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Wer hat Angst vorm starken Mann?

Als Buch hier erhältlich:

Überraschung bei der Testamentseröffnung! Ihre beste Freundin hat Pia nicht wie erwartet den Kater hinterlassen, sondern drei befruchtete Eizellen. Obwohl sie den letzten Wunsch der Verstorbenen respektieren möchte, hat sie starke Bedenken, Kinder in die Welt zu setzten. Immerhin geht bei ihr jede Pflanze ein und auch der Kater scheint sie nicht zu mögen. Während Pia noch mit sich ringt, taucht der attraktive Raoul in Fool’s Gold auf - und bringt ihre Hormone erst richtig zum Tanzen …

"Sie werden sich auf Anhieb in Susan Mallerys Romane verlieben, die Sie zum Lachen bringen werden."
New York Times-Bestsellerautorin Debbie Macomber

"Die Serie sprüht nur so vor witzigen, gut gelaunten Charakteren und rührenden Liebesgeschichten". Publishers Weekly

"Fesselnd und intensiv."
Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag: 10.07.2017
  • Aus der Serie: Fool's Gold
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956496974

Leseprobe

Für Jenel – wie Pia bist du organisiert, engagiert und charmant.

Ohne sie wäre Fool’s Gold verloren,

und ohne dich wäre ich verloren.

Tausend Dank für alles, was du für mich tust.

1. Kapitel

„Was meinen Sie damit, sie hat mir die Embryonen vermacht? Ich sollte doch den Kater bekommen.“ Pia O’Brian hielt kurz inne und legte sich die Hand auf die Brust. Der Schock, den ihr die Einzelheiten aus Crystals Testament verursachten, hätte selbst das stärkste Herz erschüttert, und Pia hatte sich noch nicht vom Verlust ihrer Freundin erholt.

Erleichtert stellte sie fest, dass es noch schlug, obwohl die Geschwindigkeit, mit der es pochte, ziemlich beunruhigend war.

„Ich bekomme den Kater“, wiederholte sie und sprach so deutlich wie möglich, damit die gut gekleidete Anwältin, die ihr gegenübersaß, sie auch verstand. „Er heißt Jake. Ich hab’s eigentlich nicht so mit Haustieren, aber wir haben unseren Frieden miteinander geschlossen. Ich glaube, er mag mich. Es ist schwer zu sagen – er bleibt eher für sich. Ich vermute, das tun die meisten Katzen.“

Pia überlegte, ob sie anbieten sollte, den Kater mitzubringen, damit die Anwältin sich selbst überzeugen konnte. Aber sie war nicht sicher, ob das helfen würde.

„Crystal hätte mir niemals ihre Babys hinterlassen“, fügte Pia flüsternd hinzu. Und das war die reine Wahrheit. Sie hatte keinerlei mütterliche Instinkte und hatte noch nie einen Gedanken darauf verschwendet, wie man Kinder großzog. Für sie war es schon ein großer Schritt gewesen, sich um den Kater zu kümmern.

„Ms. O’Brian“, sagte die Anwältin lächelnd, „Crystal hat in ihrem Testament sehr genaue Angaben gemacht. Im Verlauf ihrer Krankheit haben wir uns mehrere Male darüber unterhalten. Sie wollte, dass Sie die Embryonen bekommen. Nur Sie.“

„Aber ich …“ Pia schluckte.

Embryonen. Irgendwo in einem Labor lagen gefrorene Reagenzgläser oder irgendwelche anderen Behälter. Und darin befanden sich die potenziellen Babys, nach denen sich ihre Freundin so gesehnt hatte.

„Ich weiß, dass es ein Schock ist“, sagte die Anwältin. Sie war um die vierzig und wirkte in ihrem maßgeschneiderten Kostüm sehr elegant. „Crystal hatte überlegt, es Ihnen zu sagen, aber offensichtlich hat sie sich dagegen entschieden, vorher mit Ihnen darüber zu sprechen.“

„Vermutlich, weil sie wusste, dass ich versuchen würde, es ihr auszureden“, murmelte Pia.

„Im Augenblick müssen Sie erst einmal gar nichts tun. Die Lagergebühren sind für die nächsten drei Jahre bezahlt. Es müssen ein paar Papiere ausgefüllt werden, aber das können wir auch später noch erledigen.“

Pia nickte. „Danke“, sagte sie und stand auf. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich beeilen musste, um nicht zu spät zu ihrem Zehn-Uhr-dreißig-Termin ins Büro zu kommen.

„Crystal hat Sie mit Bedacht ausgewählt“, sagte die Anwältin bei der Verabschiedung.

Pia schenkte ihr noch ein gequältes Lächeln und ging zur Treppe. Sekunden später stand sie draußen und atmete tief durch, während sie überlegte, wann die Welt wohl aufhören würde, sich so schnell zu drehen.

Das kann alles nicht wahr sein, versuchte sie sich einzureden, als sie sich auf den Weg machte. Es konnte einfach nicht wahr sein. Was hatte Crystal sich nur dabei gedacht? Es gab Dutzende von Frauen, denen sie die Embryonen hätte hinterlassen können. Wahrscheinlich sogar Hunderte. Frauen, die gut mit Kindern umgehen konnten, die wussten, wie man Kuchen backte, wie man tröstete und mit dem Handrücken Fieber maß.

Pia schaffte es nicht einmal, eine Zimmerpflanze am Leben zu erhalten. Sie war nicht sonderlich emotional. Ihr letzter Freund hatte sich darüber beschwert, dass sie eine Umarmung immer als Erste löste. Vermutlich, weil sie sich eingesperrt fühlte, wenn sie zu lange festgehalten wurde. Nicht gerade eine herausragende Eigenschaft für einen potenziellen Elternteil.

Irgendwie war ihr ganz schlecht. Was hatte Crystal sich nur dabei gedacht? Warum ausgerechnet sie? Sie kam nicht darüber hinweg, dass ihre Freundin so eine verrückte Entscheidung getroffen hatte. Noch dazu, ohne es je zu erwähnen.

Fool’s Gold war eine Kleinstadt, in der jeder jeden kannte und Geheimnisse nie lange geheim blieben. Offenbar hatte Crystal es geschafft, mit den Regeln zu brechen, denn es war ihr gelungen, diese schicksalsschwere Information für sich zu behalten.

Pia erreichte ihr Bürogebäude. Im Erdgeschoss waren einige Läden untergebracht – ein Laden mit kunstvoll gestalteten Karten, ein Geschäft mit Geschenken aller Art, in dem es auch köstliche Süßigkeiten gab, sowie Morgans Buchladen. Ihr Büro lag im ersten Stock.

Sie nahm den schlichten Nebeneingang in der Seitenstraße und stieg die Treppe hinauf. Vor ihrer Bürotür stand ein imposanter, großer Mann.

„Hallo“, rief sie. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin.“

Der Mann drehte sich um.

Hinter ihm befand sich ein Fenster, deshalb konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen. Aber da sie ihren Terminplan für den Vormittag auswendig kannte, wusste sie den Namen des Mannes, mit dem sie verabredet war. Raoul Moreno war wirklich groß und hatte extrem breite Schultern. Trotz des ungewöhnlich kühlen Septembertages hatte er keinen Mantel an. Stattdessen trug er einen Pullover mit V-Ausschnitt zu einer dunklen Jeans.

Ein richtiger Mann, schoss es Pia durch den Kopf. Kein Wunder, denn Raoul Moreno war ehemaliger Profifootballspieler. Er war Quarterback bei den Dallas Cowboys gewesen. Nachdem er zehn Jahre lang in der Liga gespielt hatte, war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere abgetreten und mehr oder weniger aus dem Rampenlicht verschwunden. Im letzten Jahr hatte er an einem Benefiz-Golfturnier in Fool’s Gold teilgenommen und war aus ihr unerfindlichen Gründen vor Kurzem hierhergezogen.

Im Näherkommen registrierte Pia seine großen, dunklen Augen und das gut geschnittene Gesicht. Auf der einen Wange hatte er eine Narbe – wahrscheinlich, weil er eine alte Dame vor einem Bösewicht beschützt hatte. Ihm eilte der Ruf voraus, nett zu sein. Pia hatte es sich allerdings zur Regel gemacht, netten Leuten niemals zu trauen.

„Ms. O’Brian“, begann er. „Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“

Sie schloss ihr Büro auf und bedeutete ihm, einzutreten.

„Oh, bitte, nennen Sie mich Pia. Meine Ms.-O’Brian-Tage rücken näher, aber noch bin ich nicht bereit für sie.“

Ihr Gast sah so gut aus, dass es sie eigentlich ablenken müsste. Unter anderen Umständen hätte sie sich wahrscheinlich auch gern ablenken lassen. Aber im Moment überlegte sie ernsthaft, ob die Chemotherapie auch Crystals Gehirn angegriffen hatte. Ihre Freundin hatte immer so vernünftig gewirkt. Offenbar war das alles nur Fassade gewesen.

Pia wies auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch und hängte ihren Mantel an den Garderobenständer neben der Tür.

