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Wer zweimal stirbt, ist trotzdem tot

Als Buch hier erhältlich:

Der Wald ist kalt, morsch der Baum – Walli ermittelt, denn der Jäger hängt tot überm Zaun

Polizeioberkommissar Wolfi Schimmel könnte sich besseres vorstellen, als den Babysitter für seine Mama zu spielen, weil diese, bei einem waghalsigen Manöver von der Leiter gestürzt ist. Und dann ereilt ihn plötzlich auch noch ein Notruf, im Wald wurde eine Leiche gefunden. Da hilft alles nichts, seine Mama Walli muss mit. Den Lerpscher Georg hats erwischt – tot hängt der Jäger unter seinem Hochsitz. Doch wie konnte das passieren? Walli ahnt gleich, hier stimmt was nicht. Der Spürsinn der Hobbydetektivin ist geweckt. Wenn der Wolfi doch bloß nicht so sehr mit seinen Infos geizen würde …


  • Erscheinungstag: 28.06.2022
  • Aus der Serie: Ein Allgäu Krimi
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903580

Leseprobe

Für Zoe

1
INDIANEREHRENMORD

»Auaaaaa, jetzt pass halt auf!«, schrei ich und weiß gar nicht, wo ich an meinen schmerzenden Körper zuerst hinlangen soll, als der Wolfi erneut ein Schlagloch überfährt und ich dabei hart mit dem Kopf gegen die Deckenverkleidung seiner Uraltschüssel knalle.

»Sorry, Mama. Ab jetzt pass ich auf!«, kommt es nur knapp von dem dilettantischen Fahrer, den ich meinen Sohn nennen muss.

Wir kommen gerade vom Arzt. Nicht von unserem Dorfdoktor, dem Brandl aus Burglbach, nein, denn der weilt derweil, wie ich am Aushang seiner Praxistüre entnommen habe, ganze drei Wochen in der Karibik und lässt sich die Sonne auf seinen Allerwertesten scheinen. Wir waren im nahe gelegenen Kempten bei irgendeinem unhöflichen Quacksalber, den ich namentlich hier nicht nennen möchte. Dieser unsympathische Möchtegern-Mediziner hat mir innerhalb seiner gefühlt nur zwanzig Sekunden dauernden Untersuchung eine astreine Gehirnerschütterung diagnostiziert. »Drei Tage strikte Bettruhe und zwei Wochen keine körperliche Anstrengung und nächstes Mal lassen Sie Ihren Sohn das Windspiel im Garten aufhängen. Eine Frau in Ihrem Alter sollte keine Leitern mehr hochkraxeln!«, hat er genuschelt, während er uns mit seiner hektischen Art aus dem Behandlungszimmer geschoben hat. Spinnt der? Ich bin gerade mal Anfang sechzig und fit wie ein Turnschuh. Wäre es mir nicht so elend, würde ich diesem überheblichen Futzi mal anständig die Meinung geigen.

Auf dem Weg zurück nach Burglbach ist mir immer noch speiübel, obwohl ich mich schon, sehr zum Leidwesen vom Wolfi, auf der Hinfahrt zur Arztpraxis in die Seitenverkleidung seines BMWs übergeben musste.

»Jetzt fahr ich dich erst einmal heim, und dann ruhst du dich erst a mal richtig aus, Mama«, meint der Wolfi rücksichtsvoll und steuert seine Schüssel am Ortsschild von Burglbach vorbei, als plötzlich sein Diensthandy bimmelt.

»Ah, der Freirer is es. Dann sag ich ihm gleich, dass ich mir heute für den Rest des Tages freinehme, Mama«, flötet mein Sohnemann. Mit einem lässigen »Servus, Freirer. Du, ich komm heute nicht mehr. Meine Mama hatte einen S08!«, geht der Wolfi ans Telefon.

Wovon redet mein Sohn, frage ich mich und höre, wie er kurz darauf scharf die Luft einzieht. »Was meinst? Wir haben eine 107!«, brüllt der Wolfi aufgeregt in den Hörer. »Wo? Im Burglwald sagst du. Freilich, ich komm sofort. Gib mir zehn Minuten. Servus«, ruft er und hängt ohne ein weiteres Wort ein.

»Was ist los?«, frage ich, doch der Wolfi scheint mich gar nicht wahrzunehmen. »Sind wir hier jetzt in einer Quizshow oder was? Warum zum Teufel bin ich ein S08, und was ist bitte schön eine 107?«, rufe ich leicht benebelt vom Rücksitz hervor, doch auch diese Frage bleibt unbeantwortet, als mein Sohn unerwartet eine Vollbremsung reinhaut. Da ich nicht vorschriftsmäßig angeschnallt bin – was im Übrigen mittlerweile liegend gar nicht möglich ist –, reißt es mich auf dem Rücksitz erst ruckartig nach hinten, und als das Auto zum Stehen kommt, wieder nach vorn, und ich rolle mit voller Wucht in den Fußraum, wo ich liegen beziehungsweise stecken bleibe.

»Auaaaahhh, zefix, Wolfgang!«, quietsche ich und greife nach meinem wummernden Schädel.

»Mama, oweia. Jetzt hab ich dich ganz vergessen. Ich muss dringend zu einer 107 – ähm, ich mein zu einer Leiche.« »Leiche? Was, welche Leiche?«, frage ich aufgeregt und glaube, mich verhört zu haben.

»Am besten, ich liefer dich schnell bei der Friedl ab, das liegt doch quasi auf dem Weg«, sagt er mehr zu sich selbst und drückt aufs Gas. »Sobald ich fertig bin, hol ich dich da wieder ab, ja?«

Ein Toter im Wald, habe ich das richtig verstanden, frage ich mich und meine Benommenheit von eben ist Schnee von gestern. »Die Fiedl is niet da«, rufe ich aus meiner Grube heraus. »Die is bit Moragan nog in Dussendoof, äh Dusseldoof, nei Düsseldorf«, meine ich und stelle fest, dass meine Zunge beim Sprechen komische Verrenkungen macht. Was ist denn bloß los mit mir? Die Worte purzeln wie Buchstabensalat aus mir heraus. »Du nimmt mig mit! Ik kann nigt alleine bleiben, hat de Dokotor gesahgt«, schnalze ich hervor.

