss jetzt gehen.” Er gab sie frei. Nach einigen zaghaften Schritten drehte sie sich um. “Wir … wir können uns nicht wiedersehen.”

“Ja, ich weiß.” An Ben gerichtet meinte er: “Lass uns das Futter aufladen und Tanya abholen. Ma wartet sicher schon mit dem Abendessen auf uns.”

2. KAPITEL

Lydia dachte lange über ihr Vorhaben nach. Schließlich folgte sie ihrem Instinkt. Falls sie einen Fehler machte, nun, dann geschah er eben.

Nach ihrer Begegnung mit Gordon hatte Lydia unzählige Anrufe erhalten. Besorgte Freunde und Bekannte warnten sie davor, sich noch einmal mit “diesem Mann” sehen zu lassen, und ein anonymer Anrufer befahl ihr auf unmissverständliche Weise, sich von Gordon Cameron fernzuhalten.

Sechzehn Tage lang erinnerte Lydia sich an jedes Wort, jede Geste, jeden Blick. Anfangs suchte sie Trost und Mitgefühl bei anderen, musste dann aber feststellen, dass deren Mitleid nicht besonders tief ging und nur wenig echtes Verständnis enthielt. Auf der Suche nach Zerstreuung verbrachte sie das Wochenende bei ihrem Bruder und seiner Familie in Alabama.

Sogar Dinnereinladungen von Glenn Haraway, einem Parteifreund ihres verstorbenen Mannes, und seiner Mutter, die im Nachbarhaus wohnten, hatte sie angenommen – dreimal.

Niemand schien das Problem zu verstehen, das sie quälte. Sie brauchte eine Antwort auf die einzige Frage, die wirklich zählte. Und niemand außer Gordon Cameron würde ihr die völlige Wahrheit über Tyler und Macie verraten.

Natürlich wusste sie, dass die beiden ein Verhältnis gehabt hatten und bei demselben Autounfall ums Leben gekommen waren. Sowohl Fahrer als auch Beifahrerin waren angetrunken gewesen – eine Tatsache, die von den örtlichen Behörden geschickt vertuscht worden war.

Lydia wusste, dass sie nicht so besessen nach den Hintergründen forschen sollte – dem Wann und Wo und vor allen Dingen dem Warum. Schließlich hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um eine perfekte Politikerfrau zu werden. Sie verzieh Tyler seinen Egoismus, sah über seine Unreife hinweg und vertraute ihm gegen ihr besseres Wissen. Nun, da er tot war und sie nichts mehr zu verlieren hatte, wollte sie es wissen. Und nur eine Person in Riverton war mutig genug, ihr die Wahrheit zu sagen, und würde überhaupt verstehen, weshalb sie sich Gewissheit verschaffen musste.

Lydia bog mit ihrem BMW in die kreisrunde Auffahrt vor dem zweistöckigen Farmgebäude. Zögernd blieb sie neben der offenen Autotür stehen. Vielleicht hätte sie doch besser vorher angerufen? Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Tür. Nur ungern gestand sie sich ein, dass sie sich vor einem Anruf gefürchtet hatte. Davor, dass Gordon sie nicht sehen wollte.

Bevor sie die Stufen erreichte, die zu einer um das ganze Haus laufenden Veranda führten, bemerkte Lydia ein dunkelhaariges Kind, das um die Hausecke kam. Wäre das barfüßige Mädchen nicht so hübsch gewesen, hätte man es leicht für einen Jungen halten können. Es trug zerrissene abgeschnittene Jeans, ein weißes T-Shirt, und sein lockiges Haar war kurz geschnitten. Als die Kleine Lydia sah, blieb sie stehen und lächelte.

“Hi. Wollen Sie Grandma besuchen?”

Für den Bruchteil einer Sekunde setzte Lydias Herzschlag aus. Die dunklen Augen, die sie ansahen, waren so vertraut, ebenso wie das schwarze Haar, das Grübchen im Kinn und die vollen Lippen. Das musste Molly Cameron sein. Sie war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein kleines weibliches Ebenbild. “Eigentlich wollte ich zu deinem Vater.”

“Er ist unten bei den Hühnerställen.” Das kleine Mädchen stocherte mit einem langen Stock im Sand. “Weiß er, dass Sie kommen?”

“Nein. Ob er wohl trotzdem Zeit für mich haben wird?”

“Ich glaube schon. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?”

Ein großer Hund mit wuscheligem Fell tappte die Stufen der Veranda hinab. Molly hockte sich hin und schlang ihm die Arme um den Hals. “Du darfst auch mitkommen, Bärchen. Aber sei schön vorsichtig. Grandma hat gesagt, wir müssen auf dich aufpassen, bis die Welpen geboren sind.”

Lydia erkannte, dass der dicke Hund trächtig war und Molly die werdende Mutter offensichtlich liebte. “Sie heißt Bärchen?” Sie ging hinüber, um sie genauer anzusehen.

“Stimmt.” Molly lachte. Bei der Bewegung hüpften ihre kurzen schwarzen Locken. “Sie ist je ein Drittel Cockerspaniel, Chow-Chow und Schnauzer, sagt Daddy, aber irgendwie sieht sie wie ein kleiner Bär aus.”

Lydia lachte ebenfalls, erstaunt, wie freundlich und bezaubernd Gordons Tochter war. “Sie erinnert mich wirklich an einen kuscheligen Teddybären.”

“Sie dürfen sie streicheln. Sie mag Sie. Sehen Sie, wie Bärchen mit dem Schwanz wedelt?”

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