Ihr Büro war klein, aber funktional. Es gab einen angemessen großen Hauptraum mit einem Dreijahreskalender, der fast eine gesamte Wand ausfüllte. Die eine Hälfte der Datumsfelder war abwaschbar, die andere bestand aus einer Korkpinnwand.

Die restliche Wandfläche war von Postern diverser Festivals bedeckt, die in Fool’s Gold stattgefunden hatten. Pia verfügte außerdem über einen Lagerraum und ein kleines Badezimmer im hinteren Teil des Büros. Das Büro selbst stand voller Aktenschränke mit einem Ablagesystem, das schon fast zwanghaft gut organisiert war. In der Regel zog Pia es vor, Termine außer Haus abzuhalten, statt die Leute zu sich ins Büro einzuladen. Doch aus zeitlichen Gründen war es heute sinnvoller gewesen, Raoul zu bitten, bei ihr vorbeizuschauen.

Das war allerdings gewesen, bevor sie herausgefunden hatte, dass ihr drei tiefgefrorene potenzielle Kinder vermacht worden waren.

Sie ging hinüber zu dem kleinen Kühlschrank, der in der Ecke stand. „Ich habe Cola Light und Wasser.“ Sie warf einen Blick über die Schulter. „Sie sind nicht der Light-Typ.“

Er hob eine der dunklen Augenbrauen. „Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“

Lächelnd fragte sie: „Täusche ich mich?“

„Wasser ist okay.“

„Ich wusste es.“

Pia nahm eine Flasche und eine Dose und ging zu ihrem Schreibtisch zurück. Nachdem sie Raoul die Flasche gereicht hatte, setzte sie sich und starrte auf den gelben Block, der vor ihr lag. Darauf stand etwas geschrieben, vermutlich in Englisch. Sie konnte sogar einzelne Buchstaben erkennen, aber deren Sinn erschloss sich ihr überhaupt nicht.

Sie und Raoul wollten über irgendetwas sprechen. So viel war ihr immerhin noch klar. Sie kümmerte sich um die Festivals, die in der Stadt gefeiert wurden. Jedes Jahr gab es weit mehr als ein Dutzend Veranstaltungen, die sie im Auftrag der Stadt organisierte. Aber weiter konnte sie im Augenblick nicht denken. Als sie versuchte, sich daran zu erinnern, warum Raoul hier war, fiel ihr absolut nichts ein. Ihr schwirrte der Kopf, und ihre Gedanken kreisten nur um ein Thema.

Babys. Crystal hatte ihr ihre Babys vermacht. Na schön, noch waren es tiefgefrorene Embryonen, aber die Bedeutung war klar. Crystal wollte, dass ihre Kinder geboren wurden. Und das hieß, dass jemand sie sich einpflanzen, in sich wachsen lassen und zur Welt bringen musste. Obwohl das schon beängstigend genug war, kam dann noch der Horror, sie großziehen zu müssen.

Kinder waren nicht wie Katzen. So viel wusste Pia. Sie würden mehr brauchen als Trockenfutter, eine Schüssel mit Wasser und ein sauberes Katzenklo. Viel mehr.

„Oh Gott, ich kann das nicht“, flüsterte sie.

Raoul runzelte die Stirn. „Wie bitte? Wollen Sie, dass wir unseren Termin verschieben?“

Termin? Ach ja. Er war aus irgendeinem Grund hier. Sein Camp, und er wollte, dass sie …

Wieder herrschte absolute Leere in ihrem Kopf. Eine Leere, die fast gnädig wirkte, denn Sekunden später folgte Panik. Grenzenlose Panik.

Pia stand auf und schlang sich die Arme um die Taille, während sie heftig und schnell zu atmen begann.

„Ich kann das nicht. Es ist unmöglich. Was hat sie sich dabei nur gedacht? Sie hätte es doch besser wissen müssen.“

„Pia?“

Ihr Gast stand auf. Sie wandte sich zu ihm um, um ihm zu sagen, dass sie den Termin wirklich besser verschieben sollten, als das Zimmer sich auf einmal zu drehen begann. Es drehte und drehte sich, und plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen.

Als die Benommenheit wich, merkte Pia, dass sie wieder auf ihrem Stuhl saß, nach vorn gebeugt, den Kopf zwischen den Knien, während ihr jemand eine Hand auf den Nacken legte und sie nach unten drückte.

„Das ist unbequem“, beschwerte sie sich.

„Tief durchatmen.“

„Leichter gesagt als getan. Lassen Sie los!“

„Noch ein paar Atemzüge.“

Der Druck in ihrem Nacken ließ nach. Langsam richtete Pia sich auf und blinzelte.

Raoul Moreno hockte neben ihr, die dunklen Augen vor Sorge überschattet. Sie holte noch einmal tief Luft und stellte fest, dass er gut roch. Frisch und irgendwie würzig.

„Geht es Ihnen wieder besser?“, fragte er.

„Was ist passiert?“

„Sie waren dabei, in Ohnmacht zu fallen.“ Raoul begegnete ihrem Blick, als sie die Augen aufriss. Trotz all der viel wichtigeren Dinge, die ihre Gedanken beschäftigten, entging ihr nicht das Interesse, das bei ihm kurz aufblitzte.

Sie blinzelte noch einmal und schüttelte den Kopf. „Ich falle nicht in Ohnmacht. Ich bin noch nie ohnmächtig geworden. Ich …“ Die Erinnerungen kehrten zurück. „Oh, Mist.“ Sie schlug beide Hände vors Gesicht. „Ich bin so was von nicht bereit, Mutter zu werden.“

Raoul bewegte sich mit einer Schnelligkeit, die seine gute körperliche Verfassung unter Beweis stellte und gleichzeitig fast schon komisch wirkte.

„Männerprobleme?“, fragte er vorsichtig aus sicherer Distanz.

„Was?“ Pia ließ die Hände sinken. „Nein. Ich bin auch nicht schwanger. Dazu hätte ich ja Sex haben müssen. Oder auch nicht. Genau genommen ist es gar nicht nötig, oder? Das kann alles gar nicht wahr sein.“

„Wenn Sie meinen.“ Er klang nervös. „Soll ich einen Arzt rufen?“

„Nein, aber Sie können gehen, wenn Sie möchten. Mir geht es gut.“

„So sehen Sie aber nicht aus.“

Jetzt war sie es, die eine Augenbraue hob. „Kommentieren Sie gerade mein Aussehen?“

Er grinste. „Das würde ich niemals wagen.“

„Das klang fast kritisch.“

„Sie wissen, was ich gemeint habe.“

Das wusste sie. „Mir geht’s gut. Ich habe einen kleinen Schock bekommen. Eine Freundin von mir ist kürzlich gestorben. Sie war mit einem Soldaten verheiratet. Bevor er in den Irak verschifft worden ist, haben sie sich entschlossen, eine In-vitro-Behandlung machen zu lassen, nur für den Fall, dass ihm was zustoßen sollte. Damit sie später seine Kinder bekommen könnte.“

„Traurig, aber es macht Sinn.“

Sie nickte. „Er ist vor ein paar Jahren getötet worden. Das hat sie wirklich hart getroffen, aber nach einer Weile entschied sie, die Kinder zu bekommen. So würde wenigstens ein Teil von ihm weiterleben, verstehen Sie?“

Pia stand auf und marschierte im Büro auf und ab. Die Bewegung schien ihr gutzutun. Sie holte noch ein paarmal vorsichtig tief Luft, um sicherzustellen, dass sie bei Bewusstsein blieb. Ohnmächtig werden? Unmöglich. Doch vor ihren Augen war tatsächlich alles verschwommen.

Sie zwang sich, sich wieder auf das Thema zu konzentrieren.

„Irgendwann war sie bei einer Routineuntersuchung“, fuhr sie fort. „Dabei ist festgestellt worden, dass sie Lymphdrüsenkrebs hatte. Und zwar nicht die gutartige Sorte.“

„Es gibt eine gutartige Sorte?“

Pia zuckte die Schultern. „Es gibt eine Art, die man normalerweise heilen kann. Die hatte sie leider nicht. Vor einigen Wochen ist sie gestorben. Ich habe ihren Kater gehütet. Ich dachte, dass ich den behalten würde. Wir haben eine Beziehung zueinander. Oder so was Ähnliches. Bei Katzen ist das schwer zu sagen.“

„Die bleiben lieber für sich.“

Die Art, wie er das sagte, ließ Pia aufblicken und ihn anfunkeln. „Machen Sie sich über mich lustig?“

„Nein.“

Sie sah, dass seine Mundwinkel zuckten. „Legen Sie sich nicht mit mir an“, riet sie ihm. „Oder ich fange an, über meine Gefühle zu reden.“

„Alles, bloß das nicht.“

Sie ging zu ihrem Schreibtisch zurück und sank auf den Stuhl. „Sie hat mir nicht den Kater hinterlassen, sondern die Embryonen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat. Babys. Gütiger Gott – jede außer mir. Und ich kann das nicht einfach ignorieren. Kann diese Embryonen nicht ignorieren. Das hat die Anwältin angedeutet. Eine Weile kann ich es mir noch überlegen, weil die Gebühren fürs Tiefkühlen für drei Jahre bezahlt sind.“ Sie schaute ihn an. „Vielleicht sollte ich hingehen und sie mir anschauen.“

„Es sind Embryonen. Was gibt es da zu sehen?“

„Keine Ahnung. Irgendwas. Können sie sie nicht unter ein Mikroskop packen? Vielleicht würde ich es begreifen, wenn ich sie sehen könnte.“ Sie starrte ihn an, als wüsste er die Antwort. „Warum hat sie geglaubt, ich könnte ihre Kinder aufziehen?“

„Es tut mir leid, Pia. Das weiß ich nicht.“

Er sah aus, als würde er sich extrem unwohl fühlen. Sein Blick wanderte immer wieder zur Tür. Die Realität holte Pia wieder ein, und ein Gefühl der Beschämung überkam sie.