Der Wolfi dreht sich herum und haut erneut eine Vollbremsung rein, als er mich in meinem Elend liegen sieht. Wie der Blitz ist er aus dem Auto raus und reißt die hintere Tür auf. Durch den Ruck sack ich gleich noch ein bisschen tiefer in den Fußraum. Der Sauesel zieht und zerrt an mir, es ratscht, und meine bis dato nur mit Kotze besudelte Bluse ist endgültig dahin. Nur fürs Protokoll, in meiner Mega-ends-fashionvictim-de-luxe-Bluse klafft nun ein mindestens zwanzig Zentimeter langer Riss. Ich schnaube wie ein wild gewordenes Happy Hippo und muss mich richtig anstrengen, nicht gleich zu explodieren. »Dad Ding wird du asessen«, schimpfe ich, schließlich war die Bluse ein absolutes Einzelstück, wie meine Lieblingsverkäuferin, die nette Eva, mir anvertraut hatte. Untröstlich gebe ich mich meinem Leid hin. Natürlich geht es hier nicht nur um den Verlust meiner wunderbaren Bluse, nein, auch mein Schädel wurde heute bereits zum zweiten Mal stark in Mitleidenschaft gezogen. Er hämmert und dröhnt so arg, dass mir fast die Rübe platzt. Als der Wolfi mich endlich losbekommt, hievt er mich zurück auf die Rückbank. Diesmal schnallt er mich höchstpersönlich an und tätschelt mir die Stirn. »Hör zu, Mama! Ich nehme dich jetzt mit, weil ich nicht weiß, wo ich dich sonst hinbringen soll. Egal was passiert, du bleibst im Streifenwagen sitzen und wartest, bis ich zurück bin, gell?!«, sagt er und fixiert mich mit einem eindringlichen Blick.

»Okay! Mag ik. Indianerehrenmord, ähm – wort«, gebe ich zurück, hebe erschöpft meine Linke und kreuze heimlich die Finger meiner Rechten hinter meinem Rücken, so wie wir als Kinder es immer gemacht haben, um ein Ehrenwort zu umgehen.

Mit einem besorgten Blick tätschelt er mir die Wange, schwingt sich zurück hinters Lenkrad und setzt seine Fahrt fort. Keiner von uns sagt etwas, selbst das blecherne Radio, das noch aus der Steinzeit stammt, hat ausgekrächzt. Drei Kilometer hinter Burglbach biegen wir auf einen geschotterten Waldweg. Ein Beamter in neongelber Warnweste winkt uns hektisch die Richtung, und der alte BMW heult auf, als wir über den unbefestigten Weg und durch die Tannenallee holpern. Ich heule auch gleich, denke ich mir und halte meinen lädierten Schädel fest zwischen beide Hände gestützt. Mir ist erneut speiübel, und ich versuche vehement, dem Drang nach Erleichterung nicht nachzugeben. Die Rüttelkiste kämpft sich weiter über Stock und Stein, bis wir nach einer gefühlten Ewigkeit am Rand einer Lichtung endlich zum Stehen kommen. Abrupt würgt der Wolfi den Motor ab, und der BMW setzt zu einem letzten Zuckler an. Neugierig schaue ich aus dem Fenster, sehe zu meiner Überraschung aber nur verschwommene Umrisse. Ist die Scheibe so dreckig oder was, frage ich mich und wische mit dem Ärmel am Glas herum. Als ich bemerke, dass die schlechte Sicht von meinen Augen herrührt, versuche ich, meinen Blick scharf zu stellen, was mir aber nur ansatzweise gelingt.

»Du bleibst im Wagen, Mama! Wenn was ist, hup einfach. Okay?«, weist der Wolfi mich an und steigt aus seiner Karre. Als die Autotür zuknallt, spähe ich aus dem Wagen. Mehrere Personen in Uniform stehen mit dem Rücken zu mir in einem Halbkreis und begutachten irgendwas, das ich, verflucht noch mal, nicht sehen kann. Ich lehne mich erschöpft zurück und schließe meine brennenden Augen. Wer ist der 107? Also der oder die Tote, von dem der Wolfi am Telefon gesprochen hat, und warum stehen die ganzen Beamten wie Falschgeld herum und sehen so aus, als wüssten sie nicht, was zu tun ist, frage ich mich und versuche verzweifelt, meine Sinne zu bündeln, um den Schwindel in meinem Hirn endlich loszuwerden.

Als ich erneut aus dem Fenster schiele, sehe ich, wie sich die Gruppe teilt, als der Wolfi dazustößt. Einen kurzen Blick kann ich auf das erhaschen, worauf wohl alle Herumstehenden blicken. Okay, also ich habe etwas gesehen. Was es aber war, konnte ich dummerweise nicht erkennen, zu verschwommen war dieses komische Gebilde in einiger Entfernung. Die Gruppe schließt sich erneut, und jeder weitere Blick bleibt mir verwehrt. So ein Mist aber auch. Da hat man schon mal eine Leiche vor der Linse, und ich bin dermaßen lädiert, dass ich nur unscharfe Umrisse erkennen kann, ärgere ich mich. Apropos Linse, schießt es mir ins Hirn, vielleicht spielen mir meine Augen im Moment einen Streich, aber auf den Kopf gefallen bin ich noch lange nicht. Okay, das stimmt jetzt nicht ganz, denn vor gut zwei Stunden bin ich im wahrsten Sinne des Wortes auf den Schädel geflogen, aber meiner Kreativität tut das jedenfalls keinen Abbruch. Ich kruschtle in meiner Handtasche nach meinem Smartphone. Eins, zwei, drei – nach einem kurzen Moment und einem gekonnten Entsperrmanöver habe ich das Handy gezückt und halte mit der Kamera auf die Rücken der herumstehenden Männer in Uniform. Sobald sie beiseitegehen, drücke ich ab, so jedenfalls lautet mein Plan. Nur leider bewegt sich kein einziger dieser rumstehenden Schnarchzapfen auch nur einen einzigen Millimeter. Ich warte und warte, gespannt wie ein Flitzebogen mit der Linse im Anschlag, darauf, dass sich endlich die Gruppe teilt, so wie bei Moses das Meer, doch es passiert minutenlang rein gar nichts. Langsam fangen auch schon die Scheiben der alten Knatterkiste an zu beschlagen, oder ist das ein weiterer Schleier, der sich über mein Sehvermögen legt? Kein Wunder, dass sich der deutsche Steuerzahler über die immensen Kosten des Polizeiapparats ärgert. Die stehen herum und tun rein gar nix, maule ich vor mich hin. Plötzlich habe ich eine Idee, wie ich der Wand aus Polizeibeamten auf die Sprünge helfe.