„Entschuldigung“, murmelte sie und stand auf. „Wir machen einen neuen Termin aus. Ich beruhige mich, und beim nächsten Mal bin ich wieder ich selbst. Lassen Sie mich in meinen Kalender schauen, und dann rufe ich Sie an.“

Raoul griff nach der Türklinke, hielt aber noch einmal inne. „Sind Sie sicher, dass Sie jetzt zurechtkommen?“

Nein, sie war sich nicht sicher. Sie war sich über gar nichts mehr sicher. Aber das war nicht Raouls Problem.

Also versuchte sie sich an einem Lächeln. „Mir geht es gut. Ehrlich, Sie sollten gehen. Ich rufe ein paar Freundinnen an, damit sie mich beruhigen.“

„Okay.“ Er zögerte. „Sie haben meine Telefonnummer?“

„Mhm.“ Sicher war sie da nicht, aber sie war entschlossen, ihn gehen zu lassen, solange sie noch einen Rest Selbstachtung übrig hatte. „Wenn Sie mich das nächste Mal sehen, werde ich die Professionalität in Person sein. Ich schwöre.“

„Danke. Passen Sie auf sich auf.“

„Mach ich. Bis bald.“

Er ging.

Als die Tür ins Schloss fiel, sank Pia auf ihren Stuhl zurück. Langsam legte sie die Arme auf den Schreibtisch und ließ den Kopf darauffallen. Es fiel ihr schwer, aber sie bemühte sich, möglichst gleichmäßig zu atmen.

Crystal hatte ihr die Embryonen vermacht, und Pias Gedanken kreisten eigentlich nur um zwei grundlegende Fragen. Warum? Und was, zum Teufel, sollte sie jetzt tun?

Kurz vor zwei kam Raoul in der Ronan-Grundschule an und parkte neben dem Spielplatz. Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass sein Ferrari der einzige auf dem Parkplatz war. Na und, dachte er. Er mochte nun mal seine Spielzeuge.

Gerade als er aus dem Auto steigen wollte, klingelte sein Handy. Er schaute auf die Uhr – er hatte noch ein paar Minuten Zeit, ehe er drinnen erwartet wurde. Nachdem er die Telefonnummer auf dem Display erkannt hatte, drückte er die Taste mit dem grünen Hörer und musste grinsen.

„Hallo, Trainer.“

„Hallo“, erwiderte Hawk, sein ehemaliger Highschool-Footballcoach. „Nicole hat schon eine Weile nichts mehr von dir gehört, deshalb rufe ich an, um zu fragen, wieso.“

Raoul lachte. „Ich habe letzte Woche mit deiner bezaubernden Frau telefoniert, deshalb weiß ich, dass du aus einem anderen Grund anrufst.“

„Erwischt. Ich wollte mich nach dir erkundigen. Sicherstellen, dass du dein Leben wieder in den Griff bekommst und nach vorn schaust.“

Das ist typisch Hawk, dachte Raoul sowohl frustriert als auch anerkennend. Er kam direkt zum Punkt und bohrte in der Wunde.

„Dir ist ziemlich viel Übles passiert“, fuhr der ältere Mann fort. „Schwelge jetzt nicht in Selbstmitleid!“

„Ich schwelge nicht. Ich bin beschäftigt.“

„Du grübelst zu viel. Ich kenne dich. Such dir eine Aufgabe. Engagiere dich in dieser Stadt, die du dir ausgesucht hast. Das lenkt dich ab. Du kannst das, was passiert ist, nicht mehr ändern.“

Raouls gute Laune schwand. Hawk hatte recht. Die Vergangenheit konnte man nicht ändern. Diejenigen, die fort waren, blieben fort. Da halfen weder Geld noch gute Worte.

„Ich kann es nicht vergessen“, gab er zu.

„Das musst du aber. Vielleicht nicht heute, aber bald. Auch wenn es schwer zu glauben ist, Raoul, aber die Zeit heilt alle Wunden. Öffne dich anderen Menschen.“

Es schien unmöglich, aber er vertraute Hawk seit fast zwanzig Jahren. „Ich versuche es.“

„Gut. Ruf Nicole an!“

„Mach ich.“

Sie verabschiedeten sich und legten auf.

Raoul saß noch einige Sekunden lang im Auto und dachte über das nach, was Hawk ihm geraten hatte. Engagier dich. Such dir eine Aufgabe. Was Hawk nicht wusste, war, wie sehr Raoul genau das zu vermeiden suchte. Er hatte sich zu sehr auf etwas – besser gesagt, auf jemanden – eingelassen und damit die Probleme erst heraufbeschworen. Das Leben war aus einer sicheren Distanz heraus viel einfacher.

Er stieg aus dem Wagen und nahm den kleinen Seesack, den er mitgebracht hatte. Immer wenn er eine Schule besuchte, brachte er ein paar offizielle Bälle der NFL, der nationalen Footballliga, sowie Autogrammkarten mit. Damit machte er die Kinder glücklich, und deshalb war er ja schließlich hier. Um zu unterhalten und vielleicht ein bisschen ihre Motivation zu erhöhen, wenn sie gerade nicht achtgaben.

Er warf einen Blick auf die Schule. Es war ein älteres, aber gut erhaltenes Gebäude. Normalerweise sprach er vor Kindern im Highschool-Alter, aber die Schulleiterin und die Klassenlehrerin waren beide so hartnäckig gewesen, dass es schon fast an Stalking gegrenzt hatte. Er war noch neu hier und an das Leben in einer Kleinstadt nicht gewöhnt, deshalb musste er die Regeln erst noch lernen. Da er vorhatte, sich dauerhaft in Fool’s Gold niederzulassen, hatte er sich für Kooperation entschieden, auch auf die Gefahr hin, damit einen Fehler begangen zu haben.

Er ging zum Haupteingang und betrat das Gebäude. Anders als die Schulen in den Innenstädten, die er sonst besuchte, gab es hier weder Metalldetektoren noch einen Wachmann. Die Doppeltüren standen weit offen, die Eingangshalle war groß und hell erleuchtet, die Wände frei von Graffiti. Wie alles in Fool’s Gold war auch die Schule fast zu schön, um wahr zu sein.

Er folgte den Hinweisschildern zum Schulbüro und stand kurz darauf in einem großen, offenen Bereich mit einem langen Tresen. Es gab die üblichen Anschlagbretter mit Flyern für Busfahrten und Nachmittagsprogramme. Eine dunkelhaarige Frau saß an einem Schreibtisch und tippte etwas in einen Computer, der uralt aussah.

„Hallo“, begrüßte er sie.

Die Frau – vermutlich in den Dreißigern – schaute auf und starrte ihn ungläubig an. Dann sprang sie auf und wedelte mit den Händen. „Oh Gott. Sie sind hier. Sie sind tatsächlich hier! Ich fasse es nicht.“ Sie eilte auf Raoul zu. „Hallo, ich bin Rachel. Mein Dad ist ein riesiger Fan von Ihnen. Er stirbt bestimmt, wenn er erfährt, dass ich Sie getroffen habe.“

„Ich hoffe nicht“, erwiderte Raoul locker. Er zog eine Autogrammkarte aus dem Beutel und suchte nach einem Stift.

„Was?“

„Ich hoffe nicht, dass er stirbt.“

Rachel lachte. „Wird er nicht, aber er ist bestimmt schrecklich neidisch. Ich habe schon gehört, dass Sie kommen. Und jetzt sind Sie da. Das ist ja so aufregend. Raoul Moreno in unserer Schule.“

„Wie heißt Ihr Dad?“

„Norm.“

Er unterschrieb die Autogrammkarte und reichte sie ihr. „Vielleicht hilft ihm das über die Enttäuschung hinweg.“

Sie nahm die Karte ehrfürchtig entgegen und legte sich die Hand auf die Brust. „Vielen, vielen Dank. Das ist fantastisch.“ Sie schaute zur Uhr und seufzte. „Ich muss Sie jetzt wohl zu Mrs. Millers Klasse bringen.“

„Ja, ich sollte wohl anfangen, mit den Kids zu reden.“

„Richtig. Deshalb sind Sie ja hier. Es war toll, Sie zu treffen.“

„Ich hab mich auch gefreut, Sie kennenzulernen, Rachel.“

Sie kam hinter dem Tresen hervor und führte Raoul zurück in die Eingangshalle. Auf dem Weg zur Klasse unterhielt sie sich mit ihm über die Schule und die Stadt, während sie ihn immer wieder mit einer Mischung aus Bewunderung und Koketterie ansah. Raoul war daran gewöhnt, hatte aber schon vor Langem gelernt, die Aufmerksamkeit nicht allzu ernst zu nehmen.

Mrs. Millers Klasse befand sich am Ende des Flurs. Rachel hielt Raoul die Tür auf.

„Viel Glück“, sagte sie.

„Danke.“

Er betrat den Klassenraum allein.

Vor ihm saßen ungefähr zwanzig Kinder, die ihn mit großen Augen anstarrten, während die Lehrerin, eine attraktive Frau in den Vierzigern, ihn aufgeregt begrüßte.

„Oh, Mr. Moreno, ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie uns heute besuchen. Das ist ja so aufregend.“

Raoul lächelte. „Ich freue mich immer, wenn ich mit Kindern in der Schule sprechen kann.“ Er wandte sich an die Klasse. „Hallo.“

Einige der Schüler begrüßten ihn. Andere sahen aus, als wären sie zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Zumindest die Jungs. Die meisten Mädchen schienen völlig unbeeindruckt zu sein.

„Ihr seid in der vierten Klasse, oder?“, fragte er.

Ein Mädchen aus der ersten Reihe mit einer Brille auf der Nase nickte. „Wir sind die schnelle Klasse, die, die besser als der Durchschnitt lesen kann.“

„Oh-oh“, sagte er und machte einen übertriebenen Schritt rückwärts. „Die klugen Kinder. Wollt ihr mir Mathefragen stellen?“

Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Mögen Sie etwa Mathe?“

„Ja, mag ich.“ Er ließ den Blick über die Schüler schweifen. „Wer von euch mag die Schule wirklich gern?“

Ein paar Kinder hoben die Hände.

„Die Schule kann euer Leben verändern“, fuhr er fort und lehnte sich mit der Hüfte gegen das Lehrerpult. „Wenn ihr erwachsen seid, sucht ihr euch einen Job und arbeitet, damit ihr euren Lebensunterhalt verdient. Im Moment aber ist es ganz besonders wichtig, dass ihr in der Schule gut aufpasst. Wer weiß, warum wir solche Sachen wie Lesen und Mathe lernen müssen?“

Weitere Hände fuhren in die Höhe.

Normalerweise sprach er davon, wie man motiviert blieb, sich einen Mentor suchte, ein besseres Leben führte, aber das schien ihm für Neunjährige ein wenig hoch gegriffen. Also würde er heute darüber reden, wie wichtig es war, gern zur Schule zu gehen und sein Bestes zu geben.

Mrs. Miller wich ihm nicht von der Seite. „Brauchen Sie irgendetwas?“, fragte sie flüsternd. „Kann ich Ihnen was bringen?“

„Nein, danke, alles ist gut.“

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Klasse zu. Das Mädchen in der ersten Reihe schien mehr an der hübschen Aussicht vor dem Fenster interessiert zu sein als an ihm. Merkwürdigerweise erinnerte sie ihn an Pia. Vielleicht lag es an dem lockigen braunen Haar oder ihrem offensichtlichen Desinteresse an seiner Person. Pia hatte ihn auch nicht angehimmelt. Sie hatte ihn kaum beachtet. Was nicht sonderlich überraschend war, so, wie ihr Tag begonnen hatte. Aber er hatte sie beachtet. Sie war niedlich und witzig gewesen, ohne es darauf anzulegen.

Er ermahnte sich, sich wieder auf die Schüler zu konzentrieren, holte einmal tief Luft und runzelte die Stirn. Nanu … Irgendetwas roch hier merkwürdig.

Wäre er an einer Highschool, hätte er vermutet, dass im Chemieraum ein Experiment danebengegangen war oder jemand im Hauswirtschaftsraum Kekse im Backofen vergessen hatte. Aber in den Grundschulen gab es solche Räume nicht.

Er drehte sich zu Mrs. Miller herum. „Riechen Sie das?“

Sie nickte besorgt. „Vielleicht ist etwas in der Cafeteria passiert.“

„Brennt es?“, fragte einer der Jungen.

„Bleibt alle sitzen!“, sagte Mrs. Miller streng, während sie zur Tür ging.

Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür langsam. Sofort wurde der Geruch nach Rauch stärker. Sekunden später ertönte der Feueralarm.

Mrs. Miller wandte sich an Raoul. „Es ist erst der zweite Schultag. Wir haben noch nicht geübt, was in einem solchen Fall getan werden muss. Ich glaube, es brennt tatsächlich.“

Die Kinder standen bereits auf und sahen ängstlich aus. Raoul erkannte, dass sie kurz davor waren, in Panik zu geraten.

„Sie wissen, was Sie zu tun haben?“, fragte er. „Wie es rausgeht?“

„Natürlich.“

„Gut.“ Er schaute wieder zur Klasse. „Wer hat hier das Sagen?“, fragte er mit so lauter Stimme, dass er die Sirene übertönte.

„Mrs. Miller“, schrie jemand.

„Genau. Stellt euch zu zweit auf und folgt Mrs. Miller, wenn wir jetzt in den Flur gehen. Es werden ganz viele Kinder da draußen sein. Bleibt ruhig. Ich gehe als Letzter und passe auf, dass ihr alle aus der Schule kommt.“

Mrs. Miller bedeutete ihren Schülern, ihr zu folgen.

„Kommt“, sagte sie. „Wir müssen uns beeilen. Fasst euch an den Händen! Lasst den anderen auf keinen Fall los, dann wird alles gut. Achtet nur darauf, dass ihr zusammenbleibt.“

Mrs. Miller ging in den Flur, und die Kinder folgten ihr. Raoul wartete, um sicherzugehen, dass alle draußen waren. Ein kleiner Junge schien zu zögern.

„Es ist okay“, sagte Raoul betont ruhig. Er wollte nach der Hand des Jungen greifen, doch das Kind zuckte zurück, so als hätte es Angst, geschlagen zu werden. Noch ehe Raoul etwas sagen konnte, flitzte der Kleine dann – ein Rotschopf mit Sommersprossen – schnell an ihm vorbei nach draußen.

Auch Raoul eilte in den Flur. Der Rauchgestank war stärker geworden. Mehrere Kinder weinten. Ein paar standen mitten in der Eingangshalle und hielten sich die Ohren zu. Die Sirene heulte unablässig, während die Lehrerinnen ihren Schülern zuriefen, dass sie ihnen nach draußen folgen sollten.

„Komm“, sagte er und nahm ein kleines Mädchen auf den Arm. „Lass uns nach draußen gehen.“

„Ich hab Angst“, sagte sie.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Bei mir bist du sicher.“

Ein anderer kleiner Junge griff nach seinem Arm. Tränen rannen ihm übers Gesicht. „Es ist viel zu laut.“

„Dann lass uns schnell rausgehen, da ist es leiser.“

Er eilte den Flur entlang und sammelte weitere Kinder ein. Lehrerinnen rannten hin und her, zählten die Kinder, überprüften die Klassenräume, um sicherzustellen, dass niemand vergessen wurde.

Als Raoul mit seiner kleinen Schar den Haupteingang erreicht hatte, liefen die Kinder schnell davon. Er stellte das Mädchen, das er getragen hatte, wieder auf die Füße, und sie rannte zu ihrer Lehrerin. Dichte Rauchwolken stiegen inzwischen aus dem Gebäude auf und verdunkelten den strahlend blauen Himmel.

Immer mehr Schüler kamen aus der Schule gerannt. Namen wurden aufgerufen. Die Lehrerinnen sortierten die Gruppen nach Klassenstufen und Klassen. Raoul aber drehte sich um und ging wieder zurück in die Schule.

Jetzt konnte man den Rauch nicht nur riechen. Man konnte ihn sehen. Die Luft wurde immer stickiger, und die dunklen Rauchschwaden erschwerten das Atmen. Raoul eilte von Klassenraum zu Klassenraum, stieß die Türen auf, schaute unter die großen Lehrerpulte und ließ den Blick durch die Räume schweifen, um sich davon zu überzeugen, dass niemand vergessen worden war.

Er fand ein kleines Mädchen in einer Ecke des dritten Zimmers, das er betrat. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie hustete und schluchzte. Raoul hob sie hoch, drehte sich um und wäre fast mit einer Feuerwehrfrau zusammengestoßen.

„Ich nehme sie“, sagte die Frau, während sie ihn durch ihre Maske hindurch anschaute und die Arme nach dem Mädchen ausstreckte. „Machen Sie, dass Sie hier rauskommen. Das Gebäude ist fast siebzig Jahre alt. Weiß der Himmel, was für chemische Cocktails hier in der Luft herumschwirren.“

„Vielleicht sind hier noch mehr Kinder.“

„Ich weiß. Und je länger wir hier stehen und reden, desto größer ist die Gefahr, in der Sie schweben. Raus mit Ihnen!“

Er folgte der Feuerwehrfrau nach draußen. Erst dort merkte er, dass er hustete und keuchte. Er beugte sich vor und versuchte krampfhaft, Luft zu bekommen.