Immer noch leicht desorientiert greife ich nach vorn und meinem Ziel, der Hupe, entgegen. Leider verfehle ich das Lenkrad um ein paar Zentimeter und ratsche am nostalgischen Kassettenradio meines Sohnes entlang. Das Ding springt sofort an, und Helene Fischer jault in ohrenbetäubender Lautstärke ihr Atemlos durch die Lautsprecher von anno 1970. Hastig versuche ich, die Schlagertante abzuwürgen. Aber da ich nur unscharfe Umrisse erkenne, drehe und drücke ich an jedem nur greifbaren Knopf. Unerwartet rattert jetzt auch noch der Scheibenwischer an und ruckelt lautstark über die furztrockene Windschutzscheibe. So ein Mist, verdammter, schimpfe ich und bekomme endlich das speckige Lederlenkrad zu fassen. Die Queen of Schlager hat endlich ausgetrötet, doch die Kassette läuft einfach weiter. Highway to Hell dröhnt es jetzt metallisch krachend aus den Lautsprechern. Mir schwirrt die Rübe, denn der Bass lässt das ganze Auto vibrieren und die Scheiben klirren. Endlich. Fast blind ertaste ich die Hupe mitten auf dem Lenkrad des alten BMWs und drücke beherzt zu. Die Hupe hallt lautstark und mit einem langen Echo durch den Wald. Erschöpft lasse ich mich auf den Rücksitz plumpsen und zücke meine Handykamera. Wie erwartet teilt sich die unscharfe Menschenmasse vor mir, und ich halte mit dem Handy drauf. Serienbild, klick, klick, klick! Fünfzehn Bilder in der Sekunde, hat mir der Verkaufsberater im Laden stolz erklärt. Bingo, da hat sich die Neuanschaffung mit der pinken Glitzerhülle doch gelohnt. Schnell packe ich mein Handy zurück in die Tasche, als ich sehe, wie ein unscharfer Umriss energisch auf das Auto zugestürmt kommt. Die Autotür wird aufgerissen und der »Highway to Hell« ist plötzlich ganz nah.

»Was ist los, Mama?«, brüllt der Wolfi und schaltet das dröhnende Radio ab.

Himmelherrgott, jetzt muss ich mir aber schleunigst eine Eins-a-Ausrede einfallen lassen. Oscarverdächtig verdrehe ich die Augen, taste orientierungslos nach dem Arm meines Sohnes, lasse meine Augenlider wild von oben nach unten flattern und täusche einen astreinen Schwächeanfall vor.

»Um Himmels willen! Mama! Mama, was ist los?«, schluchzt der Wolfi entsetzt und schaut verzweifelt umher.

Jetzt beginne ich auch noch mit dem ganzen Körper zu zucken. Na gut, für meinen Geschmack schon ein bisschen viel des Guten, aber man muss ja schließlich auch etwas bieten, oder etwa nicht? Der Wolfi scheint mir mein theatralisches Theaterstück jedenfalls abzukaufen, denn er schreit erneut hysterisch nach Hilfe. Ehrlich gesagt wird mir von diesem ganzen Gezappel und Gestöhne, das ich hier gerade veranstalte, noch flauer in der Magengegend. Aber da muss ich jetzt durch.

»Wasser! Luft!«, japse ich abwechselnd und siehe da, zwei weitere Polizeibeamte eilen herbei und ziehen mich behutsam aus dem Wagen. Zugleich taucht ein weiterer Mann in seinem weißen Strampelanzug auf und geleitet mich zu dem Wagen der Spurensicherung. Auf der Ladefläche des weißen Sprinters darf ich Platz nehmen. Bevor ich mich umsehen kann, um einen weiteren Blick auf den 107 zu erhaschen, wird mir auch schon ein Plastikbecher, der mich irgendwie an die Urinabgabe beim Arzt erinnert, vom Freirer Harald, dem Kollegen und Partner meines Sohnes, unter die Nase gehalten.

»So Walli, jetzt trinkst erst a mal was und beruhigst dich wieder.«

»Was ist denn nur los, Mama? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«, fragt der Wolfi besorgt und quetscht sich neben mich auf die Ladefläche. Ganz behutsam streichelt er mir über den Rücken, und mich überkommt fast, aber wirklich nur fast, der Hauch eines schlechten Gewissens, ihm hier so einen Bären aufzubinden.

Ich räuspere mich mehrmals und flüstere mit gebrochener Stimme, dass es mir bereits besser geht. Als ich von meinem Becher aufsehe, blicke ich in vier besorgte Augenpaare und ergreife die Gunst der Stunde. »Wer ist denn der Tote?«, will ich mit Unschuldsmiene und so beiläufig wie möglich klingend wissen.

Der Freirer Harald legt verdutzt seine Stirn in Falten und bricht anschließend in schallendes Gelächter aus. Die beiden anderen Beamten mustern mich verwundert und schauen zum Wolfi herüber.

»Mamaaa, das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein?«, brüllt mein Sohnemann empört und funkelt mich böse an. Mist verdammter, wie konnte er mich nur so schnell durchschauen, denke ich mir und schaue dem Wolfi nach, der kopfschüttelnd und fluchend die Ladefläche des Spusiwagens verlässt.

»Walli, du bist echt eine Marke«, grinst der Freirer und schüttelt dabei kichernd den Kopf. »Wen’s hier derwischt hat, darf ich dir natürlich nicht sagen. Dienstgeheimnis, weißt doch, und das gilt natürlich gerade auch vor Hobby-Mrs-Marples wie dir. Aber wenn ich dir einen Tipp geben darf, spätestens morgen früh wirst es eh aus der Zeitung erfahren. Da schau!«, sagt er und zeigt mit dem Finger Richtung Waldrand. »Da hinten am Absperrband seh ich schon die Sensationsschreiberlinge von der Zeitung stehen!«

Als ich aufschaue und seiner Hand nachblicke, sehe ich zum Glück schon deutlich schärfer. Drei mit Fotoapparat bewaffnete Personen, die sich ungeduldig an der Polizeiabsperrung drängeln, glotzen zu uns herüber, und ich erkenne ad hoc, dass die eine Rothaarige viel zu viel Haarspray benutzt. Vielleicht sollte ich ihr eine Typberatung anbieten, überlege ich kurz, besinne mich dann aber wieder aufs Wesentliche. »Der Wolfi ist sauer, gell?«, sage ich bedrückt, greife nach dem Freirer Harald seiner Hand und tätschele diese ganz sanft. »Legst für mich ein gutes Wort ein, Harald?«, frage ich und schenke dem Kollegen meines Sohnes den treudoofsten Blick, den mein Repertoire zu bieten hat.

»Eh klar Walli, für dich mach ich doch fast alles!«, gluckst er, zwinkert mir verschwörerisch zu und hebt die Hand zum Gruß, bevor er wieder verschwindet.

Als ich irgendwie geläutert und etwas wackelig auf den Beinen zum Dienstwagen zurücktrotte, kommt der Wolfi erneut auf mich zu. »Soll ich mir ein Taxi rufen?«, frage ich, bevor er etwas sagen kann.

»Nein! Ich bin hier erst einmal fertig. Die Spurensicherung kümmert sich um den Rest. Ich bringe dich jetzt heim und fahr dann später noch mal aufs Präsidium.«

Bevor der Wolfi sein Schlachtschiff wendet, komm ich doch noch auf meine Kosten. Zwei Männer im weißen Strampelanzug hieven eine grün gekleidete Person auf eine Transportbahre. Sehe ich schlecht, oder steckt der Leiche da wirklich ein riesiger Pfahl im Leib? Ich reibe mir kurz die Äuglein, um einen klareren Blick zu erhaschen, da wird aber schon ein großer Sack über den Toten gestülpt, und ich bin mir nicht sicher, ob meine Sehnerven mir gerade einen weiteren Streich gespielt haben. Erschöpft bin ich. Fix und fertig, um genau zu sein. Wenigstens bin ich der deutschen Sprache wieder versprecherfrei mächtig, freue ich mich und lehne mich entspannt zurück. Diesmal wirkt das Geholpere durch den Wald irgendwie ermüdend, und ich nicke, ohne es zu merken, einfach weg.

2
GEFENCHELTES WASSER

»Adalbert!«

»Walli, meine Schönheit!«

»Adalbert, da bist du ja endlich wieder. Ich hab dich schon so vermisst«, gluckse ich, und als wäre er nur für fünf Minuten weg gewesen, schließe ich meinen Mann in die Arme. Der Wind bläst und lässt meine Wallawalla-Mähne wehen, als würde ein Schwarm Schmetterlinge um mich herumwirbeln, und das bunte Sommerkleid fällt leicht an mir herunter. Der Adalbert packt meine Hand, und wir rennen los. Gemeinsam über den Sandstrand der Côte d’Azur und der Abendsonne entgegen. Die Wellen spülen feine Kiesel ans Ufer, und wir patschen mit unseren nackten Füßen durch die aufkommende Gischt. Das Wasser spritzt uns bis zu den Waden, und wir lachen und japsen, was das Zeug hält. Glücklich sind wir beide. Gerade erst ein paar Monate verheiratet. Mein kugelrunder Bauch, in dem der kleine Wolfi heranwächst, wird immer größer. Trotz meiner Walfischausmaße fühle ich mich pudelwohl und genieße die Zeit mit meinem Mann. Der Sonnenuntergang am Horizont lässt mich blinzeln, und die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages kitzeln mein Gesicht. Ach, wie schön es hier ist, denke ich zufrieden und vergrabe meine Füße in dem aufgeheizten Sand. »Das Leben könnte nicht schöner sein«, rufe ich, und der Adalbert wirbelt mich fröhlich herum.

Als er plötzlich anfängt »Mammaa« zu schreien, worüber ich mich mehr als wundere, stürzt alles in sich zusammen, und während der Adalbert sich in Nebel auflöst, wache ich auf.

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»Mamaaa!«, höre ich erneut eine eindringliche Stimme rufen. »Mensch, Mama! Wach auf!«

Verwirrt öffne ich meine Glotzer und erkenne meinen Sohnemann. »Wo ist denn der Papa?«, will ich verdattert wissen.

»Mei, Mama!«, sagt der Wolfi mitleidig und streichelt mir behutsam den Arm. »Der Papa ist doch schon lange tot!«

Der Adalbert ist tot? Mein Ehemann ist tot! Richtig, das stimmt. Die Realität holt mich schlagartig, ohne Vorwarnung ein und lässt mich schwermütig werden. Ich vermisse ihn, meinen lieben Ehemann. Gott hab ihn selig da oben beim Herrn, denke ich mir und bin ganz traurig.

»Wir sind da, Mama!«, sagt der Wolfi leise und parkt den Wagen direkt vor der Tür unserer Villa Kunterbunt. Wie einige schon wissen, leben wir in sehr zentraler Lage von Burglbach. Also, um genau zu sein, mitten auf dem Dorfplatz.