Als er wieder freier atmen konnte, richtete er sich auf. Es herrschte kontrolliertes Chaos. Drei Feuerwehrwagen standen vor der Schule. Die Kinder hockten zusammen auf dem Rasen, weit genug entfernt vom Schulgebäude. Rauch verbreitete sich in alle Richtungen.

Ein paar Leute schrien auf und deuteten zum Haus. Raoul folgte ihren Blicken und sah, wie Flammen durch das Dach am anderen Ende der Schule loderten.

Raoul wollte gerade wieder zum Gebäude laufen, als eine Feuerwehrfrau ihn am Arm packte.

„Denken Sie nicht mal dran“, warnte sie ihn. „Überlassen Sie das den Profis!“

Er nickte und fing wieder an zu husten.

Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind wieder reingerannt, stimmt’s? Typisch Zivilist. Glaubt ihr, wir tragen die Masken, weil sie hübsch aussehen? Sanitäter!“ Sie brüllte das letzte Wort und deutete auf ihn.

„Mir geht’s gut“, brachte Raoul heraus, obwohl er noch immer kaum Luft bekam.

„Lassen Sie mich raten. Sie sind auch noch Arzt. Kooperieren Sie mit der netten Dame! Oder ich sage ihr, dass Sie einen Einlauf brauchen.“

2. Kapitel

Es geht doch nichts über eine gemeinschaftlich erlebte Katastrophe, um einen von Selbstmitleid zu heilen, dachte Pia, als sie auf dem Rasen am hintersten Ende des Spielplatzes der Grundschule stand und auf das starrte, was einmal ein hübsches altes Schulgebäude gewesen war. Jetzt züngelten die Flammen am Dach entlang und ließen die Glasfenster zerbersten. In der Luft hing dick der Gestank der Zerstörung.

Sie hatte die Feuerwehrsirenen in ihrem Büro gehört und gesehen, dass dunkle Rauchwolken den Himmel verdüsterten. Sie hatte nur eine Sekunde gebraucht, um zu ahnen, wo es brannte und dass es ziemlich schlimm sein musste.

Entsetzt schnappte sie nach Luft, als eine der Gebäudemauern bebte, bevor sie in sich zusammenbrach.

Schon häufiger hatte Pia Menschen von Feuer so reden hören, als wäre es lebendig. Eine lebende Kreatur mit einer hinterhältigen Entschlossenheit und einem bösartigen Wesen. Bisher hatte sie nie daran geglaubt. Doch als sie jetzt sah, wie das Feuer systematisch die Schule zerstörte, entdeckte sie, dass diese Theorie mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthielt.

„Das ist schrecklich“, flüsterte sie.

„Schlimmer als schrecklich.“

Pia schaute auf und sah Marsha Tilson direkt neben sich stehen. Die Bürgermeisterin, eine Frau von Mitte sechzig, presste eine Hand auf den Mund und starrte mit fassungslosem Blick zur Schule.

„Ich habe mit der Einsatzleiterin gesprochen. Sie hat mir versichert, dass sie jedes einzelne Zimmer im Gebäude abgesucht haben. Es ist niemand mehr drinnen. Aber das Haus …“ Marshas Stimme versagte. „Ich bin hier zur Schule gegangen.“

Pia legte ihr einen Arm um die Schultern. „Ich weiß. Es ist furchtbar, das mit ansehen zu müssen.“

Marsha rang um Fassung. „Wir müssen etwas finden, um die Kinder unterzubringen. Es geht nicht, dass sie wegen des Feuers nicht zur Schule gehen können. Aber die anderen Schulen sind voll. Wir könnten diese provisorischen mobilen Klassenräume aufstellen lassen. Es muss jemanden geben, den ich anrufen kann.“ Sie schaute sich um. „Wo ist Charity? Vielleicht kennt sie jemanden.“

Pia drehte sich um und sah ihre Freundin bei der immer größer werdenden Menge der verzweifelten Eltern stehen. „Da drüben.“

Die Bürgermeisterin blickte stirnrunzelnd in die Richtung, in die Pia zeigte. „Sie bekommt doch nicht zu viel Rauch ab, oder?“

Pia verstand Marshas Sorge. Charity war nicht nur schwanger, sondern zudem auch die Enkelin der Bürgermeisterin. „Der Wind weht in die andere Richtung. Ich glaube nicht, dass sie Schaden nimmt.“

Marsha starrte auf die Zerstörung. „Was den Brand wohl ausgelöst hat?“

„Das finden wir heraus. Das Wichtigste ist, dass alle Kinder, die Lehrerinnen und das Personal rechtzeitig herausgekommen sind. Die Schule können wir wieder aufbauen.“

Marsha drückte ihre Hand. „Du bist so rational. Im Moment brauche ich das. Danke, Pia.“

„Wir stehen das zusammen durch.“

„Ich weiß. Dadurch fühle ich mich auch besser. Ich gehe mal mit Charity reden.“

Während die Bürgermeisterin davonging, blieb Pia auf dem Rasen stehen. Alle paar Sekunden wurde sie von einer Hitzewelle gestreift, die den Geruch von Rauch und Vernichtung mit sich brachte.

Erst heute Morgen war Pia an der Schule vorbeigegangen. Da war alles noch in Ordnung gewesen. Wie konnten sich die Dinge so schnell ändern?

Bevor sie darauf eine Antwort fand, sah sie, dass immer mehr Eltern am Unglücksort eintrafen. Mütter und auch einige Väter eilten zu den Kindern, die zusammenstanden und von ihren Lehrerinnen beschützt wurden. Man hörte Rufe der Erleichterung und auch der Angst. Kinder wurden gedrückt, nach Verletzungen abgesucht, den Lehrerinnen wurde gedankt. Die Schulleiterin stand bei den Kindern, in der Hand ein Klemmbrett mit einem ganzen Stapel Papieren.

Wahrscheinlich die Liste aller Schüler, dachte Pia. Unter den gegebenen Umständen mussten die Eltern vermutlich unterschreiben, wenn sie ihre Kinder abholten, damit man sichergehen konnte, dass alle da und in Sicherheit waren.

Zwei weitere Feuerwehrfahrzeuge trafen mit heulenden Sirenen ein. Der Feueralarmmelder der Schule war zwar endlich verstummt, doch der sonstige Lärm war noch immer ohrenbetäubend. Menschen schrien, die Motoren der Einsatzfahrzeuge dröhnten. Jemand warnte per Megafon, in sicherem Abstand zu bleiben, und wies dann auf den Standort der Krankenwagen hin.

Pia schaute in die Richtung und war überrascht, einen großen, vertraut aussehenden Mann mit einer der Sanitäterinnen sprechen zu sehen. Raouls Haar war zerzaust, sein Gesicht schmutzig. Er hustete gerade, doch trotz allem sah er noch immer unverschämt gut aus.

„Das ist so typisch“, murmelte Pia, als sie über den Spielplatz zu ihm hinüberging.

„Lassen Sie mich raten“, sagte sie, als sie näher kam. „Sie haben etwas Heldenhaftes getan.“

„Sie meinen, etwas Idiotisches“, sagte die Sanitäterin und verdrehte die Augen. „Das liegt ihnen wohl in den Genen. Männer können einfach nicht anders.“

Pia lachte. „Als ob ich es nicht wüsste.“ Sie wandte sich an Raoul. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie in das brennende Gebäude gerannt sind, in dem Versuch, ein Kind zu retten.“

Er richtete sich auf und atmete tief durch. „Warum sagen Sie das so abwertend? Es ist doch nichts Verwerfliches.“

„Es gibt hier Profis, die wissen, was sie tun.“

„Das bekomme ich schon die ganze Zeit zu hören. Wie wäre es mal mit ein bisschen Dankbarkeit dafür, dass ich vollkommen selbstlos mein Leben riskiert habe?“

„Es wäre wahrscheinlicher, dass sie sich eine Rauchvergiftung geholt und damit den Rettungskräften mehr anstatt weniger Arbeit beschert hätten“, belehrte ihn die Sanitäterin. Sie entfernte ein Messgerät von seinem Finger.

„Sie sind okay“, fuhr sie fort. „Wenn Sie irgendwelche von den Symptomen bemerken, über die wir gesprochen haben, gehen Sie in die Notaufnahme.“ Sie sah Pia an. „Gehört er zu Ihnen?“

Pia schüttelte den Kopf.

„Kluges Mädchen“, sagte die Sanitäterin, bevor sie sich dem nächsten Patienten zuwandte.

„Autsch“, sagte Raoul. „Die Leute hier in der Stadt gehen ja nicht gerade zimperlich mit einem um.“

„Keine Angst“, meinte Pia. „Ich bin sicher, es gibt noch genügend Frauen, die Sie umschwärmen und verherrlichen werden, wenn Sie von Ihrer heroischen Tat berichten.“

„Aber Sie gehören nicht dazu.“

„Heute nicht.“

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er.

Eine Sekunde lang verstand sie seine Frage nicht. Dann war die Realität mit einem Schlag wieder da. Richtig – er hatte ja heute Morgen ihren Zusammenbruch mitbekommen. Wie peinlich.