Wie das kam? Na ja, also unser, wohlgemerkt, Ex-Bürgermeister von Burglbach, der Dopfer Willi, wollte sich damals ein Denkmal bauen. Etwas Einmaliges, noch nie Dagewesenes sollte es für den größenwahnsinnigen Häuptling sein. Großstadtflair sollte in das beschauliche Burglbach einziehen und die Attraktion im ganzen Landkreis werden. Dazu war der Dopfer Willi bereit, einmal so richtig auf die Kacke zu hauen. Klotzen statt kleckern war seine Devise, und so hat er die, in Anführungszeichen »dörfische Kreditkarte« von Burglbach im wahrsten Sinne des Wortes einmal so richtig glühen lassen. »Der Steuertopf ist voll! Die Kommune bekommt Zuschläge vom Land Bayern! Das Geld muss ausgegeben werden!«, hat er bei der Bürgerversammlung im hiesigen Gasthof trotz des vehementen Protestes der Burglbacher Gemeinde stolz propagiert und kurzerhand unter Missachtung jeglichen Widerstands den Adalbert, meinen Ehemann und seinen alten Freund aus Schultagen, beauftragt, ein neues Dorfgemeindezentrum mit allem Schnickschnack zu bauen. In Burglbach wohlgemerkt, einer kleinen Gemeinde im Allgäu, also sprichwörtlich am Rand vom Nirgendwo. Die dreitausendvierzig Burglbacher Seelen brauchten unbedingt einen hypermodernen, umweltfreundlichen und energieeffizienten Prunkbau. Ein architektonisches Meisterwerk. Quasi biologisch abbaubar, wenn man so will. Ja, genau so hat er unser heutiges Heim und das von der Burglbacher Dorfgemeinde so verschmähte Bauwerk angepriesen. Für meinen Adalbert, einen Meister der Architektur, der Großprojekte auf der ganzen Welt plante und für seine architektonischen Glanzstücke gefeiert wurde, war plötzlich nur noch Spott und Hohn übrig. Das hat ihm letztendlich das Herz gebrochen, davon bin ich überzeugt. Kurz nach Fertigstellung des neuen Dorfgemeindezentrums gab es eine riesige Einweihungsfeier, die mit Buhrufen, faulen Eiern und einer Protestwelle der Burglbacher Bagage endete. Danach erlitt der Adalbert einen Hirnschlag und verstarb urplötzlich. Gut, sind wir mal ehrlich, dieser bunt schimmernde Protzbau hätte tatsächlich besser in einen Bollywoodstreifen gepasst, aber der Dopfer Willi wollte schließlich auch etwas Außergewöhnliches. Etwas Exorbitantes, und das hatte er augenscheinlich auch bekommen und eine Amtsenthebung gleich dazu. Böse Zungen behaupten ja, er wurde buchstäblich zum Teufel gejagt.

Nun gut, die Geschichte ist hier längst nicht zu Ende. Die Burglbacher Dorftrottel haben sich dann zusammengetan und zu Demonstrationen aufgerufen. Mei, da war was los hier im Dorf. Sogar ein Kamerateam aus Südamerika war am Start, um live von der Burglbacher-anti-Dorfgemeindezentrum-Demo zu berichten. Schlussendlich und nach einigem Hin und Her wurde das Rathaus in den alten leer stehenden Landgasthof am Rand von Burglbach verlegt und der bunte Prachtbau inmitten des Dorfplatzes zum Verkauf angeboten, um Geld in die gähnend leeren Kassen von Burglbach zu spülen. Natürlich habe ich dann nicht lange gefackelt, Haus und Hof in München verkauft und bin, nach über vierzig Jahren, in das elendige Dorf, in dem ich einst geboren wurde, zurückgekehrt. Niemals hätte ich es ertragen können, wenn irgendjemand das finale Meisterwerk meines verstorbenen Gatten gekauft, umgebaut oder eventuell sogar noch abgerissen hätte. Dank der großzügigen Hinterlassenschaften meines Mannes muss ich mir ums Finanzielle wenigstens keine Sorgen machen. Der Adalbert hatte schon lange vor seinem Tod in Aktien und Immobilien investiert, die mir nun meinen privilegierten Ruhestand sichern. Und einen positiven Nebeneffekt hatte der Umzug nach Burglbach auch, muss ich gestehen. Ich spare monatlich nun einen ganzen Batzen Geld, weil es schlichtweg nicht mal die Möglichkeit gibt, seine Kohle hier am Rand vom Nirgendwo überhaupt los zu werden. Außer Jaquelines Friseursalon, dem Apostlwirt und dem Bäcker Biggl gibt’s hier halt auch so gut wie nix, wo ich meine Kreditkarte überhaupt zum Glühen bringen könnte. In meinem geliebten München mit seinen unzähligen exklusiven Boutiquen bin ich nur noch selten, und Kempten ist eben auch nicht gerade das, was man mit meinem Sinn für Mode als ein Shoppingmekka bezeichnen würde. Ab und zu, wenn der Postbote schon ein paar Tage nicht mehr vorbeigeschaut hat, kommt es dann schon mal vor, dass ich schwach werde. Alle Bemühungen, daran vorbeizuzappen, scheitern meistens kläglich, und so gebe ich mich dem Teleshopping dann doch hin. Der Wille war stark, aber das Fleisch zu schwach. Eine nanotechnik-versiegelte Panzerschutzhülle für mein Telefon oder ein mit Blattgold verzierter Klopömpel, wer kann denn so etwas nicht gebrauchen? Nichtsdestotrotz bleibt am Monatsende viel mehr übrig, als ich überhaupt ausgeben kann, und so habe ich meinen Vermögensverwalter schon vor einer Weile angewiesen, den monatlichen Spendenbetrag noch mal kräftig anzuheben, um noch mehr karitative Organisationen rund ums Allgäu zu unterstützen. Dem Adalbert und mein Motto war schon immer: Tu anderen etwas Gutes, dann kommt auch Gutes zu dir zurück, und daran glaube ich bis heute.

Da war ich nun, also in Burglbach, und dass der Wolfi nur ein paar Monate vorher in die Polizeiinspektion nach Kempten versetzt wurde, kam mir daher dann auch sehr gelegen. Für mich allein wäre der vierstöckige, rundum verglaste Bau einfach zu groß gewesen. Seitdem führen wir eine MSG, also eine Mutter-Sohn-Gemeinschaft, und dabei kann es, wenn es nach mir geht, auch gerne bleiben. Eine etwaige Schwiegertochter kommt mir jedenfalls sicher nicht ins Haus.

Der Wolfi schließt kurzerhand die Türe auf, geleitet mich ins Wohnzimmer und bugsiert mich gekonnt aufs Kanapee. Ich bin wirklich erschöpft, der Sturz von der Leiter im Garten heute Morgen hat mir ganz schön zugesetzt. Er richtet noch schnell die Kissen und so lehne ich mich entspannt nach hinten. Mein Schädel brummt und das flaue Gefühl in meinem Magen lässt auch nicht nach. Eigentlich ja klar, nach dem Intervallgekotze im Dienstwagen meines Sohnes bin ich ja völlig leer. Die Wüste Gobi quasi in meinem Wanst.

Der Wolfi hantiert in der Küche herum, und ich höre den Wasserkocher sprudeln. Nach zwei Minuten steht sie vor mir, die wunderschöne Tasse mit den kunstvoll geschwungenen Engelsflügelhenkeln, die ich erst vor Kurzem beim Teleshopping zu einem Schleuderpreis, man darf es kaum verraten, ergattert habe. Vorsichtig reicht mir mein Sohnemann die dampfende Tasse, aus der mein laktoseFreirer Cappuccino mit Milchschaumberg doch gleich doppelt so gut schmeckt. Behutsam setze ich das feine Porzellan an meinen Mund und koste. »Bähhh! Pfui Teufel! Willst du mich vergiften?« Der pure Ekel reißt mich förmlich von der Couch. »Was ist denn das für eine Plörre?«, schimpfe ich den Wolfi wie ein dreijähriges Kind, das heimlich aus dem Sandkasten genascht hat.

»Das ist Tee! Für deinen Magen, Mama«, meint er empört und stemmt beleidigt die Hände in die Hüften.

»An meinen Magen lasse ich nur laktosefreien Cappuccino, Brezen vom Biggl und Kuhfladenschoki«, gebe ich schlagfertig zurück und setze das widerliche Gebräu in dem so wundervoll verzierten Porzellanbecher zurück auf den Untersetzer. »Fenchel«, lese ich angeekelt auf dem Etikett, das am Rand der Tasse schmoddrig-nass herunterbaumelt. »Ekelhaft! Wo hast du denn den bloß her?«, frage ich den Wolfi, der hektisch an seinem Handy rumtippt. In meinem Haushalt gibt es doch gar keinen Tee.

»Mama, ich muss jetzt zurück auf die Wache. Zu der Leiche gibt es noch einen Haufen offene Fragen«, sagt er hastig und ist schon halb aus der Türe draußen. »Gute Besserung, Mama! Rufst fei an, wenn was ist. Schon dich a bissle. Bis später«, höre ich ihn noch eilig rufen, dann fällt die Tür ins Schloss und ein Stechen fährt durch meinen Schädel.

Ja Sakradi, wie konnte ich das denn nur vergessen? Ich falle förmlich aus allen Wolken. Nach meinem kleinen Knock-out auf der Heimfahrt in Wolfis Karre habe ich doch tatsächlich den Toten vergessen, den ich ja genau genommen leider gar nicht gesehen habe. Die Selbstzweifel über meine kleinen grauen Zellen schiebe ich sogleich weit weg, als mir einfällt, dass ich mit meiner Smartphonecam heimlich ein paar Fotos geschossen habe. »Strike!«, entfährt es mir laut, als ich eilig nach meinem Handy grapsche, das der Wolfi für den Notfall neben das Bisiwasser auf den Tisch platziert hat. Gespannt wie ein Flitzebogen gebe ich meinen Pincode auf dem Display ein und »Tadaa!« … Mist, ich muss mich vertippt haben. Let’s try again. Ich atme tief ein und gebe meinen idiotensicheren Pin noch einmal ein. 0000. Die Zahlen schwirren aber auf dem Display hin und her – wie soll man da zielsicher treffen, frage ich mich, und der zweite Versuch schlägt ebenfalls fehl. Ich schließe ein Auge, visiere den Bildschirm an und versuche es erneut, die Kombination fehlerfrei einzutippen. Drücke Enter und …? – Himmel Herrgott, Herrschaftszeiten. Schon wieder falsch. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ein letzter Versuch bleibt mir noch, bevor mein Handy gesperrt wird und sich nur noch durch den PUK-Code entschlüsseln lässt. Nachdem ich nicht allzu ordentlich mit dem Abheften und Sortieren wichtiger Unterlagen bin, wäre das ein weiteres Desaster. Ich lehne mich zurück, halte das Telefon fest an meine Brust gedrückt, schließe die Augen und schicke ein Stoßgebet gen Himmel. Wenn nix mehr geht, hilft mir der Adalbert. Mehr als einmal habe ich beim Beten zum lieben Herrgott schon aufs falsche Pferd gesetzt, denn der Allmächtige hatte meine Bitten schon des Öfteren ignoriert, was ziemlich unerhört ist. Ich atme noch einmal tief durch und erinnere mich an dem Chapa Naca sein »Drei Wege zur völligen Entspannung«-Mantra. Ich zische die Luft in drei kurz nacheinander folgenden Stößen laut aus. Ziehe daraufhin die Luft wie eine wiehernde Ziege wieder scharf ein – was sich meiner Meinung nach ziemlich befremdlich anhört, aber was solls –, halte dem Druck in meinen Atemwegen für ein paar Sekunden stand und lasse dann meinen Unterkiefer locker auf die Brust fallen und presse die Luft intervallartig mit einem gurgelndem Ton heraus. Das Ganze wiederhole ich drei Mal. Anscheinend habe ich es mit der Entspannungstechnik etwas übertrieben, denn plötzlich wird alles dunkel, und mir geht buchstäblich das Licht aus.