„Ich hätte Sie noch angerufen.“ Gemeinsam entfernten sie sich von dem Krankenwagen. „Um mich zu entschuldigen. Normalerweise breche ich im stillen Kämmerlein zusammen.“

„Kein Problem. Ich würde ja sagen, ich verstehe Sie, aber dafür würden Sie mir wahrscheinlich den Kopf abreißen. Wie wäre es, wenn ich Ihnen versichere, dass ich mit Ihnen fühle?“

„Das weiß ich zu schätzen.“

Pia zögerte und überlegte, ob sie noch mehr sagen müsste. Oder ob er fragen würde. Nicht dass sie irgendetwas zu sagen hätte. Sie versuchte noch immer zu begreifen, dass das Vermächtnis ihrer Freundin tatsächlich real war, und hatte noch keine Entscheidung getroffen, wie sie damit umgehen sollte. Obwohl die Anwältin ihr versichert hatte, dass ihr noch mindestens drei Jahre Zeit blieben, ehe sie eine Entscheidung fällen musste, spürte Pia den Druck auf sich lasten.

Allerdings würde sie ihr Dilemma nicht mit Raoul besprechen. Der Ärmste hatte schon genug gelitten.

„Was haben Sie hier gemacht?“, fragte sie. „In der Schule, meine ich.“

Er war stehen geblieben und starrte auf das Schulgebäude. Sein Blick wanderte von einer Feuerwehrfrau zur nächsten. Die Einsatzleiterin stand auf einer ein Meter hohen Gartenmauer und rief ihrem Team Befehle zu.

„Machen Sie sich Sorgen um die Kinder?“, fragte Pia. „Das ist nicht nötig. Ich habe in reichlich Sitzungen gesessen, in denen genau solche Notfälle besprochen worden sind. Daran sollte man unbedingt teilnehmen, wenn man unter Schlafstörungen leidet. Wie auch immer, es gibt für jede Schule einen Plan und eine Liste aller Schüler. Jeden Tag wird die Anwesenheit kontrolliert und per Computer an die Bezirksbüros geschickt. Eine Liste derjenigen, die an dem Tag fehlen, wird zur Unglücksstelle gebracht. Vertrauen Sie mir. Der Verbleib jedes Schülers wird geklärt.“

Raoul schaute sie an, und in seinen Augen spiegelte sich Überraschung. „Das sind alles Frauen.“

„An den Grundschulen gibt es fast nur Lehrerinnen.“

„Die Feuerwehrleute. Das sind auch alles Frauen.“

„Ach, das.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Wir sind hier in Fool’s Gold. Was haben Sie erwartet?“

Er sah sowohl verwirrt als auch verloren aus, was bei so einem großen, gut aussehenden Mann irgendwie anziehend, ja sogar süß wirkte. Vorausgesetzt, man war interessiert, was Pia nicht war. Zum einen war sie von Natur aus vorsichtig, was Männer betraf, zum anderen war Raoul berühmt, und den Schmerz und das Leiden, das mit solchen Typen einherging, konnte sie definitiv nicht gebrauchen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie bald vielleicht mit den Embryonen eines anderen Paares schwanger sein würde.

Noch vor einer Woche war ihr Leben vorhersehbar und langweilig gewesen. Jetzt war sie im Rennen um eine Schlagzeile in der Klatschpresse. Langweilig war besser.

„In Fool’s Gold herrscht Männermangel“, erklärte Pia geduldig. „Sie haben doch bestimmt schon gemerkt, dass es nicht viele Männer in der Stadt gibt. Ich dachte, das wäre der Grund gewesen, warum Sie hierhergezogen sind.“

„Es gibt Männer.“

„Ja? Wo?“

„In der Stadt sind Kinder.“ Er deutete auf die wenigen Schüler, die noch darauf warteten, abgeholt zu werden. „Die haben doch sicherlich Väter.“

„Das stimmt. Wir halten ein paar Zuchtpaare, zu experimentellen Zwecken.“

Er machte einen Schritt rückwärts.

Sie grinste. „Tut mir leid. Das war ein Scherz. Ja, es gibt Männer in der Stadt, aber sie befinden sich definitiv in der Minderzahl. Es gibt einfach nicht genug. Also, wenn Sie merken, dass Sie besonders beliebt sind, lassen Sie es sich nicht zu Kopf steigen.“

„Ich glaube, ich mochte Sie lieber, als Sie Ihren Zusammenbruch hatten“, murmelte er.

„Sie wären nicht der erste Mann, der eine schwache Frau vorzieht. Dann sind wir nicht so bedrohlich. So groß und stark, wie Sie sind, hätte ich allerdings anderes von Ihnen erwartet. Ach ja, das Leben ist eine einzige große Enttäuschung. Sie haben übrigens meine Frage von eben nicht beantwortet. Was haben Sie hier gemacht?“

Er wirkte verwirrt, als hätte er Probleme, mit ihr mitzuhalten. „Ich war bei Mrs. Millers Viertklässlern. Normalerweise spreche ich zu Schülern auf der Highschool, aber Mrs. Miller hat darauf bestanden, dass ich komme.“

„Vermutlich wollte sie die Stunde dazu nutzen, sich einmal Ihren knackigen Hintern anzuschauen.“

Raoul starrte sie an.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich meine ja nur.“

„Ihnen geht es eindeutig besser.“

„Sagen wir mal so, ich bin nicht mehr kurz davor, hysterisch zu werden“, gab sie zu.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Schule zu. Es war offensichtlich, dass nur noch eine Ruine übrig bleiben würde, wenn der Brand gelöscht wäre. „Wie groß ist Ihr Haus?“, fragte sie. „Sie sehen so aus, als würden Sie in einer Villa wohnen. Kann man in Ihrem Foyer vielleicht Klassen unterrichten?“

„Ich habe ein Haus mit zwei Schlafzimmern von Josh Golden gemietet.“

„Das heißt also Nein. Schade, dann müssen die Kinder anderswo untergebracht werden.“

„Was ist mit den anderen Schulen in der Stadt?“

„Die sind alle voll. Marsha meint, man könnte vielleicht mobile Klassenräume aufstellen.“

„Marsha?“

„Bürgermeisterin Marsha Tilson. Meine Chefin. Sie kennen Josh Golden?“

Raoul nickte.

„Er ist mit ihrer Enkelin verheiratet.“

„Ah, okay.“

Jetzt wirkte er nicht mehr so verwundert und fühlte sich vermutlich besser. Mit den Rauchspuren in seinem Gesicht sieht er echt attraktiv aus, dachte sie abwesend. Nicht dass er nicht auch schon vorher ziemlich umwerfend ausgesehen hätte. Er war die Art von Mann, die eine Frau dazu bringen konnte, dumme Dinge zu tun. Zum Glück war sie immun. Wenn man sein Leben lang romantische Flops erlebt hatte, war man als Frau vor solchen Dummheiten gefeit.

„Wir sollten einen neuen Termin vereinbaren“, sagte sie. „Ich rufe in Ihrem Büro an und verabrede etwas mit Ihrer Sekretärin.“

„Jetzt tun Sie es schon wieder, Sie setzen schon wieder etwas voraus. Ich habe keine Sekretärin.“

„Nicht? Wer verwaltet denn dann Ihren Terminplan und gibt Ihnen das Gefühl, wichtig zu sein?“

Er musterte sie einen Moment lang. „Sind Sie zu allen so?“

„So charmant?“ Pia lachte. „Oh ja, Sie können sich gern umhören.“

„Vielleicht tue ich das sogar.“

Er neckte sie. Sie wusste, dass er sie aufzog. Doch sie spürte etwas. Ein kleines Flackern. Vielleicht auch ein Zittern, tief unten in ihrem Bauch.

Vergiss es, ermahnte sie sich, während sie ihm zuwinkte und zu ihrem Wagen ging. Sie würde sich nicht mit einem Mann einlassen, schon gar nicht mit einem wie ihm. Erfolgreiche, gut aussehende Männer hatten Erwartungen. Und standen auf Blondinen. Das wusste sie – sie las schließlich das People Magazine, die Zeitschrift für und über erfolgreiche Leute.

Das Leben hatte ihr einige wichtige Lektionen erteilt. Die wichtigste lautete, sich niemals darauf zu verlassen, dass jemand anders für sie da war. Sie war eine starke, unabhängige Frau. Männer stellten lediglich eine Option dar, und zurzeit konnte sie gut darauf verzichten.

Raoul verbrachte die nächste Stunde noch an der Schule. Die Feuerwehrleute hatten das Feuer unter Kontrolle gebracht, und die Einsatzleiterin hatte ihm versichert, dass sie noch mindestens vierundzwanzig Stunden vor Ort bleiben würden, um mögliche neue Brandherde sofort löschen zu können. Die Aufräumarbeiten würden beginnen, sobald das, was von der Schule noch übrig geblieben war, abgekühlt war und man die Ermittlungen abgeschlossen hatte.

Es handelte sich um die Art von Unglück, über die er im Laufe der Jahre Dutzende von Malen in der Zeitung gelesen oder in den Nachrichten gehört hatte. Aber selbst die beste Reportage hatte ihn nicht auf das Ausmaß der Hitze, der Zerstörung und des Gestanks vorbereitet. Es würde Monate, wenn nicht Jahre dauern, bevor das Schulgelände auch nur annähernd wiederhergerichtet sein würde.