Als ich nach einer Weile wieder zu mir komme, durchfährt mich ein stechender Kopfschmerz. Zusammengesunken kauere ich auf dem Kanapee und halte immer noch krampfhaft mein Telefon fest. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich wieder im Hier und Jetzt angekommen bin, und ich starte den letzten mir verbleibenden Versuch. Jetzt muss es klappen. Ich lasse mir Zeit und tippe bedächtig den Pin, Zahl für Zahl, unter höchster Konzentration ein. Das Symbolschloss auf meinem Display öffnet sich wie von Zauberhand, und ich recke meine imaginäre Siegerfaust stolz wie Bolle in die Luft. »Du hast es doch noch drauf, Walli!«, lobe ich mich selbst und tippe gleich den Bilderordner an. Auf dem ersten und zweiten Foto sehe ich nur die unscharfen, siffigen Armaturen vom Wolfi seiner schäbigen 70er-Jahre-Kiste. Aber auf dem dritten Bild! Was ich da sehe, verschlägt mir buchstäblich die Sprache. Schlagartig stellen sich mir sämtliche Nackenhaare auf, und ein kalter, ekliger Schauer läuft mir den Buckel hinab. Da hängt auf einem dicken Holzpfahl der aufgespießte Körper eines toten Mannes. »Wie ein Balkan-Schaschlik«, flüstere ich schockiert vor mich hin und kann meinen Blick von diesem bizarren Anblick gar nicht mehr lösen. Fassungslos starre ich auf den dicken, blutigen Holzpfahl, der dem Toten schonungslos aus dem Bauch ragt. Obwohl ich überhaupt nix mit dem bigotten Gehabe meiner Mitdörfler anfangen kann, bedenke ich den Toten auf dem Bild reflexartig mit einem Kreuzzeichen. Aber Moment mal, wer ist denn der Tote, der da regungslos auf einem überdimensionalen Zahnstocher hängt, frage ich mich und zoome das Bild mit einem gekonnten Zweifingermanöver näher heran. Mist, der Blick auf den Schädel der Leiche wird mir von einem davorstehenden Beamten verwehrt. »Ja Himmelherrgott!«, schimpfe ich, als ich genauer hinsehe und nur die Heckansicht meines Sohnes erkenne. »Kruzifix!« Anstatt dem Haupt des Toten sehe ich lediglich den spärlich behaarten Schädel meines Sohnes. Ich scrolle das gezoomte Bild etwas nach links und schaue mir den Rest des Bildes ganz genau an. Zwei weitere Männer stehen am Bildrand und betrachten den Leichnam, der ausgestreckt und rücklings auf dem »Marterpfahl« hängt. Mir fällt auf, dass der Tote dunkelgrüne Kleidung trägt. Die khakifarbene Hose sowie die etwas dunklere Jacke in Tannengrün könnten auf einen Jäger oder Förster hinweisen. Etwas, das aussieht wie ein Fernglas, baumelt dem toten Körper seitlich vom Brustkorb, und im Hintergrund ist eine Holzleiter zu erkennen, die auf einen Hochstand führt. Unter Beachtung dieser Aspekte fallen mir eigentlich nur zwei Mannsbilder im Dorf ein, die diese Art geschmackloser Kleidung überhaupt tragen würden. Der Lerpscher Georg und der Bodo Wimmerl. Der eine Jäger, der andere Förster im hiesigen Burglbacher Waldterritorium am Rande vom Nirgendwo. Weiter komme ich nicht mit meinen Schlussfolgerungen, denn die Türglocke schellt in einem durch und reißt mich aus meinen Gedanken.

3
WENN DER FEIND GLEICH DREIMAL KLINGELT

»Jaja, ich komm doch schon!«, rufe ich genervt und trotte etwas wackelig der Haustür entgegen. Als ich die Klinke berühre, durchzuckt es mich, und da ahne ich bereits, dass mich dahinter nichts Gutes erwarten wird. Der Wolfi hat einen Schlüssel, die Friedl ist noch bis morgen zu Besuch bei ihrer Tochter in Düsseldorf, und meine neuen roten, onlinegeshoppten Wildlederstiefel sollen zu meinem Bedauern erst am Wochenende geliefert werden. Als ich öffne, steht, wie ich es bereits geahnt habe, das Grauen auf zwei Beinen oder auch Cilli Hanebichler genannt vor mir und tritt ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Ssssilly«, betone ich den dämlichen Namen meiner noch dämlicheren Nachbarin scharf und akzentuiere ihn extra mit einem weichen »S.« So, dass aus dem sonst mit »Z« ausgesprochenen Cilli das englische Wort Silly, was sehr passend »dämlich« bedeutet, entsteht. Da ist doch der Name Programm, denke ich böse und bin mir sicher, die Eltern ahnten bereits damals schon, was der liebe Gott ihnen da geschenkt hatte. Jeder, wie er es verdient, denke ich mir gehässig und bereue meinen Gedanken gleich wieder, denn meinen eigenen Namen Walburga kann ich auf den Tod nicht ausstehen. »Was kann ich für dich tun?«, frage ich das etwa einhundertachtundvierzig Zentimeter große Gräuel vor mir.

»Der Wolfi hat mich geschickt«, sagt sie sogleich und schiebt sich, bevor ich sie aufhalten kann, ungeniert an mir vorbei. Verdattert versuche ich sie gerade noch am Ärmel zu erwischen, aber zu spät.

»Sehr speziell hast du’s ja hier, Walli. Wow, ein Springbrunnen, mitten im Wohnzimmer, da schau an. Ich dachte ja, das wäre nur ein blödes Gerücht, aber …«, staunt sie, als sie sich ohne Hemmungen den Weg vom Eingangsbereich ins Wohnzimmer bahnt und sich neugierig umsieht. »Etwas zu groß für meinen Geschmack, aber gut … Wenn man sich’s leisten kann …«

»Silly, was willst du?«, unterbreche ich sie harsch und latsche ihr unweigerlich auf dem Absatz hinterher.

»Wie schon gesagt, der Wolfi hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Schließlich ist mit einer Gehirnerschütterung nicht zu spaßen. Also wie du da vom Baum abgesegelt bist. Ich hab ja schon gedacht, Heiland! – jetzt isch se hi! Aber wie sagt man so schön, Unkraut vergeht nicht«, schwadroniert sie spitz und lässt sich ungefragt auf dem Adalbert seinen alten Lieblingssessel fallen.

»Halt!«, brülle ich fassungslos und sogleich fährt es mir stechend in den Kopf. »Steh sofort auf. Weg da! Bist du verrückt?«, rufe ich panisch und ziehe sie von dem klobigen Lederstuhl. Seit dem Adalbert seinem Tod hat nie wieder jemand in dem cognacfarbenen Ohrensessel gesessen, den mein Mann über alles liebte. »Kann ich ja net wissen, dass das Ding hier nur zur Deko steht«, entschuldigt sie sich mürrisch und schaut mich verärgert an.

»Das ist keine Deko, das ist ein Andenken an meinen Adalbert«, schimpfe ich aufgeregt. »Und außerdem komme ich sehr gut alleine klar. Also wenn du jetzt bitte verschwindest«, sage ich, und ein weiterer Schwindelanfall durchfährt meinen Körper.

»Nix, ich bleib hier, das hab ich dem Wolfgang versprochen, bis er zurück ist! Strikte Ruhe, kein Teleshopping und kein Handy hat er ausdrücklich gesagt«, erklärt sie unnachgiebig und hockt sich einfach eins weiter. Diesmal auf den Zweisitzer mir gegenüber.

Genervt und erschöpft lass ich mich auf mein Kanapee sinken und gebe mich vorab geschlagen. Nicht aber, ohne den Wolfi in meinen Gedanken dafür zu verfluchen, mir dieses kratzbürstige Frauenzimmer auf den Hals gehetzt zu haben. Hätte er mir doch einfach die Friedl vorbeigeschickt, denke ich sauer, doch da fällt mir wieder ein, dass meine Freundin seit einer Weile im Preußenland hockt. Nicht ganz freiwillig ist sie da hingefahren, würde ich meinen, aber eine Mutter muss eben tun, was sie tun muss, und so hat die Friedl sich kurzerhand vor ein paar Tagen aufgemacht, um der flennenden Babette bei ihrem Liebeskummer beizustehen.

Hätte mich jemand gefragt, hätte ich der Braut bereits am Tag der Eheschließung sagen können, dass der kleine schleimige Panjabi Bakaah nicht die beste Wahl ist. Habe ich doch kurz nach dem Höhepunkt des dreitägigen Spektakels namens Hochzeit gesehen, wie der kleine elendige Lüstling seine Finger nicht von einer der hübschen Bollywoodtänzerinnen hinter der Bühne hat lassen können. Ich habe es ja versucht, wirklich. Aber als ich die Babette von der Untreue ihres frisch Vermählten unterrichten wollte, wurde ich kurz vorm Brautaltar von einem massiv pummeligen Onkel des Bräutigams zur Seite gerissen. »Du dalft nickt steckel deine deutsche Schäfelhundnase in flemdel Angelegelheit«, hat er mich in bestem Indisch-Deutsch unter Druck gesetzt. Stocksauer habe ich meinen Arm aus seinen Fängen befreit, kehrtgemacht und war fest entschlossen, der Braut zu einem späteren Zeitpunkt von meinen Beobachtungen backstage zu erzählen. Aber dieser gegelte Pitbull mit goldener Beißschiene hatte mich den ganzen Abend nicht mehr aus den Augen gelassen. Der Friedl konnte ich ebenfalls nicht berichten, dass ihr neuer Schwiegersohn, dieser widerliche Halodri im güldenen Glitzeranzug, noch vor fünf Minuten einer anderen Frau seine Zunge vom Schlund bis runter zum Bauchnabel geschoben hat, denn sie saß umringt von unzähligen Mitgliedern aus dem Panjabi seiner Sippe, wild mit Hand und Fuß gestikulierend auf dem Fußboden einer umdekorierten Düsseldorfer Dreifachturnhalle und hat den Interessierten die Allgäuer Mundart nänähergebracht. So nahm also alles seinen Lauf. Oh Gott, mir wird gleich wieder schlecht, wenn ich nur daran denke, wie der kleine Lüstling im Mundwerk seiner Gegenspielerin mit seinem schlotzigen Lappen herumgestochert hat, als hätte er etwas verloren, während die bunt geschmückte Babette samt rotem Punkt auf der Stirn nichtsahnend auf dem kitschigen Podest am Brauttisch auf ihren Arsch, äähm ihren neu angetrauten Ehemann gewartet hat. Sechshundertachtunddreißig Gäste, mich ausgenommen, hatten ausgelassen die Liebe der Babette und ihres Taugenichts Panjabi gefeiert. Ich für meinen Teil hätte ihm am liebsten eine geballert, und zwar mitten auf seine breite speckige Nase. Irgendwann später habe ich dann die Friedl auf der Tanzfläche entdeckt, wie sie schwankend, im leuchtend gelben Sari, ihre Runden zur indischen Musik gedreht hat. Schwungvoll hat sie nach meinem Arm gegriffen und mich mitgezogen, als sie mich unter den ganzen kleinen feierwütigen Indern erkannt hat.

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»Walli? Hallo? Jemand zu Hause? Soll ich dir einen Tee kochen?«, unterbricht die Silly meinen Gedankenzirkus und fuchtelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

»Was ist los?«, will ich abwesend wissen, und da fragt sie mich erneut, ob sie mir ein Bisiwasser kochen soll.

»Auf gar keinen Fall. Ich hasse Tee!«, kommt es von mir retour, und ich sehe, wie sich ihre Lippen zu einem schmalen Streifen verziehen. »Dann eben net! Wer nicht will, der hat scho«, mault sie leise vor sich hin. Ich bin stinksauer auf den Wolfi. Was soll der Mist? Der Feind im eigenen Haus, wie entwürdigend! Ich bin doch nicht senil und kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Keine Sekunde lass ich die Silly aus den Augen, und so sitzen wir uns minutenlang schweigend gegenüber.

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