Die Kinder waren inzwischen alle nach Hause gegangen, so wie auch die meisten Schaulustigen. Schließlich drehte Raoul sich auch um, um in sein Büro zurückzukehren. Für seinen Ferrari hatte keine Gefahr bestanden, aber er wurde von mehreren Feuerwehrautos blockiert. Raoul beschloss, später wiederzukommen, um ihn abzuholen. Das war kein Problem, denn die Stadtmitte war zu Fuß nur ungefähr zwanzig Minuten entfernt.

Raoul war in Seattle aufgewachsen, in Oklahoma aufs College gegangen und anschließend von den Dallas Cowboys verpflichtet worden. Er war ein Großstadtmensch, der die Restaurants, das Nachtleben, die Möglichkeiten genoss. Jedenfalls hatte er das immer gedacht. Irgendwann war er des ständigen Ausgehens jedoch überdrüssig geworden. Er hatte sesshaft werden wollen.

„Hör auf damit“, ermahnte er sich streng.

Eine Reise in die Vergangenheit war Zeitverschwendung. Viel wichtiger war die Zukunft. Er hatte sich für Fool’s Gold entschieden, und bisher genoss er das Kleinstadtleben. Überall zu Fuß hingehen zu können, war einer der Vorteile. Genauso wie der kaum vorhandene Verkehr. Seine Freunde hatten gefrotzelt, dass er so gut wie kein gesellschaftliches Leben haben würde, aber seit seiner Scheidung war er daran auch nicht interessiert, also hatte sich das Problem von selbst erledigt.

Kurz darauf hatte er sein Büro erreicht, das im Erdgeschoss in einer von Bäumen gesäumten Seitenstraße lag. Es gab ein Restaurant – das Fox and Hound – direkt um die Ecke und einen Starbucks in der Nähe. Im Moment genügte das völlig.

Er griff nach seinen Schlüsseln, sah dann aber, dass das Licht bereits brannte. Also zog er die Tür auf und ging hinein.

Das zweihundert Quadratmeter große Büro bot mehr Platz, als er brauchte, aber er hatte ja auch vor, noch weiter zu expandieren. Sein Sommercamp stand erst am Anfang. Um die Welt zu verändern, würde er mehr Personal brauchen.

Dakota Hendrix, seine einzige feste Angestellte, schaute von ihrem Computer auf. „Warst du in der Schule, als das Feuer ausgebrochen ist? Hast du nicht gesagt, du wolltest dorthin?“

„Ja, ich war da.“

„Sind alle unverletzt rausgekommen?“

Er nickte und berichtete ihr kurz von dem, was geschehen war, ohne allerdings zu erwähnen, dass er noch einmal hineingelaufen war, um zu prüfen, ob alle Klassenzimmer leer waren.

Dakota, eine hübsche Frau mit schulterlangem blondem Haar und ausdrucksstarken Augen, hörte aufmerksam zu. Sie hatte einen Doktor auf dem Gebiet Kindheitsentwicklung gemacht, und Raoul war verdammt froh gewesen, sie gefunden zu haben. Dass sie bei ihm angefangen hatte zu arbeiten, war ein echter Glücksfall.

Einer der Gründe, warum Raoul nach Fool’s Gold gezogen war, war das ehemals verlassene Camp oben in den Bergen. Er hatte es mehr oder weniger umsonst bekommen, die Anlage in Schuss gebracht, und in diesem Jahr hatte das Sommercamp „End Zone for Kids“ zum ersten Mal seine Pforten geöffnet.

Das Ziel des Camps war es, Großstadtkindern zu helfen, die Natur zu entdecken – sicherlich keine neue Idee, aber eine, die von denen geschätzt wurde, die aus den Elendsvierteln der Großstädte kamen. Einheimische Kinder kamen als Tagescamper, und die Kids aus der Stadt blieben für zwei Wochen.

Die ersten Berichte hatten sehr positiv geklungen. Raoul schwebte vor, das Camp zu einer ganzjährig genutzten Einrichtung auszubauen, eine Herausforderung, die Dakota verstanden und gern angenommen hatte. Während sie einerseits End Zone plante und betreute, hatte sie angefangen, auch einen Geschäftsplan für die Wintermonate zu schreiben.

„Ich habe schon gehört, dass es ganz schrecklich gewesen sein soll“, sagte sie, als er seinen Bericht beendet hatte. „Das Feuer hat großen Schaden angerichtet. Marsha hat mich vor ein paar Minuten angerufen.“ Sie hielt kurz inne. „Marsha ist unsere Bürgermeisterin.“

Er erinnerte sich, dass Pia sie vorhin schon erwähnt hatte. „Warum hat sie dich wegen des Feuers angerufen?“

„Hauptsächlich ging es um das Camp.“ Wieder machte sie eine Pause. „Die Stadt möchte wissen, ob sie das Camp vorübergehend als Schule nutzen könnte. Marsha, die Vorsitzende des Bildungsausschusses und die Schulleiterin möchten es sich erst einmal anschauen, aber sie glauben, dass es funktionieren könnte. Das einzige andere Gebäude, das groß genug wäre, ist das Veranstaltungszentrum. Aber das ist ziemlich ausgebucht und vom Grundriss her nicht wirklich geeignet. Die Akustik wäre grässlich – der Lärm der einzelnen Klassen würde sich miteinander mischen. Also sind sie sehr interessiert an dem Camp.“ Zum dritten Mal hielt sie inne, holte tief Luft und sah ihn hoffnungsvoll an.

Raoul zog sich einen Stuhl heraus und setzte sich ihr gegenüber. Hawks Rat, sich eine Aufgabe zu suchen, hallte in seinem Kopf wider. Dies war eine Möglichkeit, sich hier in der Stadt noch weiter zu engagieren – aber aus einer sicheren Distanz heraus.

„Wir haben keine Klassenräume“, dachte er laut nach. „Aber wir haben schon alle Betten eingelagert, also könnten die Schlafräume zu Klassenräumen umfunktioniert werden. Sie wären klein, aber nutzbar. Mit der richtigen Art von Trennwänden könnte das Hauptgebäude ungefähr ein Dutzend Klassenräume beherbergen.“

„Das hatte ich mir auch überlegt“, sagte Dakota und beugte sich zu ihm vor. „Es gibt eine Küche, also hätte man auch kein Problem, Mittagessen auszuteilen. Der große Esssaal könnte zudem als Aula herhalten. Niemand weiß, was von dem Mobiliar aus der Schule noch gerettet werden kann, aber sie werden die anderen Distrikte informieren. Innerhalb der nächsten Tage sollten wir eine solide Anzahl an Tischen und Stühlen bekommen. Also können sie das Camp nutzen? Ich könnte mich um die Details kümmern und als Mittlerin fungieren.“

„Wenn du bereit bist, das auf dich zu nehmen.“ Es müssten noch Haftungsfragen geklärt werden, aber dafür hatte er ja seine Anwälte.

„Bin ich.“

Er und Dakota sprachen über mögliche Probleme und deren Lösungen.

„Auf diese Weise bekommen wir eine Menge praktischer Informationen darüber, wie es ist, das Camp das ganze Jahr über zu nutzen“, sagte sie. „Wie man zum Beispiel mit dem Wetter umgeht. Im Winter fällt hier manchmal viel Schnee. Schaffen wir es, die Straßen frei zu halten? Diese Dinge müssen alle bedacht werden.“

Er lachte. „Wie kommt es nur, dass ich überzeugt bin, all diese heimatlosen Schulkinder hoffen inständig darauf, dass wir es nicht schaffen?“

Sie lächelte. „Schneefrei ist eine tolle Sache. Gab es so was in Seattle?“

„Alle paar Jahre.“ Raoul lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Ich kümmere mich um alles“, versicherte Dakota ihm. „Damit ich mir das großzügige Gehalt auch verdiene, das du mir zahlst.“

„Das tust du auch so schon.“

„Während des Sommers ja. Jetzt eher weniger. Wie auch immer, ich finde das großartig. Die Stadt wird dir dankbar sein.“

„Meinst du, sie widmen mir eine Briefmarke?“

Aus ihrem Lächeln wurde ein Grinsen. „Briefmarken sind eine Bundesangelegenheit, aber ich schau mal, was ich machen kann.“

Raoul dachte an die Kinder, die er heute Morgen getroffen hatte. Vor allem an den kleinen rothaarigen Jungen, der zurückgezuckt war, als hätte er Angst gehabt, geschlagen zu werden. Er wusste nicht, wie der Junge hieß, also würde es schwierig werden, nach ihm zu fragen. Aber sobald die Schule wieder geöffnet war, könnte er ein paar Erkundigungen einziehen.

Ihm fiel Pias frotzelnde Bemerkung ein, die Schule in sein Haus zu verlagern. Jetzt kam es so ähnlich. Die Schule würde in sein Camp einziehen.

„Hast du Lust, mit mir zum Camp zu fahren?“, fragte er. „Dann können wir schauen, welche Änderungen wir vornehmen müssen.“

„Gern. Wenn es mehr zu machen gibt als eine grundlegende Reinigung und Renovierung, bitte ich Ethan, sich mit uns zu treffen.“

Raoul nickte. Ethan war Dakotas Bruder und der Bauunternehmer, den Raoul beauftragt hatte, das Camp wiederherzurichten.

Dakota stand auf und nahm ihre Handtasche. „Wir können auch ein paar Arbeitspartys organisieren, zum allgemeinen Aufräumen und Vorbereiten. Pia hat eine Telefonliste, die die CIA neidisch machen würde. Sag ihr einfach, was du brauchst, und sie besorgt dir innerhalb von einer Stunde hundert Freiwillige.“

„Beeindruckend.“

Sie gingen nach draußen und blieben auf dem Bürgersteig stehen.

„Mein Wagen steht noch an der Schule“, sagte Raoul.

Dakota lachte. „Dann nehmen wir meinen Jeep.“

Er musterte das verbeulte Auto. „In Ordnung.“

„Du könntest ein bisschen mehr Enthusiasmus zeigen.“

„Es ist toll.“

„Lügner.“ Sie schloss die Beifahrertür auf. „Wir können nicht alle einen Ferrari in der Garage haben.“

„Wie wäre es wenigstens mit einem Auto, das innerhalb der letzten zwanzig Jahre gebaut wurde?“

„Snob.“

„Ich mag meine Wagen jung und schnittig.“

„So wie deine Frauen?“

Er stieg ein. „Nicht zwingend.“

Dakota setzte sich neben ihn. „Ich habe dich noch gar nicht ausgehen sehen. Jedenfalls nicht hier bei uns.“

„Fragst du aus einem bestimmten Grund?“ Er nahm nicht an, dass Dakota an ihm interessiert war. Sie konnten gut zusammenarbeiten, aber zwischen ihnen knisterte es nicht. Außerdem hatte er nicht vor, sich mit jemandem einzulassen, und irgendwie hatte er das Gefühl, dass es ihr genauso ging.

„Nein, nur damit ich was zu erzählen habe, wenn ich mit meinen Freundinnen zusammensitze und über dich tratsche.“

„Passiert das täglich?“

„Mehr oder weniger.“ Sie legte den ersten Gang ein und grinste. „Du bist schließlich ziemlich heiß.“

Das ignorierte er. „Pia hat was davon erzählt, dass hier Männermangel herrscht. Stimmt das?“

„Ja. Es ist nicht so schlimm, dass die Mädels ihre Brüder zum Abschlussball mitbringen müssen, aber es ist schon zu merken. Wir wissen nicht genau, wie oder wann es angefangen hat. Viele Männer gingen während des Zweiten Weltkrieges. Leider kamen nicht genügend zurück. Einige Leute schieben es auch auf ein Gerücht, dass Fool’s Gold auf einer alten Maya-Stadt gebaut wurde.“

Sie fuhren über die Hauptstraße, und am Ortsausgang schlug Dakota den Weg in die Berge ein.

„Maya? Aber doch nicht so weit nördlich“, entgegnete Raoul.

„Angeblich ist ein Stamm Frauen mit ihren Kindern emigriert. Eine sehr matriarchalische Gesellschaft.“

„Das denkst du dir nur aus.“

„Du kannst die Fakten selbst nachprüfen. Bei dem Erdbeben in San Francisco 1906 öffnete sich der Berg, und man entdeckte eine riesige Höhle. Darin befanden sich Dutzende von Kunstwerken aus purem Gold – Maya-Kunstwerke. Auch wenn es genügend Unterschiede gab zwischen diesen und denen, die man weiter südlich gefunden hatte, um die Forscher zu verwirren.“

„Was ist mit der Höhle jetzt?“ Er hatte während seiner Reisen noch nie etwas davon gehört.

„Sie ist während des Erbebens 1989 eingestürzt, aber die Fundstücke sind überall auf der Welt verstreut. Unter anderem gibt es auch welche im Museum in der Stadt hier.“

Das muss ich mir selbst anschauen, dachte er. „Was haben matriarchalische Mayas mit dem Männermangel in der Stadt zu tun?“

Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Es gibt einen Fluch.“

„Hast du dir heute Morgen den Kopf gestoßen?“

Dakota lachte. „Nein, aber es existiert wirklich das Gerücht eines Fluches. Allerdings kenne ich keine genauen Einzelheiten.“

„Aha.“

„Irgendetwas über Männer und dass die Welt 2012 untergeht.“

„Dr. Hendrix, von Ihnen hätte ich etwas mehr erwartet.“

„Tut mir leid, mehr weiß ich nicht. Du könntest Pia fragen. Sie hat erwähnt, dass es 2012 ein Maya-Festival geben soll.“

„Um das Ende der Welt zu feiern?“

„Hoffen wir mal nicht.“

Na, wenn das keine verrückte Geschichte war. Ein Maya-Fluch? In den Bergen der Sierra Nevada? Und er hatte Sorge gehabt, dass das Leben in einer Kleinstadt langweilig werden würde.

Pia sammelte das Katzenfutter, die Teller, das Katzenspielzeug und ein Körbchen ein, das Jake nie benutzt hatte. Jo, die neue Besitzerin des Katers, hatte ihr gesagt, dass sie ein neues Katzenklo und Streu gekauft hätte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, nichts vergessen zu haben, holte Pia den Katzenkorb aus dem Schrank und öffnete ihn.

Sie hatte befürchtet, Jake erst einfangen zu müssen, um ihn dann mühsam in den Korb hineinzubefördern, doch er überraschte sie, indem er vom Korb zu ihr schaute und dann hineinkroch.

„Du willst hier weg, stimmt’s?“, flüsterte sie, als sie die Tür schloss.

Der Kater starrte sie an, ohne zu blinzeln.

Crystal hatte ihn ihren kleinen Haustiger genannt – sein Fell war orange-weiß gestreift mit einigen weißen Flecken, seidig und weich. Den langen, buschigen Schwanz hatte er eingerollt, als er sie jetzt mit großen grünen Augen ansah.

Pia erwiderte den Blick und meinte leise: „Ich wollte, dass du glücklich bist. Ich hab’s wirklich versucht. Ich hoffe, du weißt das.“

Jake schloss die Augen, als wollte er sie damit zum Schweigen bringen.

Sie nahm die Tüte mit seinen Sachen in die eine und den Katzenkorb in die andere Hand. Langsam ging sie die Treppe hinunter und stellte Jake und die Sachen auf den Rücksitz ihres Autos.

Die Fahrt zu Jo dauerte nur ein paar Minuten. Sie parkte direkt vor dem Haus, und noch ehe sie aussteigen konnte, kam Jo auf die Veranda und eilte die Stufen herunter.

„Ich bin bereit“, rief sie Pia zu, als die aus dem Wagen stieg. „Es ist schon merkwürdig. Ich habe seit so langer Zeit keine Katze mehr gehabt, aber jetzt bin ich richtig aufgeregt.“

Jo öffnete die hintere Wagentür und nahm den Katzenkorb heraus. „Hallo, mein Hübscher. Na, schau dich einer an. Was bist du denn für ein kleiner Tiger?“

Jos gurrende Singsangstimme war genauso überraschend wie das, was sie sagte. Für eine Frau, die stolz darauf war, ihre Kneipe mit einer Mischung aus strikten Regeln und nicht gerade subtilen Einschüchterungen zu betreiben, war Jos niedliche Babysprache beunruhigend.

Pia schüttelte verwundert den Kopf, nahm die Tüte und folgte ihrer Freundin ins Haus.

Jo war vor gut drei Jahren nach Fool’s Gold gezogen und hatte die bis dahin schlecht gehende Kneipe gekauft. Sie hatte den Laden in einen sicheren Hafen für Frauen verwandelt. Es gab dort köstliche Cocktails und Drinks, große Fernsehgeräte, auf denen nicht Sport-, sondern Shoppingsendungen und Reality Shows liefen, und Snacks, die frau auch ohne schlechtes Gewissen essen konnte. Männer waren willkommen, solange sie ihren Platz kannten.

Jo war groß, hübsch, durchtrainiert und unverheiratet. Pia schätzte sie auf Mitte dreißig. Bislang hatte man Jo weder mit einem Mann gesehen noch von einem aus ihrer Vergangenheit gehört. Den Gerüchten nach war sie entweder eine Mafiaprinzessin oder eine Frau auf der Flucht vor einem gewalttätigen Freund. Pia wusste lediglich, dass Jo hinter der Bar eine Waffe liegen hatte und dass sie so aussah, als wüsste sie genau, wie man damit umgeht.

Pia trat ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Es war ein älteres Haus, um 1920 herum gebaut, mit viel Holz und einem großen Kamin. Sämtliche Türen, die vom Wohnzimmer abgingen, waren geschlossen, und ein Laken sperrte die Treppe ab.

„Anfangs gebe ich ihm nur wenig Raum“, erklärte Jo, als sie durchging zur Küche. „Das Laken wird ihn nicht lange aufhalten, aber während der nächsten Stunden bleibt er so erst mal hier im Erdgeschoss.“

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